Peter Blume

Schlaglichter auf narratologische Grundfragen:

Gregory Currie legt eine „Philosophy of Stories“ vor

Gregory Currie: Narratives and Narrators: A Philosophy of Stories. Oxford: Oxford University Press 2010. 243 S. GBP 30,-. ISBN 978-0-19-964528-2.

Die Untersuchung von Gregory Currie widmet sich im Wesentlichen drei Themenkomplexen. Der erste Komplex, behandelt in den ersten drei Kapiteln, ist die Frage nach dem Wesenskern von Erzählungen, nach den spezifischen Differenzierungskriterien, durch die sich Erzählungen von anderen sprachlichen oder nicht sprachlichen Äußerungsarten unterscheiden lassen. Der zweite Themenkomplex wird überraschenderweise in lediglich einem Kapitel erörtert, obwohl der Titel der Studie eine ausführlichere Behandlung erwarten lässt: Es geht dabei um die häufig behandelte Frage nach der Aussageinstanz von Erzählungen und die Trennung zwischen Autor und Erzähler. Den dritten Themenkomplex schließlich bildet die Frage des kommunikativen Rahmens, den Autoren für die Rezeption von Erzählungen vorgeben. In insgesamt sieben Kapiteln geht Currie sowohl den theoretischen Grundlagen für das kommunikative „framing“ von Erzählungen nach als auch konkreten Ausprägungsformen und insbesondere der Bedeutung von Figuren („characters“) für die Rezeptionslenkung.

„Narratives“ – begriffliche Eingrenzung

Startpunkt für Curries Überlegungen hinsichtlich der Frage, wodurch Erzählungen1 definiert sind, ist ihre Kennzeichnung als „intentional-communicative artefacts“ (S. 26). Die Diskussion aller drei Teile dieser Definition – Erzählungen sind menschengemacht, und zwar zum Zweck der Kommunikation und mit bestimmten Zielen – ist, das sei vorweg gesagt, an vielen Stellen anregend und originell; wer allerdings eine trennscharfe Begriffsexplikation erwartet, wird enttäuscht. So grenzt Currie zwar die Erzählung als Artefakt von Erscheinungen ab, die als „natürliche Geschichten“ („Nature’s Narratives“, S. 21 ff.) aufgefasst werden könnten, wie Träume, Erinnerungen oder auch Lebensläufe, leistet aber keine plausible begriffliche Abgrenzung der Erzählung eben von der großen Menge anderer menschlicher Hervorbringungen. Die beiden einschränkenden Merkmale ‚intentional‘ und ‚kommunikativ‘ bieten zum einen keine hinreichende begriffliche Trennung, da es leicht fällt, eine Reihe von mit Intention und zum Zweck der Kommunikation erzeugten menschlichen Hervorbringungen aufzuzählen, die eindeutig keine Erzählungen sind, und bleiben zum anderen bei Currie teils zirkulär aufeinander bezogen. Letzteres verdeutlicht eine der wenigen Formulierungen, die einen Ansatz zu einer griffigen Erläuterung des Kernkonzepts einer „Philosophie der Erzählungen“ bietet: „narratives are intentional-communicative artefacts: artefacts that have as their function the communication of a story, which function they have by virtue of their makers’ intentions.“ (S. 6) Die „communication of a story“ kann ja gerade als eine Hauptintention zur Hervorbringung einer Erzählung gesehen werden; insofern ist der Aussagegehalt dieser Erläuterung gering, wenn danach Erzählungen ihre Funktion, eine Geschichte zu vermitteln, durch die bloßen Intentionen des Hervorbringenden zukommt, zu denen eben auch die Intention gehört, eine Geschichte zu erzählen. Worum es Currie dabei zu gehen scheint, das sind die weiteren Absichten, die von der Seite des Produzenten mit dem Erzählen einer Geschichte verknüpft sein können, und auf diese kommunikativen Absichten kommt er im weiteren Gang seiner Überlegungen verschiedentlich zu sprechen.

