Daniel Teufel, Maximilian Dorner und Pascal O. Berberat

Von Sick of ... zu Sick with ... zu Walk with ...

Die narrative Anerkennung individuellen Leidens und Lebens in der Medizin(ausbildung)

Every individual has its unique reasons for seeing a doctor. It follows that, in order to find the appropriate remedy for each case, doctors need to pay particular attention in their endeavour to understand the individual problem. Easy to say, but hard if not impossible to achieve: Not often having the time for long personal conversations, doctors are nevertheless expected to understand the positions and perspectives, the desires and priorities, the troubles and sufferings of others in order to provide them the exact help they need and / or want. This is a professional challenge that should be addressed appropriately in the course of medical education. Confronted with the otherness of the individual other, and therefore with the impossibility of a 100% accurate understanding of each other, doctors need the mindset to acknowledge individual problems as individual problems as well as the attitude to side with their patients against these problems nevertheless. In other words: doctors need to think in narrative dimensions. This paper wants to discuss the potentials, limits and risks of respective elements in medical education around two case studies developed at TUM Medical School.

Vorwort

Im medizindidaktischen Diskurs nehmen die kommunikativen Kompetenzen und die Empathiefähigkeit(en) des Arztes1 seit einigen Jahren einen sehr prominenten Platz ein – und das ganz zurecht. In zahlreichen Studien wird die ärztliche Kommunikation als eine Quintessenz der ärztlichen Profession beschrieben, da sie die entscheidende Komponente einer zufriedenstellenden Arzt-Patienten-Beziehung darstellt (vgl. Fong et al. 2010). Die ärztliche Empathie gilt dabei als essentieller Schlüssel, ohne den die ärztliche Kommunikation ihr Ziel nicht erreichen kann (vgl. Neumann et al. 2010, Neumann et al. 2012). Zumindest in der entsprechenden Literatur steht daher außer Zweifel, dass ein Arzt nicht nur über umfangreiches und grundlegendes (natur)wissenschaftlichen Wissen und zentrale diagnostische und therapeutische Kompetenzen verfügen muss, sondern auch die Pflege der zwischenmenschlichen Dimension mit dem Patienten einen essentiellen Bestandteil des Arztseins ausmacht.

Allerdings, so berechtigt die Diskursanteile von Kommunikation und Empathie sind, so problematisch sind sie zugleich, denn beide Begriffe sind durch ihren häufigen Gebrauch abgegriffen und eröffnen auch im medizindidaktischen Kontext sehr unterschiedliche Bedeutungsebenen Auch die folgenden Ausführungen stellen in gewissem Sinne einen Beitrag zur ärztlichen Kommunikation und Empathie dar, allerdings mit einem besonderen Blickwinkel, indem sie die gebotene ärztliche Aufmerksamkeit und das angemessene ärztliche Interesse an der individuellen Lebens- und Leidensgeschichte eines Patienten thematisieren und damit die menschlich-existenzielle Dimension in den Mittelpunkt rücken. Unsere Frage ist also nicht, wie der Arzt mit dem Patienten spricht, sondern wie bei ihm ein Verständnis von und für dessen Geschichte entsteht. Dabei haben wir uns bewusst dafür entschieden, den Begriff der Empathie (sowie den damit verbundenen medizindidaktischen Diskurs) bis auf eine Ausnahme im Fazit zu umgehen und stattdessen von Aufmerksamkeit, Verstehen, Verständnis und Anerkennung zu sprechen. Zugleich will dieser Artikel ein breites interdisziplinäres Publikum ansprechen. Insofern versucht er, seinen Gegenstand weniger fachtheoretisch als vielmehr erzählend darzulegen.

1. „Was kann ich für Sie tun?“

Wenn eine Person aus eigenem Antrieb einen Arzt aufsucht, kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass sie sich davon etwas verspricht, etwas erhofft, etwas erwartet, etwas wünscht. Allein was dieses „etwas“ genau sein soll, ist hiermit noch (lange) nicht gesagt (und muss auch dieser Person selbst nicht klar sein). Die Eröffnungsfrage des aufgesuchten Arztes lautet daher tatsächlich nicht selten ganz offen: „Was kann ich für Sie tun?“ Schließlich kann auch der beste Arzt dies nicht von vornherein schon wissen. Also stellt der Arzt seine Frage, die Person schildert daraufhin – so gut sie es eben kann – wieso sie den Arzt aufgesucht hat, woraufhin der Arzt dann – so gut er es wiederum kann – mit weiteren Nachfragen oder ersten oder bereits finalen Lösung(svorschläg)en reagiert. So weit, so vereinfacht, so gut.

So banal diese Szene eines typischen Arztbesuches scheinen mag, so banal ist die grundlegende Problematik, die mit ihr einhergeht: Funktionierende Kommunikation, d.h. sich wechselseitig verständlich zu machen und verstanden zu werden, ist alles andere als selbstverständlich. Je nach sprach- und kommunikationstheoretischer Überzeugung ist sie viel mehr unwahrscheinlich bis unmöglich. Das gilt insbesondere für das Themengebiet „Körperliches Unwohlsein, Krankheit und Leiden“. Denn sowohl die Erfahrung des eigenen Körpers und der Unstimmigkeiten, die einem an diesem auffallen, als auch die Wortwahl, um diese Erfahrungen zu beschreiben, können von Person zu Person grundverschieden sein. Die naheliegende Gefahr ist demnach, die entsprechenden Schilderungen einer Person nicht oder falsch zu verstehen. Die weitere Gefahr ist jedoch, sich allein darauf zu konzentrieren, diese Schilderung richtig zu verstehen, und dann davon auszugehen, dass damit alle weiteren Fragen auch schon beantwortet sind. Denn wer weiß oder zu wissen glaubt, was das jeweilige Gegenüber hat, weiß deshalb trotzdem noch nicht, was diese Person braucht und/oder will, – und damit auch nicht, was man für ihn oder sie tun kann. Selbst wenn der Arzt die geschilderten Ungereimtheiten perfekt in die zutreffende Krankheit übersetzen kann, bleibt offen, ob diese Ungereimtheiten nun zum Beispiel (um jeden Preis?) beseitigt oder erstmal nur festgestellt und benannt werden sollen. Letztlich ist es keine Frage der Diagnose, sondern des jeweiligen Betroffenen, was der Arzt nun für ihn tun kann bzw. soll: Der eine möchte eine ganzheitliche Untersuchung der Ursachen, die andere eine umgehende Linderung der Auswirkungen; eine Patientin wünscht eine rasche Abklärung zur Beruhigung, um damit das ganze Thema Krankheit hinter sich zu lassen, ein anderer Patient verlangt eine intensive Erforschung der dunklen Tiefen des eigenen Organismus; der eine fragt nach jemand, der ihm die Angst nimmt, der andere nach jemand, mit dem er seine Verzweiflung teilen kann; die eine möchte Schmerzmittel, die andere Ratschläge; der eine möchte gerne ganz konkrete Antworten und Anweisungen haben, der andere die komplette Palette an möglichen Erklärungen und Behandlungen kennen; die eine fragt nach dem Sinn und möchte einfach nur verstehen, der andere begehrt Aufmerksamkeit und möchte einfach nur einmal wahrgenommen werden.

