Adrian Brauneis

Wille zur Synthese

Sönke Finnerns Einführung der Narratologie in die Bibelwissenschaft

Sönke Finnern: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28. Tübingen: Mohr Siebeck 2010 (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament; 2. Reihe, Bd. 285) XIII, 624 S. Kartoniert. EUR 99,00. ISBN: 978-3-16-150381-8

Gegenstand, Arbeitshypothese & Aufbau der Untersuchung

Das Anliegen der Arbeit Sönke Finnerns ist ein grundsätzliches. Über die Zusammenführung der Analyseinstrumentarien strukturalistischer wie poststrukturalistischer bzw. kognitionswissenschaftlicher Erzähltheorien und deren praktische Erprobung am Beispiel einer Analyse von Teilen des Matthäusevangeliums unternimmt Finnern den Versuch, die Narratologie, verstanden als allgemeine Theorie der Analyse erzählender Texte, für die Bibelexegese heuristisch fruchtbar zu machen. Dabei will der Verfasser das Verfahren einer narratologischen Textanalyse nicht von gängigen Weisen der Bibelexegese isolieren. Wie durch den Titel der Untersuchung mittels asyndetischer Verbindung von Narratologie und biblischer Exegese angekündigt, strebt Finnern vielmehr die Integration von erzähltheoretisch begründeter Textanalyse und historisch-kritischer Bibelexegese an. Auf die erzähltheoretische Synthese- und Systematisierungsleistung seiner Arbeit vorausweisend, erklärt Finnern in diesem Sinne, sein Anspruch sei es, „ein neues, umfassendes Modell zur Analyse von Erzählungen zu entwerfen“ (S. V).

Der Autor geht bei seiner Modellbildung von der These aus, durch eine erzähltheoretisch begründete Textanalyse ließen sich die Wirkungsintentionen erzählender Texte rekonstruieren bzw. die Wirkungseffekte solcher Texte auf bestimmte Erzähltechniken zurückführen. Anders formuliert, Finnern will zeigen, dass sich durch das Analyseinstrumentarium der Narratologie die kognitive wie affektive Einflussnahme erzählender Texte auf ihre Rezipienten erklären lässt (vgl. insb. S. 2, 247, 258-259 und 481).

Die Untersuchung selbst gliedert sich in zwei Teile sowie eine abschließende Integration der Methoden von erzähltheoretischer Textanalyse und historisch-kritischer Bibelexegese. Der erste Teil stellt ein erzähltheoretisches Methodenreferat vor. Dessen Kapitel werden jeweils durch Unterpunkte zur „Methode der Analyse“ abgeschlossen. Es handelt sich hierbei um Fragenkataloge, in denen der Autor die Verfahrensschritte einer narratologischen Textanalyse skizziert. Dass Form und Gehalt ihrer erzähltheoretischen Erörterungen der Arbeit mitunter den Charakter eines Handbuchs verleihen, ist von Finnern, der seine Arbeit durchaus auch als solches rezipiert wissen will (vgl. S. 440), intendiert.

Gegenstand von Finnerns Methodenreferat sind u.a. erzähltheoretische Begründungen der Analyse von Handlungsstrukturen, Figurenkonzeptionen und -konstellationen sowie der Perspektivierung von Geschehensdarstellungen in narrativen Texten. Besonders hervorgehoben sei in vorliegendem Zusammenhang das Kapitel zur Rezeptionsanalyse, dem mit Blick auf die arbeitsleitende Hypothese Finnerns besonderes argumentationslogisches Gewicht zukommt. Neben dem Kapitel zur Figurenanalyse umfasst dieses denn auch das umfangreichste Textsegment des ersten Teils der Arbeit (vgl. S.  185-245). In ihm thematisiert Finnern die Ziele narratologisch fundierter Rezeptionsanalysen sowie eine Terminologie, über die sich die narrativen Strategien erschließen lassen, derer sich erzählende Texte bedienen können, um auf Seiten ihrer Rezipienten Überzeugungs- und/oder Verhaltensänderungen hervorzurufen. Um die Persuasionsstrategien eines narrativen Texts vermittels einer erzähltheoretisch fundierten Textanalyse transparent machen zu können, geht Finnern dabei insbesondere auf Darstellungsmöglichkeiten erzählender Texte ein, Empathie auf Seiten ihrer Rezipienten zu erzeugen, indem sie – etwa vermittels szenischem und/oder autodiegetischem Erzählen, direkter Figurenrede oder interner Fokalisierung – die Distanz zwischen handelnder Figur und Rezipient verringern und so eine Identifikation zwischen beiden Seiten erleichtern, oder etwa Sympathie bzw. Antipathie des Rezipienten für die handelnden Figuren durch textimmanente Wertungen und/oder Erzählerkommentare zu lenken. Über die Rekonstruktion der von einem erzählenden Text intendierten Überzeugungs- und Verhaltensänderungen will Finnern Auskunft über die ‚Anwendungskonzeption‘ (vgl. S. 221) narrativer Literatur (z.B. Beispielgeschichte) gewinnen.

