Gerrit Althüser
Vom Tod in Venedig zur Candy Crush Saga?
Joachim Friedmanns Transmediales Erzählen
Joachim Friedmann: Transmediales Erzählen. Narrative Gestaltung in Literatur, Film, Graphic Novel und Game. Köln: Herbert von Halem Verlag 2016. 222 S. EUR 29,00. ISBN 978-3-7445-1149-0
Der Verfasser Joachim Friedmann blickt auf langjährige Erfahrungen als Drehbuch-, Computerspiel- und Comicautor zurück, hat die Erzählmedien, die er analysiert, also bereits als Praktiker kennengelernt, wie er im Vorwort betont (vgl. S. 9). Aus wissenschaftlicher Perspektive interessieren ihn basale erzählerische Gemeinsamkeiten dieser verschiedenen Medien, wobei er vor allem die Narrativität von Computerspielen in den Fokus stellt.
Im Vorwort wird angegeben, das Ziel der Untersuchung sei eine Antwort auf die Frage,
welche narrativen Textgestaltungsstrategien in den klassischen Erzählmedien wie Literatur, Film oder Comic realisiert werden. In einem zweiten Schritt soll dann überprüft werden, inwieweit diese Elemente auch im Computergame wirksam sind, um so auf der Basis einer präzisen Analyse die Frage beantworten zu können, ob Computergames als Erzählmedium angesehen werden können. (S. 11; vgl. auch S. 31)
Zudem möchte Friedmann untersuchen, inwieweit diese Strategien in ihrer jeweiligen Realisation einer Medienspezifik unterliegen. Die Arbeit konzentriert sich dabei auf acht „Elemente des Narrativen“ (S. 33), nämlich den Raum, die Figur, semantische Basisoppositionen, den Konflikt, die Geschlossenheit durch Transformation, die Emotionalität, die Wendepunkte und die Kausalität. Dabei wird das jeweilige Element stets zunächst in Literatur, Film und Comic nachgewiesen, um dann sein Vorkommen in Computerspielen aufzuzeigen. Einige weitere Elemente werden in einem abschließenden Teilkapitel zusammengefasst. Von thematisch ähnlich gelagerten Publikationen wie der Transmedialen Erzähltheorie (2007) von Nicole Mahne oder Jan-Noël Thons Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture (2016) setzt sich die Arbeit vor allem durch die Perspektive des Praktikers ab.
Bei ihrer Bestimmung von „Erzählung“ sieht sich die Arbeit Marie-Laure Ryan verpflichtet. Ryans acht „conditions of narrativity“ (Ryan 2006, 6-9) werden dabei aufgegriffen und durch Bezüge auf Chatman (1990) und Fludernik (2000) ergänzt, „[w]enn eine Unterscheidung zu anderen Texttypen getroffen werden soll, die mit Ryans Elementen nicht ermöglicht wird“ (S. 18). Nach der Definition von Erzählung wird ein knapper Überblick über die Entwicklung der Narratologie und vor allem ihre postklassischen Phase gegeben, bevor der Verfasser sich der narratologischen Analyse interaktiver Erzählarrangements widmet und die zwischen Ludologen und Narratologen um die Jahrtausendwende geführte Debatte um die adäquate Herangehensweise an Computerspiele nachzeichnet. Zwar werden dabei die Bemühungen der Ludologen honoriert, die Medienspezifik von Computerspielen angemessen zu berücksichtigen, ihre Versuche, die Kategorie des Narrativen für Computerspiele vollständig zu verwerfen, werden jedoch einer scharfen Kritik unterzogen, da diese einem zu engen Verständnis von Narration folgen würden. Nebenbei ist zu bemerken, dass Friedmann seiner eigenen praktischen Erfahrung entsprechend bei der Argumentation für die Narrativität von Computerspielen zunächst Aussagen von Game-Designern anführt, die ganz selbstverständlich davon sprechen, dass Computerspiele Geschichten erzählen (vgl. S. 23f).
Im Folgenden befasst die Arbeit sich dann mit den einzelnen transmedial anzutreffenden Elementen des Narrativen. Wie erwähnt, werden die theoretischen Konzepte dabei immer zunächst unter Rückgriff auf Beispiele aus erzählender Literatur, Comic und Film erläutert, bevor gezeigt wird, wie sie sich auf Computerspiele übertragen lassen. Dabei wird auf ein Korpus aus 105 Spielen zurückgegriffen, wobei das Spektrum von Pac-Man (1980) bis Spec Ops: The Line (2012) und Grand Theft Auto V (2013) reicht. Diese Vorgehensweise lässt sich am Beispiel des Kapitels zur Raumsemantik veranschaulichen. Hier wird zunächst Jurij Lotmans klassisches Konzept referiert, diskutiert und auf Tolkiens Der Herr der Ringe (1955) sowie Thomas Manns Der Tod in Venedig (1911) angewandt, bevor seine Übertragbarkeit auf Computerspiele zunächst an Tomb Raider (1996ff.) und The Last of Us (2013) und dann auch an überraschenderen Beispielen wie der Candy Crush Saga (2012) vorgeführt wird (vgl. S. 35-47). Im letzten Fall wird die gesamte Spielwelt als semantischer Raum betrachtet, „auch wenn auf den ersten Blick kein zweiter komplementärer Raum realisiert ist“ (S. 46). Die Hindernisse, die die Kombination der Spielsteine einschränken, würden dann die semantischen Basisoppositionen realisieren: „bunt vs. farblos, mobil vs. statisch, hell vs. dunkel“ (ebd.). Diese Oppositionen wirken allerdings etwas willkürlich, zumal aus der Argumentation leider nicht hervorgeht, wo genau die Lotman’sche Grenze verlaufen soll.
