Julia Stetter

Romanliebhaber = bessere Menschen?

Hanna Meretoja fragt nach dem ethischen Potenzial narrativer Praktiken

Hanna Meretoja: The Ethics of Storytelling. Narrative Hermeneutics, History, and the Possible. New York: Oxford University Press 2018 (= Explorations in Narrative Psychology). 352 S. GBP 62,00. ISBN 978-0-190-64936-4

Erzählungen und Ethik

Das allgemeine Forschungsinteresse bezüglich ethischer Reflexion und gerade auch ihr Verhältnis zum Erzählen ist insbesondere in den 1990er Jahren mit dem sogenannten ethical turn in Literaturwissenschaft, Philosophie und Theologie wieder gestiegen (Richter 2011, 105). Stimmt es beispielsweise, dass die Lektüre von Erzählungen das Empathievermögen fördern kann und damit potenziell zu einem sozialverträglicheren Umgang führt? Wie verhalten sich Erzählungen und (ethische) Identitätsbildung? Klassisch hinsichtlich letzterem ist natürlich die Theorie Paul Ricœurs, etwa in seinem Monumentalwerk Zeit und Erzählung (1988), auf das Hanna Meretoja, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Turku, in ihrer Neuerscheinung The Ethics of Storytelling eingeht. Ein Beleg für das seit den 1990ern wachsende Interesse am Verhältnis von Ethik und Erzählungen liefert unterdessen auch der Sammelband Erzählen und Moral von Dietmar Mieth (2000), in dem als Analysekorpus kanonische deutschsprachige Autoren wie Goethe, Schiller, Heine, Kafka, Brecht und Hesse herangezogen werden. „[W]ie wir mit und in Geschichten denken und mit ihrer Hilfe Antworten auf bedrängende Fragen zu geben versuchen“ (Richter 2008, 1), untersucht ferner Michael Richter in seiner 2008 erschienenen Dissertation, womit er die Frage nach dem Zusammenhang von Erzählungen und Leben stellt, was auch innerhalb von Meretojas Argumentation eine große Rolle spielt. Einen ersten detailreichen Gesamtüberblick bietet darüber hinaus der Aufsatz Art and Ethical Criticism von Noël Carroll (2000). Bezüglich des Aspekts der möglichen Empathieentwicklung durch Lektüre ist ferner auf Suzanne Keens vielzitierte Monographie Empathy and the Novel (2007) zu verweisen. Dass das Lesen von fiktionalen literarischen Erzählungen auch tatsächlich die Fähigkeit zum Nachempfinden der Gefühle des Gegenübers steigern kann, wurde inzwischen auch empirisch untersucht und bestätigt (Kidd / Castano 2013). Prominent wird die Steigerung der Empathiefähigkeit durch Kunstrezeption auch immer wieder durch Martha Nussbaum aufgebracht:

Sie [Kunst und Geisteswissenschaften] schaffen eine lebenswerte Welt, sie ermöglichen Menschen, andere als vollwertige menschliche Wesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen zu betrachten, die Respekt und Empathie verdienen, und sie lassen Nationen entstehen, die es schaffen Angst und Misstrauen zugunsten eines verständnisvollen und vernunftgeleiteten Diskurses zu überwinden. (2012, 167)

Meretoja stimmt im Allgemeinen der Stoßrichtung von Nussbaums Argument zu, doch entwickelt sie eine differenziertere Vorstellung der Diversität unterschiedlicher Erzählungen mit ihren verschiedenen narratologischen Strukturen. Daraus ergibt sich für sie, dass Erzählungen nicht zwangsläufig zur moralischen Besserung ihrer Leser beitragen – sie können auch effizient von Demagogen eingesetzt sein.