Im zweiten Teil wendet der Autor das narratologische Analyseinstrumentarium auf Matthäus 28, 1-20 an. Der Gliederung des ersten Teils korrespondierend, wird hier die abstrakte narratologische Begrifflichkeit durch konkrete Textinhalte illustriert, wobei es allerdings auch zu mehreren Wiederholungen in der Theorienreflexion kommt. Vor dem Hintergrund des zentralen Erkenntnisinteresses der Arbeit sei wiederum Finnerns Bemühen um eine narratologisch fundierte Erschließung der Wirkungsintentionen erzählender Texte fokussiert. Auf seiner erzähltheoretischen Begründung einer Rezeptionsanalyse erzählender Texte aufbauend macht Finnern die von dem Matthäusevangelium für seine Rezipienten intendierten Überzeugungs- und Verhaltensänderungen transparent. Die Intention einer Überzeugungsänderung rekonstruiert Finnern am Beispiel der Lehre von der Auferstehung Jesu. Dass Jesus von den Toten auferstanden sei, behaupte das Matthäusevangelium als wahre Proposition über das Zeugnis sympathischer und uneingeschränkt zuverlässiger Figuren. Demgegenüber bleibe die Äußerung von Zweifeln an der Auferstehung Jesu auf Figuren beschränkt, die der Text „als voreingenommen, lügnerisch, bestechlich bzw. belogen diskreditiert“ (S. 431). Der Überzeugungsarbeit, die das Matthäusevangelium auf diesem Weg zu leisten bemüht sei, entspreche die durch den Text intendierte Verhaltensänderung auf Seiten seiner Rezipienten. Sie bestehe in der Einübung christlicher Verhaltensstandards, die das als Beispielerzählung konzipierte Matthäusevangelium exponiere (vgl. S. 437-438).

Im letzten Teil seiner Arbeit führt Finnern narratologische Analyse und historisch-kritische Exegese zusammen, indem er die Ergebnisse einer narratologischen bzw. historisch-kritischen Textanalyse des Matthäusevangeliums vergleicht. Seine Arbeit resümierend und an die Ausgangshypothese derselben anknüpfend, profiliert Finnern, gestützt auf die Ergebnisse seiner narratologischen Analyse des Matthäusevangeliums, die Praxis einer erzähltheoretisch begründeten Textanalyse als wertvolle Ergänzung der historisch-kritischen Exegese. Wo es dieser an Begriffen und Kategorien zur Beschreibung der Wirkungsintentionen bzw. der -effekte biblischer Texte mangle, könne jene sie sinnvoll ergänzen. Der Autor betont schließlich aber auch, dass sich der bibelwissenschaftliche Umgang mit Texten nicht in der Zusammenführung von narratologischer und historisch-kritischer Exegese und deren Möglichkeiten analytischer Texterschließung erschöpfe, um hierauf die Skizze einer allgemeinen „textwissenschaftliche[n] Methodenlehre“ (S. 487) folgen zu lassen, die die Arbeit abschließt. Mit ihr unterscheidet Finnern zwischen primär historischen, philologischen und thematischen Methoden und zeigt die Stellung narratologischer Textanalysen im extensiven Rahmen dieser Methodenlehre auf (vgl. S. 483-486).