Doch zunächst geht es ihm darum, die Spezifika der Äußerungsform „Erzählung“ weiter herauszuarbeiten. Der Blick ist hierbei im ersten Schritt auf die Inhaltsseite gerichtet und auf die Frage, „what distinguishes stories from the contents of other representational forms“ (S. 27). Dass Erzählungen etwas darstellen („people, things, events, states, and processes – real or imagined“, S.  27), wird vorausgesetzt. Currie geht unmittelbar zu der Frage über, in welchem Verhältnis die Elemente des Dargestellten in einer Erzählung zueinander stehen, und verwirft dabei die zuweilen vertretene These, das Wesentliche einer Erzählung sei die kausale Verknüpfung zwischen den dargestellten Sachverhalten.2 Statt nach anderen möglichen Distinktionskriterien zu suchen, erachtet es Currie als aussichtsreicher, die Aufmerksamkeit von vornherein nicht auf eindeutige Unterscheidungsmerkmale zu richten, sondern auf verschiedene Grade von „Narrativität“ („narrativeness“ oder „narrativity“).3 Es sei schließlich weniger interessant, ob etwas der Kategorie „Erzählung“ zuzuordnen ist, als vielmehr angeben zu können, ob beispielsweise ein Text einen „greater degree of ‚narrativeness‘“ (S. 34) besitze als ein anderer. Auf inhaltlicher Ebene nennt Currie drei Merkmale, die für einen hohen Grad an „Narrativität“ sprechen:

Die eigentliche Besonderheit von Erzählungen sieht Currie jedoch nicht auf der Inhalts-, sondern auf der Ausdrucksseite, wie man in semiotischer Terminologie sagen könnte.4 Eine Erzählung mit hohem Grad an „Narrativität“ unterscheidet sich demnach von einer solchen mit geringem „Narrativitätsgrad“ weniger durch besondere inhaltliche Merkmale als vielmehr durch den Ausdruck einer besonderen Haltung des Autors zum Inhalt der Erzählung („expressed authorial attitude to story content“, S. 51). Diese spezifische Haltung bestehe unter anderem darin, die Aufmerksamkeit auf die kausalen und temporalen Relationen innerhalb des Erzählten zu lenken.

Darüber hinaus macht Currie aber auch darauf aufmerksam, dass eine Reihe von Prozessen, die für das Verstehen von Erzählungen essentiell sind, nur aus der Außenperspektive der Ausdrucksseite, des „Wie-wird-erzählt“, erklärt werden können. Zu diesen Prozessen rechnet er die Inferenzleistung, Erzähltes als möglich oder wahrscheinlich einzuschätzen, geht jedoch über bloße Inferenzen hinaus und weist darauf hin, dass im Rezeptionsvorgang häufig bestimmte Merkmale der Ausdrucksseite von den dargestellten Gegenständen quasi vollkommen abgekoppelt werden. Das Fehlen einer solchen Entkopplung würde dazu führen, „dumme Fragen“ („silly questions“ , S. 59, in Aufnahme eines Ausdrucks von Kendall Walton) an den Text zu stellen. So sei es, zumindest in Hinsicht auf die dargestellten Gegenstände, unsinnig, danach zu fragen, warum Othello in so wundervollen Versen spricht oder warum Figuren auf der Opernbühne sterbend ihre letzten Worte mit voller Kraft singend von sich geben. Der Grund dafür, warum diese Fragen, solange sie sich auf die dargestellte Welt beziehen, sinnlos sind, liege in der Begrenzung der „Darstellungskorrespondenz“ („limitations on representational correspondence“, S. 59) zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsebene. Nicht alle Merkmale auf der Ebene der Darstellung spiegelten Merkmale auf der Ebene des Dargestellten wider.5 Dennoch flössen sie – das ist eine Grundthese von Currie – in das Verständnis des gesamten „Artefakts“, das eine Erzählung ist, ein.

Autor oder Erzähler – wer kommuniziert, wer intendiert?

Letztlich zielt Curries Insistieren auf der Bedeutung der Ausdrucksebene von Erzählungen auf einen wesentlichen Aspekt: auf die mit der Erzählung verbundenen kommunikativen Intentionen. Dies kommt auch in den zwar relativ knappen, für den gesamten Argumentationszusammenhang jedoch zentralen Ausführungen zu der vieldiskutierten Frage nach der Unterscheidbarkeit zwischen Autor- und Erzählerinstanz deutlich zum Ausdruck. Kurz gefasst, vertritt Currie hierbei die These, für die begriffliche Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler bestehe in den allermeisten Fällen keine Veranlassung,6 und das Kernargument dafür lautet, dass für das Verstehen von Erzählungen eben jene kommunikativen Intentionen von tragender Bedeutung sind, für die ausschließlich der Schöpfer des „Artefakts“ Erzählung verantwortlich zeichnet.7