Will der Arzt also tatsächlich wissen, was er für die Person, die ihn aufgesucht hat, tun kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als dieser Person aufmerksam zuzuhören. In dieser Aufmerksamkeit liegt eine der entscheidendsten Kompetenzen des Arztes: Denn nur wer das Problem verstanden hat, kann sich angemessen um dessen Lösung kümmern. Dabei ist das wirkliche Problem manchmal ein ganz anderes und manchmal die naheliegende Lösung die, die tatsächlich am weitesten von der wirklichen Lösung entfernt liegt: Ein individuelles menschliches-existentielles Problem zu verstehen, ist eine ständig neue Herausforderung. Und eine dafür notwendige Aufmerksamkeit ist keine Selbstverständlichkeit – weshalb wir mit diesem Beitrag für die feste Etablierung entsprechender Übungen in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung werben und dafür beispielhaft die beiden Projekte Sick with ... und LET ME … walk a mile in those shoes! vorstellen wollen.

2. Narrative Aufmerksamkeit

Im Folgenden liegt das Augenmerk auf der Verantwortung des Arztes. Zwar sind an einem Arzt-Patienten-Gespräch immer mindestens zwei Personen beteiligt und somit auch zwei Personen dafür verantwortlich, dass dieses Gespräch erfolgreich verläuft. Dennoch möchten wir bei solchen Gesprächen einen bedeutenden Teil der Verantwortung vom Patienten abziehen und sie dem Arzt zuschreiben. Was in anderen Gesprächssituationen mit mehr oder weniger Recht behaupten werden kann („Wer etwas will, der muss es auch so formulieren können, dass der andere es versteht!“), lässt sich in einem Arzt-Patienten-Gespräch nicht aufrechterhalten (obgleich es mittlerweile zahlreiche populäre Ratgeber für Patienten gibt, die ihnen genau diese kommunikative Kompetenz versprechen). Dass auch der Patient seinen Beitrag zu einem erfolgreichen Gespräch leisten muss, steht außer Frage. Doch der Anteil des Arztes ist entscheidend größer. Schließlich hat sich der Arzt selbst dafür entschieden, Arzt zu sein, hat sich aus eigenem Entschluss verpflichtet, eine besondere Verantwortung gegenüber den ihn aufsuchenden Personen zu tragen und hat dafür eine entsprechend umfangreiche Ausbildung durchlaufen. Der Patient hingegen ist in den allermeisten Fällen wohl nicht freiwillig Patient geworden und wurde auch nicht entsprechend geschult und darauf vorbereitet, wie man als guter Patient zu sein hat. Während es zum Berufsalltag des Arztes gehört, Patienten an- und zuzuhören, ist es für eine erkrankte Person eine aus unterschiedlichen Gründen oft unangenehme Ausnahmesituation, einen Arzt aufzusuchen und sich diesem mitzuteilen. Ganz abgesehen davon, dass sich Personen, die einen Arzt aufsuchen, meist nicht in bester Verfassung befinden und allein deshalb Nachsicht mit ihnen geboten ist. Ist eine Person also nicht in der Lage, nicht gewillt, nicht geübt, sich verständlich zu machen, entbindet das den Arzt nicht davon, sie dennoch so gut wie möglich und so weit wie nötig verstehen zu müssen bzw. es zumindest aufrichtig so gut wie möglich und so weit wie nötig zu versuchen. Das kann und muss man unserer Meinung nach von einem guten Arzt verlangen. Aber im Gegenzug kann der angehende Arzt dann zu Recht von seiner Ausbildung verlangen, so vorbereitet zu werden, dass er dieser Anforderung gerecht werden kann, weswegen es unsere Pflicht als Ausbilder ist, entsprechende Lernangebote und Trainings zu entwickeln.

In der Münchner Medizinausbildung haben die Kommunikation mit Patienten und die ärztliche Gesprächsführung mittlerweile ihren festen Platz im Curriculum – nicht zuletzt, da gerade die Kommunikation ein enormes Fehler- und Unzufriedenheitspotenzial birgt und man diese Fehler und Unzufriedenheiten gerne vermeiden möchte. Die Studierenden werden demnach gezielt darin geschult, so mit den Patienten zu kommunizieren bzw. so das Gespräch mit den Patienten zu führen, dass am Ende des Gesprächs beide Seiten über die für sie nötigen Informationen verfügen und die Patienten dabei das Gefühl haben, wahr- und ernstgenommen zu werden. Ein zentraler Faktor ist dabei die im ärztlichen Alltag stets knappe Zeit und die Notwendigkeit eines hocheffizienten Kommunizierens, da einem Arzt schlicht nicht mehr als wenige Minuten für ein Patientengespräch zur Verfügung stehen und am Ende dieses Gesprächs alle nötigen Fragen geklärt sein sollten. Was die ärztliche Aufmerksamkeit betrifft, geht es hier deshalb vor allem um das effiziente Erkennen, genauer um das Wiedererkennen: Das, was der Patient schildert, wird mit dem abgeglichen, was der Arzt an Krankheitsbildern kennt, um so das Problem des Patienten (wieder) zu erkennen.