Kritik des Willens zur Synthese

Finnerns Unternehmen, ein umfassendes Analysemodell für die narratologische Erschließung biblischer Texte zu entwickeln, basiert auf der Annahme, dass die Möglichkeit der Durchführung einer erzähltheoretisch begründeten Analyse eines Texts von der Poetizität bzw. der Literarizität desselben abhänge (vgl. S. 3 und 72-73). Mit dieser normativen Setzung definiert der Verfasser den Gegenstand narratologischer Analysen über dessen Wirkungsintention im weitesten Sinne: Die Poetizität eines Texts – wenn ich Finnern, der sich nicht um eine Explikation des dunklen Begriffs der Poetizität bemüht, hier richtig verstehe – ist das Resultat einer suggestiven Kommunikation, die sich narrativer Darstellungstechniken bedient, um einen bestimmten Wirkungseffekt zu erzielen, etwa auf Seiten des Rezipienten Interesse zu erregen oder Empathie zu erzeugen (vgl. S. 62, 67 und 72-73).

In Anbetracht der theoriegeschichtlichen Voraussetzungen der Terminologie hätte Finnern allerdings auf die Einholung des Poetizitätsbegriffs verzichten sollen; impliziert dieser doch die Zuschreibung von Eigenschaften an erzählende Texte, die wohl kaum notwendige Voraussetzung für die Durchführung einer narratologischen Analyse sind. Dabei sei hier nur auf zwei besonders prominente Eigenschaften im engeren Sinn ‚poetischer‘ Texte verwiesen, die in der Regel im Rahmen von Diskussionen des Begriffs der Poetizität genannt werden – das Exponieren des Signifikanten gegenüber dem Signifikat und die Polyvalenz ‚poetischer‘ Texte (vgl. Winko 2009, 375-376 und 381). Es wäre m.E. kontraintuitiv, zu unterstellen, Texte, die offensichtlich die Vermittlung einer Botschaft bzw. einer Lehre intendieren, was man für biblische Texte im Allgemeinen wird unterstellen können und Finnerns Untersuchung von Teilen des Matthäusevangeliums bestätigt, privilegierten a priori die Form gegenüber dem Inhalt. Diese ist hier wohl mehr das Instrument, um jenen effizient zu vermitteln. Ähnlich verhält es sich mit der Eigenschaft der Polyvalenz. Wenn auch historiographische Texte für Finnern ‚poetische‘ sein können, ist diese Annahme unproblematisch, solange mit dem Begriff der Poetizität lediglich Bemühen und Vermögen eines Texts gefasst werden, seine Rezipienten in bestimmter Weise zu beeinflussen, etwa sie von der Wahrheit von Wissensansprüchen zu überzeugen (s.o.). Hingegen scheint es wenig plausibel anzunehmen, historiographische Texte zeichneten sich als solche durch die Polyvalenz ihrer Bedeutungsgehalte aus. Tatsächlich scheint Finnern dies aber auch gar nicht mit seiner Verwendung des Begriffs der Poetizität unterstellen zu wollen. Ihn nutzt er lediglich, um die Suggestionskraft narrativer Texte zu fassen.

Daher hätte der Autor, das sollte mit dem vorstehenden Absatz deutlich gemacht werden, aber auch von der Verwendung des Poetizitätsbegriffs absehen sollen. In ihr äußert sich ein mangelndes Problembewusstsein des Autors für die von ihm gebrauchte literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit. Dieser Mangel an Problembewusstsein macht sich insbesondere auch im Verhältnis von Erzähl- und Poetizitätsbegriff bemerkbar.

Mit Blick auf die Poetizität erzählender Texte stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieses Begriffs zu dem der Erzählung. Erzählung (ein Begriff, dessen Erörterung von einer Arbeit, die sich um ein Modell der Erzähltextanalyse bemüht, bemerkenswert wenig Raum eingeräumt wird) definiert Finnern als „Darstellung einer kausal verknüpften Folge von Ereignissen“ (S. 29, Kursivdruck im Original). Wenn Poetizität eine Eigenschaft ist, die ein Text (nach Finnern) besitzen muss, um Gegenstand einer narratologischen Analyse werden zu können, sollte die Poetizität als notwendiges Kriterium zur Identifizierung erzählender Texte allerdings Bestandteil der Definition des Begriffs der Erzählung sein. Demgegenüber führt Finnerns minimalistische Definition des Erzählbegriffs zu der kontraintuitiven Schlussfolgerung, es gäbe auch Erzähltexte, die, da Erzählungen im Sinne Finnerns nicht notwendigerweise auch Poetizität besitzen, nicht zum Gegenstand einer erzähltheoretisch begründeten Analyse werden können. Diese exemplarische Begriffskritik wurde hier eingelassen, da sie symptomatisch für eine grundsätzliche Schwäche der Arbeit Finnerns ist:

Der Wille zur erschöpfenden Synthese strukturalistischer wie poststrukturalistischer bzw. kognitionswissenschaftlicher Erzähltheorien führt zu einem Eklektizismus, der oft auf Kosten einer analytischen Tiefenschärfe der narratologischen Theorienreflexion geht.