Aufbau der Arbeit und Hauptthesen

Meretojas Studie setzt sich zusammen aus einem reinen Theorieteil (die ersten 147 Seiten bzw. 3 Kapitel) und einer Weiterentwicklung und Erprobung dieser Theorie anhand der Lektüre von Texten von Julia Franck, Günter Grass, Jonathan Littell und David Grossman (Kapitel 4 bis 7). Je nach Lesergeschmack lässt sich der Theorieteil aber auch gut ohne den Anschlussteil lesen. Im ersten Kapitel wird einleitend das Erkenntnisinteresse des Buchs vorgestellt und die zu entwickelnden Thesen in der akademischen Forschungslandschaft verortet. Meretoja zufolge weist ihre Theorie Schnittmengen mit folgenden Forschungsrichtungen auf: „(1) narrative ethics, (2) literary narrative studies and ethical criticism, (3) philosophy of narrative, (4) narrative psychology, and (5) cultural memory studies“ (S. 25). Im zweiten Kapitel, das aus narratologischer Perspektive besonderes relevant ist, wird dann das Konzept der narrativen Hermeneutik entwickelt. Diese erforscht primär das Verhältnis zwischen Leben und Erzählungen. Ferner werden im zweiten Kapitel verschiedene Konzeptualisierungen von Erzählungen diskutiert. Das dritte Theoriekapitel verhandelt schließlich ethische Implikationen einer hermeneutischen Annäherung an Erzählungen. Die Hauptthesen bzw. Prämissen, auf denen Meretojas Argumentation fußt, lassen sich im Grunde auf zwei Gedanken zurückführen: 1) Erzählen kann – muss aber nicht – ethisch wertvoll sein (diese These richtet sich gegen Nussbaum). Die Rezeption von Erzählungen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für eine ethische Lebensführung. 2) Die Narratologie hat lange Zeit den Fehler gemacht, Erfahrungen als jenseits der Erzähltheorie gelegen zu betrachten. Deshalb hat sie sich auf die Erforschung von Erzählstrukturen innerhalb von Texten beschränkt und diese als den außertextuellen Erfahrungen zeitlich nachfolgend betrachtet. Meretoja legt in ihrer Theorie jedoch Wert darauf, dass sowohl die außertextuelle als auch die textuelle Welt erst über Erzählungen und narrative Interpretationen zugänglich werden.

Grundzüge der Argumentation

In ihrem ersten Kapitel bestimmt Meretoja zunächst, was sie unter narrativer Hermeneutik versteht und was sie damit erreichen möchte:

I call my approach a narrative hermeneutics because it treats narratives as culturally mediated practices of (re)interpreting experience, and I will explore its ethical implications. […] On the basis of narrative hermeneutics, I propose a hermeneutic narrative ethics, which acknowledges that narrative practices can be oppressive, empowering, or both. (S. 2)

Folglich geht die narrative Hermeneutik nicht davon aus, dass Erzählungen für ihre Leser oder Hörer immer moralisch wertvoll sind, sondern will vielmehr erforschen, unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Ferner richtet sich Meretojas narrative Hermeneutik gegen die Vorstellung, dass nur Texte interpretationsbedürftig sind und die Erfahrungen in der realen Welt unmittelbar zugänglich seien: „Narrative hermeneutics emphasizes that interpretation does not concern only our engagement with texts; it characterizes our whole being in the world and is the basic structure of experience, narrative, and memory“ (S. 3). Damit begibt sich Meretoja in Opposition zu Positionen Hayden Whites, Galen Strawsons und einiger kognitiv orientierter Narratologen, in deren Theorien von einer hierarchischen Dichotomie zwischen Leben und Erzählen ausgegangen wird (S. 8).

Im zweiten Kapitel werden drei Vorteile entwickelt, die die narrative Hermeneutik anbieten kann: 1) Heutzutage wird in der Narratologie einerseits zwischen einer hierarchischen Dichotomie zwischen Erfahrungen und Erzählungen ausgegangen, andererseits vertreten einige wenige Narratologen die Position, Erfahrungen und Erzählungen seien identisch, da Erfahrungen immer über Erzählungen vermittelt seien. Meretojas narrative Hermeneutik bietet hier den Vorteil, eine dritte und mittlere Position darlegen zu können: Einerseits stimmt sie zu, dass Erfahrungen und Erzählungen miteinander verwoben sind, andererseits lehnt sie aber eine absolute Identität zwischen Erfahrungen und Erzählungen ab (S. 54). Letztere würde bedeuten, (das) Leben vollständig auf Erzählungen des Lebens zu reduzieren. Dies sei falsch, da bei einer gänzlichen Identität zwischen Leben und Erzählungen jeder durch seine eigene Erzählung darüber entscheiden könnte, wer er selbst ist, ohne dabei Rücksicht auf die Realität nehmen zu müssen (S. 68). Tragfähiger ist es, das Verhältnis zwischen Erfahrung und Erzählung als Kontinuum zu konzeptualisieren, was sich einerseits gegen die Vorstellung der Identität, andererseits gegen die der Opposition richtet (S. 61). Weiter führt Meretoja diese Kontinuumsvorstellung unter Bezug auf Ricœurs 3-Ebenen-Modell von Mimesis aus. Sie referiert zunächst Ricœur und gibt wieder, dass sich Mimesis 1 auf die pränarrative Qualität von Alltagserfahrungen, Mimesis 2 auf den Charakter von literarischen und historischen Erzählungen und Mimesis 3 dann ausgehend von Mimesis 1 und 2 auf die Reinterpretation von Erfahrungen beziehen (S. 62). Sie stimmt diesem Modell zu, schlägt aber dessen Ausdehnung vor, insofern Ricœurs drei Ebenen nicht nur bei der durch Lektüre initiierten Reinterpretation von Erfahrungen zum Tragen kommen, sondern auch schon innerhalb von Erzählungen selbst wirken. Da Erzählungen Meretojas Prämissen zufolge immer schon Interpretationen von anderen Erzählungen sind, spielen sich Mimesis 1 bis 3 demnach bereits innerhalb jeder Form von Erzählung ab (S. 62).