Kommunikationstrainings dieser Art sind ein bedeutender Fortschritt in der Medizinausbildung, der an dieser Stelle nicht in Frage gestellt werden soll. Allein mit diesen Trainings erreichen wir jedoch noch nicht jenen Punkt, an dem der Arzt den Patienten so gut wie möglich und so weit wie nötig in seiner menschlich-existentiellen Dimension wahrnehmen und verstehen kann. Dass existentielle und persönliche Aspekte einer Erkrankung im Arzt-Patienten-Gespräch teilweise konsequent überhört und systematisch ignoriert werden, ist keine Frage kommunikativer Kompetenzen und ihrer besseren Ausbildung, sondern eine Frage der ärztlichen Bereitschaft, sich auf die individuelle Existenz des Patienten einzulassen (vgl. Agledahl et al 2010, Agledahl et al 2011). Unserer Meinung nach muss hierfür erst eine weitere Wahrnehmungsebene eingerichtet werden, die über das Erkennen dessen, was der Patient hat, hinaus geht und ein Anerkennen des Patienten als individuelles Subjekt, d.h. ein Anerkennen dessen, was er ist, was er hat und was das aus und mit ihm macht, anstrebt. Ein solches Anerkennen verlangt die Entwicklung, Ausbildung und Einübung einer besonderen Aufmerksamkeit und eines besonderen Verständnisses, die wir in Anlehnung und Weiterentwicklung einer Narrative Medicine nach Rita Charon (vgl. Charon 2006) gleichermaßen als narrativ bezeichnen wollen. Unter narrativ verstehen wir dabei zuerst ganz allgemein (im Sinne einer anthropologischen Narratologie) eine spezifische „Organisation von menschlicher Erfahrung“ (Scheffel 2004, 124), nämlich das „Auffassen“ und die „unwillkürlich[e] Strukturierung unserer Realität“, „unserer Umwelt, unserer Wahrnehmungen von Menschen und Gruppen, unserer Selbstwahrnehmung“ (Neumann 2000, 7) in und durch Erzählungen. Dabei „verschnüren“ Erzählungen Informationen in einem kohärenten „Paket“ und bringen diese über die so entstandene „Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge“ in eine „sinnvolle Ordnung“ (Eibl 2016, 254-256 [Hervorh. im Orig.]), die weitere Auf- und Anschlüsse erlaubt. So verstanden sind Erzählungen und narrative Ordnungen jedoch bereits seit jeher unverzichtbare Bestandteile des medizinischen Studiums und der ärztlichen Praxis – mit der entscheidenden Einschränkung, dass dabei die Geschichte der (wieder) zu erkennenden Krankheit und nicht die individuelle Lebens- und Leidensgeschichte des Patienten im Vordergrund steht. Wir wollen demnach das diesem Beitrag zugrundeliegende Verständnis von narrativ insofern scharfstellen, als wir damit nicht nur eine spezifische Art, sondern auch einen spezifischen Gegenstand der ärztlichen Wahrnehmung bezeichnen möchten: eben jene individuelle Geschichte des Patienten. Eine narrative Aufmerksamkeit, ein narratives Verständnis und eine narrative Anerkennung sind dann gegeben, wenn der Patient selbst in den Fokus rückt und dabei als Subjekt (s)einer narrativen Ordnung wahr- und ernstgenommen wird, wobei deren Elemente eben „nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen“ (Scheffel 2004, 124) und daher entsprechende Beweggründe und Sinnstrukturen erkennen lassen.

Um das zu erreichen, braucht es jedoch Übungsformate, die über die bisherigen Inhalte der Medizinausbildung hinausgehen. Ein erster Versuch unsererseits, ein solches Überformat zu erproben, stellt das Seminar Sick with… dar.

3. Von Sick of ... zu Sick with ...

Sick with ... war eine fakultative Abendveranstaltung für 15 Medizinstudierende aller Semester, die aus drei 90minütigen Sitzungen bestand. Der Grundgedanke von Sick with ... lässt sich am besten in einem plakativen und provokativen Zahlenverhältnis darstellen, das einer spontanen Äußerung aus der zweiten Sitzung entstammt (und dort sehr kontrovers diskutiert wurde): Sucht man als chronisch erkrankte Person einen (Fach-)Arzt auf, konzentriert sich dieser auf 10-20% der Krankheit, d.h. auf die im Radius seines fachlichen Hintergrundes mögliche medizinische Bestandsaufnahme (Diagnose) und die daraus folgenden Behandlungsmöglichkeiten (Therapie). Die restlichen 80-90%, die dahinterstecken und die die kleinen wie großen alltäglichen Konsequenzen im Leben mit dieser Krankheit ausmachen, tauchen in seiner (fach)ärztlichen Wahrnehmung und in seinem Interesse kaum auf. Zwar entspringt nun dieses sehr überspitzte Zahlenverhältnis keiner objektiven Messung, sondern einem rein subjektiven Eindruck. Dieser Eindruck kann jedoch – wenn nicht in der Drastik dieser Zahlen, so doch in ihrer grundlegenden Problematisierung – durchaus gerechtfertigt und begründet werden (siehe auch hier Agledahl et al 2010, Agledahl et al 2011). Das Anliegen von Sick with ... war deshalb, genau diese 80%-90% oder zumindest einen bedeutenden Teil davon weiter in das Bewusstsein der Ärzte zu rücken – und so der Unzufriedenheit entgegenzuwirken, die sich zwischen Arzt und Patient entwickelt, wenn sich beide auf unterschiedlichen Ebenen befinden und deshalb nicht zusammenkommen. So wie sich im Laufe der Konzeption der Veranstaltung der ursprüngliche Titel von einem Sick of ... zu einem Sick with ... gewandelt hat, so sollten diese drei Sitzungen den angehenden Ärzten dabei helfen, die gegenseitige Frustration von Arzt und Patient in eine gemeinsame Auseinandersetzung mit der Krankheit und ihren persönlichen Konsequenzen zu überführen.

