Felix Prautzsch

Die Wahrheit der Legende

Geltungsbedingungen und Geltungsstrategien legendarischen Erzählens am Beispiel der Legenda aurea

Für Frida Elisabeth

From a modern rationalist viewpoint, the credibility of Christian hagiography must appear at least doubtful. At the same time, legendary narratives claim to report what really happened in history, when God acted out of transcendence in immanence, in a saint’s life. This truth and reality of the Holy is revealed in the veneration of the saint by the faithful public of the legend. Hagiography thus generates a specific claim of its own to truth, which stands at the variance with the modern and secular separation of facticity and fiction, of ‚truth‘ and ‚legend‘. The present article discusses how, in the Legenda aurea, the most important collection of hagiographies of the high Middle Ages, this claim is realized in institutional and narrative strategies that present the individual legends as part of the liturgically recalled history of salvation. Therefore, the Legenda aurea affirms to impart authenticated facts, even where it acknowledges uncertainties in tradition and dubious embellishments. This conception of reality is replaced only in the Reformation’s criticism of legendary narratives, making history as a historical event the standard for the value of a sacred life.

Im Ortasee, einem der oberitalienischen Seen im Piemont, liegt die nach dem gleichnamigen Heiligen benannte Isola San Giulio. Von diesem Heiligen wird überliefert, er sei im 4. Jahrhundert vom Kaiser Theodosios von Byzanz in den Norden Italiens gesandt worden, um die dortige Bevölkerung zum christlichen Glauben zu bekehren. Kraft seiner Wundermacht habe er dabei besagte Insel, damals nur ein Felsen im Wasser, von dem dort hausenden Drachen und allerlei Schlangen befreit, um auf ihr eine Kirche zu errichten. Über das Wasser sei er gelangt, indem er seinen Mantel darauf ausgebreitet und sich von seinem Stock durch den Sturm führen lassen habe.1 Heute kann man bequem mit einem der touristischen Boote hinüberfahren und die ihm geweihte Basilika besichtigen, die auf einen romanischen Bau aus dem 12. Jahrhundert zurückgeht. Ein Relief in der Kirche zeigt den heiligen Julius mit seinem Mantel auf dem Wasser und bei der wundersamen Bezwingung der Untiere; seine sterblichen Überreste finden sich in einem Schrein in der Krypta ausgestellt. Beflissen lauschte meine vierjährige Tochter nun ebendort den Ausführungen ihres legendenseligen Vaters, um dann ehrfürchtig flüsternd, aber doch mit entwaffnender kindlicher Klarheit zu fragen, ob das alles wirklich so passiert sei. Und ob dieser Julius denn tatsächlich gelebt habe.

Letztere Frage ließe sich mit Blick auf die Gebeine in der Krypta vielleicht noch vergleichsweise einfach beantworten, zumindest wenn man die Echtheit dieser Reliquien nicht von vornherein in Zweifel ziehen möchte – was der angebliche Wirbel des Drachen, der in der Sakristei aufbewahrt wird, dem neuzeitlich-aufgeklärten Besucher aber zugegebenermaßen nicht eben leichter macht. Die erste Frage aber führt vollends in die tieferen Bereiche des Glaubens beziehungsweise des Für-wahr-Haltens religiöser Überlieferung, hier in der spezifischen Form christlicher Heiligenlegenden. Die beiden töchterlichen Nach- und Anfragen formulieren dabei auf prägnante Weise ein Grundproblem legendarischen Erzählens, nämlich die Frage, woraus dieses seine grundlegende Geltung bezieht und auf welche Weise es sie jeweils umsetzt, wie es also Evidenz erzeugt, um den ihm immanenten Wahrheitsanspruch durchzusetzen – und gleichzeitig dem Verdacht begegnet, es könne sich um teilweise oder völlig fingierte, also ‚unglaubwürdige‘ Geschichten handeln.

Denn gemessen am neuzeitlich-rationalistischen Wahrheitsbegriff muss die Glaubwürdigkeit der christlichen Heiligenlegenden altkirchlicher und mittelalterlicher Gestalt mindestens zweifelhaft erscheinen, sei es hinsichtlich ihrer einseitig und übertrieben wirkenden Darstellungsweise der Tugenden und Taten des Heiligen oder sei es wegen der fehlenden historischen Verbürgtheit des Dargestellten und mitunter gar der Person des Heiligen überhaupt. Dabei spielt vor allem die Kategorie des Wunders, in dem sich das Wirken göttlicher Macht in der Welt erweisen soll, für das moderne (Un-)Verständnis der Legende eine wichtige Rolle. Legendarisches Erzählen, worunter in diesem Zusammenhang die narrative Darstellung eines Heiligenlebens im christlichen Kontext verstanden sein soll, nutzt – zumindest aus neuzeitlicher Sicht – offenkundig fiktive Elemente, um seinen Gegenstand, die Heiligung eines einzelnen und sein Wirken als Heiliger in der Welt, darzustellen.

Dabei beharrt legendarisches Erzählen nun aber gerade auf dem Anspruch, tatsächlich Ereignisse zu berichten, in denen sich das Heilshandeln Gottes in der Immanenz vollzogen hat und die historisch wahrheitsgetreu überliefert worden sind – diesen Anspruch untermauert es unter anderem mit dem Hinweis auf außertextuelle, materielle Zeugnisse, die die Heiligen in der Welt als evidente Spuren ihrer Existenz ‚zurückgelassen‘ haben, daher ja der Begriff reliquiae. Denn die im Geschehen der jeweiligen Legende narrativ sichtbar gemachte religiöse Wahrheit soll von den Rezipienten im gläubigen Mitvollzug als real angenommen und in ihrem eigenen Leben wiederum wirksam werden, sei es in der imitatio, der Nachahmung des Heiligen als Vorbild auf dem Weg zum Heil, oder der admiratio, seiner kultischen Verehrung und vor allem Anrufung als tätiger Fürsprecher vor Gott.

Dieser Geltungsanspruch legendarischen Erzählens ist aber nicht einfach Ergebnis naiver Gläubigkeit, sondern erfordert je spezifische institutionelle und textuelle Strategien der Autorisierung, Plausibilisierung und Legitimation, die ich im Folgenden am Beispiel der für das abendländische Mittelalter inhaltlich wie stilistisch maßgebenden Legendensammlung, der um 1264 entstandenen Legenda aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine, deutlich machen will. Nach einigen grundlegenden Überlegungen zu den Geltungsbedingungen und Funktionen legendarischen Erzählens zwischen Faktualität und Fiktionalität werde ich dazu die sich daraus ergebenden Geltungsstrategien herausarbeiten, wie sie sich bei Jacobus darstellen. Die Leben der Heiligen, die er in seinem Legendar aus einer breiten Überlieferung schöpfend zusammenstellt, erscheinen als verbürgte Heilsgeschichte, deren Wahrheit und Wirksamkeit in der Gegenwart der Gläubigen sich in ihrem kultischen Funktionszusammenhang erweist. Dabei sind die Prekarität erzählerischer Fiktion im Hinblick auf den Wahrheitsanspruch der Legende und letztlich die Möglichkeit, Legenden oder gar Heilige schlichtweg zu erfinden, durchaus auch einem vormodernen, religiös-legendengläubigen Erzähler und Publikum bewusst. In einem dritten Schritt will ich daher akzentuieren, wie Jacobus, der für seine Legendensammlung verschiedene Quellen nutzt, dabei Überlieferungsunterschiede und Zweifelhaftes benennt, mit diesem Problem umgeht, ob und in welcher Hinsicht er als so etwas wie ‚Legendenkritik‘ betreibt, um den Geltungsanspruch legendarischen Erzählens zu behaupten.

Die Faktizität des Heiligen: Geltungsbedingungen legendarischen Erzählens

Die germanistisch-mediävistische Literaturwissenschaft der vergangenen Jahre hat das Spezifikum legendarischen Erzählens im Anschluss an Niklas Luhmanns Systemtheorie und die von ihm beschriebene Logik religiöser Kommunikation zu fassen versucht. Dieser liegt die Leitdifferenz von Transzendenz und Immanenz zugrunde, deren Besonderheit kurz gefasst darin besteht, dass nicht beide Seiten der Beobachtung zugänglich sind, aber die von ihr abgeleiteten Operationen nicht von der positiven, sondern von der negativen Seite, also der nicht-beobachtbaren, unverfügbaren Transzendenz, her begründet werden (vgl. Koch 2012, 77f.). Das ist allerdings nur möglich, weil die Unterscheidung selbst auf der positiven Seite, der der Immanenz, wiedereingeführt wird, was die Differenz überhaupt erst denkbar macht und ihr ihre spezifische kommunikative Funktion verleiht. Denn „[e]rst von der Transzendenz aus gesehen erhält das Geschehen in dieser Welt einen religiösen Sinn“ und Kommunikation ließe sich daher immer dann als religiös bezeichnen, „wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet“ (Luhmann 2000, 77).

