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Abstract

Das journalistische Erzählen ist nicht erst neu zu entdecken – es besitzt eine lange und prominente eigenständige Tradition, die von so unterschiedlichen Autoren wie Émile Zola, Egon Erwin Kisch, Gabriel García Márquez, Tom Wolfe u.v.a.m. geprägt wurde. Narratologische Zugänge haben jedoch in den letzten Jahren zu einer präziseren Beschreibung der besonderen Leistungen journalistischen Erzählens beigetragen. Das verdeutlichen auch die Beiträge dieses Heftes.

Ethische Aspekte journalistischer Texte können eng mit den jeweils verwendeten Erzählverfahren zusammenhängen – so die These Friederike Herrmanns. Sie kritisiert den vermeintlich objektiven, quasi erzählerlosen Darstellungsstil von Nachrichten in Printmedien als einen weit verbreiteten, aber vergeblichen Versuch, mit Hilfe einer unsichtbar gemachten Erzählinstanz das Ideal einer reinen Faktenpräsentation zu erreichen. Stattdessen, so ihr Vorschlag, solle der Reporter die Standpunktgebundenheit seines Nachrichtentextes stilistisch und erzählerisch deutlich machen. Im interaktiven Online-Journalismus seien Ansätze zu einer derartigen Nachrichtenvermittlung auf Augenhöhe mit den Lesern erkennbar.

Narrativer Journalismus, führt Marie Vanoost aus, sei als hybrides Genre zwischen fiktionaler Erzählliteratur und konventionellen Pressemeldungen angesiedelt. Er zeichne sich durch ebenso komplexe wie spezifische Plotkonstruktionen aus. In drei Fallanalysen untersucht Vanoost mit Hilfe von Begriffen Raphäel Baronis und Paul Ricoeurs das Zusammenspiel von intriguing function (fonction intriguante), in der die Dynamik des Leseprozesses im Vordergrund stehe, und configuring function (fonction configurante), die eher informativ und explikativ orientiert sei.

Plotkonstruktionen stehen auch im Vordergrund von Valérie Roberts Beitrag über den journalistischen Umgang mit der „Wulff-Affäre“, die im Jahr 2012 zum Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff führte. Robert macht darauf aufmerksam, dass journalistische Texte nicht isoliert, sondern in der Regel als Teile von serialisierten Erzählungen begegnen, die zudem kulturspezifisch geprägt seien. Die serielle „Wulff“-Erzählung enthalte mehrere Narrative (Sünde-Strafe-Narrativ, demokratisches Narrativ, Pressefreiheits-Narrativ, Legitimitäts-Narrativ), die den Ereignissen exemplarischen Sinn verliehen.

Mehrere Beiträge nehmen die Medialität journalistischen Erzählens in den Blick. Nora Berning untersucht mit Mark Bowdens Blackhawk Down einen journalistischen Hypertext. Auf der Grenze zwischen Faktum und Fiktion gelegen, sei Blackhawk Down ein Beispiel für das hybride, postmoderne Genre des literarischen Journalismus. Die besondere Gestaltung von narrativen Situationen, narrativer Zeit, Figurenräumen (character-spaces) und narrativer Körper erzeuge im Leser „die ästhetische Erfahrung einer gemeinsamen ethischen und politischen Wirklichkeit“.

Karl N. Renner führt zur präzisen Bestimmung der Funktion von Einzelfotos in den Wirklichkeitserzählungen des Print-Journalismus mehrere Unterscheidungen ein: ‚dokumentierende‘ vs. ‚illustrierende‘ Fotos sowie ‚metonymische‘ vs. ‚metaphorische‘ Foto-Text-Relationen. Metonymisch verwendete Fotos, so Renners Befund, seien typisch für ein additives journalistisches ‚Berichten‘, während Fotos mit metaphorischer Funktion eher für das ganzheitlich organisierte journalistische ‚Erzählen‘ charakteristisch seien.

DIEGESIS führt in diesem Heft in der Kolumne „Interview“ ein neues Format ein: Künftig werden in jedem Heft international einflussreiche Narratologinnen und Narratologen nach ihren persönlichen Erfahrungen, Einschätzungen und Vorlieben befragt. In diesem Heft antwortet Brian Richardson.