Andreas Mauz

Golgatha erzählen

Das Sterben Jesu von Nazareth zwischen neutestamentlicher Überlieferung und literarischer Moderne

Representations of a life’s end generally play a decisive role in biographical storytelling. As the very last chapter they give a final status to all previous events. It is against this background this paper aims at a synopsis of the New Testament’s accounts of the dying of Jesus juxtaposed with their modern literary appropriations. What happens with the structure of biographical narratives if death is not the last chapter? Grounded on a specific understanding of the notion of “narrative of dying”, the paper first identifies this very genre within the gospel’s passion narratives. The observations on the biblical basic script – among others the key role of the last words – are then related to two novels: Amos Oz’s Judas (2014) represents Jesus’s dying in a complex anachronic narrative which takes the betrayer’s viewpoint as its focus. Franz Heinrich Achermann’s The Antichrist (1939) includes the re-enactment of the Passion within a Sci-Fi novel, merging it with the Second Coming of Christ. The observations made give rise to final remarks regarding both the genre “narrative of dying” as the so-called ‘Jesus Novel’.

Vom Tod her wird das Leben geführt und erzählt.
(Angehrn 2017, 122)
The most interesting aspect of reading a Jesus novel is
that you always know how it ends (plot spoiler alert: the hero dies).

(Crook 2011, 504)

Innerhalb des weiten Spektrums des (auto-)biographischen Erzählens kommt der narrativen Gestaltung des Lebensendes eine besondere Stellung zu. In diesem Fall steht nicht irgendeine Phase der betreffenden Lebensgeschichte zur Debatte, sondern deren Finale. Das letzte Kapitel formatiert als solches auch die Spezifik und den Stellenwert aller vorangehenden Ereignisse.1 Das Gewicht der biografischen Erzählung an der Grenzlage des Lebensendes mobilisiert umfassende Integrationsmuster vom Typ Erfüllung, Versagen oder Befreiung von einer illusionären Wunschvorstellung.

Diese Schlüsselstellung der Sterbeerzählung ist auch und in besonderer Weise nachvollziehbar im Fall von Erzählungen der Jesusgeschichte. Das Besondere liegt dabei nicht nur im eigentümlichen Faktum, dass die christliche heilige Schrift der Vierzahl der kanonischen Evangelien entsprechend auch vier Fassungen der Passionsgeschichte bietet, die sich in signifikanten Hinsichten voneinander unterscheiden. Das narratologisch wie theologisch Entscheidende dieser Erzählungen liegt darin, dass die eingangs formulierte Logik in gewisser Weise gesprengt wird. Denn die Geschichte Jesu endet bekanntlich nicht mit seinem Sterben. Da auf die Erzählungen von der Kreuzigung die von seiner Auferweckung folgen, erweist sich das letzte Kapitel als vorletztes.

Mit diesen Hinweisen ist in erster Annäherung das Feld benannt, dem die folgenden Überlegungen gelten. Insofern der Beitrag von den kanonischen Evangelien des Neuen Testaments ausgehend an ausgewählten literarischen Jesuserzählungen arbeitet, bezieht er sich auch auf das interdisziplinäre Feld der Religion-und-Literatur-Forschung bzw. insbesondere auf die Forschung zum sogenannten „Jesusroman“ (vgl. u.a. Maczynska 2015; Crook 2011) und die texthermeneutische Debatte zwischen Bibelwissenschaft und Literaturwissenschaft (vgl. exemplarisch mit Bezug zum gegebenen Thema: Zimmermann 2005).2 Bevor nun die narrative Darstellung des Sterbens Jesu in den Evangelien und, in aller Kürze, das theologische Gewicht dieser Einheit der Jesusgeschichte in den Blick genommen werden, folgen zunächst einige Überlegungen zum Leitbegriff der Sterbeerzählung.

I. Prolegomena zur Sterbeerzählung

Erzählungen und auch Erzähltypen gibt es viele. Zunächst ist zu fragen, welches Unterscheidungskriterium die Sterbeerzählung als einen bestimmten Typus im Kosmos der Erzählungen charakterisiert. Das Kriterium, das die Differenzierung erlaubt, scheint – analog etwa zur Kriminalerzählung – ein thematisches zu sein.3 So wie Kriminalerzählungen von wenigstens einem kriminellen Akt und seinen Folgen handeln, handeln Sterbeerzählung von den Umständen wenigstens eines Sterbeprozesses. Thema dieses Erzähltypus ist das oder ein Sterben. Diese Bestimmung kann allerdings nur eine vorläufige sein, wirft sie doch die Folgefrage auf, was unter diesem Handeln-von bzw. Thema-Sein genauer zu verstehen ist. Diese Diskussion ist hier nicht im Detail zu führen.4 Zur Konturierung des Begriffs mögen aber die folgenden Hinweise nützlich sein:

  1. Um von einer Sterbeerzählung zu sprechen, ist es sicher nicht hinreichend, wenn im fraglichen Erzähltext gestorben wird. Das ist in Erzählungen einer gewissen Länge die Regel. Würden sie alle als Sterbeerzählung bezeichnet, verlöre das Label gerade die Distinktionsfunktion, die es innerhalb der literaturwissenschaftlichen wie multidisziplinären Lebensendforschung haben könnte.

  2. Das Ereignis des Sterbens muss, so lässt sich folgern, nicht nur ,vorkommen‘. Es muss innerhalb der diskursiven Präsentation des Erzählten eine oder die tragende Rolle spielen.

  3. Dass das Sterben vorkommen und eine tragende Rolle spielen muss, schließt wiederum nicht zwangsläufig ein, dass innerhalb der erzählten Welt eine Figur tatsächlich stirbt. Es mag Sterbeerzählungen geben, in denen nicht gestorben wird, weil eine tragende Rolle des Sterbethemas auch ohne akuten Sterbefall denkbar ist (etwa durch einen Abbruch der Erzählung vor dem Lebensende oder auch in Gestalt intensiver Imagination eines künftigen Lebensendes).

  4. Die letzte Bemerkung gibt Anlass zu typologischen Binnenunterscheidungen. Man kann tentativ den Subtypus der reflexiven Sterbeerzählung einführen, der vom Typus der präsentativen Sterbeerzählung zu unterscheiden, nicht aber zwingend zu trennen wäre.5 Zweifellos gibt es Erzählungen, die der Darstellung des Sterbens ‚im engeren Sinn‘ (also einschließlich deskriptiver Aussagen zur leiblichen und/oder psychischen Befindlichkeit des oder der Betroffenen) nicht weniger Raum geben als dessen Reflexion – ausgespannt etwa zwischen Erwägungen zur Möglichkeit postmortaler Existenz und ganz und gar irdischen Erörterungen des Erbrechts.

  5. Eine weitere basale Binnenunterscheidung ist die der Sterbeerzählung im engeren und im weiteren Sinn. Während Sterbeerzählungen im engeren Sinn ausschließlich das Ereignis eines Ablebens im Sinn einer Sterbeszene betreffen (meist auch charakterisiert durch die Einheit des Handlungsraums), thematisieren Sterbeerzählungen im weiteren Sinn eine breitere Zeitspanne und bringen Ereigniszusammenhänge zur Darstellung, die nur mittelbar die Sterbeszene betreffen.

  6. Es gibt keinen Grund, die Rede von Sterbeerzählungen ausschließlich für integrale Erzähltexte zu reservieren; auch bestimmte Texteinheiten einer umfangreicheren Erzählung lassen sich durch diese Bezeichnung sinnvoll identifizieren.

Der erste Teil des Kompositums „Sterbeerzählung“ – das Sterben – wurde bislang so verwendet, als verstehe er sich von selbst. Das ist, betrachtet man die Fachdiskussion um Sterben und Tod, aber keineswegs der Fall. Man denke nur an das auch andernorts virulente Problem, zuverlässig einen Anfangs- und einen Endpunkt des betreffenden Vorgangs zu bestimmen. Diese und weitere anspruchsvolle Fragen scheinen für das Folgende dennoch nicht unmittelbar wichtig. Eine Orientierung am Common-Sense-Verständnis der in Frage stehenden leiblichen und/oder psychischen Vorgänge ist hinreichend: „Der Sterbeprozess bezeichnet die letzte Phase des Lebens eines organischen Individuums, in der die Lebensfunktionen unumkehrbar zu einem Ende kommen“ (Groß/Grande 2010, 75).6 Um der Eigenart des Phänomens Rechnung zu tragen, sind aber wenigstens zwei weitere Aspekte zu betonen:

  1. Unabhängig von den vielfältigen Aspekten, die für den höchst individuellen psychophysischen Vorgang des Sterbens relevant werden können, steht der basale Sachverhalt, dass es sich beim Sterben eben darum handelt: um einem mehrstufigen Vorgang, einen Prozess, der eine bestimmte Verlaufslogik aufweist. Sei es in prospektiver Erwartung oder in retrospektiver Beschreibung, die Rede vom Sterben bezeichnet als summarische Kategorie eine recht komplexe Reihe von Handlungen und/oder Ereignissen, die auf- und auseinander folgen (vgl. Bardenheuer 2012).7

  2. Im Blick auf die hier diskutierten Sterbeerzählungen muss an das weite Spektrum möglicher Todesarten (mit jeweils korrespondierenden Sterbeprozessen) erinnert werden. An die Seite eines ‚ordentlichen‘ Alterstodes oder Todes durch ‚normale‘ Unfälle treten auch außerordentliche wie Abtreibung, Euthanasie, Kindstötung, Selbsttötung, Mord, Todesstrafe, Hinrichtung, Massenmord, Menschenopfer, Kannibalismus, freiwilliges Opfer des Lebens und Tötung durch terroristische Akte.8 Innerhalb dieser Reihe ist das Sterben Jesu in allgemeiner Sicht dem Typus der Todesstrafe zuzuordnen (in theologischer dagegen, s.u., auch dem freiwilligen Opfer des Lebens). Es handelt sich hier also um ein Sterben durch gewaltsame Fremdeinwirkung, wobei diese legitim scheint, weil sie als Strafe fungiert. Aufgrund eines bestimmten für kapital erachteten Vergehens wird der Betreffende im Rahmen eines mehr oder weniger formalisierten Prozesses für schuldig befunden und zur Maximalstrafe des Lebensverlusts verurteilt. Diese juristischen Zusammenhänge kommen denn auch zur Darstellung in Erzählungen vom Sterben Jesu. Sie können nun in Gestalt ihrer kanonischen Versionen – dem Sterben Jesu in den Evangelien – in den Blick kommen.

II. Jesus, der Gekreuzigte

Die Geschichte Jesu von Nazareth gehört zum Kernbestand des abendländischen Wissens; auch unter den Bedingungen, die unter Schlagworten wie dem der ,säkularen Moderne‘ gebündelt werden, ist sie vielfältig präsent, etwa und prominent als Regulativ des Festkalenders. Weihnachten ist das Fest der Wiederkehr der Geburt des Jesuskindes. Aber dennoch ist es nicht die Geburt – oder theologischer gefasst: die Menschwerdung Gottes –, die das ikonische Moment der Jesusgeschichte darstellt, sondern sein Sterben. Zugespitzt formuliert: Jesus ist der Gekreuzigte.9 Das maßgebliche Symbol des Christentums ist das Kreuz – und nicht die Krippe, nicht eines der Gleichnisbilder Jesu für das Reich Gottes und auch nicht Brot und Wein. Dass es nicht andere Episoden der Jesusgeschichte sind, die diesen Status einnehmen, hat seine Gründe. Und diese lassen sich am besten exponieren, wenn man sich dem biblischen Genre zuwendet, in dem die narrative Darstellung Jesu am prominentesten erscheint: seine „kerygmatisch-historiographischen Biographien“ (Dormeyer 1989, 173), genannt Evangelien.