Diese ‚Differenzlogik‘ hat Peter Strohschneider (zuerst wohl Strohschneider 2000, systematisch noch einmal in Strohschneider 2014, 170-190) für das mittelalterliche legendarische Erzählen fruchtbar gemacht, dessen Funktion er darin beschreibt, das unverfügbare und daher nicht als solches darstellbare Transzendente narrativ zu vermitteln beziehungsweise zu repräsentieren. Legenden, so Strohschneider, erzählen daher „nicht von der Transzendenz selbst, sondern sie erzählen vom Hineinragen der Transzendenz in die Immanenz, von ihrem Wirksamwerden in der Geschichte“ (Strohschneider 2002, 114). Es gehe im legendarischen Erzählen anders gesagt um die rückblickende, narrative Repräsentation von kategorisch-strukturell wie zeitlich-historisch abwesender Transzendenz, die im Leben eines mittlerweile verstorbenen Heiligen immanent wirksam geworden ist (Strohschneider 2014, 178). Das setze die Legende in Analogie zur Reliquie, von der sie sich freilich darin unterscheide, dass sie die gnadenhafte Heilsgegenwart – im Hinblick auf die Gläubigen formuliert – selbst nicht zu realisieren vermag, sondern „bloß im Modus der symbolischen Verweisung“ (ebd., 177) repräsentiert, als ein Zeichen, das den Heiligen wie das in ihm wirksam gewordene Heil gegenwärtig scheinen lässt.

Der Umgang mit dem Heiligen stellt sich in dieser Perspektive als ein zutiefst paradoxales Unterfangen dar, und es sind auf dieser Grundlage mediale und literarische Verfahren beschrieben worden, die dieses Problem – die Darstellung des Nicht-Darstellbaren – lösen und dabei doch zugleich immer wieder rekonstituieren (vgl. Koch 2012, 78). Gleichzeitig lassen sich in der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis aber gerade auch Strategien der ‚Veralltäglichung‘ und ‚Vergewöhnlichung‘ von Heiligkeit (vgl. Hamm 2003, 640f.), mithin der Entdifferenzierung von Transzendenz und Immanenz, beobachten, die der umrissenen ‚Differenzlogik‘ freilich nur widersprechen, wenn man die ihr zugrundeliegenden Paradoxien in die Aporie führen wollte. Denn mit diesem Modell lässt sich stets genauso gut darstellen, dass die Heiligen „das immanente Gesicht der an sich unverfügbaren Transzendenz“ und damit „Produkt einer Verfügbarmachung“ sind (Koch 2012, 79), was der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis vermutlich weit eher entspricht als die theologisch-systematische Reflexion der Transzendenzproblematik.

Mit einer solchen Verfügbarmachung ist nun freilich wiederum kein unmittelbarer Zugriff auf das Heilige – beziehungsweise ein als solcher imaginierter Umgang damit – gemeint, sondern eine Vermittlung, die sich in einer spezifischen Darstellungsweise, im Fall des legendarischen Erzählens: in narrativen Strategien niederschlägt. Diese realisieren und transportieren den zentralen Geltungsanspruch der Legende, dass es sich bei einem Heiligen nicht um einen herausragenden menschlichen Helden handele, sondern zuallererst und wesentlich um einen vir Dei, der sein Leben allein auf Gott ausrichtet, an dem und durch den er entsprechend gehandelt hat (vgl. Angenendt 1997, S. 69-74). Von diesem Grundmotiv lassen sich ‚hagiographische Konstanten‘ ableiten, die Theodor Wolpers mit deutlichem Bezug zur Legenda aurea beschreibt (vgl. Wolpers 1964, 22-27): Die Legende sei geprägt durch die Totalität der erzählten Welt, die durchdrungen ist von der stets gegenwärtigen göttlichen Heilsgeschichte, in der der jeweilige Heilige geborgen ist. Er allein stehe im Zentrum der Handlung, alle anderen Figuren hätten nur die Funktion, gleichsam als Folie, seine Vorbildhaftigkeit zu verdeutlichen. Alles Geschehen erscheine aufgehoben im Willen Gottes, ‚Sinn‘ und ‚Ziel‘ in der Transzendenz abgesichert, die Erzählung daher von ihrem Ende her motiviert. Alle äußeren Abläufe, wie die Verortung in Raum und Zeit, könnten demgegenüber zurücktreten. Freilich bleibe eine hohe literarische Ausgestaltung von Legenden möglich, die deren erbaulichem Charakter aber nicht unbedingt zuträglich sei, weil „von der Kultgemeinschaft typische Verhaltensweisen und Lebensläufe erwartet [werden], die im Grunde nur noch vermeldet zu werden brauchen, allerdings unter gleichzeitiger Verdeutlichung und Steigerung des erbaulichen Elements“ (Wolpers 1964, 27). Und dieses gründet eben in besagtem religiösen Konzept der Legende, wonach der Heilige „sein Leben vollständig in die Hand Gottes [legt] und […] selbst als Gefäß [dient], in dem für andere die Präsenz Gottes in der Welt sichtbar wird“ (Feistner 1995, 23). Diese Hingabe an den Willen Gottes gilt als der einzige Beweggrund des Heiligen, sodass alle Motive, die das weltliche Handeln bestimmen, verabschiedet werden können (vgl. Feistner 1995, 47), und diese Konsequenz führt schließlich zum Wunder als ein Zeichen, in dem Gott die Heiligkeit seines Heiligen bestätigt.

Die hier angedeutete Stilisierung, Typisierung und Schematik in der Darstellung des Heiligen und seiner in der Legende narrativierten Heiligung – die Heiligen der Legende seien „vom Thematischen her überformt“ (Wolpers 1964, 25) – darf allerdings, angesichts des Selbstanspruchs des legendarischen Erzählens, nicht als Wendung ins Typologische und Mythologische missverstanden werden. So sehr auch die historische Verortung des Legendengeschehens im Einzelfall zurücktreten kann, so bleibt sie doch ein konstitutives Element für die gesamte Heiligenverehrung und damit das legendarische Erzählen, denn es geht dabei nicht um ein rein symbolisch zu verstehendes mythisches Geschehen, sondern um Heilsgeschichte, die sich faktisch-historisch tatsächlich ereignet hat. Das Christentum versteht den Zusammenhang zwischen dem überzeitlichen Charakter von Heiligkeit als ein immer wieder neu „Gegenwart Stiftendes und Präsenz Schaffendes“ und seiner Begründung in der Vergangenheit eben gerade nicht transhistorisch, verortet seinen Anfang also „nicht in ille tempore einer mythischen Vorzeit, sondern anno domini einer geschichtlichen“ (Hammer 2015, 67).

Davon unberührt bleibt freilich die Sinnbildlichkeit des jeweils erzählten Geschehens, in der die im Sinne des christlichen Glaubens ‚wahre Realität‘ aufscheint (Ringler 1975, 260), zu denken wäre beispielsweise an die schematische Kontrastierung von Gut und Böse oder der exemplarisch-vorbildhafte Gehalt eines Heiligenlebens. Gerade weil der Heilige „etwas historisch Einmaliges“ (Ringler 1975, 258) ist, kommt ihm überzeitliche und allgemeine Bedeutung zu, als exemplarischer Beweis für die Möglichkeit des Einbruchs der Transzendenz in die Immanenz, der sich in seiner Verehrung und Anrufung vergegenwärtigen lässt. Als Mittler zwischen Immanenz und Transzendenz anrufbar – Strohschneider spricht von „Apellationsfähigkeit“ (Strohschneider 2014, 181) – ist der Heilige schließlich aber nur dann, „wenn er in der Zeitlichkeit der Immanenz durch die behauptete Historizität seiner Legende fest verankert und ihm eine kohärente Identität verliehen worden ist, die es ermöglicht, ihn von anderen Heiligen zu unterscheiden“ (Münkler 2009, 36).