Anstatt ausführlich Begriffe und Konzepte vorzustellen, die für die Bibelexegese nur von geringem heuristischem Mehrwert sind, hätte sich der Autor differenzierter mit für die Bibelforschung tendenziell interessanteren erzähltheoretischen Grundbegriffen auseinandersetzen sollen. Wie der Autor selbst bemerkt, sind etwa Techniken illusionsstörenden Erzählens (vgl. S. 197-198) für die Exegese wenig relevant, mithin ihre Darstellung im Rahmen von Finnerns Arbeit entbehrlich. Desgleichen befasst sich Finnern ausführlich mit dem Konzept der Fiktionalität (vgl. S. 56-73), obwohl er, wie einleitend von ihm deutlich gemacht wird, die Bibel nicht als fiktionalen Text versteht; und eine problematische Kategorie wie die des impliziten Autors (vgl. S. 49-50) wird lediglich eingeführt, um sie kurz darauf wieder, die ältere Kritik wiederholend (vgl. Kindt / Müller 2006), zu verabschieden. Gegenüber dieser Redundanz in der Darstellung lässt Finnern eine kritische Reflexion der von ihm vorgestellten Begriffe und Konzepte weitgehend vermissen. Wie anregend eine solche Problematisierung einschlägiger erzähltheoretischer Konzepte und Grundbegriffe für die narratologische Theoriebildung jedoch sein kann, zeigen nicht zuletzt die jüngsten Kontroversen der Forschung, etwa zum Konzept des Erzählers (vgl. Köppe / Stühring 2011) oder dem Begriff der Fokalisierung (vgl. Currie 2010). Eine relativ gut etablierte Unterscheidung wie die Differenzierung zwischen extra- und intradiegetischem bzw. hetero- und homodiegetischem Erzählen wird hingegen ohne nähere Begründung als heuristisch unergiebig von der Theorienreflexion ausgeschlossen (vgl. S. 55-56).

Eine differenziertere Darstellung wäre nicht zuletzt auch in Hinblick auf das der Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Narratologie als einer spezifischen Methode der Textanalyse wünschenswert gewesen. Wenn der Verfasser einleitend formuliert, eine erzähltheoretisch begründete Textanalyse sei geeignet, „die Erzählstruktur, die Interpretation und Wirkung der Erzählung“ (S. 2) zu bestimmen, bleibt zunächst und im weiteren Verlauf noch lange unklar, wie sich die narratologische Textanalyse in ihrem Verfahren der Textbeschreibung sowie durch das Ergebnis einer solchen Textbeschreibung zur Exegese verhält. Wenn Finnern auf die Möglichkeiten der Integration von Narratologie und historisch-kritischer Exegese zu sprechen kommt, unterscheidet er deren drei (vgl. S. 245 und 247-249): Die narratologische Textanalyse erlaube zum einen den Vergleich unterschiedlicher Texte hinsichtlich ihrer Erzähltechniken; zum anderen ermögliche sie eine durch Formanalyse informierte Paraphrase der Bedeutungsgehalte erzählender Texte; schließlich, und dies scheint der wichtigste Punkt zu sein, könne die narratologische Textanalyse zur Sammlung von Daten dienen, durch die sich eine Textinterpretation begründen lasse. Was genau man sich hierunter vorzustellen hat, ist wiederum unklar, da Finnern nicht systematisch zwischen einer Methode der Textanalyse und Methoden der Textdeutung unterscheidet. Dementsprechend sind auch die Begriffe ‚Beschreibung‘, ‚Analyse‘, ‚Interpretation‘ und ‚Deutung‘ nicht klar voneinander abgegrenzt bzw. werden teilweise synonym gebraucht.