Der Bibelwissenschaftler Martin Kähler hat den wesentlichen Punkt prägnant formuliert: Man könne die Evangelien (und nicht nur Mk, wie man immer wieder liest) „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“ nennen (Kähler 1956, 60).10 Wenn diese grundsätzlich chronologische Erzählungen darstellen und dem biographischen Grundmuster ,von der Wiege‘ (Mt / Lk) bzw. vom Beginn des öffentlichen Auftretens (Mk / Joh) ,bis zum Grab folgen‘, so liegt ihr Fokus eindeutig auf der Darstellung des Lebensendes: der Passion Jesu, der Kreuzigung – und der Auferstehung. Der stärkeren Gewichtung des Endes korrespondiert, wie man immer wieder registriert hat, eine auffallende, weil sehr breite biographische Lücke. Weite Teile eines stereotypen Lebenslaufes entfallen: Der Jesus der Evangelien hat nur eine minimale Säuglingsphase, keine Kindheit und Jugend (die Episode um den 12-jährigen Jesus im Tempel, ausschließlich überliefert in Lk 2,41-52, ist die Ausnahme, die diese Regel bestätigt). Und die Darstellung seines Erwachsenenalters – die Verkündigung in Galiläa – wird wiederum klar dominiert durch die letzten Lebenstage, den Aufenthalt in Jerusalem. Narratologisch reformuliert: Das Erzähltempo wird gegen Ende der Erzählung massiv verlangsamt; die Darstellung der letzten Tage und Lebensstunden Jesu nimmt einen signifikanten Anteil der Erzählzeit in Anspruch.

Dem Gewicht, das dem Lebensende erzählpragmatisch zukommt, korrespondiert seine theologische Zentralstellung: Der Tod Jesu ist die immer strittige Mitte der sogenannten Soteriologie, d. h. der Reflexion auf den sotêr (gr. ,Retter‘), auf die Heilsbedeutung Jesu Christi. Wer aussagen möchte, warum das Christentum Christentum heißt und für sie oder ihn einen lebensbestimmenden Bezugspunkt bildet, muss vom Kreuz sprechen – vom Kreuz in seiner prekären Beziehung zur Auferstehung oder Auferweckung11. Von den neutestamentlichen Schriften bis in die unmittelbare Gegenwart bilden Kreuz und Auferweckung eine spannungsvolle Einheit, die in Theologoumena wie Sühne, Opfer, Stellvertretung etc. systematisch entfaltet wird.12

Wenn das zweite der beiden Kontrastereignisse, die Auferweckung, dem Verständnis einigen Widerstand entgegen setzt (was nicht erst unter den Bedingungen moderner Rationalität bzw. der sog. ,Wunderkritik‘, sondern, wie anhand der neutestamentlichen Erzählungen nachvollziehbar, auch für die Zeugenfiguren, die Frauen am leeren Grab der Fall ist), so ist doch das erste Ereignis, das Kreuz, zumindest ebenso schwierig, wenn nicht noch schwieriger integrierbar in geläufige Verstehensmuster. Wie ist die äußerste Machtlosigkeit des Kreuzestodes zu verbinden mit der Behauptung, dass Jesus der ,Sohn Gottes‘ sei? Wie anstößig und grotesk diese Vorstellung innerhalb der multikulturellen Konstellation der Spätantike war, geht aus einer einschlägigen Formulierung aus dem 1. Korintherbrief hervor: Der „gekreuzigte Christus“, den die Gemeinden verkünden, sei – so Paulus – „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1. Kor 1,23). Innerhalb der Inversionslogik, die den Glauben bestimmt und die Weisheit der Welt als Torheit erweist, ist „das Wort vom Kreuz“ dagegen „eine Gotteskraft“ (1. Kor 1,18). 13 Unter den Bedingungen spätmoderner Rationalität vervielfältigen sich die Verstehensprobleme noch weiter. Der katholische Neutestamentler Thomas Söding hat den Kreuzestod Jesu entsprechend als vierfachen Skandal beschrieben:

Der Tod Jesu ist ein Skandal (1Kor 1,23). Er ist ein Justizskandal, weil ein Unschuldiger zum Tode verurteilt worden ist. Er ist ein Politskandal, weil Jesus als Terrorist verfolgt worden ist, der er nie war. Er ist ein Kirchenskandal, weil der Kreuzestod Jesu mörderische Aggressionen gegen Juden befeuert hat. Er ist vor allem ein Gottesskandal, weil die Frage, wie Gott (wenn es ihn gibt) den Tod seines Sohnes (wenn Jesus es denn ist) hat zulassen können, gar gesteuert hat, unter den Nägeln brennt. (Söding 2014/2015, 11; Hervorh. von mir, AM)

Södings Tableau ist zunächst hilfreich, weil es explizit die Problemdimensionen benennt, die sich sicher nicht nur aus zeitgenössischer Sicht (und innerhalb ihrer wiederum nicht nur in der Theologie) mit der Spezifik des Sterbens Jesu verbinden. Es ist aber auch von Interesse, weil das Zitat implizit, deshalb aber nicht weniger deutlich, die bibelhermeneutische Problemlage anzeigt, die immer mehr oder weniger deutlich im Spiel ist: Auslegungen der Jesusgeschichte – seien sie argumentativ-theologischer Natur oder auch narrativ-literarischer Art – laden insbesondere, wenn vom Kreuz die Rede ist, ein zu pointierten Positionsbezügen. Sie setzen ein bestimmter globales theologisches Textverständnis voraus, das es den Interpretinnen und Interpreten erlaubt, zu bestimmten Ereignissen in bestimmter Weise Stellung zu nehmen. Im Fall des zitierten Forschers: Er wird zum wissenschaftlichen Richter über die Richter und religiösen Verantwortungsträger, die er als historische Akteure begreift. Innerhalb eines dezidiert normativen Denk- und Darstellungshorizonts kann er so Urteile als Fehlurteile identifizieren. Dies geht so weit, dass er (zwar in einer Negativbestimmung) substanzialistisch formuliert, was „Jesus […] war“: nämlich „nie“ „ein Terrorist“ (ebd.). Was aus einer Aussage dieser Art exemplarisch hervorgeht, ist die generell dezidierte Grundierung texthermeneutischer Operationen im Umfeld der Jesusgeschichte, eine Grundierung, die auch und vielleicht besonders in der Produktion wie in der Rezeption literarischer Gestaltungen deutlich wird.

III. Die Passionsgeschichten als Sterbeerzählungen

Um den Erkenntnisgegenstand hinreichend einzugrenzen, muss nun gefragt werden, welche Sequenz der umfänglichen Darstellung der letzten Lebenstage Jesu denn nun als Sterbeerzählung bezeichnet werden soll. Um mit einer negativen Bestimmung einzusetzen: Die Sterbeerzählung ist nicht zu identifizieren mit den Handlungs- und Ereigniszusammenhängen, die auch außerhalb der neutestamentlichen Fachdebatte als die Passionsgeschichte(n) oder auch die Passionsereignisse gelten (vgl. einführend: Tiwald et al. 2017). Letztere setzen üblicherweise ein mit dem Einzug Jesu in Jerusalem bzw. mit der sogenannten Tempelreinigung, die die Konfrontation mit den jüdischen Autoritäten verschärft und dazu führt, dass „die Hohepriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten“ (Mk 14,1). Und sie enden in der Regel mit der Grablegung. Die Passionsereignisse umfassen somit insgesamt – und abstrahierend von den vielfältigen und teils signifikanten Detaildifferenzen – die folgenden Handlungseinheiten:

  1. den Einzug in Jerusalem,

  2. die Tempelreinigung,

  3. das letzte Mahl (Abendmahl),

  4. die beiden Prozesse (erst der jüdische, dann der römische),

  5. die Kreuzigung und

  6. die Grablegung.

Was im gegebenen Zusammenhang als Sterbeerzählung bezeichnet wird, deckt sich innerhalb dieser Struktur natürlich am ehesten mit der fünften Einheit der Kreuzigung, doch nicht restlos. Denn welche Ereignisse und konkreten Verse unter diesem Begriff gebündelt werden sollen, liegt wiederum nicht auf der Hand, weil Segmentierungen, je nach Verständnis und kontextuellem Bedarf so oder anders, großzügiger oder auch kleinteiliger ausfallen können: Meint „die Kreuzigung“, maximal eng gefasst, das Kreuzigen, d. h. die physische Anbringung Jesu am Kreuz und dessen Aufrichtung? Soll der Begriff diese technischen Handlungen einschließlich des kausal aus ihnen folgenden Leidens und Sterbens bezeichnen? Oder soll er noch weiter gefasst werden, nämlich ausgedehnt auf die Ereignisse auf dem Weg nach Golgatha und die Reaktion der anwesenden Frauen?

Betrachtet man nun die Perikopengrenzen, die in der aktuellen Luther-Übersetzung (2017) gezogen werden, so entsprechen sie dem letztgenannten Verständnis. Die Perikope Jesu Kreuzigung und Tod umfasst hier die Verse Mk 15,20b-40, also die Sequenz, die beginnt mit „Und sie führten ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten“ und endet mit dem Hinweis auf die Frauen, die Jesus in Galiläa nachgefolgt und auch „mit ihm hinauf nach Jerusalem gegangen waren“. Diese Begrenzung hat nun auch viel für sich, wenn man den Text als Sterbeerzählung thematisiert. Allerdings liegt es nahe, die vordere Grenze noch etwas weiter nach vorne zu verschieben. Denn eine plausible Segmentierung dürfte darin liegen, die Sterbeerzählung nach dem Todesurteil beginnen zu lassen. Von diesem Moment an steht fest, dass Jesus nicht nicht bestraft wird (man vergleiche die Option der Freilassung an Stelle des Barabbas, Mk 15,8-15), aber und auch nicht anders bestraft wird (etwa durch eine leichtere Strafe oder auch durch eine andere Tötungsart wie die jüdischerseits praktizierte Steinigung). Im Fall nicht nur dieser, sondern beliebiger Erzähltexte, die von einem Todesurteil und seiner Vollstreckung handeln, ist es eine naheliegende Option, die Sterbeerzählung als narrative Einheit zu begrenzen durch die idealtypische Folgelogik von (1.) Prozess, (2.) Urteil und (3.) Vollstreckung des Urteils. Als Sterbeerzählung seien mit Blick auf die Luther-Bibel also nicht nur die Perikope Jesu Kreuzigung und Tod (Mk 15,20b-41) gefasst, sondern auch die Hälfte des ihr vorangehenden Abschnitts Jesu Verurteilung und Verspottung (Mk 15,6-20a). Die Sterbeerzählung wird demnach eingeführt durch den Finalsatz der (wie man korrespondierend sagen könnte) Prozesserzählung, das Urteil des Pilatus: „Pilatus aber wollte dem Volk Genüge tun und gab ihnen Barabbas los und ließ Jesus geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde“ (Mk 15,15). Wenn dieser Satz – zu verorten im Palast des Pilatus – zur Sterbeerzählung hinführt, so wird sie selbst in räumlicher Hinsicht bestimmt durch (1.) den Weg nach und maßgeblicher (2.) die Ereignisse auf Golgatha. Was den Titel vorliegender Überlegungen motiviert, ist denn auch dieses räumliche Identifikationsmoment: Durch den Sterbeort, das Kreuz auf Golgatha („das heißt übersetzt: Schädelstätte“ [Mk 15,22b]), ist Golgatha ein Synonym für das Sterben Jesu.14

Versteht man die neutestamentlichen Versionen der Sterbeerzählung Jesu im Sinn dieses Handlungszusammenhangs, so sind es, genauer betrachtet (und auf markinischer Grundlage), zumindest dreizehn eigens abgrenzbare Motive15, die ihn konstituieren:

  1. die Verspottung Jesu im Prätorium des Palasts (Purpurmantel/Dornenkrone; Begrüßung als „der Juden König“; Schläge und Anspeien; ‚Huldigung‘ durch Kniefall; 15,16-20);

