Über dieses Heft
Abstract
In unserem neuen Heft geht es um grammatische Aspekte des Erzählens. Linguistisch orientierte Analysen von Erzähltexten im Allgemeinen und zum fiktionalen Erzählen im Besonderen haben eine lange Tradition. In den 1950er Jahren lösten Käte Hamburgers Überlegungen zur spezifischen Bedeutung des Präteritums und der Sprecher-Origo in fiktionalen Texten eine kontroverse Debatte aus (Harald Weinrich u.a.). In den 1960er und 1970er Jahren gab es verschiedene textlinguistische Ansätze, um im Sinne der generativen Transformationsgrammatik Makrostrukturen narrativer Texte zu modellieren (Claude Bremond, A. J. Greimas, Teun van Dijk u.a.). Parallel dazu entstanden gesprächslinguistische und soziolinguistische Theorien zum Erzählen im Alltag (William Labov, Konrad Ehlich, Elisabeth Gülich u.a.). Solche Theorien, die Merkmale des Narrativen auf der Satzebene, aber auch in der Textstruktur oder im pragmatischen Kontext suchten, wurden in den letzten Jahrzehnten in der Konversationslinguistik fortgeführt (‚oral storytelling‘, ‚small narratives‘; De Fina, Georgakopoulou u.a.). Doch auch im engeren Sinne grammatisch orientierte Ansätze finden weiterhin oder erneut Beachtung. Dazu gehören neuere Studien zum Gebrauch von Personalpronomen in ‚second-person narratives‘ (Monika Fludernik) und ‚we-narratives‘ (Natalya Bekhta) genauso wie Analysen zur sprachlichen Repräsentation von Rede- und Bewusstseinsinhalten (‚erlebte Rede‘), zur Perspektivierung/Fokalisierung (Manfred Jahn) und zum Tempusgebrauch (Carolin Gebauer). Obwohl seit Jahrzehnten durchaus eine zunehmende Ausdifferenzierung und Distanz zwischen den Disziplinen der Literaturwissenschaft und der Linguistik insgesamt zu beobachten ist, belegt unser Heft, dass linguistische Perspektiven auf narrative Phänomene auch interdisziplinär wertvoll und anschließbar sind.
Das Heft versammelt fünf Beiträge, die sich dem Thema „Erzählen und Grammatik“ aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Rutger J. Allan zeigt anhand von Kampfszenen aus der Ilias und Stendhals Kartause von Parma, wie durch linguistische Phänomene wie Tempus, Aspekt, Negation, Deixis, Redewiedergabe, Perspektive, Lexik u.a. Immersionseffekte erzeugt werden. In ihrer empirischen Studie erläutern Stefan Hinterwimmer und Christopher Saure für das grammatisch mehrdeutige Phänomen der erlebten Rede, welche grammatischen Faktoren darüber entscheiden, dass Äußerungen jeweils der Erzähler- oder der Figurenperspektive zugeordnet werden. Anne Holm beschreibt die Funktion von Nominalphrasen für das Stilphänomen der ‚lyrischen Narration‘, das sich in der Ausblendung von Ereignishaftigkeit zugunsten der Darstellung von Erinnerungsprozessen zeigt. Horst Lohnstein erläutert die grundlegende Funktion von Finitheit für das Erzählen und analysiert die morphologische Struktur finiter Sätze. Roman Widder diskutiert in einer exemplarischen Analyse von Theodor Storms Erzählung Immensee unterschiedliche Typen von Negationen und Lücken in Erzähltexten.
In unserer Interview-Rubrik resümiert der renommierte Hamburger Narratologe Peter Hühn seine persönliche Sicht auf die Narratologie. Und in einem Gastbeitrag beschäftigen sich Eva von Contzen, Stefan Pfänder, Uta Reinöhl und Maria Sulimma in interdisziplinärer Perspektive mit linguistischen, kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Formen und Funktionen der Wiederholung.
Im Rezensionsteil besprechen Philippe Carrard einen Sammelband über historiographisches Erzählen (Stefan Berger / Nicola Brauch / Chris Lorenz (eds.): Analysing Historical Narratives. On Academic, Popular and Educational Framings of the Past), Dunja Dušanić die Monografie Life Storying in Oral History. Fictional Contamination and Literary Complexity von Jarmila Mildorf und Florian Scherübl Cornelia Pierstorffs Untersuchung Ontologische Narratologie. Welt erzählen bei Wilhelm Raabe.
Viel Spaß beim (digitalen) Blättern und Lesen!
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