Um dieses Ziel zu erreichen, unternahm Sick with ... einen Perspektivwechsel: Die teilnehmenden Medizinstudierenden sollten sich in die Rolle des Betroffenen versetzen, sollten sich vorstellen bzw. narrativ vergegenwärtigen, wie es für sie wäre, mit diesen Herausforderungen konfrontiert zu sein und einen entsprechenden Alltag durchleben zu müssten. Als Anstoß zu diesem „erzählenden Probehandeln“ (Neumann 2000, 294) wurden ihnen im ersten Teil jeder Sitzung vier bis fünf Fragen zu einem vorgegebenen Szenario gestellt, die sie dann in kurzen schriftlichen Statements beantworten sollten. Im zweiten Teil wurden diese Fragen und die Antworten dazu gemeinsam besprochen und diskutiert, wobei neben der Seminarleitung und den Studierenden auch ein tatsächlich Betroffener und ein zum Szenario der jeweiligen Sitzung passender medizinischer Experte anwesend waren, um die spontanen Antworten der Studierenden mit deren Erfahrung abzugleichen.

In der ersten Sitzung standen allein der Alltag und das soziale Umfeld des Betroffenen im Vordergrund. Die Teilnehmenden spielten fiktiv unterschiedliche Alltags-Szenen im Rollstuhl durch, wie z.B. in der U-Bahn von Fremden angesprochen werden, die nicht barrierefreie Bewegung im öffentlichen Raum bewältigen, eine spontane Reise planen, sich mit Freunden verabreden, einen Flirt anfangen, Sex haben.

In der zweiten Sitzung rückten unterschiedliche Szenarien eines Arzt-Patienten-Verhältnisses und das bereits oben erwähnte, überspitzte Zahlenverhältnis in den Fokus. Die Teilnehmende sollten sich vorstellen, wie es ihnen auf der Seite des Patienten ergehen würde, wenn sie z.B. das Gefühl hätten, mehr über ihre Krankheit zu wissen als der ihnen gegenübersitzende Arzt, oder sie von diesem hören, sie seien „austherapiert“. Dreh- und Angelpunkt der anschließenden Diskussion war dabei die Frage, inwieweit es zu den Aufgaben des Arztes gehört, sich auch mit den restlichen 80-90% einer Krankheit zu beschäftigen, die über die 10-20% des eigenen medizinischen Aufgabenbereiches hinausgehen: Käme nun eine erkrankte Person zum Arzt, der medizinisch nicht zu helfen ist, die aber gerade deshalb den Arzt als Beistand und Unterstützung aufsucht, (wie) sollte sich der Arzt um diese Person kümmern? Ist der Arzt auch gefragt, wenn es eigentlich nicht mehr darum geht, die körperlichen Beschwerden zu therapieren, sondern darum, einen ebenso machbaren wie sinnvollen Weg zu finden, mit diesen Beschwerden zu leben? Tut der Arzt mit seinen 10-20% zu wenig? Oder verlangt der Patient mit der Beachtung der restlich 80-90% zu viel bzw. ist er damit beim Arzt schlicht an der falschen Adresse? (Interessanterweise war das Verhältnis von 10-20% zu 80-90% selbst nicht Teil der Diskussion und schien so allen Teilnehmenden implizit stimmig.) Daran schloss sich sogleich die Frage nach der Distanz an: Wie viel Mitgefühl und wie viel Distanz braucht ein Arzt, um seinem Gegenüber zu helfen – und um sich selbst zu schützen? Der Kompromissvorschlag am Ende der Sitzung lautete: Ein Arzt sollte die persönliche Bereitschaft mitbringen, sich auf die Situation des Anderen einzulassen. Er muss dessen Probleme aus dem 80-90%-Bereich weder lösen noch sich selbst auferlegen, aber er sollte sie wahr- und ernstnehmen. Er sollte sie kennen, erkennen und anerkennen, dass der Patient nicht nur mit den medizinischen Aspekten einer Krankheit leben muss, sondern auch mit allen persönlichen, alltäglichen und lebensweltlichen Auswirkungen.

In der dritten Sitzung fand eine abschließende Überlagerung der beiden Ebenen von Arzt und Patient statt. Die Teilnehmenden sollten sich ausmalen, wie ihre Situation als erkrankte Medizinstudierende aussehen könnte: Ob und wie sie die Rolle des Arztes mit der Rolle des Patienten vereinbaren würden? Ausgehend von diesem Szenario wurde über die Lebensplanung mit chronischen Krankheiten diskutiert und dabei auch wieder die Frage gestellt: Ob und welchen Beitrag die ärztliche Kompetenz und die ärztliche Haltung hierzu leisten können bzw. müssten? Auch diese Frage wurde schließlich mit dem Kompromissvorschlag aus der vorherigen Sitzung beantwortet.

Am Ende der drei Termine von Sick with ... stand die Erkenntnis, dass mit Veranstaltungen wie dieser ein erster wichtiger Schritt in Richtung narrativer Anerkennung des Patienten gemacht werden kann. Über das Einnehmen der Patientenposition und das erzählende Probehandeln konnte eine Problematisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses und des damit einhergehenden ärztlichen Aufgaben- und Aufmerksamkeitsbereichs angestoßen werden. Die Frage war nur, wie es nun im Rahmen der Medizinausbildung damit weitergehen müsste und wie man dem Wunsch der Studierenden weiter nachkommt, die menschlich-existentielle Dimension eines Erkrankten (besser) begreifen zu können, ohne dessen Erkrankung und ihre Konsequenzen selbst durchleiden zu müssen. Unsere nächste Antwort darauf sollte das im Anschluss an Sick with… ins Leben gerufene Programm LET ME geben.