  2. das Tragen des Kreuzes vom Palast nach Golgatha (durch Jesus oder stellvertretend durch Simon von Kyrene, 15,20-21);

  3. die Kreuzigung im genannten engsten Sinn des Kreuzigens („Und sie kreuzigten ihn“, (15,24a), einschließlich seiner genauen Terminierung (15,15) und der Tafel mit dem Hinweis auf das Vergehen Jesu: „Der König der Juden“ (15,26b);

  4. das Loswerfen der Soldaten zur Aufteilung der Kleider (15,24b);

  5. die Präsenz zweier anderer zum Tod Verurteilter („einen zu seiner Rechten, einen zu seiner Linken“; 15,27);

  6. die erneute Verspottung durch die, „die vorübergingen“ (15,29), die Hohepriester und Schriftgelehrten und die beiden gekreuzigten „Räuber“ (15,31-32);

  7. das erste und kosmische Begleitereignis: die vor dem Eintritt des Todes beginnende mehrstündige „Finsternis über das ganze Land“ (15,33);

  8. eine sehr variabel ausgestaltete Durst- bzw. Trinkepisode (Angebot von Myrrhe und Verweigerung, 15,23; Essigschwamm, 15,36)

  9. die letzten Worte Jesu in Aramäisch und in griechischer Übersetzung (15,34);

  10. das Sterben Jesu: „Aber Jesu schrie laut und verschied“ (15, 37);

  11. das zweite und institutionell-religiöse Begleitereignis: das Zerreißen des Vorhangs im Tempel im unmittelbaren Anschluss an das Eintreten des Todes (15,38);

  12. das Gottessohnbekenntnis des Hauptmanns (15, 39);

  13. die Präsenz der Jüngerinnen (teils namentlich genannt; 15,40f.).16

Die gewählte Eingrenzung der Sterbeerzählung entspricht typologisch offensichtlich dem, was einleitend als präsentative Sterbeerzählung bezeichnet wurde. Die Dynamik der Ereignisse steht hier im Vordergrund, nicht die distanziertere Reflexion. Und sicher handelt es sich aufgrund des gewählten Handlungsausschnitts auch um eine Sterbeerzählung im engeren Sinn. Sie beschränkt sich zwar nicht ausschließlich auf die Motive, die hier in summa als die Sterbeszene gelten können (nämlich die Motive 3 bis 13), doch dominiert diese in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht klar den anderen Motivzusammenhang des Kreuzwegs nach Golgatha (die Motive 1 und 2). Wenn im Folgenden mit dieser engen Auffassung gearbeitet wird, heißt das aber weder, dass das Erzählmaterial der Evangelien nicht auch auf ihre Sterbeerzählungen im weiteren Sinn befragt werden könnte, noch, dass die enge Auffassung grundsätzlich bevorzugungswürdig ist. Gerade das Mk-Evangelium gibt durch die drei charakteristischen Leidensankündigungen (8,34; 9,33; 10,35) Anlass, über die weite Auffassung nachzudenken.

An diesem Punkt, nach den gedrängten Hinweisen zu den neutestamentlichen Sachverhalten und vor der Arbeit an exemplarischen literarischen Erzählungen, sind einige methodische Zwischenbemerkungen fällig.

  1. Wenn eben das (wie man sagen könnte) neutestamentliche Basisskript der Sterbeerzählung Jesu in Erinnerung gerufen wurde, dann scheint dies auch fällig, um bei der Diskussion literarischer Variationen dieser Erzählung nicht in der Erhebung einer ungefähren, weil nur positiven Intertextualität zu verharren.17 Denn oft werden innerhalb vergleichbarer Unternehmungen nur die Analogien registriert. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das, was im betreffenden Bezugstext gleichfalls auftritt, in welcher Art und im welchem Grad der Transformation auch immer. Die Negativbezüge – was im Prätext gegeben ist, im literarischen Posttext dagegen entfällt –, bleibt dagegen unter- oder gänzlich unreflektiert.18 Nicht zuletzt im Fall des Materials, das die biographische Erzählung beschließt, ist bei der Wahl und funktionalen Einbindung der einzelnen Elemente aber auch die negative Selektion aussagekräftig, die Elemente, die gar nicht eingezogen werden (aufgrund ihres kanonischen Charakters virtuell, als Nichteinbezogene, aber dennoch präsent sind).

  2. Wenn die analytische Aufbereitung bzw. Segmentierung eines gewissen Erkenntnisobjekts eher kleinteilig ausfällt, wie eben („wenigstens dreizehn Einheiten“), so zieht dies meist das legitime Bedürfnis nach einer Hierarchisierung dieser vielen Einheiten oder Aspekte nach sich. Aus mnemo- wie aus arbeitstechnischen Gründen liegt ein zweiter Differenzierungsgang nahe, der interne Verhältnisbestimmungen einführt. Was als Kriterium (oder Kriterien) solcher Sortierungen zweiter Ordnung in Frage kommen könnte, ist offensichtlich nur innerhalb des jeweils konkreten Kontextes entscheidbar. Im hier diskutierten Zusammenhang – der Segmentierung einer Sterbeerzählung – lässt sich dann zumindest eine der genannten Einheiten als kardinal auszeichnen. Nicht nur an den hier diskutierten Sterbeerzählungen ist nachvollziehbar: Den letzten Worten Sterbender kommt erhebliches Gewicht zu. Auch jenseits dessen, was auf Sterbebetten effektiv gesagt wird, stellen sie eine eigentliche kulturelle Institution dar (Guthke 1990). Dass auf das letzte Wort keines mehr folgt, verleiht ihm den Charakter eines Vermächtnisses, das aufgrund der impliziten Bedeutsamkeitserwartungen auch eine erhebliche Belastung für den Sterbenden wie für die SterbebegleiterInnen darstellen kann. Nun zeichnen sich die letzten Worte Jesu, die in den vier kanonischen Evangelien überliefert werden, bekanntlich gerade durch ausgesprochen starke Differenzen aus19 (Differenzen, die in normativ-kritischer Sicht oft unter die stärksten der vielen ,Widersprüche‘ innerhalb der Überlieferung gerechnet wurden und werden). Insofern wird es bei der Arbeit an literarischen Aneignungen der Jesusgeschichte immer auch entscheidend sein, auf den Umgang mit der Pluralität der neutestamentlich bezeugten letzten Worte zu achten. In ihm steht, maximal verdichtet, zur Debatte, was zumindest in theologischer Perspektive der schwierigste Aspekt der Passion und ihrer Interpretation sein dürfte: der „Gottesskandal“ (Söding 2014/15, 11).

  3. Sämtliche Hinweise der letzten Abschnitte bewegten sich, narratologisch gesehen, im Bereich der Geschichte, des Erzählten. Wenn im Folgenden zwei literarische Sterbeerzählungen Fur Debatte stehen, liegt es auf der Hand, dass immer auch der Spezifik ihrer diskursiven Präsentation Rechnung getragen werden muss. Und weil es sich um Sterbeerzählungen handelt, sind es nicht zuletzt Perspektivenphänomene, die prominent ins Spiel kommen. Nicht nur weil das Sterben eine Grenze des (mit Genette) autodiegetischen oder einfach autobiographischen Erzählens bedeutet – wer stirbt, erzählt nicht; zumindest das akute eigene Sterben ist dem eigenen erzählerischen Zugriff entzogen (vgl. Angehrn 2017, 123; Belling 2004) –20, ist es immer entscheidend, sich klar zu machen, wer den Sterbeprozess aus welcher Warte wie wahrnimmt und in welchem Kontext wie verbalisiert. Den eben genannten Punkt aufnehmend: Dass die Evangelien die letzten Worte Jesu in direkter Figurenrede überliefern (also formal gesehen frei von einer erzählerischen Revision), ist für ihre rhetorische Valenz und also auch für ihre intertextuelle Karriere entscheidend.

  4. So wie die Sterbeerzählungen der Evangelien in ihrer Eigenart Teil der jeweiligen Passionsgeschichten bzw. Teil der umfassenderen Einheiten des jeweiligen und seinerseits eigentümlichen Evangeliums sind,21 so muss idealiter auch bei literarischen Adaptionen, die in umfassendere Erzählzusammenhänge eingelassen sind, immer den engeren und weiteren Kontexten Rechnung getragen werden. Dass das Sterben Jesu kein beliebiger Handlungszusammenhang ist, zeigt sich – wie gleich deutlich werden wird –, daran, dass es oder der nähere Kontext der Passion oft isoliert zur Darstellung kommt. Sei dies der Fall oder sei die Sterbeerzählung in einen größeren Ausschnitt integriert: Es stellt sich immer auch die Frage, wie die betreffenden Erzähleinheiten an ihrer Oberfläche strukturiert werden. Die Identifikation bzw. Isolation gewisser Ereignisfolgen lässt sich in vielen Fällen produktiv verknüpfen mit der Frage, ob und wie diese Segmentierung allenfalls auch durch paratextuelle Signale akzentuiert wird (ein Aspekt, der im Hinweis auf die Perikopenstruktur der Luther-Übersetzung bereits kurz gestreift wurde).

IV. Literarische Versionen des Sterbens Jesu

IV. 1 Amos Oz, Judas (2014)

Jesusromane sind aufgrund der Zentralstellung der Verratshandlung immer auch Judasromane. Doch ist Amos Oz’ Judas (hebr. Orig. 2014, dt. 2015; Oz 2015, vgl. neuerdings auch Oz 2018) weder ein Jesus- noch ein Judasroman, sondern – wenn denn ein globaler Typus sein muss – ein Liebesroman. Die Judas-Figur spielt in diesem durchaus eine eminente Rolle, zunächst aber nur innerhalb des quantitativ stark dominierenden Rahmengeschehens, das im Jerusalem der frühen 1960er-Jahre angesiedelt ist. Der generell etwas aus der Gesellschaft gefallene Student Schmuel Asch („Sozialist und Asthmatiker, schnell zu begeistern und leicht zu enttäuschen“, 9) verliebt sich in die deutlich ältere und attraktive Atalja Abrabanel, mit der er unter einem Dach lebt; die dritte Figur der Hausgemeinschaft ist der gebrechliche Privatgelehrte Gerschom Wald, als dessen Gesellschafter Schmuel fungiert. Nebst Schmuels Versuch, mit Atalja und der Welt im Ganzen klar zu kommen, beschäftigt er sich im Rahmen seiner MA-Arbeit eben auch mit Jesus bzw. insbesondere mit Judas, gilt seine Untersuchung doch Jesus in den Augen der Juden (14).22 Allerdings tut er sich mit dem Thema schwer, zumindest was dessen Klärung innerhalb des üblichen wissenschaftlichen Formats betrifft. So kommt es, dass in der Kapitelfolge unvermittelt (und ohne, dass dies durch besondere paratextuelle oder typographische Signale signalisiert würde) als Kapitel 47 eine Binnenerzählung eingestreut wird, deren Autorschaft man aufgrund der diversen Hinweise zum fraglichen Forschungsprojekt sofort Schmuel zuschreibt.23 Das Kapitel – in der deutschen Übersetzung dreizehn Seiten lang – gibt eine Darstellung des Sterbens Jesu aus der Sicht des Verräters, des sogenannten Verräters, denn Oz folgt der apologetischen Tradition, die Judas’ Tat zumindest ihrer Absicht nach als gute ausweist. Mehr noch: Schmuel sieht, wie er sich einmal notiert, Judas als den „besten und ergebensten Schüler des Nazareners“ (166), „der erste Christ. Der letzte Christ. Der einzige Christ.“ (170)

Die Erzählung thematisiert das Sterben Jesu zunächst (Abschnitte 1 und 2) in der Retrospektive. Die Erzählinstanz ist eine heterodiegetische, ein Erzähler, der selbst nicht Teil der erzählten Welt ist, diese aber souverän überblickt und im Modus interner Fokalisierung von den Figuren berichtet (also auch verfügend über deren Innensicht). Judas, der auf den ersten Seiten nicht beim Namen, sondern nur „er“ genannt wird, sitzt in einem Gasthaus; die bestellte Mahlzeit steht unberührt vor ihm. Er beobachtet, wie innerhalb eines langen stream of consciousness deutlich wird, eine schwangere Schankmagd und stellt sich ebenso ihre Vergangenheit wie das harte Schicksal vor, das sie und ihr Kind erwartet. Vermittelt über sein Fazit „Es gibt kein Erbarmen auf der Welt“ (285), richtet sich Judas’ Aufmerksamkeit dann aber auf das kürzlich Vergangene, das er als Augen- und vor allem auch Ohrenzeuge verfolgt hat:

Vor drei Stunden wurde in Jerusalem die Gnade getötet. Dieser Gedanke verdrängte keinen Moment lang das Echo der Schreie, die sechs Stunden gedauert hatten und die ihn sogar jetzt, in dem leeren Gasthaus, gegen Abend, nicht losließen. In seinen Ohren klangen noch immer die Klagelieder und das Stöhnen auf der anderen Seite der Täler und Hügel, er nahm sie mit der Haut wahr, mit den Haaren und mit seinen Eingeweiden. […] / Neun Stunden lang hatte der Gekreuzigte nicht aufgehört zu schreien und zu stöhnen. Je länger sein Todeskampf gedauert hatte, umso lauter hatte er geweint und verzweifelt vor Scherzen geschrien, wieder und wieder hatte er nach seiner Mutter gerufen, mit dünner gebrochener Stimme […]. (285f.)