2) Ein weiterer Vorteil der narrativen Hermeneutik ist, dass sie das Leben nicht als in einer einzigen kohärenten Erzählung erfassbar betrachtet, sondern von einem unendlichen Prozess von Reinterpretationen und Wiedererzählungen ausgeht (S. 64). Dies knüpft an den zuvor entwickelten Vorteil der Kontinuumsvorstellung zwischen Erfahrungen und Erzählungen an und vertieft den Aspekt, dass wir nicht die Autoren unseres Lebens sind: „instead of being narratives, lives are, first, narratively conditioned“ (S. 73). Zwar wurde in der jüngeren Forschung zu Recht herausgearbeitet, dass die Konstruktion von Identität, Geschlecht und sozialer Realität eine performative Dimension aufweist, aber dennoch ist eher von vielen verschiedenen und unabschließbaren Erzählungen als von einer einzigen identitätsgebenden Erzählung auszugehen (S. 72).

3) Ein dritter Vorteil der narrativen Hermeneutik ist schließlich ihre Annahme, dass Identität im Dialog mit anderen entwickelt wird (S. 74). Bereits von Kindheit an erfolgt narrative Sinnbildung im Dialog und in gemeinsamen Erzählungen (S. 75). Neben konkreten Personen erfasst der Dialog dabei auch das innere Gespräch mit internalisierten Personen und Positionen (S. 77). Ferner sind kulturell vermittelte Modelle der narrativen Sinnbildung von Bedeutung (S. 79).

In ihrem dritten und letzten Theoriekapitel entwickelt Meretoja schließlich sechs Dimensionen des ethischen Potenzials des Geschichtenerzählens. Erzählungen können unsere Annahmen darüber, was innerhalb der Welt möglich ist, erweitern (S. 90-97). Sie vermitteln uns, wer wir selbst sind (S. 98-107). Ferner eröffnen sie die Möglichkeit des prozessualen Verstehens der Anderen, was den Vorbehalten Derridas gegenüber abschließenden Sinngebungen begegnet (S. 107-116). Als soziale Interaktionspraxis schaffen Erzählungen intersubjektive Identitäten (S. 117-125). Sie fördern nicht nur die Fähigkeit der Perspektivübernahme im Sinne Nussbaums, sondern überhaupt das Bewusstsein für Perspektiven bzw. die „perspective awareness“ (S. 125-132). In Abgrenzung zu Nussbaum und Aristoteles geht es schließlich nicht darum, dass Erzählungen das Gute präsentieren, sondern dass sie ermöglichen, nach dem Guten zu forschen (S. 133-142).

Fazit

Meretojas The Ethics of Storytelling zählt sicherlich zu den interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen im Jahr 2018. Insbesondere, wie Meretoja sowohl auf ältere Theoriebildungen als auch auf Forschungsergebnisse aus den kognitiv orientierten Literaturwissenschaften zurückgreift und beide miteinander in Dialog bringt, erweist sich als gewinnbringend. Nicht zuletzt ist das Buch durch seine klare Gliederung und die Durchnummerierung seiner einzelnen Gedanken besonders leserfreundlich.

Literaturverzeichnis

Carroll, Noël (2000): „Art and Ethical Criticism. An Overview of Recent Directions of Research“. In: Ethics 110, S. 350-387.

Keen, Suzanne (2007): Empathy and the Novel. Oxford.

Kidd, David Comer / Castano, Emanuele (2013): „Reading Literary Fiction Improves Theory of Mind“. In: Science 342, S. 377-380.

Mieth, Dietmar (2000) (Hg.): Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen.

Nussbaum, Martha C. (2012): Nicht für den Profit. Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen. [dt. Übersetzung der englischen Originalausgabe 2010 v. Ilse Utz].

Richter, Michael (2008): Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant. Berlin.

Richter, Michael (2011): „Erzählen und Moral“. In: Matías Martínez (Hg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart, S. 102-105.

Ricœur, Paul (1988): Zeit und Erzählung. Paderborn. [dt. Übersetzung der französischen Originalausgabe 1983 v. Rainer Rochlitz].



Julia Stetter, M.A., M.Ed.
Ruhr-Universität Bochum
Germanistisches Institut
Universitätsstraße 150
44780 Bochum
E-Mail:
julia.stetter@rub.de

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