Für die Erarbeitung der einzelnen Elemente wird häufig auf in der narratologischen Forschung etablierte Theorien wie eben Lotmans raumsemantischen Ansatz zurückgegriffen, doch gelegentlich versucht der Autor, auch weitere, nicht-wissenschaftliche Modelle in den Diskurs einzubeziehen. Ein Beispiel ist das der Esoterik entstammende Enneagramm, das in der filmdramaturgischen Praxis bei der Konzeption von Figurenarrangements Verwendung fände (vgl. S. 52). Auch für eine stärkere Einbeziehung des Heldenreise-Konzepts nach Campbell und Vogler in den narratologischen Diskurs wird mehrfach durchaus nachvollziehbar plädiert (vgl. S. 50f., 170-172). Dieser Zugriff wurde bisher vor allem in der Filmnarratologie – etwa den von Friedmann nicht erwähnten zwischen Narratologie und Dramaturgie oszillierenden Monografien Michaela Krützens (vgl. v.a. 2004) – angewandt und kann für die Erzählforschung in anderen Medien bereichernd sein. Dem Fokus der Arbeit entsprechend bezieht Friedmann neben wissenschaftlichen Werken immer wieder auch Drehbuchratgeber von Robert McKee und Syd Field mit ein.
Überraschend ist, dass auch semantische Basisoppositionen als ein narratives Element bezeichnet werden (vgl. S. 66-81), denn sie konstituieren eben keine Narration, sondern haben eine semantische Funktion und finden sich entsprechend ebenso in nicht-narrativen Texten. Zudem kommt es in Folge der Entscheidung, den Basisoppositionen ein eigenes Kapitel zu widmen, zu einigen Redundanzen, da die Oppositionen auch bei der Diskussion der anderen Elemente des Narrativen eine Rolle spielen, so beispielsweise, wenn bei der Analyse der Raumgestaltung auf den erwähnten Ansatz Lotmans zurückgegriffen wird.
Im Anschluss an die Diskussion der Elemente des Narrativen wird an drei Beispielen gezeigt, wie eine nicht-narrative Ereignis- bzw. Handlungskette in eine Erzählung transformiert werden kann. Dabei geht es um eine reale historische Schachpartie (Bobby Fischer vs. Boris Spasski im Finale der Schachweltmeisterschaft 1972) und ihre Verarbeitung im Buch Bobby Fischer goes to War von David Edmonds und John Eidinow (2005) (vgl. S. 179-185), eine stark narrativierte Naturdokumentation (The Meerkatz (2008)) (vgl. S. 185-189) und die Narrativierung des zunächst nicht-narrativen Computerspiels Die Schlaumäuse (2013), an der der Autor selbst beteiligt war (vgl. S. 189-193). Die Beispiele sind durchaus von Interesse, aber nicht überzeugend in die Gesamtargumentation eingebunden.
Die Arbeit löst den Erzählbegriff von der Ebene des discours, um auf der Ebene der histoire transmediale Elemente des Erzählens aufzuzeigen. Unter Rückgriff auf David Bordwell (1985) und Marie-Laure Ryan (2004) wird dabei darauf hingewiesen, dass ein Erzähler als vermittelnde Instanz keine notwendige Voraussetzung ist, um von einer Erzählung sprechen zu können (vgl. S. 27). Dieses Argument wird allerdings recht knapp gehalten; die wiederholt vorgebrachte Kritik an Bordwells kognitivistischer Position und Ansätzen, statt von einem anthropomorphen Erzähler von Erzählinstanzen als heuristischen Konstrukten auszugehen, werden dabei nicht aufgegriffen (vgl. in der rezenten Filmnarratologie etwa Kuhn 2013, 34-37 zu Bordwell ebd., 81-97 für sein eigenes Instanzenmodell). Auch Modus und Zeitgestaltung sind ausgelassen. Dass auf klassische discours-orientierte Narratologie vollständig verzichtet wurde, ist aus transmedialer Perspektive nachvollziehbar; allerdings ließen sich auch bei einigen Computerspielen weiterführende Untersuchungen zu Erzähler und Fokalisierung anzustellen, bei Spielen mit einer festen narrativen Struktur wäre auch die Untersuchung von Ordnung und Frequenz möglich. Und ist dem Spielenden in der Interaktion mit der Spielmechanik selbst die Kontrolle über die Dauer überlassen, wären doch Untersuchungen zum Verhältnis von Spielphasen und Zwischensequenzen möglich. In eine derartige Richtung geht Friedmann mit seiner Untersuchung jedoch dezidiert nicht.