Von der Aufmerksamkeit für den Gekreuzigten, der hier nahezu ausschließlich ein Schreiender ist, verschiebt sich die Aufmerksamkeit zu den „beiden anderen Gekreuzigten“ (Abschnitt 3) – sie seltener schreiend – zu den Raubvögeln (Abschnitt 4), die gleichfalls schreiend in den nahen Bäumen warten, und schließlich zur Menge (Abschnitte 5/6), die dicht gedrängt die Ereignisse verfolgt.

Jene, denen es gelungen war, zu den ersten Rehen vorzudringen, hatten sich bequem in den Staub gesetzt, mit gerafften Kleidern und übergeschlagenen Beinen, […] sie plauderten und scherzten oder knabberten an der Wegzehrung, die sie mitgebracht hatten, oder schlossen Wetten ab, wer von der Gekreuzigten als Erster seine Seele aushauchen würde. (286)

Das Motiv des Verhöhnens durch „das jüdische Volk“ wird aber, dem neutestamentlichen Skript detailtreu folgend, noch durch die Einspielung von Originaltönen gesteigert:

Es gab auch noch vier oder fünf Schreier unter der Menge, die nicht aufhörten, den mittleren Gekreuzigten [24] zu verspotten, und ihn fragten, wo sein Vater sei, warum sein Vater nicht komme, um ihm zu helfen, und warum er sich eigentlich nicht selber rette, so wie er andere gerettet habe? Warum er nicht endlich vom Kreuz steigen würde? (288)

Dass der Spott in dieser Weise konkretisiert wird – als Frage nach der Hilfe des Vaters, den er in Anspruch nehme bzw. als Aufforderung, sich selbst zu helfen –, ist im Kontext von Oz’ Darstellung allerdings mehr als eine bloße Übernahme eines weiteren Motivs aus dem Skript der Evangelien. Der genuin theologische Gehalt des Spotts betrifft vielmehr genau die supponierte Vollmacht, auf die auch der wartend-beobachtende Judas hofft (s. u.). Doch ist von ihm noch nicht die Rede; zunächst kommt in einem separaten Abschnitt (7) (und gegenüber dem neutestamentlichen Skript vorgezogen) die Gruppe der Frauen in den Blick, vor allem die Mutter Maria und Magdalena. Über deren Wahrnehmung vermittelt ist nun auch erstmal direkt vom Körper des Gekreuzigten die Rede.

Die ältere Frau stand da wie versteinert, als wäre sie gelähmt, sie ließ den Blick nicht vom Kreuz, aber ihre Augen waren trocken. Nur manchmal irrte ihre Hand unabsichtlich über die Stellen ihres Körpers, an denen Nägel durch das Fleisch des Gekreuzigten getrieben waren. Während die jüngere ununterbrochen weinte, ein ruhiges, gelassenes Weinen. Sie weinte mit offenen Augen, mit einem starren Gesicht, als wisse ihr Gesicht nicht, dass Tränen aus ihren Augen liefen. […] Sie nahm ihre weit aufgerissenen Augen keine Sekunde von dem Mann am Kreuz. Als hinge der Rest seines Lebens daran, dass sie standhielt. Als würde der Gekreuzigte seine Seele aushauchen, wenn sie auch nur kurz, für einen Wimpernschlag, wegschauen würde. (289)

Diese individuelle, aber gleichermaßen intensive Anteilnahme der Frauen am Leiden des Gekreuzigten bildet schließlich (Abschnitt 8) auch die Verbindung zu Judas: „Der großgewachsene Mann, der dort stand, spürte die enorme Anziehungskraft, die von den Frauen ausging, seine Beine wollten ihn zu ihnen tragen, aber er beherrschte sich und blieb auf seinem Platz am Rand der Menge stehen […].“ (289) Diese Anziehungskraft ist allerdings, anders als man meinen könnte, nicht auf eine direkte solidarische Verschmelzung mit der Frauengruppe gerichtet. Judas ist solidarisch, aber nicht als Mitleidender oder -trauernder. Denn: „Das Wunder, an das jener Mann glaubte, ohne jeden Zweifel, konnte sich gleich ereignen. Jeden Moment. Auf der Stelle. Sofort. Jetzt gleich. Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Reich, das nicht von dieser Welt ist.“ (289) Was den frommen Juden Judas zu den Frauen zieht, ist seine Überzeugung, dass sich der ohnmächtige Gekreuzigte in Kürze als der erweisen wird, der er tatsächlich ist: der vollmächtige Messias. Was ihn anzieht, ist demnach der Wunsch, ihren Schmerz zu lindern durch die Ansage dieses Umschlags.

Wenn an dieser Stelle erstmals der positive motivationale Hintergrund des ‚Verräters‘ deutlich wird, so gestalten die folgenden Abschnitte (11-19) diesen Hintergrund breit aus. Doch erst wird klar: Judas irrt. Der Umschlag bleibt aus, der Ohnmächtige bleibt ohnmächtig.

Kein einziges Mal in all diesen Stunden hatte er nach seinem Vater gerufen. Nur immer wieder Mutter, Mutter. Stundenlang hatte er nach ihr gerufen. Erst in der neunten Stunde, in seinen letzten Minuten, mit dem letzten Atemzug, schrie er plötzlich nach seinem Vater. Aber auch in seinem letzten Moment nannte er ihn nicht Vater, sondern er rief: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Judas [25] wusste, dass mit diesen Worten ihrer beider Leben ein Ende gefunden hatte. (290)

Damit ist die Sterbeerzählung, was das neutestamentliche Skript betrifft, am Ende. Golgatha wird zu Ende erzählt, indem in einem kurzen Abschnitt (9) alle drei Gekreuzigten in den Blick kommen – der rechte, der mit weißem Schaum auf den Lippen flucht, der linke, der im Wechsel Schmerzensschreie ausstößt oder schweigt. „Nur über das mittlere Kreuz senkte sich Stille. Die Augen der Gekreuzigten waren geschlossen, der gequälte Kopf war auf die Brust gesunken, der knochige Körper sah weich und schlaff aus wie die Leiche eines Kindes.“ (290) Der Rest des Kapitels gilt, wie angedeutet, ausführlich der Ausgestaltung der Zusammenhänge, die schließlich zum Kreuzestod führen.

Abschnitt 10, der davon handelt, wie Judas von Golgatha aufbricht, bildet erzählpraktisch einen entscheidenden Übergang; er schließt die Analepse und führt den Erzählfaden an den Punkt, an dem die Darstellung einsetzt: Judas sinnierend im Schankraum. Wird die lange Rückblende auf die Golgatha-Ereignisse durch einen heterodiegetischen Erzähler vermittelt, so erfolgt an dieser Stelle, als die Verarbeitung der Enttäuschungserfahrung ansteht, ein signifikanter Wechsel der Erzählinstanz: Judas selbst erzählt, wobei seine Erzählung den Grundzug eines un- bzw. nur an sich selbst adressierten Geständnisses annimmt:

Ich habe ihn ermordet. Er wollte nicht nach Jerusalem und ich habe ihn fast gegen seinen Willen gedrängt, dorthin zu gehen. Wochenlang habe ich auf ihn eingeredet. Er war voller Zweifel und Angst, wieder und wieder fragte er mich und auch die anderen Jünger, ob er wirklich der Mensch sei? […] Und ich, der ich älter war als er, ruhiger und welterfahrener […], ich wiederholte immer die Worte: Du bist der Mensch. Und du weißt, dass du der Mensch bist. Und wir alle wissen, dass du der Mensch bist. Und ich sagte jeden Morgen und jeden Abend, wie wichtig Jerusalem sei, dass wir nach Jerusalem gehen müssten. (291)
Ich habe viel mehr an ihn geglaubt als er an sich selbst. Ich habe ihn dazu getrieben, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu versprechen. Ein Königreich, nicht von dieser Welt. Die Erlösung. Die Unsterblichkeit. Er wollte nur weiter im Land herumziehen, Kranke heilen, Hungrige sättigen und Liebe und Erbarmen in die Herzen pflanzen. Nicht mehr. […] Ich liebte ihn als Gott. […] Ich war überzeugt, dass sich heute in Jerusalem das größte Wunder von allen ereignen würde. Das letzte Wunder, nach dem es auf der Welt keinen Tod mehr geben würde. Das Wunder, nach dem kein einziges Wunder mehr nötig wäre. Das Wunder, das das himmlische Königreich bringen würde, sodass es auf der Welt nur noch Liebe gäbe. (295)

Die Ich-Rede setzt sich über die verbleibenden acht Abschnitte (rund 7 Seiten) hinweg fort. Dann endet das Kapitel bzw. die Binnenerzählung mit den Sätzen: „Dort, hinter der Wegbiegung, wartet der verdorrte Feigenbaum auf mich. Ich stehe darunter und prüfe vorsichtig einen Ast nach dem anderen, finde den richtigen und binde das Seil daran fest“ (298). Judas erhängt sich nicht irgendwo, sondern an dem Feigenbaum, der Tage zuvor von Jesus verflucht wurde (vgl. Mk 11,12-25 bzw. Oz 2015, 62). Durch diese Konkretion des Selbstmords wird nicht nur vorhandenes neutestamentliches Erzählmaterial geschickt gekoppelt. Wenn sich Judas am Feigenbaum erhängt, dann trägt er damit auch ganz unmittelbar seinem eigenen Missverständnis Rechnung. Denn dieser Feigenbaum hätte ihm, als verdorrter, sagen können, dass Jesus nicht der Messias ist – oder wenigstens nicht der Messias, an den Judas geglaubt hatte und den er aktiv hervorzubringen versuchte.

An dem Feigenbaum war kein Makel. Kein Feigenbaum hat in den Tagen vor dem Pessachfest je Früchte getragen, er kann gar keine tragen. Wenn es ihn gelüstete, Feigen zu essen, warum hat er dann nicht eines seiner Wunder vollbracht und den Baum dazu veranlasst, auf der Stelle Feigen für Ihn reifen zu lassen […]? […] Dort, am Fuß jenes Feigenbaums, in jenem Moment, hätten sich mir die Augen öffnen müssen, ich hätte sehen müssen, dass er trotz allem nur aus Fleisch und Blut war, so wie wir. Größer als wir alle, wunderbarer als wir, unvergleichlich viel tiefgründiger als wir, aber aus Fleisch und Blut. […] In jenem Moment hätten wir uns umdrehen und sofort nach Galiläa zurückkehren müssen. Wir gehen nicht nach Jerusalem. Du darfst nicht nach Jerusalem gehen. Dort werden sie dich umbringen. (297)

Die schmerzhafte Einsicht in den eigenen Irrtum kulminiert in der nachholenden Artikulation der Worte, die Judas hätte sprechen sollen, aber nicht gesprochen hat. Dies besiegelt die retrospektiv geschilderte intensive Arbeit am Kommen des Messias.26 – Nach diesen textnahen Hinweisen können die Pointen von Oz’ Gestaltung der Sterbeerzählung nun bilanzierend benannt werden.

