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Abstract

Als wir vor fünf Jahren das Thema „Krankheit erzählen“ in den Mittelpunkt zweier Themenhefte von DIEGESIS stellten, war die Pandemie noch nicht zu dem Paradigma von Krankheit geworden, das sie inzwischen ist. Aber das ist nicht die einzige Veränderung. Damals lag es nahe, eine große Trennlinie zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen zu ziehen. Das aktuelle Heft könnte als ein Ergänzungsband zu diesen beiden umfangreichen und viel zitierten (FR, NZZ) Heften gelten, eine Reaktion auf durch die aktuelle Situation aufgeworfene neue Desiderate der Forschung über das Verhältnis von Krankheit und Erzählen.

Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur die medizinisch-naturwissenschaftliche Entwicklung und den technischen Wandel angestoßen, sondern hat auch Spuren in der kulturellen Produktion und Rezeption hinterlassen. Von den vielfältigen Erzählungen, die sich mit der Pandemie beschäftigen, nehmen wir in diesem Themenheft „Wirklichkeitserzählungen“ (Klein / Martínez 2009) in den Blick, die sich als „Kollektiverzählungen“ im Sinne von Sommer (2009) analysieren lassen. Kollektiverzählungen zeichnen sich durch die Funktion aus, die sie für eine bestimmte Gemeinschaft erfüllen, nämlich dass die Gemeinschaft ihre kollektive Identität und ihre gemeinsamen Wertvorstellungen aus ihnen zieht.

Die im vorliegenden Heft analysierten Korpora zeigen die Vielfalt neuer Erzählungen dieses Typs: Die Corona Diaries verknüpfen programmatisch autobiographische Einzelerzählungen aus der ganzen Welt zu einem vielstimmigen Gefüge; die Corona-Haikus bilden Beispiele transmedialen Erzählens in Bild-Text-Bezügen. Die für das Internet und die sozialen Medien charakteristische Interaktion zwischen Beiträgen und Kommentaren prägt die Kollektiverzählungen in den beiden Projekten, die von Jasmin Kermanchi und Anna Wiehl analysiert und auf mögliche Funktionen befragt wird. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme wiederkehrender Erzählverfahren in traditionellen Pandemieerzählungen setzt Birgit Däwes in ihrem Aufsatz narrative Strategien ausgewählter Kurzgeschichten aus dem prominenten Decameron Project des New York Times Magazine in Analogie zu mRNA-Impfungen. Aus politologischer Perspektive geht Anna Nora Freier schließlich auf die Frage ein, inwiefern Protestgemeinschaften gegen Corona-Politiken auch als Erzählgemeinschaften verstanden werden können.

Der Beitrag von Marcel Beyer zu unserer neuen Rubrik „Hands-On Narratology / Aus der Welt der Narrative“ öffnet sodann die Sicht auf ein anderes hochaktuelles Geschehen: den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Der Autor verfasste diesen Text im Rahmen seiner Poetikdozentur an der Bergischen Universität Wuppertal.

In unserer Interviewsektion „The Shape of Things to Come / Neue Horizonte“ berichtet Henrik Zetterberg-Nielsen von aktuellen Entwicklungen im Bereich der Fiktionalitätsforschung am Centre for Fictionality Studies an der Universität Aarhus, Dänemark, sowie seinem neuesten Projekt zum Verhältnis zwischen Erzählen, Fiktionalität und Sexualität.

Das Heft wird durch zwei Rezensionen vervollständigt. Besprochen werden die mit dem Perkins Prize 2022 ausgezeichnete Monographie We-Narrative: Collective Storytelling in Contemporary Fiction von Natalya Bekhta (2020) sowie der von Erin James und Eric Morel herausgegebene Sammelband Environment and Narrative: New Directions in Econarratology (2020).

Veröffentlicht

13.07.2022