Wie Tom Kindt und Hans-Harald Müller plausibel gemacht haben, traut man dem narratologischen Analyseinstrumentarium zu viel zu, wenn man davon ausgeht, durch die Identifizierung und Beschreibung von Erzähltechniken ließe sich eine Textdeutung begründen (vgl. Kindt / Müller 2003, 298-302). Durch die Beschreibung bestimmter Erzähltechniken mittels eines narratologischen Analyseinstrumentariums sind noch keine Erkenntnisse über die diesen Erzähltechniken zugrunde liegenden Erzählstrategien – d.h. über die durch bestimmte Erzähltechniken induzierten Wirkungsintentionen eines narrativen Texts gewonnen. Die narratologische Analyse als solche ist als Verfahren wie Ergebnis der Textbeschreibung in diesem Sinne nicht gleichbedeutend mit einer Detektion implizierter Bedeutungsgehalte. Was sie demgegenüber allerdings leisten kann, ist, Hypothesen über die implizierten Bedeutungsgehalte eines erzählenden Texts durch eine Beschreibung seiner Erzähltechniken im Rahmen einer umfassenden Textinterpretation textnahe zu plausibilisieren: „Die Narratologie vermag Interpretationen weder herzuleiten noch zu widerlegen, sie kann ihnen aber [...] als ‚Entdeckungshilfe‘ und ‚Werkzeug der Beschreibung‘ dienen“ (Kindt / Müller 2003, 302). Da es Finnerns Anspruch ist, die Narratologie als solches in die Methode historisch-kritischer Bibelexegese zu integrieren, wäre eine schärfere Konturierung der Funktion der Narratologie für die Erschließung biblischer Texte umso wünschenswerter gewesen.

Relevanz der Untersuchung für Bibel- und Literaturwissenschaft

Mit Blick auf die literaturwissenschaftliche Reflexion über Nutzen und Nachteil der Narratologie für die Erschließung erzählender Texte ist zu konstatieren, dass die Literaturwissenschaft kaum von Finnerns Arbeit profitieren kann. Zur Einführung in die Erzähltheorie sei Studenten aufgrund des problematischen Eklektizismus der Arbeit zur nach wie vor grundlegenden Einführung von Matias Martinez und Michael Scheffel geraten (vgl. Martinez / Scheffel 1999). Demgegenüber werden Literaturwissenschaftler, die mit den Grundlagen der Narratologie vertraut sind bzw. einen tieferen Einblick in die aktuellen Forschungsdiskussionen besitzen, durch die Arbeit keine neuen Einsichten gewinnen können. Freilich handelt es sich hierbei um die Kritik eines Literaturwissenschaftlers, die sich nicht gegen das Anliegen der Arbeit als solches richtet. Bei dem Vorhaben, eine neue Methode in eine wissenschaftliche Disziplin einzuführen, ist eine Grundsätzlichkeit der Darstellung nicht zu vermeiden. Hier sei lediglich kritisch bemerkt, dass es zur Erreichung dieses Ziels wohl hinreichend gewesen wäre, sich intensiv mit einschlägiger (und neuerer) Forschungsliteratur auseinanderzusetzen, anstatt das Feld der Forschung möglichst erschöpfend abdecken zu wollen. Wenn es darum gehen soll, intradisziplinär eine neue Methode zu etablieren, gegenüber der womöglich noch Vorbehalte bestehen, scheint es wenig effizient, den Leser mit ausufernden Fußnotenapparaten zu konfrontieren. Zumal der Verfasser den von ihm rezipierten Forschungsbeiträgen in seiner Arbeit damit nicht gerecht wird. Hier scheint die persönliche Begeisterung Finnerns für die Narratologie im Allgemeinen zu Lasten einer stringenten Modellbildung gegangen zu sein. Dieses Mangels in der Darstellung ungeachtet, so soll abschließend resümiert werden, dürfte Finnerns Arbeit für die Bibelforschung einen wertvollen Beitrag leisten, insofern sie die Methode einer historisch-kritischen Exegese durch die Sensibilisierung der Bibelwissenschaft für Darstellungstechniken und Wirkungspotentiale erzählender Texte sinnvoll ergänzt.

Literaturverzeichnis

Currie, Gregory (2010): „Narrative, Imitation, and Point of View“. In: Garry L. Hagberg / Walter Jost (Hg.), A Companion to the Philosophy of Literature. Malden, MA [et al.], S. 331-349.

Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald (2003): „Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie“. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin / New York, S. 286-394.

—, (2006): The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin / New York.

Köppe, Tilmann / Stühring, Jan (2011): „Against Pan-Narrator Theories“. In: Journal of Literary Semantics 1 (H. 40), S. 59-80.

Martínez, Matías / Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München 2009.

Winko, Simone (2009): „Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion“. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin / New York, S. 374-396.



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