Mögliche Argumente, die für die Trennung zwischen Autor und Erzähler sprechen könnten, weist Currie zum Teil mit guten, zum Teil mit weniger guten Gründen zurück. Mit guten Gründen beispielsweise dann, wenn er das von Käte Hamburger8 bereits ausführlich diskutierte Problem, dass es sich bei dem grammatischen Präteritum, in dem die Sätze fiktionaler Erzählungen üblicherweise stehen, um keine „echte“ Vergangenheitsform handeln könne, auflöst, indem er erneut auf die beschränkte „representational correspondence“ zwischen der Form des Erzählens und dem Inhalt der Erzählung hinweist (vgl. S.  78 f.). Demnach wäre die Verwendung des Präteritums in fiktionalen Erzähltexten als bloßes Ausdrucksmittel auf der externen Ebene zu verstehen – beinah so wie der Gesang in einer Oper –, das in keinem notwendigen Zusammenhang mit den geschilderten Sachverhalten auf der Inhaltsebene steht. Weniger überzeugend sind Curries Argumente hingegen, wenn er etwa für Tolstois Anna Karenina zwar keinen Erzähler, aber einen „implied-author“ postuliert, mit der Begründung, die Erzählinstanz lasse deutlich charakterliche Eigenschaften erkennen, die dem realen Autor bekanntermaßen abgingen (vgl. S.  72 f.).

Was am Ende jedoch im Kern und durchaus als bedenkenswert stehen bleibt, ist einerseits der Hinweis auf die Unabdingbarkeit des Autors als diejenige Instanz, die für das „Artefakt Erzählung“ und die damit verknüpften kommunikativen Intentionen verantwortlich ist, und andererseits die „Umkehrung der Beweislast“, wenn es um die Einführung einer zusätzlichen begrifflichen Instanz bei der analytischen Betrachtung von Erzählungen geht; mit der „burden of proof“ (S. 85) sollten, so Currie, nicht diejenigen belastet sein, die nicht von der Notwendigkeit einer Trennung zwischen Autor und Erzähler überzeugt sind, sondern diejenigen, die sie im Gegenteil für zwingend nötig halten und damit eine zusätzliche Kategorie einführen, denn: „it is not any sort of analytical necessity that narratives have narrators“ (S. 85).

„Point of view“ und „framing effect“ – Rezeptionslenkung durch Erzählhaltung

Mit den letzten sieben Kapiteln seiner Untersuchung widmet sich Currie ausführlich den Prozessen der Rezeptionslenkung auf der Ausdrucksseite von Erzählungen. Zentrale Begriffe sind dabei der des „frameworks“ bzw. des „framing effects“ und der – allerdings abweichend von dem üblichen Verständnis ausgelegte – Begriff „point of view“. Currie entwirft ein „Standard Model“ (vgl. S. 106 f.) der kommunikativen Interaktion zwischen Erzählung und Rezipient, in dem die Gesamtheit des Wissens, der Einstellungen, der Werte, Bewertungen und Überzeugungen, die durch den Erzähler zum Ausdruck gebracht werden, die Schlüsselrolle spielt. Diese in der Erzählung sich zeigende Haltung des Erzählers macht das aus, was Currie unter „point of view“ versteht. Mit der gängigen Auffassung in der Linie einer visuellen Wahrnehmungsmetaphorik als Erzählperspektive oder Sichtweise sei der Begriff viel zu eng interpretiert, vielmehr komme mit dem „point of view“ einer Erzählung „something like a whole persona“ (S. 92) zum Ausdruck. Mit diesem „Bild einer Person“, das Currie zufolge im Rezeptionsvorgang in unserem Geist entsteht, wird zugleich auch ein Rahmen wertender Einstellungen und emotionaler Reaktionen auf das Erzählte abgesteckt. Diesen Vorgang bezeichnet er als den „framing effect“, der mit dem Erzählen einhergeht. Während nach dem Inhalt einer Erzählung gefragt wird mit „what happens according to the story?“, liegt die Antwort darauf, welches „framework“ eine Erzählung entwirft, in der Frage „in what ways are we invited to respond according to those happenings?“ (S. 93).

Zu fundieren versucht Currie seine Theorie des „framing effects“ auf Ergebnissen aus der neueren Entwicklungspsychologie und Kognitionsforschung und greift dabei auf das Konzept der gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung („joint attending“, S. 97 ff.) und Erkenntnisse über die Bedeutung der Nachahmung („imitation“, S. 100 f.) für die soziale und sprachliche Interaktion zwischen Menschen zurück. Beide Aspekte sind jedoch nicht ausreichend in die Argumentation eingebunden und wirken daher mehr oder weniger willkürlich herangezogen. Ebenso ist kritisch anzumerken, dass sich Currie mit der Ausweitung des Begriffs „point of view“ auf eine Art von Person, die im Aufnahmeprozess quasi vor dem inneren Auge des Rezipienten entsteht, doch wieder in die Richtung einer Auslegung dieser Instanz als etwas wie eine Erzählerfigur bewegt – eine Auffassung, der er zuvor noch widersprochen hat.

