Über dieses Heft
Abstract
Diese Ausgabe von DIEGESIS ist dem Verhältnis von Erzählen und Wissen gewidmet, oder genauer gesagt: möglichen Verhältnissen von Erzählen und Wissen. Denn einerseits muss gerade im Hinblick auf Wissen grundsätzlich zwischen verschiedenen Formen des Erzählens unterschieden werden, und das heißt insbesondere zwischen faktualem Erzählen, das den Anspruch erhebt, Tatsachen zu repräsentieren, und fiktionalem Erzählen, das von einem solchen Anspruch aufgrund der Fiktionalitätskonvention grundsätzlich entbunden ist. Andererseits werden mit Erzählungen auch unterschiedliche Formen von Wissen adressiert. Wie die Beiträge zeigen, umfasst das Spektrum der Wissensformen, die narrativ vermittelt, eingeübt, erprobt, hinterfragt oder allererst erzeugt werden, sowohl propositionales (knowing-that) als auch nicht-propositionales Wissen (knowing-how), sowohl Wissen über die Welt als auch selbst-reflexives Wissen, sowohl Bewusstseinsinhalte als auch im Körper gespeichertes Wissen. Angesichts der Bandbreite von Kombinationsmöglichkeiten ist es kaum überraschend, dass die Zusammenführung von Wissen und Erzählen im Einzelfall sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen kann. So kann die narrative Präsentation von Wissen sowohl einer Stabilisierung als auch einer Destabilisierung von Wissensinhalten dienen oder vorhandenen Wissensbeständen ein Meta-Wissen hinzufügen.
Gleich zwei der fünf Beiträge beleuchten Formen und Funktionen des Erzählens in den Naturwissenschaften, mithin in Disziplinen, in denen es unüblich ist, Wissensgegenstände in narrativer Form zu präsentieren. Martina King untersucht in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag lebenswissenschaftliche Fachpublikationen aus den 1830er und 1840er Jahren, einer Zeit, in der die Ablösung von der Tradition, Wissensinhalte aus der Ich-Perspektive zu präsentieren, bereits begonnen, aber noch nicht gänzlich vollzogen war. King zeigt auf, dass narrativ-personalisierte Darstellungsverfahren in dieser Umbruchphase einerseits Kontingenz reduzieren und andererseits die Wissensinhalte authentifizieren können. Im naturwissenschaftlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts, mit dem Angela Gencarelli sich in ihrem Beitrag beschäftigt, sind wissenschaftliche Artikel von narrativen Darstellungsverfahren bereinigt. Eine Textsorte, in der Erzählen jedoch weiterhin stattfindet, ist die Entdeckungsgeschichte, die retrospektive Erzählung des Wegs hin zu einer Entdeckung. Am Beispiel von Max Planck zeigt Gencarelli auf, dass Entdeckungsgeschichten, dadurch, dass sie auch Irrtümer und Sackgassen auf diesem Weg beschreiben, ein reflexives Meta-Wissen über die Bewältigung physikalischer Problemstellungen erzeugen, das für zukünftige Forschungen genutzt werden kann.
Ebenfalls zwei Beiträge gehen der Frage nach, ob fiktionale Texte Wissen hervorbringen können. Carolin Struwe-Rohr tut dies am Beispiel einer Erzählung aus Martin Montanus’ frühneuzeitlicher Schwanksammlung Wegkürzer, in der zwei Formen des Wissens – das tradierte und abstrakte ‚feste Wissen‘ und das narrativ geformte Erfahrungswissen – konfligieren. Die Bestände des festen Wissens werden Struwe-Rohr zufolge in der Schwankerzählung narrativ erprobt und erweisen sich dabei als brüchig, wodurch im Gegenzug das Erfahrungswissen autorisiert und zugleich die Möglichkeit eröffnet wird, neues (d.h. nicht tradiertes) Wissen zu generieren. Tilmann Köppe und Julia Langkau gehen davon aus, dass fiktionale Texte strenggenommen zwar kein propositionales Wissen über die Welt vermitteln können, dass sie jedoch eine bestimmte Form von Wissen im Leser hervorbringen können, nämlich Wissen über das eigene Selbst (knowledge of the self): Denn durch die Konfrontation mit Situationen, Ereignissen und Figuren in fiktionalen Geschichten, auf die wir reagieren, erfahren wir etwas darüber, wer wir sind.
Eine ganz andere Art von Wissen wird in dem Beitrag von Jan Söffner und Esther Schomacher thematisiert: Körperwissen. Darunter verstehen sie ein Wissen, das nicht kognitiv oder konzeptionell ist, sondern körperlich gebunden (embodied knowledge). In ihrer Zusammenführung von Enaktivismus und Erzähltheorie gehen sie der Frage nach, welche Konsequenzen sich aus einer stärkeren Berücksichtigung der Körperlichkeit des Lesers für die Narratologie ergeben könnten.
In der Rubrik „My Narratology“ antwortet diesmal Thomas Pavel auf unsere Fragen nach seinen persönlichen Vorstellungen zur Erzähltheorie. Er unterstreicht die anhaltende Bedeutung der Arbeiten von Wayne C. Booth und empfiehlt eine intensivere Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen in der Erzählforschung.
Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre!
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