Legendarisches Erzählen generiert damit einen eigenen und ganz spezifischen Wahrheitsanspruch, der die moderne und säkulare Trennung von Faktizität und Fiktion, von ‚Wahrheit‘ und ‚Legende‘, von vornherein unterläuft. Daher ist ihm auch mit der in der Erzählforschung üblichen Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen kaum beizukommen, die hier aber ohnehin besser mit dem Gegensatz von Faktizität – beziehungsweise dem Anspruch darauf – und Fiktivität des Erzählten – beziehungsweise der Abwehr eines solchen Verdachts – zu fassen wäre. Denn mit Blick auf die vormoderne Literatur hat Jan-Dirk Müller angemahnt: „Von Fiktionalität sollte man nur sprechen, wenn die Fiktion außerhalb praktischer Interessen und Handlungszusammenhänge steht: Fiktionalität setzt ein Bewußtsein des fiktiven Charakters des Fingierten voraus“ (Müller 2004a, 284), und diesem Ansatz folgt dann auch die weitere Forschung (vgl. Peters et al. 2009). Denn wie die literaturwissenschaftlichen Diskussionen zur Fiktionalität gezeigt haben, sind fiktionales und faktuales Erzählen nicht einfach zu trennen, wenn damit der Bezug des Erzählten zur außersprachlichen Wirklichkeit gemeint sein soll: Fiktionale Texte beziehen sich ja letztlich immer auf deren Elemente, während – und das ist mit Blick auf die Legende entscheidend – auch faktuale Texte Elemente fiktionalen Erzählens nutzen können, um das Dargestellte auszuschmücken und in ihrem Sinne überzeugend zu vermitteln, ohne dass davon ihr grundlegender Wahrheitsanspruch betroffen wäre.

Daher hat Benedikt Konrad Vollmann vorgeschlagen, für die Heiligenlegende von ‚erlaubter Fiktionalität‘ zu sprechen, die die grundlegende Wahrheit des Geschehens nicht berühre, weil eben

für den Legendenautor […] die Historizität seines / seiner Heiligen unverzichtbar [ist]. Zum einen garantieren die Heiligen die Fortsetzung jener Geschichte des Heils, die mit Christi Auferstehung und Himmelfahrt in die letzte Phase eingetreten ist; zum anderen wäre die Anrufung eines Heiligen und die Verehrung seiner Reliquien sinnlos, wenn der Heilige nicht wirklich gelebt hätte und seine Gebeine nicht wirklich am Ort der Verehrung bestattet wäre. Um diesen Erfordernissen zu genügen, reicht freilich eine fundamentale veritas historica hin: heiligmäßiges Leben und Sterben eines Dieners / einer Dienerin Gottes, bezeugt durch die Wunder am Ort der Aufbewahrung der Reliquien. (Vollmann 2002, 65)

Ob man, wie Vollmann nahelegt, von dieser grundlegenden ‚historischen Wahrheit‘, für die sich der Legendenautor verbürge, dann Einzelzüge abziehen kann, die auch für ihn offenkundig fingiert sind, scheint mir höchst fraglich – beziehungsweise mit Blick auf den vom legendarischen Erzählen selbst erhobenen Wahrheitsanspruch müßig. Denn Vollmann selbst sieht ja, dass die „narrativen Elemente […], die aus fiktionaler Erzähltradition stammen“ – und die er im Übrigen nicht klar von den hagiographischen Stilmitteln, die ubiquitäre Verwendung im legendarischen Erzählen finden, abgrenzen kann – „in der Legende […] sofort in den Status von ‚geschichtlicher Wahrheit‘ überführt werden“, spätestens in der Überlieferung (Vollmann 2002, 72). Überhaupt ist aber die Frage nach Fiktionen in der Legende methodisch höchst problematisch, denn, so eine pointierte Kritik an Vollmanns Ansatz: „Natürlich weiß der aufgeklärte Mensch des 21. Jahrhunderts, daß es mit den dort erzählten Wundern nicht seine Richtigkeit gehabt haben kann, aber sind sie deshalb ‚Fiktion‘?“ (Müller 2004b, 112) Denn was für ein mittelalterliches Publikum möglich und erwartbar gewesen sein mag, ist im Einzelfall nicht einfach zu rekonstruieren. Wunder gehören jedenfalls dazu, denn wo keine allgemeine Geltung von Naturgesetzen beansprucht werden kann, gibt es auch keine ‚übernatürlichen‘ Phänomene – ganz abgesehen vom christlichen Weltbild, das einen Möglichkeitsrahmen konstruiert, in dem mit dem Handeln Gottes immer zu rechnen ist. Und welchen Erkenntniswert hätte es dann, aus neuzeitlicher Sicht zu postulieren, dies sei ‚Wahrheit‘ und jenes ‚Legende‘? Am Ende entscheiden eben nicht die formale Machart oder der Inhalt einer Erzählung über ihre Fiktionalität oder Faktualität, sondern der Kontext und das Wissen – beziehungsweise der Glaube – des Lesers oder Hörers. Wie der Autor eines Romans einen Fiktionsvertrag mit seinen Lesern schließt, so der Legendenautor einen Faktualitätsvertrag. Es geht hier also letztlich um die „prinzipielle Haltung, welche sie [i.e. mittelalterliche narrative Texte, F.P.] gegenüber der Wirklichkeit einnehmen, ungeachtet dessen, ob sie diese Haltung in metadiegetischen Aussagen, also außerhalb der Erzählung in diskursiver Form, formulieren oder nicht“ (Knapp 2014, 183). Diese Haltung und ihre institutionelle wie narrative Umsetzung will ich im Folgenden für die Legenda aurea darstellen.

Verbürgte Heilsgeschichte: Geltungsstrategien legendarischen Erzählens in der Legenda aurea

Der Legenda aurea kommt hinsichtlich der hier verfolgten Frage nach den beanspruchten Geltungsbedingungen legendarischen Erzählens sowie den davon abgeleiteten institutionellen und textuellen Strategien der Autorisierung, Plausibilisierung und Legitimation eine besondere Signifikanz zu. Denn es handelt sich dabei nicht um eine zufällige und lose Sammlung inhaltlich und formal disparater Einzellegenden, wie sie zuvor die Überlieferung bestimmt, sondern um ein systematisch angelegtes Legendar, das die Legenden erzählerisch vereinheitlicht und in einen funktionalen Rahmen stellt. Damit steht die Legenda aurea in ihrer Zeit freilich nicht allein, denn das 13. Jahrhundert ist insgesamt die Zeit großer Legendensammlungen, die den Legendenbestand auf neue und charakteristische Weise erfassen und präsentieren. Nicht zufällig sind die Urheber dieser Legendae novae die Dominikaner, denn die Brüder des Ordo Praedicatorum finden eines ihrer Hauptbetätigungsfelder in der volkssprachigen Verkündigung an ein Laienpublikum, und dafür erweisen sich gerade Heiligenlegenden als geeignetes Mittel.

Die Legendae novae stellen die einzelnen Legenden nun nicht mehr, wie bisher üblich, mehr oder weniger unredigiert zusammen, sondern kürzen und standardisieren die verschiedenen hagiographischen Stoffe, ordnen sie dem Lauf des Kirchenjahres entsprechend an und machen sie auf diese Weise für didaktisch-katechetisch-paränetische Zwecke verfügbar. Gerade die strukturelle und sprachliche Durchgestaltung der Legenden im sermo humilis, also einem dem religiösen Gegenstand angemessenen schlichten Sprachstil, bot sich in besonderem Maße zur volkssprachigen Adaption an (vgl. Williams-Krapp 1986, 12). Auch die Auswahl der Legenden verweist auf Normierungsbemühungen, insofern sie nicht wie in früheren Legendaren regionalen Interessen oder vielleicht auch ganz zufällig den gerade verfügbaren Quellen folgt, sondern auf kanonische Vollständigkeit und damit auf ein gesamtkirchliches Interesse hin angelegt ist (vgl. Feistner 1995, 217).

Begründet wird diese Art des Legendars durch Jean de Mailly mit der Abbreviatio in Gestis et Miraculis sanctorum (um 1225/30, überarbeitet um 1243) und weiterentwickelt durch Bartholomäus von Trient im Liber epilogorum in gesta sanctorum (1245/46), mit der Legenda aurea findet sie aber fraglos ihre konsequenteste und vor allem wirkmächtigste Gestaltung, denn letztere erfährt sehr schnell eine weite Verbreitung und wird für Jahrhunderte zu einer der wichtigsten Quellen der Heiligenverehrung in der westlichen Christenheit. Noch vor dem Tod ihres Verfassers 1298 wird sie vielfach abgeschrieben und verdrängt dabei rasch nahezu jede Konkurrenz, dazu kommen Übertragungen in fast alle europäischen Volkssprachen. Diese breite Rezeption der Legenda aurea erklärt sich vor allem aus ihrer verbindlichen Verwendung und der daher rührenden systematisch betriebenen Verbreitung im Schulsystem des Dominikanerordens, nämlich als Handbuch für Predigtübungen (vgl. Fleith 1991, 429). Erst diese Verbreitung im lateinisch-klerikalen Bereich schafft die materielle Voraussetzung für die volkssprachige Adaption, die schließlich ihren Ruhm als ‚Goldene Legende‘ und für die ältere Forschung gar als ‚Volksbuch‘ des Mittelalters begründet (vgl. Feistner 1995, 217).

