Julian Hanebeck

A threshold of discovery

Ein neuer Sammelband untersucht die Metalepse in der Populärkultur

Karin Kukkonen / Sonja Klimek (Hrsg.): Metalepsis in Popular Culture. Berlin: Walter de Gruyter 2011 (= Narratologia Bd. 28). 279 S. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-025278-1

Abstract

Der vorliegende narratologische Sammelband Metalepsis in Popular Culture ist das Ergebnis der gleichnamigen internationalen und interdisziplinären Konferenz, die vom 25. bis zum 27. Juni 2009 in Neuchâtel in der Schweiz stattfand. Er umfasst nicht nur zwölf Beiträge, die sich jeweils der Analyse metaleptischer Formen und Funktionen einzelner Genres und / oder Medien in der Populärkultur widmen, sondern auch ein Nachwort von John Pier, das einerseits den transmedialen Charakter der Metalepse hervorhebt und andererseits auf mediale Ausprägungen des Phänomens hinweist und in dieser Doppelung charakteristisch für eine Tendenz des gesamten Bandes ist. Es ist somit zum einen der besondere Verdienst dieses Bandes, im Anschluss an Werner Wolf (2005 und 2009) überzeugend die Medialität metaleptischer Phänomene in das Blickfeld zu rücken und die transmediale Gültigkeit der narratologischen Kategorie zu demonstrieren; zum anderen macht der Band offenkundig, inwiefern Metalepsen selbstverständlicher Teil unserer heutigen populären Kultur geworden sind, und zeigt die zahlreichen interpretatorischen Möglichkeiten, die metaleptische Transgressionen eröffnen.

In der narratologischen Forschung des letzten Jahrzehnts ist dem Phänomen der Metalepse, das Gérard Genette terminologisch 1972 in die Erzähltheorie eingeführt hat, vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt worden. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang unter anderem Debra Malinas oft zitierte Studie Breaking the Frame aus dem Jahre 2002, Genettes kontrovers rezipiertes Buch Métalepse: De la figure à la fiction aus dem Jahr 2004, der von John Pier und Jean-Marie Schaeffer herausgegebene Sammelband Métalepses. Entorses au pacte de la représentation (2005) und die zahlreichen Artikel, die sich mittlerweile mit der narratologischen Kategorie beschäftigen. Der Band folgt den einflussreichen Beiträgen Werner Wolfs (2005 und 2009), die die transgenerische und transmediale Gültigkeit der narratologischen Analysekategorie ‚Metalepse‘ postulieren – eine Einsicht, die in der Forschung mittlerweile weithin als unstrittig gilt. Somit beschäftigt sich der Band natürlich nicht mit der rhetorischen Tradition von Quintilian bis Fontanier, die den Begriff ,Metalepse‘ meist zur Bezeichnung kontextuell unpassend gebrauchter Synonyme verwendet. Insofern ist der Klappentext irreführend, wenn darin behauptet wird, dass der vorliegende Band sich mit dem rhetorischen Terminus beschäftigt („Metalepsis in Popular Culture introduces the rhetorical concept of metalepsis and applies it to contemporary culture“). Hier geht es ausschließlich um das narratologische Konzept, das, obgleich von Genette aus der rhetorischen Tradition entwickelt, von dem rhetorischen Gebrauch des Begriffs der ‚Metalepse‘ strikt zu unterscheiden ist.1

1. Die Metalepse in der populären Kultur

Der vorliegende Sammelband ist der erste, der es sich zum Ziel setzt, die Metalepse ausschließlich als populärkulturelles Phänomen zu untersuchen.2 Hierbei gelingt es den Beiträgen des Bandes aufzuzeigen, dass sich die narratologische Analysekategorie, die von Genette primär zur Beschreibung textinterner Phänomene im Roman der Hochkultur entwickelt wurde, auch in der Diskussion von (multimedialen) Artefakten der Populärkultur als äußerst fruchtbar erweist. Metaleptische Transgressionen im populären Roman untersuchen zunächst einmal Sonja Klimek in der Fantasy Fiction und Liviu Lutas im Detektivroman. Während Klimek eine fiktionsinterne Typologie von ‚ascending‘, ‚descending‘ und ‚complex metalepses‘ entwirft und überzeugend auf die philosophischen Implikationen der Metalepse aufmerksam macht, rückt Lutas die metafiktionale Funktion der Metalepse in der ‚anti-detective novel‘ in den Vordergrund und liest sie als Allegorie des Leseprozesses.