Currie geht im Weiteren näher auf spezielle Ausprägungen des „framing effects“ ein. Ganz besonders in den Blick nimmt er in diesem Zusammenhang die „figurenzentrierte Erzählung“ („character-focused narration“, S. 123 ff.), die für ihn gewissermaßen einen Prototyp von Narration darstellt, da er eine Art von natürlicher Verbindung zwischen der Darstellung von Personen und dem Medium der Erzählung sieht (vgl. das Kapitel „Narrative and Character“, S. 186 ff.). Darüber hinaus widmet er sich dem Sonderfall des ironischen Erzählens, das er durch einen vorgegebenen („pretended“) „point of view“ konstituiert sieht und anhand von Alfred Hitchcocks Filmwerk The Birds einer genaueren Betrachtung unterzieht.

Fazit

Insgesamt handelt es sich bei Gregory Curries „Philosophy of Stories“ um eine an vielen Stellen anregende Untersuchung, die vor allem durch die Perspektive der angelsächsischen analytischen Philosophie auf einige Theoreme der genuin literaturwissenschaftlichen Narratologie von Interesse ist. Hier und da unmotiviert wirkt hingegen die Einbeziehung von Forschungsergebnissen aus der Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, die nur locker in den Argumentationszusammenhang integriert scheinen. Wünschenswert aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre eine engere Anbindung der Überlegungen an konkrete Textbeispiele. Wo eine solche Textnähe gesucht wird, verstellt zuweilen eine erkennbare Vorliebe für „klassische“ Erzählungen des 19. Jahrhunderts den Blick auf die ganze Bandbreite von Möglichkeiten des literarischen Erzählens und die daraus erwachsenden vielfältigen Problemstellungen. Der relativ schwachen Bezugnahme auf das literarische Erzählen steht allerdings das deutlich ausgesprochene Ziel gegenüber, Erzählen medienübergreifend als Phänomen erklären zu wollen. Nicht zuletzt aufgrund dieses weiten Blickwinkels ergeben sich für die literaturwissenschaftlich orientierte Narratologie interessante Sichtweisen.

Literaturverzeichnis

Hamburger, Käte (1957): Die Logik der Dichtung. Stuttgart.

Prince, Gerald (1982): Narratology. The Form and Functioning of Narrative. Berlin.

Weber, Dietrich (1998): Erzählliteratur. Schriftwerk – Kunstwerk – Erzählwerk. Göttingen.



Dr. Peter Blume
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1 Currie benutzt die Wörter „narrative“, „narration“ und „story“ weitestgehend synonym. Soweit es nicht für das Verständnis von besonderer Bedeutung ist, welchen Ausdrucks er sich in einem bestimmten Zusammenhang bedient, ist in dieser Besprechung einheitlich von „Erzählung“ die Rede.

2[W]hat matters to narrative is its representation of dependencies in general between events, many of which will be causal but some of which may not“ (S. 32).

3 Vgl. dazu auch Prince (1982, 148 ff.).

4 Currie selbst stellt den „story features“ auf der einen die „expressive features“ einer Narration auf der anderen Seite gegenüber (S. 52). Der Terminus „Ausdrucksseite“ lässt sich dabei mehr oder weniger mit den „expressive features“ zur Deckung bringen. Statt „story features“ spricht Currie an anderer Stelle auch schlicht von „story content“, also Inhalt, der durch die Narration repräsentiert werde (vgl. S. 7 ff.).

5For a given representational work, only certain features of the representation serve to represent features of the things represented“ (S. 59).

6 Im Bereich der deutschsprachigen Literaturwissenschaft hat wohl am prononciertesten Dietrich Weber (1998) gegen die kategorische Trennung von Autor und Erzähler argumentiert. Die Begründungen überschneiden sich dabei jedoch nur zum Teil mit denen von Currie.

7I say that, for virtually all cases of narrative we are likely to come across, there is no distinction that should or can be made between authors and narrators, for there is no distinction to be made between narrative-making and narrative-telling“ (S. 65). Vgl. auch: „The author of the letter, novel, or poem is its narrator in the proper sense: the person whose intentions have to be understood if we are to understand what is being communicated to us“ (S. 66).

8 Vgl. Hamburger (1957). Bei Currie bleibt Käte Hamburger allerdings unerwähnt.