Entscheidend für diese Wirkung dürfte schließlich aber auch die liturgische und scholastisch-exegetische Rahmung der Legenden gewesen sein, denn die Legenda aurea kürzt und normiert die einzelnen Legendenstoffe nicht nur, sondern kommentiert sie, ordnet sie in den Lauf des Kirchenjahres ein und bietet dabei ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen Festen und Zeiten, die einen wesentlichen Teil des Textes ausmachen – weshalb es fast etwas kurzschlüssig ist, schlicht von einer ‚Legendensammlung‘ zu sprechen. Die Legenda aurea ist eben nicht bloß eine Sammlung von legendarischen Erzählungen, sondern verbindet das narrative mit dem exegetischen Moment, indem sie die Legenden um predigtartige Passagen und verschiedene Auslegungsmöglichkeiten ergänzt, sie dazu diskursiv-erklärend mit dem liturgischen Kalender verbindet (vgl. Feistner 1995, 217f.). Es ist wohl besonders diese funktionale wie institutionelle Rahmung, die gegenüber dem breiteren erzählerischen und stilistischen Spielraum von Einzellegenden zu einer formalen wie inhaltlichen Homogenisierung führt. Die Liturgie spielte dabei „die Rolle eines Rigorositätsmodells, sie übte eine anordnende, disziplinierende Einwirkung auf die Heiligenlegenden aus“; zum anderen besteht ihre Funktion in einer „kulturellen Semantisierung […], die dazu führte, dass Legenden nicht nur formal, sondern auch ideologisch kontingent wurden“ (Decuble 2002, 21, Anm. 49).

In Bezug auf die Frage nach den der Legenda aurea zugrundeliegenden Geltungsbedingungen und den in ihr entwickelten Geltungsstrategien legendarischen Erzählens ist die Einbindung der Legenden in den Zyklus des Kirchenjahres insofern bedeutsam, als damit „erstmals die einzelne Heiligenlegende in die Perspektive der gesamten Heilsgeschichte eingeordnet“ erscheint:

Das historisch einmalige Geschehen eines Heiligen-Lebens wird im Rahmen der kultischen Wiederkehr zur Sphäre des Dauernd-Gültigen erhoben. Der Kalender konkretisiert sich in exemplarischen Gestalten, die Lehre der communio sanctorum […] ist in einem Lese-Buch greifbarer als im Credo dokumentiert. (Kunze 1983, 455)

Damit ist auch die Frage nach der intendierten Rezeptionshaltung gegenüber den Heiligen beziehungsweise dem legendarischen Erzählen berührt, denn offenbar zielt die Legenda aurea mit ihrem liturgischen Rahmen, wie auch ihrer Erzählhaltung in den einzelnen Legenden, auf die Verehrung der Heiligen, in denen sich der Einbruch und das Wirken der Transzendenz in der Immanenz erweist. Die verbürgte Fortsetzung der Heilsgeschichte im Leben der Heiligen soll den Gläubigen zur Erbauung dienen, weil sie deutlich macht, dass sie sich im Hier und Jetzt immer noch vollzieht und weiterhin ereignen wird.

Das wird im Kapitel zum Allerheiligenfest auch explizit benannt, wenn dort in scholastisch-rubriziender Weise die Summa de officio, also eine Abhandlung über die Liturgie und die Feste der Kirche, des Theologen Wilhelms von Auxerre (gest. 1231) zitiert wird. Für das Feiern von Heiligenfesten gebe es insgesamt sechs Gründe: Zunächst zur Ehre Gottes, denn in den Heiligen werde er selbst geehrt. Sodann zur Hilfe der menschlichen Schwäche, denn da das Heil nicht durch den Menschen selbst erlangt werden könne, brauche er die Fürbitte der Heiligen. Drittens solle durch die Verehrung der Heiligen die menschliche Sicherheit wachsen, denn wenn die Gnade Gottes die Heiligen erhöht habe, die doch sterbliche Menschen gewesen seien „wie wir“, dann gelte sie allen (vgl. Jacobus 2014, 2088). Die Heiligen gelten hier also, so ist es in der Forschung formuliert worden, als eine Art „Spiegel“, in dem „das Wirken der göttlichen Gnade auf Erden“ (Hieber 1970, 75) aufscheint. Erst auf dieser Grundlage können sie, viertens, zum Exemplum für die Gläubigen werden, die ihnen darin nachfolgen sollen, Irdisches zu verachten und nach dem Ewigen zu streben, sodass schließlich, fünftens und sechstens, die Heiligen im Himmel wie die Gläubigen auf Erden im Lob Gottes vereint sind.

Dieser heilsgeschichtlichen Einordnung und Legitimation legendarischen Erzählens entsprechend finden sich schon im Prolog der Legenda aurea (vgl. Jacobus 2014, 72-75) – gemäß mittelalterlicher, auf die Antike zurückgehender Rhetorik der entscheidende Ort für die Eröffnung der intendierten Kommunikationssituation und damit der Rezeptionslenkung und Autorisierung – nicht etwa konkrete Hinweise zur Herkunft und zum Verständnis der Legenden oder zum persönlichen Umgang mit den Heiligen. Anders als in volkssprachigen Legendenprologen, wo der Legitimationsbedarf hinsichtlich der Ermächtigung zum laikalen Sprechen von heiligen Dingen freilich ein ganz anderer ist (vgl. Lutz 1984), wird hier auch keine im geistlichen Vollzug gründende Erzählerrolle etabliert. Für den Geltungsanspruch der Legenda aurea ‚genügt‘ die Einordnung der Legenden in das objektive Geschehen der Heilsgeschichte, die im Kirchenjahr einen zyklisch-wiederkehrenden Ausdruck gewinnt. Mit Rückgriff auf die Summa de ecclesiasticis officiis des Johannes Beleth, ein wichtiges liturgisches Werk aus dem 12. Jahrhundert, legt der Autor der Legenda aurea daher in seinem Prolog dar, dass und wie die ‚Zeit der Verirrung‘ von Adam bis Mose der Fastenzeit bis Ostern entspreche, die ‚Zeit der Erneuerung‘ bis Christi Geburt der Adventszeit, die ‚Zeit der Versöhnung‘ als die aktuelle Zeit der Kirche der Zeit von Ostern bis Pfingsten; die ‚Zeit der Wanderschaft‘ des gegenwärtigen Lebens werde zwischen Pfingsten und dem Advent begangen. Dieser vierfache Wechsel der Zeiten lasse sich auf die Jahreszeiten ebenso beziehen wie auf die Abschnitte des Tages. Die andere Abfolge der liturgischen gegenüber der heilsgeschichtlich-historischen Abfolge, also beginnend vom Advent über Ostern bis Pfingsten und wieder zum Advent, wird mit derjenigen der Sache selbst begründet: „Tenet enim rem et non sequitur ordinem temporis“ (Jacobus 2014, 75), also offenbar der überzeitlich-heilsgeschichtlichen Bedeutung des im liturgischen Jahreskreis Vergegenwärtigten, zu dem die Heiligenfeste das Ihre beitragen.

Dieser überzeitlich-objektivierende Anspruch schlägt sich natürlich und nicht zuletzt auch in der narrativen Gestaltung der einzelnen Legenden nieder. Die Formeln vom „erzählerischen Andachtsbild“ und einer „andachtsbildartigen Verdichtung“, wie sie Theodor Wolpers für die legendarische Darstellungsweise der Legenda aurea geprägt hat, meinen vor allem die bildhaft-symbolische Erzählstruktur, die den Heiligen überhöht und überzeitliche, transzendente Geltung verschaffen soll, die gläubige Verehrung verlangt (Wolpers 1964, 30f. und 197-202).

In diesem Zusammenhang erscheinen die pseudo-etymologischen Namensdeutungen der Heiligennamen, die den Legenden vorangestellt sind, weniger als rhetorischer Schmuck oder theologische Gelehrsamkeit, sondern, so Wolpers, freilich allzu emphatisch, als ein bewunderndes „Sich-Einstimmen in das heilige Wesen“ des Protagonisten „in einer zugleich mystischen wie scholastisch ordnenden Art“ (Wolpers 1964, 203). Der Name des heiligen Martin beispielsweise wird auf den geistlichen Kampf des heiligen Bekenners, Bischofs und Wundertäters bezogen, womit die eigentlich heidnisch-kriegerische Bedeutung als „Sohn des Mars“ – bewusst oder tatsächlich unwissend – christianisiert und als Martyrium ‚dem Willen nach‘ und in der Askese spiritualisiert wird: „Martinus quasi Martem tenens, id est bellum contra vitia et peccata. Vel Martinus quasi martyrum unus. Fuit enim martyr saltem voluntate et carnis mortificatione“2 (Jacobus 2014, 2141). Im Namen des Heiligen wird also seine Bestimmung sub specie aeternitatis vorweggenommen, und sein Lebensweg erscheint von vornherein durch seine transzendente Bedeutung bestimmt.