In den weiteren Aufsätzen, die sich unter anderem mit Comics, Graphic Novels, Fernsehserien, und Cartoons beschäftigen, zeigt sich nicht nur, dass verschiedene Genres oder Medien verschiedene metaleptische Möglichkeiten eröffnen, sondern es wird auch die Ansicht vertreten, dass die narratologische Kategorie der Metalepse in diversen Medien und / oder Genres jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. In Anlehnung an Genettes Ausweitung des Phänomens („[a]ll fictions are woven through with metalepses“ [Genette 2004, 131]), argumentiert beispielsweise David Ben-Merre, dass Popmusik grundsätzlich metaleptisch sei. Allerdings, und dies unterscheidet laut Ben-Merre die metaleptischen Tendenzen in der Popmusik von Metalepsen im Roman, scheinen die untersuchten Lyrics die ‚reale‘ Welt des Hörers mit dem Ziel der Authentizitätserzeugung einzubeziehen und das Postulat in Frage zu stellen, dass die Metalepse ein fiktionsinternes Phänomen und Fiktionssignal sei.

Weitere Phänomene, die Unterscheidungen zu gängigen narratologischen Beschreibungen der Metalepse nötig machen, findet Tisha Turk in der kulturellen und populären Praxis der sogenannten Fan Fiction und Fan Vids. Hier ist die Beziehung zwischen Autor, Erzähler, Adressat und Leser, die beispielsweise Genettes Darstellung zu Grunde liegt, komplizierter und vielschichtiger, nicht zuletzt da es die Adressaten sind, die die betreffende Diegese und somit ihre eigene Immersion ‚gestalten‘. Besonders eindringlich verdeutlicht in diesem Zusammenhang der Beitrag von Roberta Hofer, dass mediale Bedingungen metaleptische (Un-)Möglichkeiten schaffen, die sich nicht mit dem Modell einer ‚textinternen‘ Kommunikationssituation beschreiben lassen. In „Metalepsis in Live Performance: Holographic Projections of the Cartoon Band ‚Gorillaz‘ as a Means of Metalepsis“ vertritt Hofer die These, dass der Auftritt der virtuellen Cartoon-Rockband „Gorillaz“ bei den Grammy Awards neuartige Grenzüberschreitungen erzeugt, die sich nicht einfach in narratologische Kategorien übersetzen lassen. Wenn mithilfe von holographischen Projektionen die Künstlerin Madonna sowie die Cartoon Charaktere gleichzeitig auf eine Bühne projiziert werden, so Hofer, werden die Grenzen von fiktionaler Diegese und ‚realer‘ Welt fragwürdig:

Is it our real world level mixing with a mimetic fictional level, or do the cartoon-band-members stay in their world, while we are tricked into thinking otherwise? The answer to this is also the answer to the next question. Are borders really crossed or are they just blurred? Is what seems to be a transgression only a clever optical illusion? (S. 250)

Unabhängig von den Fragen, ob es sich hierbei um genuine metaleptische Transgressionen handelt und was genuine Metalepsen eigentlich sind, demonstriert gerade Hofers Artikel die analytische Kraft der narratologischen Kategorie, insbesondere da die metaleptischen Potentiale der Holographien paradoxerweise eben jene ‚Grenzen‘ verwischen, die Metalepsen überhaupt erst ermöglichen. Was hier offenkundig wird, ist das Spiel von medial geprägter Immersion und distanzschaffender Metafiktionalität, von ‚realer‘ Fiktion und ‚virtueller‘ Realität – ein Spannungsfeld, das für viele populärkulturelle Formen der Grenzüberschreitung typisch ist. So kann Hofers Fazit als eines der Ergebnisse des ganzen Bandes gelten: Da metaleptische Potentiale eng mit den Möglichkeiten neuer Technologien zusammenhängen, werden sich metaleptische Phänomene im Zuge des technischen Fortschritts vervielfältigen, weiterentwickeln und generische Formen ausbilden.