4. Die Herausforderung einer individuellen Anerkennung

LET ME ist die Kurzform von Lettered Medicine & Lettered Medical Education und verfolgt das übergeordnete Ziel, Studierende und Ärzte mithilfe unterschiedlicher Angebote dazu anzuregen und dabei zu unterstützen, eine differenzierte professionelle Identität und ein persönlich reflektiertes Verständnis ihres eigenen Arztseins zu entwickeln. Im Rahmen dieses Programms finden jedes Semester mehrere Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten statt.2 Gemeinsam ist all diesen Formaten, dass sie die medizinisch notwendige Objektivierung um eine Anerkennung des menschlichen Subjekts erweitern wollen und dabei weitaus größeren Wert auf das aufrichtige Stellen und das gemeinsame Aushalten schwieriger und kritischer Fragen legen, anstatt eine zu vorschnelle Antwort zu finden, die es erlaubt, sich der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Problematik zu entziehen.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das Bedürfnis, die offenen Fragen und den abschließenden studentischen Wunsch von Sick with ... im Rahmen von LET ME aufzugreifen und die dort gemachten ersten Schritte in Richtung narrativer Anerkennung des Patienten in einer weiteren Veranstaltung fortzusetzen. Zeitgleich bestand von Seiten unseres forumms, einer Kommunikationsplattform rund um das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose, ein besonderes Interesse an neuen Formen der Auseinandersetzung mit der MS, weswegen die Nachfolgeveranstaltung von Sick with… diese Erkrankung zum zentralen Gegenstand haben sollte. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt dieser Veranstaltung sollte die Frage darstellen, ob (und wie[weit]) man das individuelle Leben und Leiden eines anderen Menschen verstehen müsse und verstehen könne? Beim Rückblick auf Sick with… zeigte sich, dass diese Frage dort nur zum Teil beantwortet und auch nur zum Teil gestellt wurde. So wurde zwar ausführlich über das verstehen müssen und die entsprechende ärztliche Verpflichtung diskutiert, die meist nicht beachteten 80-90% der Patientengeschichte (s.o.) zu berücksichtigen. Das verstehen können eines anderen individuellen Lebens und Leidens wurde jedoch nicht problematisiert, zumindest nicht außerhalb der zeitlichen („keine Zeit“) und fachlichen („nicht mein Aufgabenbereich“) Einschränkungen des Berufsalltags. Damit steuerte Sick with… einer kritischen Vereinfachung entgegen, die man mit Fritz Breithaupt als Trugschluss des „akkurate[n] Verstehen[s]“ bezeichnen könnte: die Annahme es gebe eine „absolute Gleichartigkeit zwischen mir und dem anderen“, die es erlaubt, meine eigenen Wahrnehmungen „auf den anderen zu übertragen“ (Breithaupt 2009, 22). Denn wenn sich Medizinstudierende vorstellen sollen, wie es ihnen als Rollstuhlfahrer erginge, um dadurch (besser) verstehen zu können, wie es einem anderen Individuum ergeht, das tatsächlich im Rollstuhl sitzt, dann impliziert die Aufgabenstellung eine „Ähnlichkeit“, die zur „Überschätzung von Ähnlichkeit [verleitet]“ (Breithaupt 2009, 20).

Anders gesagt, Ähnlichkeit verleitet zu einer Vielzahl von Fehlbefunden, die Ähnlichkeit suggerieren, wo keine vorliegt – beziehungsweise wo sie nur durch große Abstraktion auf höherer Ebene angesetzt werden kann. (Breithaupt 2009, 21)

So lässt sich wohl auf einer „höhere[n] Ebene“ mit recht hoher Wahrscheinlichkeit (aber auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit) annehmen, dass jemand, der im Rollstuhl sitzt, sich manchmal wünscht, nicht mehr im Rollstuhl zu sitzen. Aber um zu wissen, ob es einem bestimmten Rollstuhlfahrer fehlt, spontan zu verreisen, oder ob er sich von den Mitleidsbekundungen seines Umfelds genervt fühlt, reicht es nicht aus, wenn man allein sich selbst fragt, wie es einem selbst in dieser Situation ergehen würde – auch nicht, wenn man tatsächlich selbst im Rollstuhl sitzt. Zwar ist die Annahme, als selbst Betroffener könne man besser nachvollziehen, was andere Betroffene durchleiden, auf einer „höhere[n] Ebene“ sicher zu einem gewissen Grad berechtigt. Die Gefahr, von dieser „höhere[n] Ebene“ erst recht in die Tiefen einer überschätzten Ähnlichkeit abzurutschen, sollte jedoch nicht unterschätzt werden (vgl. Breithaupt 2009, 26ff). Dies gilt gerade bei einer Krankheit wie MS, deren geläufiger Beiname nicht ohne Grund Die Krankheit der tausend Gesichter lautet.

Der erste wichtige Schritt von Sick with ... in Richtung Anerkennung des Patienten war die Anerkennung, dass die ärztliche Aufmerksamkeit und das ärztliche Interesse vielleicht nur 10-20% einer Erkrankung abdecken und damit die persönlichen und alltäglichen Konsequenzen des jeweiligen Individuums weder wahr- noch ernstnehmen. Der nächste wichtige Schritt in Richtung individuelle Anerkennung des Patienten müsste nun sichergehen, dass die Lücke der fehlenden 80-90% nicht ein für alle Mal ausgefüllt wird: Die eigene Vorstellung oder die Wahrnehmung eines bestimmten Betroffenen darf sich nicht zur vermeintlich stets passenden Antwort für eine Frage entwickeln, die man bei jedem betroffenen Individuum von neuem stellen sollte. Denn die aus der Überschätzung der Ähnlichkeit resultierenden fehlerhaften Übertragungen des Eigenen auf den anderen führt zu einem reinen Wiedererkennen des Eigenen im anderen, wodurch der Patient in seiner Individualität nicht nur verkannt, sondern gewissermaßen auch „wieder uninteressant“ (Breithaupt 2009, 187) wird, weil man davon ausgeht, die Situation des Patienten bereits zu kennen.