Entsprechend ist der historische und lokale Kontext des Legendengeschehens von untergeordneter Bedeutung, und die ‚biographischen Angaben‘, also geographische Herkunft, familiäre Abstammung, Stand und Werdegang und – zumindest bei den männlichen Heiligen – der Beruf, dienen kaum einer irgendwie ‚realistischen‘ Verortung des Geschehens, sondern haben einen funktionalen Status. So reicht im Fall der heiligen Margareta eine knappe Einführung, um die komplette Struktur der folgenden Erzählung in ihrer heilsgeschichtlichen Signifikanz aufzuspannen:

Margareta de civitate Antiochia filia fuit Theodosii gentilium patriarchae. Haec nutrici traditur et ad adultam aetatem veniens baptizatur et propter hoc exosa patri plurimum habebatur. Quadam igitur die, dum iam quintum decimum annum attigisset et cum aliis virginius oves suae custodiret nutricis, praefectus Olybrius inde transitum faciens et puellam tam speciosam considerans mox in eius amorem exarsit […]. (Jacobus 2014, 1216)3

Denn der hier dargestellte Grundkonflikt entspricht ganz dem zahlreicher anderer jungfräulicher Märtyrerinnen aus der Verfolgungszeit der Kirche, die von heidnischen Männern begehrt und bedrängt werden, sodass sie schließlich nur im Martyrium ihre körperliche und vor allem geistliche Keuschheit bewahren können. Dass es sich hierbei aber nicht um ein schematisches und möglicherweise fiktives Exempel handelt, sondern das persönliche Beispiel einer historisch greifbaren Heiligen, unterstreicht die Angabe ihres Sterbetages: „Passa est autem XIII kal. Augusti, ut in eius historia invenitur. Alibi legitur, quod III idus Iulii“ (Jacobus 2014, 1222).4 Die Unklarheit bezüglich des genauen Datums scheint hier keinesfalls ein Problem zu sein, beziehungsweise wird dieses dadurch abgewehrt, dass die Unterschiede in der Überlieferung klar benannt werden, ohne dass Zweifel an der grundsätzlichen Faktizität des Geschehens und der Autorität der Überlieferung aufkommen.

Noch knapper und unvermittelter wird die Handlung im Fall des heiligen Theodor eingeführt: „Theodorus in urbe Marmaritanorum sub Diocletiano et Maximiano martyrium passus est. Cui cum praeses diceret, quod sacrificaret et pristinam militiam reciperet, respondit Theodorus: ‚Ego milito deo meo et filio eius Iesu Christo‘“ (Jacobus 2014, 2138). 5 Theodor ist ein sogenannter ‚Soldatenheiliger‘, also ein Märtyrer im Soldatenstand. Denn Soldaten in heidnisch-kaiserlichen Diensten finden sich, wenn sie zum Christentum konvertieren beziehungsweise ihre Zugehörigkeit zum christlichen Glauben bekennen, an exponierter Stelle, um mit der herrschenden heidnischen Umgebung in einen Konflikt zu geraten, der nur im Martyrium enden kann (vgl. Prautzsch 2017a, 59f.). Nach grausamer Folter – ihm wird mit eisernen Krallen das Fleisch bis auf die Rippen zerfetzt –, unter der er standhaft seinen christlichen Glauben bekennt, wird er ins Feuer geworfen, in dem er stirbt, ohne aber dass sein Leib zerstört würde. Und die Legende weiß von weiteren wundersamen Beglaubigungen seiner Heiligkeit im Moment des Märtyrertodes zu berichten, die das Wirksamwerden der Transzendenz in der Immanenz narrativ darstellen: Ein herrlicher Duft umhüllt alle Umstehenden und sie hören eine Stimme vom Himmel, die den Märtyrer als Erwählten anspricht und ihn einzutreten heißt „in gaudium domini“. Viele, so der Legendenerzähler, hätten den Himmel offen gesehen. Wo es um die Bezeugung des Wunderbaren geht, das als audiovisuell-olfaktorisches Präsenzerlebnis inszeniert wird, erscheint aber wiederum die historische Fixierung wichtig: „circa annos domini CCLXXXVII“ (Jacobus 2014, 2138). 6

Die Schematik der Darstellung mit ihren immer wiederkehrenden Erzählmotiven und -strukturen spricht also offenbar nicht gegen die grundsätzliche Historizität des jeweiligen Legendengeschehens, sondern unterstreicht gerade seine Geltung als faktisches Heilsgeschichte in der Nachfolge Christi. Die Typisierung der Heiligen und ihre ‚Individualität‘ – im Sinne je konkreter Verwirklichung des Typus – schließen sich nicht aus, „denn die Heiligen selbst lebten in der imitatio Christi et eius sanctorum (Knapp 2002, 153). Damit wird gerade das, was aus moderner Sicht Zweifel an der Faktizität des Geschehens und Glaubwürdigkeit seiner Überlieferung nähren könnte, nämlich, dass Motive sich ähneln, als übernommen, abgeschrieben und erfunden erscheinen, zur Geltungsstrategie: Weil sich in der einen konkreten Legende die üblichen Motive finden, die Heiligkeit ‚produzieren‘, muss sie als umso wahrer gelten.

Dass diese Schematik kein Zufall ist, sondern ein bewusst eingesetztes Gestaltungsprinzip, das die Geltungsbedingungen legendarischen Erzählens akzentuiert, wird vor allem im Umgang Jacobus’ mit den zeitgenössischen Heiligen – es sind derer überhaupt nur vier, die Eingang in die Legenda aurea finden: Dominikus, Franziskus, Elisabeth von Thüringen und Petrus Martyr – deutlich, von denen ja weitaus umfangreichere, detaillierte und präzisere Viten verfügbar waren, die er ohne Zweifel nutzte (vgl. Vauchez 1986, 48). Aber auch bei diesen Legenden geht er von den Namensdeutungen aus, die die heilsgeschichtliche Bestimmung der Protagonisten bereits ankündigen, kürzt die Lebensbeschreibungen und lässt alle genaueren historischen Angaben, vor allem Personennamen, weg. Daher stimmt es schon, wenn Vauchez festhält:

La démarche de Jacques de Voragine n’a donc rien à voir avec celle de l’historien ou même du chroniqueur. Son travail est celui d’un abbréviateur doublé d’un excellent narrateur. C’est à dessein qu’il laisse de côté tout ce qui contribue à situer de façon trop précise l’action des saints dans un cadre historique et géographique donné. (Vauchez 1986, 48f.)

Allerdings sind die Kategorien des Historikers oder Chronisten neuzeitliche Etiketten, die dem Anspruch, in den Heiligenleben verbürgtes Heilsgeschehen umfassend und systematisch darzustellen, nicht gerecht werden. Das sieht Vauchez selbst, wenn er betont: „Cette entreprise systématique de ‚délocalisation‘ des serviteurs de Dieu vise à faciliter leur intégration dans un ouvrage destiné […] à exalter la permance de la sainteté chrétienne à travers les siècles et, en dernière, son caractère intemporel“ (Vauchez 1986, 49). Überzeitliche Geltung und historisch-konkrete Faktizität sind aber eben für das Christentum keine Gegensätze – denn damit das Heilige überhaupt überzeitliche Geltung haben kann, muss es sich gerade in der Zeit ereignen, muss Transzendenz in der Immanenz wirksam werden.

Daraus folgt aber umgekehrt, dass die zeitliche und geographische Verortung der Legendenhandlung nicht als historische Verbürgtheit im neuzeitlichen Sinn, sondern vor allem funktional auf den Geltungszusammenhang legendarischen Erzählens bezogen verstanden werden darf. Das Geschehen muss als faktisch-historisch angenommen werden, damit die Legende ihre Funktion erfüllt, aber insgesamt kommt den entsprechenden Angaben zu Zeit, Ort oder anderen Personen „mehr eine Art reliquiare Bedeutung für die erbauliche Betrachtung zu, nicht die einer exakten räumlichen Einordnung der Ereignisse“ (Wolpers 1964, 27). Der in den vielen Märtyrerlegenden aus der Frühzeit der Kirche, die einen großen Teil der christlichen Heiligenliteratur ausmachen, immer wieder zitierte historische Rahmen der Christenverfolgungen ist eine allgemeine Referenz, die die Glaubwürdigkeit des Geschehens garantieren soll, ohne dass damit ein exaktes Interesse verbunden ist: Ob der oder die jeweilige Heilige unter Diokletian das Martyrium erlitten hat oder unter einem anderen Kaiser, bleibt sich gleich – entscheidend ist, dass sie zu Märtyrern geworden und dadurch Teil der himmlischen Transzendenz geworden sind.