2. Die Metalepse – a threshold of discovery

Die Beiträge des Bandes demonstrieren somit auf überzeugende Art und Weise, dass die narratologische Analysekategorie der ‚Metalepse‘ Entdeckungen in einer sich technisch kontinuierlich weiterentwickelnden Populärkultur erlaubt, die generische Formen, die eben diese Kultur bestimmen, ebenso wie deren erkenntnistheoretische Funktionen betreffen. Ein ähnliches Fazit zieht John Pier in seinem Nachwort:

Metalepsis occurs with the transgression of boundaries – or ,of the threshold of embedding,ʻ as Genette has put it. But […] the term threshold might also serve to describe the role of metalepsis: to act as a threshold of discovery – a point of entry – in a double sense. As a theoretical concept, metalepsis destabilizes categories and calls for new modes of analysis of existing emergent genres with their various media affordances, taking account of the metaleptic potential of multimodality and of the disruptive / immersive impact of transgressive border crossings […]. (S. 275)

In diesem Sinne leistet der Band einen wichtigen Beitrag zu der Erforschung von neuen Genres und ihren medialen Ausprägungen. Eine Besonderheit des Bandes ist die Homogenität der einzelnen Beiträge angesichts der generischen und medialen Vielfalt der erzählenden Diskurse. Diese Homogenität ist unter anderem der Tatsache geschuldet, dass vor und nach der Konferenz „Metalepsis in Popular Culture“ in Neuchâtel in der Schweiz ein reger Austausch unter den beteiligten Wissenschaftlern stattfand, der, wie im „Preface“ von Karin Kukkonen und Sonja Klimek ausgeführt, zu dem begrifflichen Konsens beigetragen habe, der die Beiträge zusammenhalte. Doch in der Form, in der dieser Konsens in der „Introduction“ von Karin Kukkonen dargestellt wird, vermag er nicht restlos zu überzeugen:

[T]he basic underlying assumption of fiction is that the fictional world is produced by an author (or creative team) in the real world. […] The two worlds relevant for metalepsis are thus the ,fictional worldʻ and the ,real world.ʻ […] The fictional world is the world we imagine as readers and audiences as the story unfolds. The ,real worldʻ is the world outside the fictional world, where readers and authors are located. In most media, the ,real worldʻ is largely a mental construction (S. 6-7).

Das ist natürlich problematisch, da es nicht die Unterscheidung zwischen der Konstruktion eines Produktionskontextes in der realen Welt und der Konstruktion eines fiktionalen Produktionskontextes als einer Extradiegese (z.B. in einem Film wie Mel Brooks Robin Hood) ermöglicht. So ist es nicht verwunderlich, dass die Mehrzahl der Beiträge den ‚begrifflichen Konsens‘ in der Form, wie er in der Introduction dargestellt wird, nicht aufrecht erhält. Das gilt beispielsweise für Sonja Klimek, die bereits in ihren früheren Arbeiten über die Metalepse nahe bei Genettes Definition bleibt (vgl. Klimek 2009). Am deutlichsten wird dies aber in dem Beitrag von Jean-Marc Limoges, der eine Definition anbietet, die für den von ihm untersuchten animation film tragfähig ist: „By adopting the terms diegetic, extradiegetic, and extrafictional, we can move away from the less useful notion of fictional vs. real world and thereby distinguish between the real world as such and the real world as it is represented“ (S. 199). So kommt Limoges zu der folgenden Schlussfolgerung: „My […] argument reveals that there are more than simply two worlds involved in a piece of fiction“ (S. 199). Bemerkenswerter Weise ist Limoges im expliziten Gegensatz zu dem in der Einleitung postulierten ‚Konsens‘ des Bandes somit praktisch zu Genettes Definition von 1972 zurückgekehrt. Er hat lediglich die Möglichkeit horizontaler Transgressionen eingeräumt und Begrifflichkeiten modifiziert, wenn er beispielsweise den narrator durch den transgenerischen und transmedialen fictional producer ergänzt (vgl. S. 202).