Mit der Konzentration auf die histoire-Ebene und die erwähnten Elemente geht ein weiter Erzählbegriff einher, da Bestimmungsmerkmale wie das Vorhandensein einer vermittelnden Instanz abgelehnt werden. Entsprechend werden auch Werke wie Godfrey Reggios experimenteller Dokumentarfilm Koyaanisqatsi (1982) als Erzählungen behandelt. Dabei wird wieder über semantische Basisoppositionen, nämlich den Gegensatz Natur / Zivilisation, argumentiert (vgl. dazu S. 73-75). Bezogen auf Computerspiele führt dies dazu, dass auch hier die zentrale Frage nach ihrer Narrativität sehr leicht und pauschal mit einem „ja“ zu beantworten ist. Am Beispiel der Candy Crush Saga wurde dies oben bereits dargestellt. Manchmal ist nicht klar, ob die erwähnten Spiele aufgrund des Vorhandenseins eines narrativen Elements bereits als narrativ angesehen werden sollen, etwa wenn Pac-Man als erste spielbare Figur erwähnt wird (S. 59f). Der Nachweis des Elements dient nur zum Beleg, dass so etwas auch in Computerspielen vorkommt. Eine differenzierte Unterscheidung narrativer und nicht-narrativer Spiele oder die Annahme unterschiedlich hoher Grade an Narrativität bei einzelnen Spielen wird durch dieses Vorgehen jedenfalls unterbunden, dabei wäre gerade dies interessant.
Der Theorieteil überzeugt in seiner Kürze, allerdings hätte die Arbeit insgesamt theoretisch differenzierter ausfallen können. Hier sei vergleichend noch einmal auf die Monographie von Thon verwiesen. Anzumerken ist vor allem, dass nicht alle Elemente des Narrativen genuin narrativ und narrativitätskonstituierend sind und sich manche Punkte doppeln. Zudem wird trotz des Bezugs auf Ryans „conditions“ (Ryan 2006, 6-9) die Auswahl der narrativen Elemente, etwa der semantischen Basisoppositionen, nicht überzeugend begründet. Dass Friedmanns Elemente größtenteils der histoire zuzuordnen sind, wurde oben im Sinne einer genuin transmedialen Narratologie positiv hervorgehoben. Der Nachteil ist allerdings, dass medienspezifische Realisierungsmöglichkeiten der Narration nicht so deutlich herausgearbeitet werden, obwohl gerade deren Untersuchung eingangs explizit als ein Ziel der Arbeit bezeichnet wurde. Eine weitere Schwachstelle der Arbeit ist der Abschnitt über die Narrativierung realer Ereignisse. Die Frage, inwiefern bei der Wiedergabe einer Schachpartie in einem Sachbuch narrative Elemente Verwendung finden, ist sicher für eine Einzelstudie zu diesem Thema eine spannende; welchen Zweck sie jedoch in der Gesamtargumentation der Arbeit erfüllt, lässt sich nicht ersehen. Interessanter für das transmediale Erzählen wären reale oder fiktive Handlungen, die sich in verschiedenen Medien manifestieren, so dass sich daran die jeweils medial spezifische Nutzung der narrativen Elemente vergleichend analysieren ließe.
Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film. Madison.
Chatman, Seymour (1990): Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca.
Fludernik, Monika (2000): „Genres, Text Types, or Discourse Modes. Narrative Modalities and Generic Categorization“. In: Style 34 (H. 2), S. 274-292.
Kuhn, Markus (2013): Film-Narratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin / Boston.
Krützen, Michaela (2004): Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a.M.
Mahne, Nicole (2007): Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen.
Ryan, Marie-Laure (2004) (Hg.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln / London.
Ryan, Marie-Laure (2006): Avatars of Story. Minneapolis / London.
Thon, Jan-Noël (2016): Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. Lincoln, London.
Gerrit Althüser
Westfälische
Wilhelms-Universität Münster
Germanistisches
Institut
Schlossplatz 34
48143 Münster
E-Mail:
gerrit.althueser@uni-muenster.de
Bitte zitieren Sie nicht die HTML-Version, sondern ausschließlich die PDF-Datei / Please do not cite the HTML version but only the PDF file:
URN: urn:nbn:de:hbz:468-20181122-095753-5
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.