Über dieses Heft
Abstract
Fiktionales Erzählen ist oft Erzählen gewaltsamer Handlungen. Faktuales Erzählen bezieht sich oft auf eine Wirklichkeit, in der die Erfahrung von Gewalt unausweichlich scheint. Im Vordergrund stehen in beiden Fällen aktive, ereignishafte Aggressionen, die leicht erzählbar und erzählwürdig wirken. Das vorliegende Themenheft möchte dagegen die ebenso destruktiven, jedoch weniger sichtbaren Phänomene der „strukturellen“ (Galtung), „symbolischen“ (Bourdieu) und „langsamen“ (Nixon) Gewalt fokussieren. Die vier dafür ausgesuchten Aufsätze unterstreichen alle die enge Verflechtung von struktureller, symbolischer und langsamer Gewalt mit offener physischer Aggression. Und sie analysieren auf je unterschiedliche Weise die narrativen Strategien, mit denen die ‚anderen‘ Arten der Gewalt darstellbar werden.
Der Eröffnungsaufsatz von Hella Liira und Eckhard Schumacher untersucht zeitgenössische deutschsprachige Fiktionen und Autofiktionen – Hendrik Bolz’ Nullerjahre (2022), Daniel Schulz’ Wir waren wie Brüder (2022), Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (2023) und Antje Rávik Strubels Blaue Frau (2021) –, die die Gewaltsamkeit der Umbrüche von 1989 mit dreißigjährigem Abstand reflektieren. Anknüpfend an das Konzept der „langsamen Gewalt“ zeigen die Autor*innen, wie die einen Texte erzählerische Verfahren dazu einsetzen, um eine Reproduktion der Gewalt im Medium der Erzählung zu vermeiden. In den anderen Texten wird die Beschreibung gewaltsamer Handlung bewusst vermieden, um die Aufmerksamkeit auf die latente Wirkung der historischen Ereignisse zu richten.
Daniel Mandel, Elisabeth Gülich und Stefan Pfänder verbinden multimodale Gesprächsanalyse mit Oral-History, um zu rekonstruieren, wie Zeitzeug*innen des Holocaust Erfahrungen aus Konzentrations- und Arbeitslagern erzählen. Die Einbeziehung von Gestik, Blick und Stimmführung zeigt, dass hierdurch Aspekte hierarchischer Positionierung und strukturellen Zwangs erschlossen werden können, die bei einer wort- bzw. textzentrierten Perspektive verdeckt bleiben.
Larissa Muraveva richtet den Blick auf Autofiktion und fragt, wie Autor*innen das ethische Spannungsfeld zwischen Traumaverarbeitung und Retraumatisierung narrativ bewältigen. Anhand von Édouard Louis’ Histoire de la violence (2018 [2016]) – und von autofiktionalen Werken Christine Angots, Neige Sinnos, Oksana Vasyakinas u. a. – zeigt Muraveva, wie nicht-lineares, polyphones Erzählen Aneignung durch einfache Schemata abwehren und Gewalt als Symptom tiefer liegender Klassen-, Geschlechter- und Sexualitätsordnungen ausweisen kann.
Im Beitrag von Cornelia Pierstorff wird Christa Reinigs Entmannung (1986 [1976]) vor dem Hintergrund von Johan Galtungs Gewaltbegriff gelesen. Pierstorff argumentiert, dass Reinig personalisierte Übergriffe im Kontext sozial akzeptierter Misogynie einbettet und insofern mit der zeitgenössischen Theorie des norwegischen Gewaltforschers kommuniziert. Der Aufsatz rekonstruiert unter Rückgriff auf die so entworfene „Narratologie der Gewalt“ Reinigs Darstellung der Trias von personaler, struktureller und kultureller Gewalt, analysiert, wie mit intertextuellen und intermedialen Referenzen die strukturelle Gewalt auf kulturelle Gewalt zurückgeführt wird, und fragt nach Möglichkeiten erzählerischer Intervention.
Das Sonderheft wird abgerundet durch einen Gastbeitrag von Lambert T. Koch, der sich nicht direkt auf das Thema der latenten Gewalt bezieht, sondern ein Modell der Analyse von ökonomischen Struktur-Narrativen entwickelt. Die drei aktuellen Spannungsfelder, in denen sich die Erzählung von Transformation laut Koch aktuell einordnen lässt, reagieren auf die von Nixon analysierte langsame Gewalt an der Umwelt. Erzählungen der Transformation verweisen insofern indirekt auf die Krisen, die den gesellschaftlichen Wandel notwendig machen. In Bezug auf Fragen der Gewaltdarstellung ist auch der Hinweis erhellend, dass ökonomisches Storytelling bewusst destruktiv oder konstruktiv eingesetzt werden kann.
Wie transformiert sich die Narratologie? Marco Caracciolo bietet im Interview der Reihe „The Shape of Things to Come“ seine eigene Vision für die Zukunft des Fachs, die sich in vielem mit Kochs Aufsatz trifft. Auch er sieht die zunehmende Komplexität der Welt als eine Herausforderung, der mit Erzählungen begegnet werden kann. Dazu dient freilich nicht mehr ein Kanon von Fiktionen, sondern eine Fülle auch medial ganz unterschiedlicher Erzählungen. Wenn diese mit den Mitteln einer neuen, empirischen und interdisziplinär orientierten Erzählforschung untersucht werden, so plädiert er dafür, dies nicht unter Ausschluss der Interpretation zu tun. Die Literaturwissenschaft öffnet ihre eigenen Zugänge zu den möglichen Kontrollverlusten angesichts z.B. der Klimakrise.
Die versammelten Beiträge verdeutlichen die Bedeutung struktureller Effekte – einschließlich der langsamen, strukturellen, symbolischen Gewalt – für die Gegenwart und die gemeinsame Verantwortung von Erzählenden und Erzählforschenden in der Veranschaulichung dieser Prozesse. Indem sie die narrativen Verfahren kartieren, die dieses Kontinuum aufdecken, laden sie zur Revision analytischer Kategorien und zur Reflexion der ethischen Dimension narrativer Darstellung ein. Wir wünschen eine anregende Lektüre.
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