Die kurze Erzählung zieht ihre Eigenart und ihre ästhetische Stärke aus der anachronischen Präsentation der Ereignisse. Das Sterben Jesu ist zu Beginn bereits ein Faktum, freilich ein Faktum, dessen zeitliche und psychologische Nähe im Nachhall der Sterbensschreie offensichtlich wird. Durch eine Rückblende wird es allererst eingeholt, um in der ausführlichen Begründung von Judas’ Entscheidung, Hand an sich zu legen, und deren Vollzug abgerundet zu werden. Oz gestaltet die Sterbeerzählung als Erzählung der Einsicht in ein dramatisches Missverständnis – und insofern als eine sorgfältig konstruierte doppelte Sterbeerzählung. Die Darstellung des Sterbemoments, unmittelbar folgend auf das – dieses – letzte Wort, ist ganz bestimmt durch ein doppeltes theologisches Drama: die Verlassenheit des Sohnes vom Vater und, daraus folgend, die Einsicht des Judas in seinen Irrtum, der „ihrer beider Leben“ (290) beendet, auch wenn Judas Jesus noch um einige Stunden überlebt. Judas registriert eben deshalb so genau das Rufen nach Mutter und Vater, weil die Antwort des Vaters auf den Ruf auch ihn retten, nämlich seine Tat rechtfertigen würde.

Was hier narrativ ausgestaltet wird, ist – perspektiviert durch die Judas-Figur – der Gottesskandal, und diese Ausgestaltung erfolgt in Gestalt einer schwachen narrativen Christologie, einer Jesulogie. Innerhalb dieser Anlage kann das letzte Wort, wenn es ein neutestamentlich bezeugtes sein soll, nur das verzweifelte des Mk-Evangeliums sein. Und mit Blick auf die erwähnte negative Intertextualität liegt auch auf der Hand, dass die beiden Begleitereignisse – die Finsternis und das Zerreißen des Vorhangs im Tempel – keinerlei Erwähnung finden (nicht anders als die Trinkepisoden). Und mit Bezug auf die Selektion des größeren Erzählzusammenhang ist schließlich auch klar: Wenn Oz das Sterben Jesu als Geschichte einer scheiternden eschatologischen Revolte schreibt, so kann die Auferstehungserzählung innerhalb der Darstellung selbst keine Rolle spielen.27

Wenn die Darstellung des Sterbens grundsätzlich primär über die Wirkung des Sterbenden auf die Anwesenden (prominent über den Sehsinn im Fall der Frauen, über den Hörsinn im Fall des Judas) erfolgt, so adelt sie Judas durch die ausführliche Begründung seiner Stellung innerhalb des Jüngerkreises (er ist der Älteste, ein intellektueller Städter, ein gewiefter Stratege), was ihn weit über den verbreiteten Flat-Character-Judas erhebt, dessen Identität sich in der Verratsbereitschaft aus schlichter Geldgier erschöpft.

IV.2 Franz Heinrich Achermann: Der Antichrist (1939)

Der Antichrist: Wer ein Buch dieses Titels vorlegt, ist offensichtlich auf Aufmerksamkeit aus. Unabhängig davon, was die betreffende Schrift konkret beinhaltet, evoziert er das dramatische Bild eines Kampfes zwischen Christus und seinem eschatologischen Gegenspieler. Der Titel provoziert sofort die Frage, wer in diesem Fall der „Sohn des Verderbens“ ist, der „Gesetzlose“, von dem in den entsprechenden neutestamentlichen Zeugnissen die Rede ist (2. Thess 2,1-12; 1. Joh 2,18ff.22; 4,3; 2. Joh 7) – und wer den Endkampf gewinnt. Spätestens nach Nietzsches Schrift von 1888 (und, darüber hinaus, seiner Selbstbezeichnung als Antichrist) ist der Verdacht eines paratextuellen Kalküls kaum von der Hand zu weisen. Und wie bei Nietzsches furiosem Fluch auf das Christenthum setzt sich die Strategie der Aufmerksamkeitsgewinnung auch im Fall des zu diskutierenden gänzlich unbekannten Antichrist-Romans im Untertitel fort: Zukunftsroman auf Grund der biblischen Prophezeiungen und der heutigen Kulturentwicklung.28 Autor dieses bemerkenswerten Buches ist der katholische Geistliche Franz Heinrich Achermann (1881-1946). Heute weder gelesen und nicht einmal dem Namen nach bekannt, war Achermann zwischen 1925 und 1940 „der meistgelesene kath[olische] Jugendbuchautor der Schweiz“ (Linsmayer)29. Wenn sein Name gelegentlich fällt, so geschieht dies meist unter Hinzufügung des Ehrentitels des ,Schweizer Karl May‘ – wie sich zeigen wird, nicht zu Unrecht.

Der 217 Seiten umfassende Roman ist in zehn Kapitel gegliedert, denen zwei kurze, jedoch entscheidende Texteinheiten vorangestellt sind: die Vision und drei Bibelzitate, die unter dem Titel Die Völker in Erwartung des großen Monarchen vereint werden. Im Titel Vision deutet sich noch einmal das Genre des Zukunftsromans an. Durch die Konnotation des Visionsbegriffs wird aber zugleich deutlich, dass der Horizont, in dem diese Ereignisse ‚gesehen‘ werden, ein religiöser ist. Die Vision selbst, die innerfiktional als Realität fungiert, ist dabei ganz klar eine christlich perspektivierte Schreckensvision:

Als die Naturvölker mündig geworden waren, drehten sie den Spieß und eroberten die moralisch degenerierten Kulturstaaten. So war es gekommen, daß zum Beispiel ein Inder König von England, ein Kabyle Präsident von Frankreich geworden war. Ein Chinese diktierte über Rußland, ein brasilianischer Abkömmling der importierten Plantagensklaven über Nord- und Südamerika.
Da die Diplomaten des ehemaligen Völkerbundes die christliche Moralgrundlage längst aufgegeben hatten, zog der Antichrist die letzte Konsequenz und eroberte mit allen erlaubten Mitteln, das heißt mit Lug und Trug, mit Krieg und Meuchelmord die Welt. (unpag. = [5])

Der Diktator, der die geschilderte Gegenwart – sie wird nicht genau datiert – beherrscht, heißt Bar Dan, „Großbankier aus dem Stamme Dan, wie sein Name bekundet. Matador der internationalen Transaktionen. […] ein Genius, unter dessen Hauch die Börsen zitterten! Und nun – Diktator des dritten Planeten!“ (13)30 Für einen Diktator untypisch, für die auch kriminalliterarische Erzähldynamik jedoch konstitutiv, hält er seine Identität verdeckt. Wie Bar Dan aussieht, ist unbekannt, doch meldet er sich auch persönlich im „Radiofilm“ zu Wort, dem Medium, das dem Regime zur weltweiten Kommunikation bzw. Indoktrination dient. Durch regelmäßig verkehrende „Luftkreuzer“ ist die Welt zum globalen Dorf geworden, eine Welt, die sich selbst als Hochkultur wahrnimmt, die von bahnbrechenden technischen Innovationen profitiert und das Christentum längst als minderwertige Kulturstufe hinter sich gelassen hat. Auch dieses Regime setzt zur Sicherung seiner Herrschaft auf „Brot und Spiele“. Die Weltgemeinschaft wird durch wiederkehrende grandios inszenierte „Weltolympiaden“ – Wettbewerbe in allen Disziplinen – bei Laune gehalten: „Feste! – Feste – Monsterversammlungen und das Monstrum: Riesenprogramme, Riesenversprechungen, Riesenbauten und Riesenrekorde! / Und die denkfreie Masse, unbeschwert durch die Logik der kausalen Zusammenhänge, jubelt dem Babelturm zu, der auf seinem gebeugten Nacken aufgebaut wurde.“ (129) Als Gegenspieler Bar Dans fungieren zwei Geschwisterpaare: der junge Arzt Armin Bramberg und seine Schwester, die schöne Tänzerin Fera, der „Kulturlehrer“ Arros und seine Schwester Dura. Die „vier Unzertrennlichen“ (135) bilden zugleich auch zwei Liebespaare. Entscheidend ist nun, dass die zunehmend christliche Widerstandgruppe nicht etwa in großer Distanz zum Machtzentrum operiert, sondern aus seiner nächsten Nähe. Die Genannten werden in öffentliche Ämter berufen, um auf diesem Weg besser kontrollierbar zu sein. Da die Vier die Identität des Diktators aufdecken, kommt es zur Konfrontation. Sie werden verhaftet, nicht aber liquidiert, denn sie sollen für Die Passion von Jerusalem zur Verfügung stehen, die finale Ergreifung der Weltherrschaft, die im gleichnamigen zehnten und letzten Kapitel des Romans zur Darstellung kommt.

Der Diktator hat Jerusalem dazu bestimmt, sein „ewiges Rom“ (194) zu werden. Er usurpiert die heilige Stadt, um seine Macht zu zelebrieren – und dazu gehört auch die Überbietung Jesu Christi, die im Rahmen eines Passionsspiels erfolgen soll. Der Antichrist fordert Christus im Radiofilm auf, „sich am ersten Oktober, nachmittags drei Uhr auf dem Oelberg zu stellen, um seine angebliche Gottheit und seine Macht über Bar Dan zu bewiesen“ (201). Armin von Bramberg fällt die Hauptrolle zu. Das Kapitel setzt mit der Darstellung ein, wie dieser, bis auf die Knochen abgemagert, aber in großem inneren Frieden im Jerusalemer Gefängnis Bar Dans sitzt (dem „Sanatorium“, das vom Volk „Satanarium“ genannt wird, vgl. 195) und fromme Verse in die Zellenwände ritzt. Dass diese Gedichte nicht nur erwähnt, sondern wörtlich dokumentiert werden, ist charakteristisch für die gewählte Erzählweise: Das gesamte Kapitel ist gattungsmäßig ausgesprochen hybrid. Neben konventionell erzählte Passagen treten eingerückte Bibelzitate (einschließlich der Stellennachweise; vgl. 194, 203) und liturgische Texte in Latein (mit Übersetzung, vgl. 199), aber auch längere dialogische Passagen auf, die – weil teils ohne verba dicendi – ganz in den dramatischen Modus gehen. Aus dem Gespräch zwischen Armin und Bar Dan, der den Gefangenen über seine Absichten informiert:

‚Du sollst im Festspiel der Olympiade, im größten Schauspiel der Erde und aller Zeiten die Hauptrolle spielen – und dann frei sein!‘
‚Frei sein? – Ich war immer frei! –
Der freie Wille macht den Menschen frei! –
Der freie Wille macht den Menschen zur Krone der Schöpfung. – Was soll ich spielen?‘
‚Jesus von Nazareth!‘
Die Gestalt des Häftlings scheint zu wanken:
‚Jesus – von – Nazareth? – Soll ich ihn verhöhnen?‘
‚Im Gegenteil!‘ – Du sollst ihn spielen, wie man ihn im sogenannten Mittelalter gespielt hat, wie man ihn z. B. in Oberammergau gespielt hat – Du sollst ihn noch lebenswahrer spielen: Du sollst ihn spielen, wie er selbst gespielt hat. – Du sollst dich förmlich mit ihm identifizieren, dich in ihn verwandeln und dein Kreuz auf den Oelberg tragen –.‘
Auf den Oelberg? – Christus starb auf dem Kalvarienberg!‘
‚Ich wählte den Oelberg wegen der besseren Sicht für den Radiofilm! […]‘ (198f.)31