Auf die Ausgangsfragen und mit Blick auf den Zusammenhang von legendarischer Überlieferung und Reliquien bezogen ließe sich pointieren, dass es sich hierbei um eine zirkuläre Verschränkung von Plausibilisierungsstrategien handelt: Das in der Legende Geschilderte ist wahr, weil es dafür in Raum und Zeit konkrete Spuren gibt – diese aber sind authentisch, weil darüber in der entsprechenden Legende Wahres berichtet wird. Legende und Reliquie können so einen selbstevidenten Verweiszusammenhang begründen – der freilich nur so weit reicht, wie man nicht eines der beiden Elemente als fingiert in seiner Authentizität in Zweifel zieht. In Bezug auf die Darstellung der Heiligenleben als verbürgte Heilsgeschichte stellen sich die Geltungsbedingungen und Geltungsstrategien legendarischen Erzählen, wie es die Legenda aurea modelliert, als hermeneutischer Zirkel dar, oder anders: als Etablierung eines autopoietischen und selbstreferenziellen Systems. Denn Geltung beansprucht dieses Legendar Kraft der objektiven Heilsgeschichte, in welche es die Heiligenleben als faktisch-historisch angenommenes Geschehen eingeordnet wissen will, andererseits stellt es diese Geltung selbst her, wenn in den Legenden selbst das heilsgeschichtliche Wirken Gottes in der Welt immer wieder herausgestellt und neu akzentuiert wird.

‚fälschlich eingefügt‘ und ‚größtenteils fragwürdig‘: Mittelalterliche Legendenkritik?

Grundlegend für den Geltungsanspruch legendarischen Erzählens, wie ich ihn hier am Beispiel der Legenda aurea dargestellt habe, ist also, dass bei aller Stilisierung und Typisierung in der Darstellungsweise das Dargestellte als tatsächlich Geschehenes geglaubt werden kann, bei dem Gott aus der Transzendenz heraus in der Immanenz heilsgeschichtlich gehandelt hat. Denn nur die historische Verbürgtheit des Geschehens und die einmalige Identität des Heiligen garantieren seine Funktion als Mittler zwischen beiden Sphären. Genau an dieser Stelle aber muss bereits mittelalterliche ‚Legendenkritik‘ ansetzen, wenn nämlich die Quellen Widersprüchliches und – an den Maßstäben legendarischen Erzählens gemessen – Zweifelhaftes berichten, das geeignet ist, den Wahrheitsanspruch der Legende infrage zu stellen. Dieses Problem benennt und verhandelt die Legenda aurea an verschiedenen Stellen.

Der heilige Georg ist sicher einer der populärsten christlichen Heiligen, weit über das Mittelalter hinaus, doch scheint seine Legende in der theologischen Reflexion der Kirche von Anfang an kritisch betrachtet worden zu sein. Die mögliche historische Gestalt des Heiligen ist von der legendarischen Ausschmückung, gerade mit dem bekannten Drachenkampf, der bezeichnenderweise erst vergleichsweise spät und gegen den Widerstand der kirchlichen Hierarchie Teil der Legende wurde und auf den Archetypus des Drachentöters hindeutet (vgl. Wimmer et al. 1988), aber auch von den geradezu fantastisch wirkenden Martern des ‚Märtyrers von unzerstörbarem Leben‘ (vgl. Zwierzina 1909) – er wird unter anderem gerädert und in einen Kessel mit siedendem Blei gesetzt, überlebt aber jedes Mal auf wundersame Weise, bis er schließlich enthauptet wird7 – völlig überlagert. So konnte dieser Heilige im Zug der Reformen des Zweiten Vatikanums 1969 – als später Tribut an ein neuzeitliches Wirklichkeitsverständnis – aus dem liturgischen Kalender der Römischen Kirche gestrichen werden, allerdings nur, um dann 1975 – ungebrochen offenbar seine Bedeutung für die Gläubigen und der symbolische Gehalt der Legende – wieder in diesen eingefügt zu werden.

In altkirchlichen Zeiten wurde die Georgslegende jedoch nicht nur aufgrund ihrer ‚märchenhaften‘ Züge abgelehnt, sondern wegen ihrer häretischen Tendenz, denn sie diente wohl den Arianern dazu, einen ihrer Anführer, Georg von Kappadokien, zu rühmen (vgl. Jacobus 2014, 810, Anm. 5). Die Legenda aurea referiert daher zu Beginn der Legende die widersprüchliche Überlieferung beziehungsweise fehlende Verbürgtheit des Geschehens, die dazu geführt haben, dass die Georgslegende vom Konzil in Nicäa 325 „inter scripturas apocryphas“ gezählt worden sei, weil es nämlich keinen zuverlässigen Bericht, „certam relationem“, seines Martyriums gebe:

Nam in kalendario Bedae dicitur, quod sit passus in Persica civitate Diospoli. Alibi legitur, quod quiescit in civitate Diospoli, quae prius Lydda vocabatur et es iuxta Ioppem. Alibi, quod passus sit sub Diocletiano et Maximiano imperatoribus. Alibi, quod sub Daciano imperatore Persarum praesentibus LXX regibus imperii sui.8 (Ebd., 810-812)

Bei so viel überlieferungskritischer Skrupulosität erstaunt es dann aber, dass der Erzähler der Legenda aurea mit der schlichten Feststellung: „Hic, quod sub Daciano praeside imperantibus Maximiano et Diocletanio“9 (ebd.) direkt zur Handlung übergeht und ohne jede Andeutung eines Zweifels zu berichten weiß: „Georgius tribunus genere Cappadox pervenit quadam vice in provinciam Libyae in civitatem, quae dicitur Silena“10 (ebd., 812), worauf der bekannte Drachenkampf des Heiligen folgt. Die Widersprüche der Überlieferung wie die fehlende Verbürgtheit werden also – aus moderner Sicht: pseudo-quellenkritisch – anzitiert, aber sogleich abgewendet, weil die Wahrheit des folgenden Geschehens und die Geltung des Heiligen, verankert in seinem breiten Kult, außer Frage stehen. Der genaue Ort und die genaue Zeit – dafür stehen die Kaisernamen – seines Martyriums sind dabei nur Details von untergeordneter Bedeutung.

Ganz ähnlich verhält es sich mit anderen Fällen von ‚Legendenkritik‘ in der Legenda aurea. So wird am Ende der Katharinenlegende erwähnt, es gebe bei einigen Autoren Zweifel, von welchem Herrscher Katharina hingerichtet worden sei, weil sich damals drei die Herrschaft im Römischen Reich teilten. Wenn in der Überlieferung der heidnische Verfolger als Maxentius genannt wird, dann scheine das, so der Erzähler der Legenda aurea, letztlich ein Irrtum, weil dieser nach Ausweis der Chroniken nur für den Westteil des Reiches zuständig gewesen sei, damit also nicht für Ägypten, wo vielmehr Maximinus geherrscht habe (vgl. ebd., 2280-2282 sowie 2280, Anm. 43). Nur führt diese historische Einsicht zu keiner Korrektur, denn in der eigentlichen Legendenhandlung wird auch in der Fassung der Legenda aurea Maxentius genannt.

Nun beziehen sich diese Beispiele auf die unsichere Überlieferung von Ort und Zeit der Martyrien der Heiligen, was tatsächlich ein vergleichsweise geringes Problem für den Geltungsanspruch legendarischen Erzählens sein mag, weil sie die Faktizität des Geschehens nicht grundsätzlich berührt: Wenn ein Heiliger das Martyrium erlitten hat, im Kult seine Wirksamkeit erweist, dazu seine Gebeine für den Gläubigen an verschiedenen Orten ‚greifbar‘ sind, dann ist es letztlich eine müßige Frage, wo genau er starb und wie der heidnische Tyrann hieß. Die ‚quellenkritischen‘ Bemühungen der Legenda aurea zeigen schließlich gerade dort, wo sie das Ergebnis offenlassen müssen, dass die Suche nach dem historisch Verbürgten grundsätzlich möglich ist – dass andererseits aber Unsicherheiten in den Details der Überlieferung die Wahrheit der Legende nicht grundlegend infrage stellen.