Dabei ist es naheliegend, dass die an anderer Stelle der Medizinausbildung, und zwar im Rahmen der diagnostischen Kompetenzentwicklung eingeübte Wiedererkennung von Mustern und Krankheitsbildern, die dort tatsächlich zurecht eine zentrale und wichtige Stellung einnimmt (vgl. z.B. Schmidt / Rikers 2007), einen fehlerhaften Transfer begünstigt, sodass der Arzt auch auf der existentiellen Ebene nach wiedererkennbaren Mustern und Ähnlichkeiten sucht. Ein solches Wiedererkennen kann unserem Anspruch, den einzelnen Patienten so gut wie möglich und so weit wie nötig verstehen zu können, jedoch nicht gerecht werden. Dazu läuft es Gefahr, dass das Sick with ... wieder in ein Sick of ... umschlägt, sobald der Patient frustriert bemerkt, dass er nicht als Individuum mit persönlichen und womöglich existentiellen Sorgen und Ängsten wahrgenommen wird, sondern der Arzt lediglich das zu sehen und zu verstehen vermag, was ihm selbst ähnlich ist oder seiner Vorstellung eines Patienten an sich entspricht.

Eine konsequente Nachfolgerveranstaltung von Sick with ... musste sich diese kritischen Punkte zu Herzen nehmen, um nicht gleichermaßen auf dem Weg zur Anerkennung des individuellen Patienten der Verlockung überschätzter Ähnlichkeit zu erliegen.

5. Von Sick with ... zu Walk with ...

LET ME ... walk a mile in those shoes! war ein vierstündiger fakultativer Workshop für Medizinstudierende mit insgesamt 20 Teilnehmenden. Unter diesen Teilnehmenden befanden sich auch diesmal wieder ein Arzt und ein tatsächlich Betroffener. Maßgeblich für die Konzeptentwicklung (wie auch für das Gesamtprogramm der Lettered Medicine / Lettered Medical Education) war neben der Narrative Medicine auch das von Alan Bleakley in Anlehnung an Jacques Rancière formulierte Konzept der Critical Medical Humanities (vgl. Bleakley 2015), das dem (selbst-)kritischen Hinterdenken und Hinterfragen einen festen Platz im medizinischen Berufswesen einräumen will. Dabei sollen sich Mediziner bewusst werden, dass menschliches Wahrnehmen, Denken und Handeln einer „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière 2008, 25) unterliegt, d.h. einer zwar fest etablierten, aber nicht naturgegebenen, sondern menschgemachten (und damit veränderbaren) Ordnung, die festlegt, was gerade sicht-, denk-, sag- und machbar ist. Um dieses Ziel zu erreichen, setzen die Critical Medical Humanities (ebenso wie die Narrative Medicine) auf die Auseinandersetzung mit Literatur, Film und Kunst, da diese eine aufmerksame, kritische und reflektierte Beobachtung fordert und fördert und dadurch lehrt, mit Leerstellen und Unverständlichkeiten, mit alternativen und kontraintuitiven Perspektiven sowie mit Ambiguitäten und Widersprüchen umzugehen (vgl. Bates et al. 2014; Charon et al. 2017).

Ausgehend von diesen Überzeugungen sollte bei LET ME ... walk a mile in those shoes! der vielschichtigen Frage, ob (und wie[weit]) man das individuelle Leben und Leiden eines anderen Menschen verstehen müsse und verstehen könne, einerseits narrativ und andererseits kritisch nachgegangen werden. Das angestrebte Ziel war dabei nicht, diese Frage endgültig zu beantworten, sondern sich auf mehreren Ebenen mit der ihr innewohnenden Problematik auseinanderzusetzen. Den künstlerischen Ausgangspunkt hierfür lieferten die One Year Performances von Tehching Hsieh3, bei denen der Künstler sich je ein Jahr lang einer selbstauferlegten extremen Einschränkung aussetzte wie z.B. ein Jahr lang schweigend und untätig in einem Holzkäfig zu verbringen oder ein Jahr lang jede(!) Stunde eine Stempeluhr zu bedienen. Auf diese Weise experimentierte Hsieh an seinem eigenen Leib mit den Grundbestandteilen seines menschlichen Daseins wie Zeit und Raum, Arbeit und Freizeit oder Einsamkeit und Gesellschaft. In LET ME ... walk a mile in those shoes! sollten die Teilnehmenden nun ein weiteres Selbstexperiment für Hsieh entwerfen und ihn dabei in erzählendem Probehandeln fiktiv begleiten. Der dazugehörige Ablauf des Workshops lässt sich in fünf Abschnitte untergliedern:

(1) Einstimmung: Zu Beginn wurden die Teilnehmenden in vier Gruppen eingeteilt. Dann erhielt jede Gruppe ein kurzes Dossier aus Bild und Text zu je einer der ersten vier One Year Performances von Hsieh und dazu die Aufgabe, diese Performance aufzubereiten, nachzuvollziehen und anschließend den anderen Gruppen vorzustellen. Hierzu sollten sie folgende fünf Fragen beantworten: 1. Was hat er gemacht? 2. Warum (vermutet ihr) hat er es gemacht? 3. Welche Erfahrungen (vermutet ihr) hat er gemacht? 4. Was (vermutet ihr) hat dieses Jahr mit ihm gemacht? 5. Was macht es mit euch (sich das alles vorzustellen)? Auf diese Weise durchliefen die Teilnehmenden eine erste narrative Vergegenwärtigung von Hsiehs Performances.

(2) Versuchsaufbau: Im Anschluss wurde ein fiktives Szenario aufgestellt, in dem Hsieh eine weitere One Year Performance durchführen möchte und zwar One Year Being Sick With MS, da er in seinem Bekanntenkreis mit dieser Krankheit in Kontakt gekommen sei und nun am eigenen Leib so gut wie möglich verstehen wolle, wie sich ein Leben mit dieser chronischen Krankheit anfühlt. Die Teilnehmenden bekamen die Aufgabe, zuerst jeder für sich und dann gemeinsam die Rahmenbedingungen dieses Selbstversuchs und die konkreten Einschränkungen, die Hsieh sich hierfür selbst auferlegen müsste, zu erarbeiten. Die besondere Herausforderung war dabei, dass die Multiple Sklerose in ihren Symptomen, ihren Auswirkungen und ihrem Verlauf hochindividuell verläuft und es daher kein einheitliches Krankheitsbild gibt; Hsiehs fiktives Anliegen aber sei es, diese Krankheit und ihre Konsequenzen so umfänglich und so deckungsgleich wie möglich an sich selbst zu erleben. Immerhin hatten die Teilnehmenden im ersten Abschnitt gesehen, dass Hsieh bei seinen Performances bereit ist, weit über die Grenzen des physischen und psychischen Wohlbefindens hinauszugehen, und sie ihm daher auch bei diesem fiktiven, aber dennoch realistisch zu entwerfenden Selbstversuch einiges zumuten können. Ziel dieses Teils war es, dass die Teilnehmenden einen fiktiven, aber möglichen narrativen Handlungsrahmen für ein konkretes Subjekt entwerfen, das nicht sie selbst sind.