Die 23 Seiten des Kapitels sind paratextuell deutlich strukturiert: Auf die paraphrasierte Eingangsszene, die die Absichten des Diktators zeigt, folgen drei gliedernde Punkte. Sie eröffnen einen zweiten Großabschnitt, der – nach einem kurzen Vorspann – die Passion dokumentiert, wobei analog zur biblischen Perikopenstruktur Zwischentitel eingefügt werden (Jesus vor Annas und Kaiphas; 203; Jesus vor Pilatus, 205; Der Kreuzweg, 206; Es ist vollbracht!, 212). Der Regisseur legt, wie die ersten Zeilen des Annas und Kaiphas-Abschnitts zeigen, größten Wert auf eine effektvolle Inszenierung, wird sie doch via Radiofilm weltweit übertragen:

Die Szenarien sind historisch getreu nur pomphafter und in die Öffentlichkeit gerückt.
Auf ihren Prunkzelten aber thronen die größten Filmschauspieler der Welt.
In der Mitte des Hintergrundes, durch ein samtbedecktes Podium über Priester und Leviten erhoben, der Hohepriester. […] ‚Jesus von Nazareth‘ – Armin von Bramberg. Kein Künstler hat je ein lebenswahreres Bild des armen ‚Zimmermannssohnes‘ geschaffen. Die halbbetrunkenen Schergen schauen ihn scheu an; denn – das muß er sein[.] (204)

Damit ist zugleich gesagt, dass der Geschehensausschnitt, der im Spiel zur Darstellung kommt, größer ist als die oben exponierte Sterbeerzählung. Die Passion wird hier durch die beiden Prozesse eröffnet. (Und im römischen Prozess wird u. a. auch noch einmal die Perfidie des Diktators deutlich: Die Rolle des Barabbas ist besetzt durch Arros, Armins nächsten Freund.) Das neutestamentliche Skript der Sterbeerzählung kommt erst in den Unterkapiteln Der Kreuzweg und Es ist vollbracht! zur Geltung. Allerdings ist das Neue Testament hier wie dort nur vermittelt maßgeblich. In Der Kreuzweg ist es eben die Passionsspieltradition, die (als Teil einer breiten katholischen Tradition der meditatio passionis), als Bezugsgröße fungiert. Das Leid des verletzten Kreuzträgers wird detailliert dargestellt. Es führt aber auch dazu – die Voraussage des regieführenden Diktators bewahrheitend –, dass sich der Spieler maximal mit seiner Rolle identifiziert: „Aus blutverklebten Augen wirft Armin einen Blick in die Runde, und nun fühlt er zum erstenmal im Leben, wie es Jenem zu Mute war, der vor ihm hier den Verbrechergalgen getragen hatte“ (207).32 Von erster Bedeutung ist, wie retrospektiv deutlich wird, das Kreuzwegmotiv des mehrfachen Falles (vgl. Talarico 2003). Denn Armin wird aufgrund seiner Schmerzen fast ohnmächtig und stürzt zu Boden: „Das war nicht nach dem Programm; denn Simon von Cyrene, der ihm das Kreuz abnehmen soll, wartet erst an der nächsten Station.“ (208) Daher fordern die Römer, improvisierend, einen der vielen Statisten auf, das Kreuz zu tragen: „Ein Mann im Gewande der Beduinen, mit braunem Barte und vornehm geschnittenem Profil kommt heran, nimmt das schwere Kreuz wie ein leichte Bürde auf sich und reicht dem blutigen Mann im Gehen die Hand. Armin wankt neben ihm her wie ein Kind, das gehen lernt.“ (Ebd.) Nicht nach Programm ist auch, dass sich plötzlich eine Frau aus der Gruppe der „Frauen von Jerusalem“ (ebd.) löst: Dura, Armins Freundin, übernimmt freiwillig die Rolle der Veronika; sie gibt ihm zu trinken, reinigt seine blut- und speichelverklebten Augen und stärkt ihn durch den Hinweis, dass es nur noch ein kleiner Weg sei zum Erlöser. Und sie hat Recht, wenn auch in anderer Weise als sie selbst meint. „Da legt der Beduine seine Hand auf ihr Lockenhaupt: Weiße Taube – Friede sei mit dir!“ (209f). Arros erkennt als erster, was geschieht, und was auch der Leser durch die eben zitierte intertextuelle Referenz an Mt 11,30 seinerseits erahnen konnte. (Die Stelle illustriert zugleich die Praxis der forcierten Oralisierung der Figuren- wie der immer parteilichen Erzählerrede.)

‚Armin! – – Dura! – – Dieser Beduine – – – dieser – –‘
‚Was ist – – –?‘
‚Dieser – – Beduine – – – – ist – – – – Jesus von Nazareth!‘ (210)

Die aufwändige Passionsstaffage wird zur authentischen Bühne. Jesus, der Parusie-Christus, hat die Aufforderung zum Wettkampf angenommen; das Gericht über den Antichristen Bar Dan beginnt. Entsprechend überschlagen sich die Ereignisse: Jesus – der echte – erlöst Ahasver, den – echten – ewigen Juden (210), und Arros wird zum alter Stephanus („Ich sehe den Himmel offen …“ [211; Apg 7,56]). Obwohl die Erde bebt und Gebäude einstürzen, wird das Spiel fortgesetzt. „Alle schauen die Übertragung des Schauspiels durch Filme und Lautsprecher, und eine Welt, die Welt der Menschheit, hält den Atem an“ (211).

Bevor es im Abschnitt Es ist vollbracht! zum Showdown kommt, wird wiederum geschickt und retardierend ein Element des neutestamentlichen Skripts eingespielt. Noch entgleitet dem subtilen Regisseur nicht gänzlich die Kontrolle. Bar Dan hebt dazu an, das Begleitereignis der Verfinsterung zu überbieten. Denn wenn sich die Sonne damals verfinsterte, so soll sie es erneut tun, aber auf sein eigenes Geheiß:

‚Sonne! – Stern des Lichtes, verhülle dein Antlitz vor Bar Dan, deinem Gotte …!‘ Pause. Ein Schauer legt sich über die Welt. Kontinente und Ozean horchen. Die Menschheit hält den Atem an. Da legt sich, langsam vorrückend, ein Schwarzer Schatten über die Sonne. Die Erde wird verfinstert. Sieben Minuten lang. (215)33

In einer Anmerkung am Fuß der Seite wird das Unerklärliche in bester Aufklärungsmanier entzaubert: „Schon längst hatten die Astronomen eine totale Sonnenfinsternis vorausberechnet. Bar Dan hatte die Bekanntmachung unter Todesstrafe verboten und die Astronomen hinrichten lassen. Er selbst hatte auf diesen Zeitpunkt sein Fest angesetzt […]“ (ebd.). Unmittelbar im Anschluss an die Wiederkehr des Lichts stehen sich der Kreuzträger und Bar Dan schließlich gegenüber, und es ist vollbracht:

‚Jesus von Nazareth, falle nieder zur Anbetung deines Herrn!‘
Der Gerufene legt sein Kreuz behutsam nieder und richtet sich hoch.
Da brüllt Bar Dan auf:
‚Hah, wer bist du?‘
‚Wen suchst du, Bar Dan?‘
‚ – – – Jesus von Nazareth!‘
‚Ich bin es!‘
[…]
Die Krone stürzt von seinem Haupte, das Szepter entfällt ihm – Jesus geht ruhig auf ihn zu. – Bar Dan weicht zurück. – Seine Scharen mit ihm – drücken eine Zeltwand ein. – Der Knäuel der Masse, jedes Vertrauens bar, staut sich – die Zinne der Erdspalte bricht unter ihrer Last – ein dumpfes Getöse – – Bar Dan ist nicht mehr – – – aufsteigender Schwefeldampf bezeichnet die Stätte seines Untergangs – – dann ist alles still – alles – – – Eine goldene Krone rollt über den Abhang.
Jesus richtet sein Kreuz auf – hoch ragt es von Oelberg – er erhebt seine Hand:
‚Meinen Frieden geb’ ich Euch!‘
Und die Rezeptoren tragen den Segen über die Ozeane:
‚Meinen Frieden geb’ ich euch!‘ (215f.)

Bilanzierend zu dieser hollywoodtauglichen Erzählung:

  1. Die Passion von Jerusalem erzählt eine Passionsgeschichte, und diese umfasst auch eine Sterbeerzählung, auch wenn Jesus – der Jesus, der die Passion erfährt – nicht stirbt. Es gibt ein Kreuz, aber keine Kreuzigung.

  2. Dieser alternative Verlauf ist möglich, weil in der Erzählung zwei Jesusfiguren auftreten. Achermann überblendet – und das ist tatsächlich eine Idee – zwei heilsgeschichtliche Phasen: Der Jesus des Passionsspiels wird gerettet durch den Jesus, der wiederkehrt zum Gericht; der falsche Jesus einer scheinbar falschen echten Passion wird gerettet vom echten Christus der Parusie. Die theologische Perspektive noch stärker mit der narratologischen verschränkend lässt sich sagen: Das erzählstrukturell einschlägige Motiv der Rettung in letzter Minute / Sekunde wird hier überboten, weil die – profane – Rettung des nackten Lebens aufgehoben wird in die maximale – sakrale – Ordnung der endzeitlichen Erlösung: der Vernichtung des Antichrist. Die irdische Zeit der defensiv-individuellen Rettung wird überführt in die Über-Zeit der offensiv-überindividuellen Erlösung.34

  3. Das Kontrast- oder Komplementärereignis der Auferweckung, das skriptgemäss an die Sterbeerzählung anschließt, spielt in der Erzählung explizit keine Rolle. Implizit ist es jedoch entscheidend, weil die Auferweckung in theologischer Wahrnehmung proleptisch als Garant dafür fungiert, dass sich Christinnen und Christen in der Regel zu einer allgemeinen Auferweckung bekennen; Jesus Christus ist, paulinisch formuliert, der „Erstling“ der Auferweckung (1. Kor 15,20), die zugleich mit dem Gericht über alles Gottfeindliche einher geht.

  4. Weil Jesus (der Jesus des Passionsspiels) nicht stirbt, spricht er auch kein letztes Wort. Ein letztes Wort der neutestamentlichen Überlieferung – die johanneische Variante „Es ist vollbracht“ – spielt aber dennoch eine zentrale Rolle. Wie eingangs bemerkt, ist es für die Qualifizierung eines Erzähltextes als Sterbeerzählung nicht zwingend nötig, dass tatsächlich jemand stirbt. Doch wird in der vorliegenden doch auch gestorben. Durch die Inszenierung des Passionsspiels als Wettbewerb legt der Diktator selbst die Grundlage für das Plot-Schema Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Auf ihrer Weise ist also auch Achermanns Erzählung eine doppelte Sterbeerzählung, schildert sie auch das Ende des Antichrists. Das letzte Wort Jesu in der Fassung der generell ,hohen‘ Christologie des Johannes zeigt sich hier, als Abschnittsüberschrift, von seiner triumphalistischsten Seite. Als umgedeutetes, nämlich heilsgeschichtlich phasenverschobenes und von der Figur als Instanz der Rede abgelöstes, kündigt es, wie retrospektiv kenntlich wird, die endzeitliche Vernichtung des Antichrists an.