Auch in dieser Hinsicht scheint die Metalepse ein threshold of discovery: Womöglich sind solche definitorischen Unstimmigkeiten unvermeidbare Folgen einer Analysekategorie, die ihre eigenen Voraussetzungen aufhebt – die Metalepse übertritt und ‚verletzt‘ eben jene Strukturen, die die Grenzen bestimmen, die notwendige Voraussetzungen für die Metalepse sind. Aber solche Unstimmigkeiten gefährden nicht automatisch die oben angesprochene Homogenität. So ist vielleicht die erstaunlichste Entdeckung des insgesamt überzeugenden Bandes, dass es in der sich unentwegt wandelnden Populärkultur doch strukturelle Konstanten gibt, die sich bei der Analyse metaleptischer Transgressionen zeigen – allen divergierenden Definitionen, unterschiedlichen Typologien und medialen Ausprägungen der Metalepse, die die einzelnen Beiträge skizzieren, zum Trotz spricht der Band zu Recht und erhellend von der Metalepse in der Populärkultur.

Literaturverzeichnis

Genette, Gérard (2004): Métalepse. De la figure à la fiction. Paris.

Harpold, Terry (2008): „Screw the Grew. Mediality, Metalepsis, Recapture“. In: Zach Whalen (Hg.), Playing the Past. History and Nostalgia in Video Games. Nashville, TN, S. 91-108.

Klimek, Sonja (2009): „Metalepsis and its (Anti-)Illusionist Effects in the Arts, Media and Role-Playing Games“. In: Werner Wolf (Hg.), Metareference Across Media. Theory and Case Studies. Amsterdam, S. 169-187.

Malina, Debra (2002): Breaking the Frame. Metalepsis and the Construction of the Subject. Columbus.

Nelles, William (1997): Frameworks. New York.

Pier, John / Schaeffer, Jean-Marie (2005) (Hg.): Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris.

Wolf, Werner (2005): „Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon. A Case Study of the Possibilities of ,Exporting Narratological Concepts“. In: Jan Christoph Meister (Hg.), Narratology Beyond Literary Criticism. Berlin, S. 83-107.

, (2009): „Metareference across Media. The Concept, its Transmedial Potentials and Problems, Main Forms and Functions“. In: Ders. / Katharina Bantleon / Jeff Thoss (Hg.), Metareference across Media. Theory and Case Studies. Amsterdam, S. 1–85.



Julian Hanebeck
Zentrum für Graduiertenstudien (ZGS)
Bergische Universität Wuppertal
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
E-Mail: hanebeck@uni-wuppertal.de

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1Dies ist Konsens in heutiger narratologischer Forschung. Eine der wenigen Ausnahmen in dieser Hinsicht ist William Nelles, der die narratologische Definition der Metalepse von Genette aus der rhetorischen Verwendung ableitet und sie als „trope“ (1997, 157) bezeichnet.

2In diesem Umfang hat sich noch keine Studie mit der Metalepse in der Populärkultur beschäftigt. Bislang haben allenfalls einzelne Artikel diesen spezifischen Gegenstand in das Zentrum der Untersuchung gerückt, wie beispielsweise der Artikel von Harpold aus dem Jahr 2008, in dem metaleptische Transgressionen in Videospielen analysiert werden – ein Genre, das in dem vorliegenden Band keine Beachtung findet.