(3) Versuchsprotokoll: Auf Grundlage des gemeinsam erarbeiteten Versuchsaufbaus sollten die Teilnehmenden die fiktive Performance One Year Being Sick With MS nun in zwei Schritten kreativ und narrativ schreibend durchspielen. Hierzu wurden sie wieder in vier Gruppen eingeteilt und es wurde jeder Gruppe eine Jahreszeit zugeteilt. Im ersten Schritt wurden alle Teilnehmenden gebeten, in Form eines Haikus4 je eine einzelne Momentaufnahme (eine Szene, ein Bild, ein Eindruck, eine Beobachtung, ein Gefühl, ein Gedanke) von Hsiehs Selbstversuch festzuhalten. Die einzige Vorgabe war, dass diese Momentaufnahme vor dem Hintergrund der jeweiligen Jahreszeit verfasst werden sollte. Die so entstandenen Haikus (fünf pro Jahreszeit) wurden anschließend zu einer mosaikartigen Gesamterzählung des einjährigen Selbstversuchs zusammengetragen, wodurch dieser eine Struktur mit Anfang, Mitte und Schluss erhielt. Im zweiten Schritt wurde per Zufallsprinzip aus jeder Jahreszeit eine Momentaufnahme bestimmt, zu der nun ein ausführlicher narrativer Kontext verfasst werden sollte. Dazu wurde jeder Gruppe eine andere Jahreszeit zugeteilt und alle Teilnehmenden wurden gebeten, die ausgewählte Momentaufnahme ihrer neuen Jahreszeit auszuformulieren. (Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass niemand das eigene Haiku ausformuliert.) Hier war die einzige Vorgabe, dass diese Ausformulierung erzählend und in der dritten Person verfasst sein sollte. Anschließend wurden die so verfassten Erzählungen für alle anderen vorgetragen oder beschreibend zusammengefasst. Dies war der mit Abstand umfangreichste und intensivste Teil des Workshops, da hier die Teilnehmenden die eigene Geschichte eines anderen erzählen sollten und dabei sowohl für das große narrative Ganze als auch für die weitere narrative Entfaltung seiner Bausteine sensibilisiert wurden.

(4) Nachbereitung: Zum Abschluss des erzählenden Probehandelns und zur gemeinsamen Reflektion der dabei entstandenen Erzählung(en) sollten die Teilnehmenden die letzten drei Fragen aus dem ersten Abschnitt auch an diese fiktive Performance stellen und gemeinsam diskutieren: Welche Erfahrungen (vermutet ihr) hat er gemacht? Was (vermutet ihr) hat dieses Jahr mit ihm gemacht? Was macht es mit euch (sich das alles vorzustellen)?

(5) Abschlussdiskussion: Vor dem Hintergrund dieses fiktiven wie narrativen Selbstexperiments stand am Ende des Workshops schließlich eine ausführliche Besprechung der untersuchungsleitenden Fragestellung und ein kritischer Abgleich mit den alltäglichen Erfahrungen des anwesenden Arztes und des anwesenden Betroffenen: Wie(weit) können und müssen wir uns dauerhaftes und unberechenbares Kranksein vorstellen, wie(weit) können und müssen wir mit einem Erkrankten mitgehen, wie(weit) können und müssen wir sein Leiden teilen, um das alltägliche Leben eines individuellen MS-Betroffenen zu verstehen?

Diskutiert wurde daraufhin vor allem über die unterschiedlichen Lücken zwischen dem Wunsch, der Annahme und der Wirklichkeit, ein anderes Individuum in seinem persönlichen und existentiellen Erleben verstehen zu können, und über die Konsequenzen, die sich daraus für das Arzt-Patienten-Verhältnis ergeben. Zwar können wir den tatsächlichen Lerneffekt dieses Workshops bislang nicht ermessen und daher auch nicht nachweisen. Dennoch lässt sich sagen, dass die Rechnung von LET ME ... walk a mile in those shoes! insofern aufging, als es dank des doppelten Bodens des Versuchsaufbaus gelungen war, die Teilnehmenden in die Narration eines anderes Lebens und Leidens zu verstricken, ohne dabei in die überschätzte Ähnlichkeit abzurutschen. Indem sie versuchten, sich narrativ in eine Person einzufühlen, die selbst wiederum versucht, sich in die Lage eines MS-Erkrankten zu versetzen, um ein möglichst akkurates Verständnis des Lebens mit dieser Krankheit zu erhalten, konnten sich die Teilnehmenden zum einen mit der Problematik auseinandersetzen, dass deckungsgleiches Einfühlen in den anderen nicht möglich ist. Zum anderen konnten sie zugleich eine Möglichkeit erproben, wie man den anderen in seiner Person und seiner Existenz dennoch so gut wie möglich und so weit wie nötig verstehen und anerkennen kann: indem man sich auf Grundlage dessen, was man über ihn in Erfahrungen bringen kann, dessen eigene Geschichte erzählt.

Ein solches Erzählen der Geschichte des anderen sowie die dafür nötige Aufmerksamkeit für den anderen verlangen jedoch eine gewisse Einübung. Hierfür bieten sich literarische, filmische und künstlerische Werke wie die Performances von Hsieh besonders an, da sie einen ausreichenden Irritations- und Verfremdungsgehalt mit sich bringen, um nicht selbsterklärend zu sein und nicht durch vermeintliche Ähnlichkeit oberflächlich und voreilig begriffen zu werden.