  5. Dass Achermanns Aneignung der Passionsgeschichte und ihrer Sterbeerzählung eine maximale Theologisierung betreibt, zeigt sich schließlich auch in der Nachfolge-Thematik. Armin von Bramberg stellt sich zwar nicht freiwillig für die Rolles des Jesus zur Verfügung stellt35 und nimmt fast in einem wörtlichen Sinn „sein Kreuz“ auf sich (Mk 8,34). Doch ist diese stärkste Form der Nachfolge angelegt in seinem christlichen Widerstand gegen das antichristliche Regime. Und das Gleiche gilt für Arros und Markus (den letzten Papst), denen die Rollen der Schächer aufgezwungen werden.36

V. Golgatha erzählen, Rück- und Ausblick

Die beiden diskutierten Texte sind einem sehr umfangreichen und unablässig wachsenden Quellenpool entnommen. Der sogenannte Jesusroman erfreut sich historisch wie gegenwärtig zumindest auf der Produktionsseite größter Beliebtheit (vgl. die imposanten Zahlen in Crook 2011, 504). Die beiden exemplarischen Untersuchungen mögen bestenfalls kenntlich gemacht haben, dass eine Beschäftigung, die auf die jeweiligen Sterbeerzählungen achtet, produktiv sein kann. Das Sterben Jesu ist zuletzt in theologischer Perspektive eine Lebensphase unter Lebensphasen. In Verbindung mit dem Kontrastereignis der Auferweckung bildet es die Grundlage der christlichen Überzeugung, dass der Tod durch das Auferweckungshandeln Gottes an Christus letztlich dem Leben unterliegen wird (vgl. Dalferth 1998). „Tod, wo ist Dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?“ (1. Kor 15,55). Diese maximale Befrachtung schlägt offensichtlich durch auf die vor- wie die spätmodernen literarischen Gestaltungen des Sterbens Jesu, die sich insofern als Form der narrativen Exegese begreifen lassen.

Abschließend einige Gesichtspunkte, die zur weiteren Entfaltung der exponierten Zusammenhänge von besonderem Interesse sein dürften.

  1. Mit Bezug auf die Faktur von Sterbeerzählungen en gros wäre nach dem Typus autobiographisch angelegter Jesus-Erzählungen zu fragen: Wie gehen die Texte damit um, dass sich das eigene Sterben (wie zuvor angedeutet) aus erzähllogischen Gründen einer narrativen Darstellung entzieht? Wie nah erzählt Jesus in diesen Fällen an Golgatha heran? Welche anderen Instanzen übernehmen nach dem „Tod des Erzählers“ (Belling 2004) allenfalls den Erzählfaden? Gibt es etwa autobiographisch angelegte Erzählungen, die aus der Osterperspektive auf Golgatha zurückblicken? Als Beispiel: Im Fall von Jürg Amanns Vater, warum hast du mich verlassen? – im Untertitel als Die Autobiographie Jesu Christi ausgewiesen – endet die Erzählung mit den folgenden Sätzen „Dann luden sie mir das Kreuz auf die Schultern. Klaglos nahm ich alles hin. Aber in mir schrie es: Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?“ (Amann 2013, 111) Auch wenn die Erzählung an dieser Stelle ‚korrekt‘ abbricht, lässt sich etwa die erzähllogische Frage stellen, wie die mediale Überlieferung dieses Finales zu denken ist.

  2. Die beiden Exempla haben deutlich gezeigt, in welchem Maß die Sterbeerzählungen konfessionellen Mustern folgen, die allenfalls auch mit einer deutlichen Privilegierung bestimmter Aspekte oder Figuren einhergehen. Amos Oz’ Judas-Roman steht, wie anhand eines ausgezeichneten Aufsatzes Martin Leutzschs nachvollziehbar wird (vgl. Leutzsch 2017), in einer breiten und ihrerseits vielstimmigen jüdischen Beschäftigung mit der Jesus-Figur. Achermanns Antichrist hat nicht nur Teil an einer breiten katholischen Literaturtradition (auch Tradition der Jesus-Literatur); er ließe sich auch beziehen auf einen anderen und stark konfessionell bestimmten Strang der Großgattung: die Antichrist-Literatur.37

  3. Die Beschäftigung mit der Fülle an Sterbeerzählungen im Erzählen vom Sterben Jesu von Nazareths im Besonderen geht unweigerlich einher mit Überlegungen, wie diese Fülle auch jenseits konfessioneller Prägungen systematisiert werden kann. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Erzählen am und vom Lebensende ging unsere Idee dahin, eine solche Systematisierung unter dem korrelativen Leitbegriff des Sterbenarrativs zu erproben.38 Er diente uns zur Bezeichnung der allgemeineren Grundmuster, Schemata oder Tiefenstrukturen, die sich in der Fülle konkreter Erzähltexte oder anderen kulturellen (Erzähl-)Phänomenen manifestieren (wie etwa dem Narrativ des alten und lebenssatten Sterbens oder dem der Sterbebettkonversion).39 Heuristisch nützlich schien es uns auch, eine skalare Differenz primärer, sekundärer und tertiärer Narrative einzuführen, um allgemeinere Muster wie das eines dem gelebten Leben gemäßen Sterbens von konkreteren und motivisch besetzen wie der Sterbebettkonversion unterscheiden zu können.40 Eine lohnende Untersuchung könnte darin bestehen, das Wechselspiel von Sterbeerzählungen und Sterbenarrativen auch am Korpus der Erzählungen vom Sterben Jesu nachzuvollziehen.41

  4. Zwei Narrative, die hier im Sinn primärer (also allgemeinster) Narrative in Anschlag gebracht werden können, wären, der sogenannten Doppelnatur Christi entsprechend, das göttliche und das menschliche: Stirbt in einer bestimmten Darstellung ein Gottmensch oder ein Gottmensch? Die untersuchten Texte lassen sich dieser Unterscheidung zumindest in einem Fall ganz zwanglos zuordnen. Oz erzählt das Sterben Jesu offensichtlich als Sterben des Gottmenschen, der als Gottverlassener aus dem Leben geht (der, nach Judas Wunsch, mehr Gott hätte sein sollen). Achermann erzählt das Sterben Jesu nicht, weder das des ‚historischen‘ noch das des Akteurs im nachfolgenden Passionsspiel. Doch schlägt die Darstellung des Parusie-Christus gleichsam auf das Kreuz durch; der wahre Gott, die hohe Christologie, dominiert. Die beiden Beispiele zeigen also auch, dass die Aufmerksamkeit für das letzte Wort bei Mutmaßungen über die leitenden Narrative zentral sein dürfte. Und da Achermanns Antichrist – dem vorangestellten Zitat Zeba A. Crooks widersprechend – längst nicht die einzige Erzählung ist, in der Jesus dem Kreuz entgeht (prominent und gebrochen etwa auch in Kazantzakis’ Die letzten Versuchung Christi, 1951), wäre auch dieser Verlauf als eigenständiges – sekundäres? – Narrativ in Betracht zu ziehen.

  5. Eine nähere Untersuchung verdiente unbedingt auch die erwähnte negative Intertextualität. Diese (wie man auch sagen könnte) Verzichtslogik führt wiederum zu identifizierbaren Erzählmustern, etwa zu einer Kombination der Verzichtslogik mit der einer Verschiebung. So wird im Fall eines theologisch ausgesprochen spannenden, formal aber klassischen aktuellen Jesusromans – Philip Pullmans The good man Jesus and the scoundrel Christ (2010) – die Kreuzigung gänzlich zur Nebensache. Von den 245 Seiten der Paperback-Ausgabe nimmt das Kapitel The Crucifixion gerade zweieinhalb in Anspruch. Und der Gekreuzigte sagt hier weder dieses noch jenes letzte Wort, er sagt – nichts. Dieser Verzicht ist für die Selbstdeutung Jesu und damit die Gesamtdeutung der Passion aber entscheidend. Denn das letzte Wort wird hier eben verschoben in die Gethsemane-Szene. Die knappen, aber theologisch höchst signifikanten Gebetsworte Jesu (Mk 14,32-42) werden bei Pullman ausgebaut zu einer Gottesanklage von zehn Seiten.

  6. Schließlich: Wie die einleitenden Hinweise zum Verständnis des Sterbevorgangs deutlich gemacht haben, fällt er als körperliches Ereignis nicht zuletzt in den Kompetenzbereich der Medizin. In den diskutierten Quellentexten spielte diese Perspektive keine Rolle, wohl aber in anderen: „Der zarte Körperbau Jesu bewahrte ihn vor diesem langsamen Todeskampf. Allem Anschein nach führte der plötzliche Riß eines Blutgefäßes im Herzen nach drei Stunden seinen plötzlichen Tod herbei.“ So Ernest Renan im Kapitel Der Tod Jesu (Kap. 25) seines stilbildenden Vie de Jésus (1863; Renan 1981, 201). Diese medizinische Sicht ist umso bemerkenswerter, weil sie nach dem Zitat der letzten Worte nach Lk und Joh (einschließlich eines Vorschlag zu ihrer Harmonierung) und der Benennung des Sterbemoments von einem gänzlich anderen Register abgelöst wird: Renan beschliesst das Kapitel durch einen halbseitigen an Christus selbst adressierten Christushymnus: „Ruhe jetzt in deinem Ruhm, du edler Bahnbrecher! Dein Werk ist vollendet, deine Göttlichkeit begründet“ (ebd.). Diese gegenstrebige Fügung verweist auf einen letzten Gesichtspunkt, den Andrea Polaschegg in einem Aufsatz zum (wissenschaftlich seinerseits kaum erschlossenen) Christusdrama des 19. Jahrhunderts herausgestellt hat: Für Renan wie für seinen einflussreichen deutschen Vorgänger, den Aufklärungstheologen Karl Heinrich Georg Venturini (1768-1849) gilt, dass sich ihre Jesus-Erzählungen durch einen „schillernden diskursiven Status zwischen Wissenschaft und Kunstauszeichnen (Polaschegg 2017, 267). Dieser Status wird u. a. auch durch eine paratextuelle Leerstelle befördert, nämlich den Verzicht auf vereindeutigende Gattungsangaben“ (ebd.). Sei es der Verzicht oder die Setzung eines Titels, für die Untersuchung von Erzählungen des Sterbens Jesu wie für umfassendere biographische Erzählungen wäre dieses entscheidende hermeneutische Regulativ ein produktiver Ansatzpunkt. Auch dafür ist Achermanns Zukunftsroman auf Grund der biblischen Prophezeiungen und der heutigen Kulturentwicklung kein schlechter Beleg.

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Dr. theol., lic. phil. Andreas Mauz
Universität Zürich
Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR)
Kirchgasse 9
CH – 8001 Zürich
Email:
andreas.mauz@access.uzh.ch
URL: https://www.hermes.uzh.ch/de/personen/mauz.html

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1 Prägnant zu dieser Vorstellung: Angehrn 2017, v.a. Kap. 7 („Selbsterzählung und Endlichkeit: Das Problem der narrativen Selbsteinholung“), 117-130. Mit systematischen Pointen zur breiten Diskussion von Modellen einer „narrativen Identität“: Thomä 2007.

2 Wenn ich im Folgenden einerseits von den neutestamentlichen und andererseits von literarischen Jesuserzählungen spreche, tue ich dies trotz des Problems dieser Opposition und im Interesse einer intuitiv nachvollziehbaren Begrifflichkeit. Denn selbstverständlich sind auch die neutestamentlichen Erzählungen literarisch. Innerhalb eines textanalytischen Horizonts lassen sich beide Erzähltextkorpora nicht unterscheiden. Die Differenz reflektiert also den – hier wichtigeren – textpragmatischen Horizont: den Umstand, dass der kulturell wie wissenschaftlich etablierte Umgang mit beiden ein unterschiedlicher ist,

3 Und nicht ein formales, wie im Fall der Langerzählung, ein pragmatisches wie im Fall der Nacherzählung oder ein qualitatives wie im Fall der Meistererzählung. Für gattungstheoretische Überlegungen auch Köppe / Klauk 2018. Für die breite literaturwissenschaftliche Forschung zur Sterbethematik pars pro toto: Han/Triplett 2015.

4 Vgl. aber Mauz 2018, v. a. 44-50.

5 Diese Begrifflichkeit in freier Anlehnung an die Symbolphilosophie Susanne K. Langers: Langer 1951, 75-93 (Kap. 4: „Discoursive Forms and Presentional Forms“).