Anders ist es mit Details in der Handlung der Legenden, die dem Anspruch, von historisch verbürgtem Wirken Gottes in der Welt zu berichten, entgegenstehen, weil sie dem im Rahmen dieses Erfahrungshorizontes Erwartbaren und Plausibilisierbaren widersprechen. So beispielsweise im Zusammenhang mit dem, im Vergleich zu Georg, anders gelagerten Drachenkampf der heiligen Margareta, der sich als Ausschmückung ihrer Begegnung mit dämonischen Mächten schon seit der Spätantike in ihren Legenden findet (vgl. Schmid 2001, 857). Als Margareta nämlich von ihrem heidnischen Bedränger nach den ersten blutigen Martern in den Kerker geworfen wird, erbittet sie von Gott die Manifestation des teuflischen Gegenspielers, der ihr – und dem christlichen Legendenpublikum – als der eigentliche Feind hinter dem heidnischen Unglauben gilt. Dieser erscheint ihr in Gestalt eines riesigen Drachen, der sie verschlingen will, aber verschwindet, als sie das Kreuzzeichen macht. Das in einer anderen Überlieferung der Legende Berichtete, wonach der Drache sie verschlingt und beim Kreuzzeichen birst, damit sie unversehrt aus ihm heraussteigen kann, gelte allgemein, so die Auskunft des Erzählers in der Legenda aurea, als „apocryphum et frivolum“11 (Jacobus 2014, 1218). Nicht die Drachengeschichte insgesamt, wohl aber die allzu fantastische, ‚splatterhafte‘ Ausschmückung wird hier also als nicht glaubwürdig eingestuft – was aber am Ende auch nicht dazu führt, dass diese gänzlich getilgt und eine ‚bereinigte‘ Version der Legende geliefert würde: Die Details werden berichtet, um kritisch relativiert zu werden. Es scheint so, als wolle sich der Autor die Möglichkeit offenhalten, dass es doch so gewesen sein könnte; er urteilt letztlich nicht selber, sondern konstatiert lediglich, dass diese Details schon von anderen vor ihm für unglaubwürdig gehalten wurden.

Komplexer stellt sich ein Erzählerkommentar in der Thomaslegende der Legenda aurea dar, anlässlich einer Episode, die nicht so recht zum sonstigen Verhalten dieses und anderer Heiliger beziehungsweise dem üblichen hagiographischen Stilinventar passen will. Der Kontext ist der folgende: Der Apostel Thomas wird von Gott dazu berufen, die Inder zum christlichen Glauben zu bekehren. Per Schiff macht er sich auf die Reise und gelangt zunächst in eine Stadt, wo ein König die Hochzeit seiner Tochter feiert, an der teilzunehmen er alle Untertanen verpflichtet, andernfalls würden sie ihn beleidigen. Der Apostel nimmt an diesem heidnischen Freudenmahl aber offensichtlich nur passiv teil, denn er isst und trinkt nichts, sondern hält den Blick gen Himmel gerichtet, wofür ihm der Mundschenk einen Schlag auf die Kinnlade verpasst. Der Apostel spricht nun: „Melius est, ut in futuro indulgentia tibi detur et hic transitoria plaga reddatur. Non hinc surgam, donec manus, quae me percussit, huc a canibus afferatur“12 (ebd., 156), und es kommt, wie es kommen muss: „Hic igitur ad hauriendam aquam abiit et leo ipsum occidens sanguinem eius bibit. Lacerantibus autem canibus eius corpus unus niger manum eius dextram in medium convivium apportavit“13 (ebd.). Dass dieses Geschehen nicht etwas nur für den modernen Rezipienten, sondern auch schon für ein vormodernes Publikum grotesk bis makaber anmuten muss, zeigt sich intradiegetisch im Entsetzen umgesetzt, das es bei den anwesenden Gästen hervorruft.

Hier beruft sich der Erzähler der Legenda aurea nun auf den Kirchenvater Augustinus und seine Schrift Contra Faustum (XXII, 79, vgl. Augustinus 1891), denn dort tadele dieser eine solche Bestrafung und behaupte, sie sei ‚fälschlich‘ eingefügt worden und diese Legende gelte daher ‚größtenteils als fragwürdig‘: „Huiusmodi autem ultionem factam reprobat Augustinus in libro contra Faustum et asserit a pseudo hoc fuisse insertum, unde et legenda haec quoad plura suspecta habebatur.“14 (Jacobus 2014, 156-158) Sehr deutlich werden an dieser Stelle also die falsche Überlieferung beziehungsweise die Fiktion des Geschehens als Kriterien genannt, die den Wahrheitsanspruch einer Legende zu untergraben vermögen. Freilich folgt bei Jacobus gleich darauf die Relativierung, es handele sich vielleicht bei Thomas’ Rede nicht um eine Rachebitte, sondern um eine Vorhersage: „Posset tamen dici, quod hoc non animo imprecandi, sed modo praedicendi dictum sit“15 (ebd., 158). Das theologisch Anstößige der geschilderten Szene wird also entschärft, indem der Erzähler dem Geschehen – mit dem bedeutungsvollen Wortspiel „imprecandi“ / „praedicandi“ – eine andere Signifikanz beimisst.

Die Argumentation bei Augustinus ist aber eine andere, und die Legenda aurea gibt sie im Folgenden wörtlich wieder: Die Manichäer läsen nämlich „scripturas apocryphas“, die „a quibus sutoribus fabularum sub apostolorum nomine“16 geschrieben worden seien und wohl in den kirchlichen Kanon aufgenommen worden wären, hätten die heiligen und gelehrten Männer damals wahre Aussagen darin gefunden (ebd.). Als Beispiel dafür dient die besagte Episode aus der Thomaslegende, die Augustinus zunächst kommentiert, indem er ihr einen höheren anagogischen Sinn gibt; der heilige Zweck – der Mundschenk findet durch diesen Vorfall, unterstützt durch die Fürbitte des Apostels, zum ewigen Heil – heiligt auch die Mittel:

Quid hoc viden crudelius potest! Verum, quia ibi, nisi tamen fallor, hoc etiam scriptum est, quod ei veniam in saeculo futuro petierit. Facta est autem compensatio beneficii maioris, ut et apostolus, quam carus Deo esset, per hunc timorem commendaretur ignotis et illi post hanc vitam quandoque finiendam in aeternum consolaretur.17 (Ebd.)

Hier setzt Augustinus nun an mit der Feststellung: „Utrum illa vera sit an conficta narratio, nihil mea nunc interest“18 (ebd.), die danach zu klingen scheint, als sei die historische Faktizität nicht entscheidend im Vergleich zu einem höheren Sinn, der auch durch eine fiktive Geschichte vermittelt werden könnte. Die Betonung liegt aber offenbar auf dem „nunc“, also der Situation beziehungsweise dem Kontext seiner Ausführungen, die der Belehrung der häretischen Manichäer dienen, „a quibus illae scripturae, quas canon ecclesiasticus respuit, tamquam verae atque sincerae acceptantur“19 (ebd.). Sie könnten daher an dieser Geschichte lernen, dass „illam patientiae virtutem, quam docet Dominus dicens: ‚Si quis te percusserit in maxillam dextram, praebe ei sinistram‘, posse esse in praeparatione cordis“, denn der Apostel „[t]enebat certe interius dilectionis affectum et exterius requirebat correctionis exemplum.“20 Diese Argumentation zielt letztlich auf einen der entscheidenden theologischen Streitpunkte mit den Manichäern, nämlich deren Ablehnung des Alten Testaments, die Augustinus rhetorisch geschickt entwertet: Wenn sie die blutige Bestrafung der Götzendiener durch Moses ablehnen, müssten sie doch auch die Thomaslegende – die sie aber offenbar als wahr annehmen – verwerfen, denn die alttestamentliche Hinrichtung mit dem Schwert bei dem viel schwerwiegenderen Vergehen sei im Vergleich doch viel annehmbarer als die Verurteilung des Mundschenks, dessen Vergehen doch vergleichsweise gering ist, ad bestias (vgl. ebd., 161, sowie ebd., Anm. 14).

Die Ausführungen von Augustinus bestätigen also gerade die grundsätzlichen Geltungsbedingungen legendarischen Erzählens, wonach „von der Glaubwürdigkeit die paränetische Wirkung der Legende auf den Rezipienten abhängt“, während er die vorliegende „zumindest teilweise für eindeutig apokryph“ hält (Knapp 2002, 153). Es bleibt demnach wohl die Frage, ob Jacobus den Kirchenvater hier missversteht, sei es absichtlich oder unabsichtlich, „um den Wahrheitsgehalt der Legende zumindest halbwegs halten zu können“ (Knapp 2002, 153, Anm. 19), ob er hier also Augustinus als Referenz dafür nimmt, dass die Frage nach Faktizität und Fiktivität im Hinblick auf den Geltungsanspruch legendarischen Erzählens letztlich obsolet sei. Mir scheint eher das Gegenteil der Fall, denn wie in den vorangegangenen Beispielen auch wird hier mit Blick auf die Glaubwürdigkeit des Überlieferten Unsicheres und Zweifelhaftes benannt und kritisch eingeordnet. Die grundsätzliche Faktizität des Legendengeschehens als verbürgte Heilsgeschichte kann dabei weder durch unklare Zeit- und Ortsangaben noch durch ‚fälschlich eingefügte und fragwürdige‘ Details erschüttert werden. Mit einem lakonischen „Haec Augustinus“21 (Jacobus 2014, 161) beendet Jacobus den Exkurs, um unvermittelt zur Handlung überzugehen, in der der Apostel nun einfach das Brautpaar segnet und später all das Weitere tut, das ihn zum Märtyrer und Heiligen werden lässt, dessen Geltung in Kanon und Kult der Kirche außer Frage steht.