6 Die genauere Explikation dieser Grundbestimmung (ebd.): „Der natürliche Sterbevorgang durchläuft mehrere Phasen: Zunächst wird die Wahrnehmung durch verringerte Hirnaktivität eingeschränkt; Seh- und Hörvermögen lassen nach bzw. erlöschen, und die Atmung verflacht. Danach tritt der Herzstillstand ein, dem innerhalb weniger Minuten infolge des Funktionsverlusts der Hirnzellen der Hirntod folgt.“

7 Die Rede von einer „komplexen Reihe von Handlungen und/oder Ereignissen“ erschließt sich insbesondere auch im Kontrast zur vergleichsweise einfachen und ‚kompakten‘ Phänomenalität der Handlung des Trinkens oder Türöffnens.

8 So die Abschnittstitel der Abteilung V., Töten und den Tod erleiden, in: Wittwer et al. 2010, 293-374.

9 Auch historisch gesehen (Bauckham 2011, 95): „Probably the best-known historical fact about Jesus is that he died on a Roman cross.“

10 Ich arbeite im Folgenden aus pragmatischen Gründen mit dem Markus-Evangelium und nehme den Ausfall der Differenzen, die fast überall einzutragen wären, in Kauf. Mit Mk zu argumentieren liegt nahe, weil er nach landläufiger Auffassung die Grundlage bildet für die Evangelien von Mt und Lk (weshalb sie denn auch unter dem Stichwort der sog. synoptischen Evangelien zusammengefasst werden), während das Joh-Evangelium in einem anderen und eigenständigeren Traditionszusammenhang steht. Für eine narratologisch versierte Analyse des Mk-Evangeliums neuerdings: Rüggemeier 2017.

11 Dass beide gebräuchlichen Begriffe in systematisch-theologischer Sicht gerade nicht austauschbar sind, ist eine der Pointen von Ingolf Dalferths klassischem Beitrag zur Sache (Dalferth 1998): Die Rede von der Auferweckung ist zu bevorzugen, weil sie – im Gegenzug zu aktivischen Auferstehung – die passive Dimension des Ereignisses akzentuiert, den Umstand, dass es Gott ist, der an Christus als seinem Repräsentanten handelt.

12 Für prägnante Darstellung der theologischen Problemlagen zwischen Neutestamentlicher Wissenschaft und Systematischer Theologie etwa Frey 2005. Entscheidend Freys globaler Hinweis (ebd., 4), dass sich „in der exegetischen Diskussion soteriologischer Themen historisch-exegetischer Analysen und systematisch-theologische Interessen besonders eng verbinden“. Umfassend zur exegetischen Perspektive: Schröter/Jacobi 2017.

13 Ich zitiere hier und im Folgenden nach der aktuellen Luther-Übersetzung (2017).

14 So wie der Palast des Pilatus schematisch ‚kartiert‘ ist als Schauplatz einer möglichen Wende des Handlungsverlaufs – nämlich eines Freispruchs oder einer anderen Sanktionsform –, ist Golgatha ‚kartiert‘ als Schauplatz der irreversiblen Vollstreckung des Todessurteils durch Kreuzigung. Wobei die Literatur, wie eines der folgenden Beispiele zeigt, gerade aus diesem schematisch gegebenen Regelverlauf abweichungspoetisch Potential schlagen kann.

15 Der Motivbegriff findet hier in dem Sinn Verwendung, wie er von Tomasevskij (1985, 218) etabliert und in der narratologischen Biographieforschung weiterentwickelt wurde: als klein(st)e Handlungseinheit, die über die Operationen der Selektion und funktionalen Koppelung das spezifische Sinngefüge der biographischen Erzählung etablieren. Dieser Theorierekurs ist allerdings nur lose und trägt insbesondere dem ausdifferenzierten Vokabular der neueren Forschung nicht Rechnung (Klein 2009).

16 Für die große Nähe dieses Ablaufs zu dem, was über die römische Kreuzigungspraxis bekannt ist: Smith 2018, 184ff.

17 Die Intertextualitätstheorie stellt beim diskutierten Texttyp eine naheliegende Theorieoption dar. Sie könnte – was hier nicht geschieht – im Verbund mit dem narratologischen Instrumentarium gezielt eingesetzt werden. Als systematischer Entwurf nach wie vor ausgezeichnet: Stocker 1998.

18 Diese kritische Notiz wäre nicht zuletzt anhand rein theologischer Beiträge zur Jesusroman-Forschung leicht konkretisierbar.

19 Mt 27,46 und Mk 15,34: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“; Lk 23,46: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“; Joh 19,30: „Es ist vollbracht!“

20 Dieser Umstand hat u. a. die Folge, dass autobiographischen Sterbeerzählungen oft zweistimmig angelegt sind, nämlich ein Nachwort umfassen, dass die Geschichte zu Ende erzählt – sei es auf der eingeschlagenen Linie oder auch nicht.

21 Und, schließt man den noch weiteren Horizont des biblischen Kanons ein, der vier Evangelien, des gesamten Neuen Testaments und der spannungsvollen Einheit von Altem und Neuem Testament.

22 Ein Reiz des Buches liegt darin, dass die Verratsthematik für den Roman grundsätzlich tragend ist. So ist etwa auch Antaljas Vater Schealtiel ein Judas. Er – zunächst linientreuer Zionist und Leitungsmitglied der Jewish Agency – fällt in Ungnade, weil er Vorbehalte gegenüber der Politik Ben Gurions äußert und im arabisch-israelischen Konflikt für Versöhnung eintritt.

23 Vgl. die diversen Gespräche mit Antalja und Wald (45, 48, 128f. u.ö.), insbesondere aber die Hinweise zu einer Entwurfsfassung bzw. zum theologischen Programm in den Kapiteln 20 und 32. Ich widme mich im Folgenden ganz der Binnenerzählung, ihrer Gliederung in 19 Abschnitte folgend.

24 Der Name „Jesus“ fällt weder hier noch an anderer Stelle innerhalb des Kapitels.

25 Der Name fällt innerhalb der Erzählung erstmals an dieser Stelle.

26 Judas ist hier nicht nur der Regisseur der Verhaftung und des Prozesses; durch Überzeugungsarbeit bei den Behörden (die in der Passionserzählung bestimmende Doppelfront von Juden und Römern aufnehmend) treibt er gezielt die Tötungsart der Kreuzigung voran (294). Denn: „Niemand in Jerusalem kam auf die Idee, ihn zu kreuzigen. […] Wozu? In den Augen der Priester war der junge Mann aus Galiläa nur ein weiterer wunderlicher, in Lumpen gekleideter Prediger. In den Augen der Römer war er nur ein verrückter Bettler, von Gott besessen wie alle Juden. […] Bis ich sie dazu brachte, ohne große Begeisterung meinen Rat anzunehmen. Nicht weil sie wirklich davon überzeigt waren, dass dieser junge Mann, über den ich sprach, schlimmer als die anderen war, sondern weil es ihnen egal war, ob es einen Gekreuzigten mehr oder weniger gab. Jeden einzelnen Nagel habe ich in sein Fleisch geschlagen. Jeden Tropfen Blut, der aus seinem reinen Körper floss, habe ich vergossen.“

27 Durch das tief in die Kultur eingelagerte heilgeschichtliche Narrativ von Kreuz und Auferweckung bleibt sie als Rezeptionsfolie natürlich dennoch aktiv: Die – jüdische – Erzählung ist, innerhalb des – christlichen – Narrativs immer auch auslegbar als Erzählung eines anderen Missverständnisses. Judas hatte grundsätzlich recht: Dieser war der Messias. Nur irrte er sich, wenn er davon ausging, dass dieser Messias seine Macht so erweisen würde, wie er es meinte.

28 Achermann 1939, 5. Die im Untertitel angezeigte Kombination bzw. Konstellation dreier Dimensionen – biblische Prophetie, Gegenwartsdiagnose, Zukunftsroman kann hier, obwohl angesichts des Erscheinungsjahrs von hohem Interesse, nicht ausgelotet werden. Die Aufmerksamkeit gilt nur der Faktur der Sterbeerzählung. Zu den auch politischen Implikationen des Genres vgl. Brandt 2007.

29 Die Forschung zu Achermann ist ausgesprochen überschaubar. Von Lexika-Artikeln abgesehen scheint es nur eine einzige (kleine) monographische Arbeit zu geben: Perrig / Mazenauer 1994.

30 Der Autor rekurriert bei der Namengebung offensichtlich auf die Sonderstellung Dans innerhalb der zwölf Stämme Israels. Da Dan in der Thora für Fehlverhalten anfällig ist (Götzendienst etc.) und auch in Off 7,4-8 nicht unter die „versiegelten“ Gottesknechte gezählt wird, bildete sich früh die Tradition heraus, dass der Antichrist aus diesem Stamm kommen müsse.

31 Der ausdrückliche Verweis auf die Oberammergauer Spieltradition kann stellvertretend stehen für Achermanns ausgeprägtes didaktisches Anliegen. Immer wieder wird die Erzählung durch historische oder bibelkundliche Belehrungen angereichert („… denn auf dem alten Tempelberge Morija (Erscheinung des Herrn!) …“, 194), die eine auf bloßes delectare gerichtete Lektüre durch ein prodesse durchkreuzen.

32 Arros, der, obwohl Barrabas, natürlich nicht freigelassen wurde, hat auch die Rolle eines Schächers zu übernehmen; die des anderen wird besetzt durch „Markus“, den „letzten Papst“ (207).

33 Da das Spiel am historischen Schauplatz inszeniert wird, werden folgerichtig auch die ‚authentischen‘ Schauplätze zum Thema. Wenn Bar Dan „Golgatha“ aufgrund der besseren Sicht- und also Übertragungsbedingungen am Ölberg erzählt, zeigt diese Verschiebung einmal mehr, wie sehr er die ‚authentische‘ Jesusgeschichte als bloßes Verfügungsmaterial für die eigenen Zwecke versteht.

34 Zu Konstellationen dieser Art: Lehmann / Thüring 2015.

35 Der Aspekt der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit wäre weiter zu erhellen in der Zusammenschau mit Jesusromanen, die dem Typus der Transfiguration zuzuordnen sind, also Figuren, die (wie etwa Hauptmanns Narr in Christo Emanuel Quint, 1910) aus eigenem Antrieb ein jesushaftes Leben zu führen versuchen. Zu diesem Typus: Ziolkowski 1972.

36 Das wäre anhand des ganzen Romans im Einzelnen zu belegen.

37 Darunter so verschiedene Texte wie Selma Lagerlöfs Die Wunder des Antichrist (1897) oder Der Antichrist (1921) des austrofaschistischen Autors Friedrich Schreyvogel.

38 Vgl. Peng-Keller und Mauz 2018.

39 Für einen Katalog in etwa so verstandener Sterbenarrative vgl. Kellehear, 2009. Der Autor verzeichnet hier die folgenden sieben Narrative: Sterben als Akt, als Reise, als oszillierender Prozess, als Rückzug, als Kollaps und Desintegration, als Marginalisierung, als Transformation.

40 Vgl. Mauz 2018, S. 58f.

41 Die beiden Begriffe adressieren, obwohl korrelativ, prinzipiell verschiedene Phänomenbereiche. Während sich Sterbeerzählungen auch im engsten Horizont immanent operierender Textanalysen als solche erkennen lassen, fallen Aussagen über Sterbenarrative notwendigerweise in das Register höherstufiger Textinterpretationen. Sie überschreiten die Schwelle des Einzeltextes und schließen, um in ihrem virtuellen Charakter plausibel zu sein, immer andere Texte und kontextuelle Daten ein. Die Zuschreibung des Sterbenarrativ-Begriffs (bzw. eines bestimmten Sterbenarrativs) wird daher immer strittiger sein als der der Sterbeerzählung.