Eine Legendenkritik, die nicht die im Rahmen der liturgischen Verehrung immer schon feststehende Wahrheit der Legende zum Maßstab für die Wahrheit des überlieferten historischen Geschehens macht, sondern im Gegenteil die Wahrheit der Geschichte zum Maßstab für die im Leben eines Glaubenszeugen zu vermittelnde religiöse Wahrheit macht, kommt erst mit der Reformation auf. Damit wird dann auch die Frage von Faktizität und Fiktion zum entscheidenden Kriterium, das über den Wahrheitsgehalt und die Geltung der Legende entscheidet, wie der polemische Begriff der ‚Lügende‘ anzeigt, der die altgläubige legendarische Überlieferung – eben als fiktives Erzählen – diskreditieren soll (vgl. Münkler 2015). Die reformatorischen Bestrebungen, die Legenden der neuen Glaubenslehre entsprechend und auf ihren historischen Kern hin zu ‚reinigen‘, gehen dabei Hand in Hand mit dem humanistischen Wandel im Geschichtsbewusstsein und säkularisieren das „heilsgeschichtlich-figurale Wahrheitsverständnis der Legende“ zu einer „Wirklichkeitsauffassung weltimmanent-ethischer Beispielhaftigkeit“ (Hieber 1970, 14). Für den „exemplarischen Wert eines heiligmäßigen Lebens“ steht nun „gerade Geschichte als geschichtliches Ereignis“ (Brückner 1974, 524) ein. Die Heiligenlegende altkirchlicher und mittelalterlicher Gestalt wird auf diese Weise zur „protestantischen Bekennerhistorie“, wie sie Wolfgang Hieber als neuen literarischen Typus herausarbeitet (Hieber 1970, 13), die sich auch selbst nicht mehr als ‚Legende‘ bezeichnet, sondern als ‚Exemplum‘ – oder eben als ‚Historie‘ (vgl. Münkler 2009, 45).22 Deren spezifische Geltungsbedingungen und Geltungsstrategien wären ein Thema für sich.

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Felix Prautzsch, M.A.
Technische Universität Dresden
Institut für Germanistik
E-Mail: felix.prautzsch@tu-dresden.de
URL: https://tu-dresden.de/gsw/slk/germanistik/altgerm/die-professur/beschaeftigte/felix_prautzsch

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1Die Legende ist vermutlich im 7. Jahrhundert aufgezeichnet worden, soll aber auf eine frühere Fassung aus dem 4. bis 6. Jahrhundert zurückgehen. Sie berichtet von zwei Heiligen, Julius und seinem Bruder Julianus, die beide Missionare in Norditalien gewesen sein sollen, allerdings könnte es sich dabei um eine Verdopplung ein und derselben Person in der Überlieferung handeln (vgl. Merkt 1996). Mit den entsprechenden Wundertaten des heiligen Julius rund um die Insel im Ortasee, die sich nicht in der Legenda aurea finden, ist sie überliefert bei Mombritius 1910, Bd. 2, 45v.

2„Martinus heißt soviel wie Martem tenens ‚Krieg führend‘, das heißt Krieg gegen Laster und Sünden. Oder Martinus heißt soviel, wie martyrum unus, ‚einer der Märtyrer‘. Er war nämlich wenigstens der Absicht nach und in der Abtötung des Fleisches ein Märtyrer.“

3„Margareta aus der Stadt Antiochia war die Tochter des heidnischen Patriarchen Theodosius. Sie wurde einer Amme übergeben. Als sie mündig wurde, ließ sie sich taufen, und daher haßte ihr Vater sie sehr. Eines Tages, als sie schon das 15. Lebensjahr erreicht hatte und mit anderen Mädchen die Schafe der Amme hütete, kam der Präfekt Olybrius dort vorbei, entbrannte auf den ersten Blick in Liebe zu dem hübschen Mädchen […]“.

4„Sie erlitt das Martyrium am 20. Juli, wie man in ihrer Geschichte findet. Anderswo liest man, es sei der 13. Juli gewesen.“

5„Theodorus erlitt in der Stadt der Marmaritaner unter Diokletian und Maximian das Martyrium. Als ihm der Richter sagte, er solle opfern und seinen Heeresdienst wieder aufnehmen, antwortete Theodorus: ‚Ich leiste meinem Gott und seinem Sohn Jesus Christus Dienst.‘“

6„Das geschah im Jahre des Herrn 287.“

7Das in Bezug auf die Georgslegende der Legenda aurea; in anderen Fassungen der Legende wird der Heilige gar gevierteilt und wieder zu neuem Leben und herrlicher Schönheit erweckt.

8„Georgs Legende wurde auf dem Konzil von Nizäa unter den apokryphen Schriften aufgeführt, weil es von seinem Martyrium keinen zuverlässigen Bericht gibt. Denn im Kalendarum des Beda steht, er habe in der persischen Stadt Diospolis den Tod erlitten. Anderswo liest man, er sei in der Stadt Diospolis begraben, die früher Lydda hieß und unweit von Joppe liegt. Anderswo steht, er habe unter den Kaisern Diokletian und Maximian den Tod erlitten. Noch woanders, dies sei unter dem persischen Kaiser Dacian in Anwesenheit von 70 Königen seines Reiches geschehen.“

9„Hier liest man, das sei unter dem Vorsitz Dacians unter den Kaisern Maximian und Diokletian gewesen.“

10„Der Tribun Georg, der Herkunft nach Kappadokier, kam einst in die Provinz Libyen, in die Stadt namens Silena.“

11„Doch das, was man vom Fressen und Bersten des Drachens berichtet, gilt als apokryph und albern.“

12„Besser ist, daß du im künftigen Leben Verzeihung erlangst und dir hier im vergänglichen der Schlag vergolten wird. Ich werde nicht von hier aufstehen, bevor die Hand, die mich schlug, von Hunden hierhergebracht wird.“

13„Jener entfernte sich, um Wasser zu holen, da tötete ihn ein Löwe und trank sein Blut, die Hunde aber zerfetzen seinen Leichnam, und ein schwarzer Hund brachte seine Hand mitten unter die Gäste.“

14„Eine derartige Bestrafung aber tadelt Augustinus in seinem Buch Gegen Faustus und behauptet, das sei fälschlich eingefügt worden, daher wird diese Legende auch größtenteils für fragwürdig gehalten.“

15„Doch könnte man sagen, es sei nicht im Sinn einer Bitte, sondern nur im Sinn einer Voraussage gemeint gewesen.“

16„Die Manichäer lesen nämlich apokryphe Schriften, die von irgendwelchen Fabelschustern unter dem Namen der Apostel verfaßt worden sind.“

17„Was kann grausamer scheinen als dies? Doch weil dort, wenn ich mich nicht täusche, auch dies geschrieben steht, daß er für ihn um Gnade in der künftigen Welt bat, wurde jener durch eine größere Wohltat entschädigt, damit den Ahnungslosen mit diesem schrecklichen Vorfall verdeutlicht wurde, wie lieb der Apostel Gott sei, und dem Opfer nach dem unvermeidlichen Ende seines Lebens wenigstens für die Ewigkeit geholfen war.“

18„Ob das eine wahre oder eine erfundene Geschichte ist, ist mir jetzt nicht so wichtig.“

19Die Manichäer, „die jene Schriften, die der kirchliche Kanon ablehnt, als wahr und unverfälscht anerkennen“.

20Dass „die Tugend der Geduld, die der Herr lehrt, wenn er sagt: ‚Wenn man dich an die rechte Kinnlade schlägt, so halte ihm die linke hin‘, auch in der Bildung des Herzens bestehen kann, ohne daß sie sich in einer Gebärde oder einem sprachlichen Ausdruck zeigt“ und: „Innerlich jedenfalls wahrte er die Gesinnung der Liebe, äußerlich verlangte er ein Beispiel der Zurechtweisung.“

21„Soweit Augustinus.“

22Ausführlicher zur Transformation legendarischen Erzählens in der Reformation vgl. auch meinen Beitrag Prautzsch 2017b, S. 7-10.