Damit der Beobachter aktiv wird, darf die Vorhersage oder Rekonstruktion nicht vorab gegeben oder zu offensichtlich sein. Es muss ein Rest an Arbeit für den Beobachter bleiben, ein Spielraum, in dem der Beobachter gebraucht wird. (Breithaupt 2009, 11)

Hinzu kommt, dass an solchen Kunstwerken nicht nur die aktive Arbeit der Aufmerksamkeit und des Verstehens eingeübt werden kann, sondern sich dabei auch bisher ungeahnte Positionen und Perspektiven erarbeiten lassen. Denn der ästhetische Spielraum solcher Kunstwerke erlaubt es, sich über die vorherrschende „Aufteilung des Sinnlichen“ hinaus zu bewegen und damit die professionelle und persönliche Betriebsblindheit zu verlassen (vgl. Bleakley 2015, 72f.).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen hat LET ME ... walk a mile in those shoes! sein ambitioniertes Ziel durchaus erreicht. Allerdings haben wir dabei einen entscheidenden Punkt nicht ausreichend bedacht: Unserer Vorstellung nach sollten sich die angeregte Irritation und Verunsicherung der Teilnehmenden durch die ausführliche Abschlussdiskussion zu einem gleichermaßen professionellen wie persönlichen Problembewusstsein weiterentwickeln. Stattdessen wurde deutlich und auch explizit rückgemeldet, dass es zwar längst nicht allen, aber dennoch einigen Teilnehmenden schwerfiel, diese Verunsicherung leicht und lange auszuhalten, als wir die Ergebnisse des Workshops mit der alltäglichen ärztlichen Praxis in Verbindung setzten. Ihre Verunsicherung schlug daher in die entgegengesetzte Richtung um: in ein Bedürfnis nach direkten, Sicherheit gebenden Antworten und Handlungsanweisungen, die sie sich sowohl von dem anwesenden Betroffenen als auch von dem anwesenden Arzt erhofften. Die Sorge dieser Studierenden, sich den Patienten gegenüber falsch zu verhalten, und ihr Wunsch, wissen zu wollen, wie man es ihnen recht macht, trieben sie zurück in ein intuitives Vertrauen auf Ähnlichkeiten und auf die Deckungsgleichheit des einen mit dem anderen. Eine konsequente Nachfolgeveranstaltung von LET ME ... walk a mile in those shoes! sollte daher auch einen ersten überzeugenden Weg anbieten können, wie man mit einer Verunsicherung gegenüber dem Patienten umgehen kann, ohne in das bloße Wiedererkennen und in das Ausblenden seiner individuellen Existenz zurückzufallen.

6. Ausblick auf die nächsten Schritte

Unternahm Sick with ... einen ersten wichtigen Schritt, um die Anerkennung der existentiellen Dimension des Patienten einzuüben, so vollzog LET ME ... walk a mile in those shoes! einen nächsten wichtigen Schritt, um diese Anerkennung auch auf die Individualität dieser existentiellen Dimension zu erweitern. In beiden Veranstaltungen wurde dabei die entsprechend notwendige Aufmerksamkeit und Problematisierung über Narrationen angeregt und eingeübt. So verhalf bei Sick with ... das erzählende Probehandeln, selbst krank zu sein, dazu, einen Teil jener 80-90% der Erkrankung wahrzunehmen, die der Arzt gewöhnlich übersieht. Bei LET ME ... walk a mile in those shoes! wurde daraufhin die narrative (Re-)Konstruktion der Geschichte eines anderen als eine Art Grundhaltung eingeführt, von der aus ein eigenes, anerkennendes Verständnis von einem anderen Individuum entfaltet werden kann, ohne dabei auf überschätzte Ähnlichkeit und Deckungsgleichheit angewiesen zu sein.

In der weiteren Ausbildung genau dieser narrativen Einstellung gegenüber dem Anderen könnte nun die richtige Antwort darauf liegen, wie es weitergehen soll, d.h. wie sich ein überzeugender Weg finden lässt, der erstens erlaubt, die eigene Balance zwischen überschätzter Ähnlichkeit und unterschätzter Verunsicherung zu halten, und es zweitens ermöglicht, die Anerkennung der existentiellen und individuellen Dimensionen des Patienten konsequent in den ärztlichen Alltag zu überführen. Ein solcher Weg könnte sich durch die medizindidaktische Aneignung dessen eröffnen, was Breithaupt „narrative Empathie“ nennt und als „Parteinahme“ (Breithaupt 2009, 174) mit einem anderen beschreibt. Wie dieser Weg genau aussehen könnte und wohin er führen würde, können wir an dieser Stelle jedoch lediglich als bildhafte programmatische Zukunftsvision formulieren:

So würde der Arzt auf diesem Wege sowohl das Sick with ... als auch das LET ME ... walk a mile in those shoes! hinter sich lassen und müsste weder in die Haut noch in die Schuhe des Erkrankten schlüpfen. Stattdessen würde er sich im Zweischritt eines narrativen Walk with ... üben, das den Patienten im Rahmen von dessen eigener Lebens- und Leidensgeschichte wahrnimmt und dabei erstens laufend mitversteht, was die für den Arzt relevanten Sorgen und Konflikte des jeweiligen Patienten sind, und sich zweitens dafür entscheidet, den Patienten bei der Auseinandersetzung mit diesen Sorgen und Konflikten zu begleiten und ihn bei ihrer Bewältigung zu unterstützen. Dabei wissen sowohl der Patient als auch der Arzt, dass der Arzt an der Seite des Patienten steht – und nicht auf derselben Stelle. Denn die ärztliche Parteinahme verlangt weder eine vollkommene Identifikation noch eine uneingeschränkte Übereinstimmung mit dem Patienten und ist durchaus mit einer gewissen professionellen Distanz zu vereinbaren. Sie verlangt jedoch die Aufmerksamkeit für das und die Anerkennung dessen, was der Arzt für den einzelnen Patienten tun kann. Und sie verlangt vom Arzt, dass er sich dafür entscheidet, „[d]as Höchste, was ihm hier und da gelingt“ auch tatsächlich für eine bestimmte Zeit erreichen zu wollen: (narrativer) „Schicksalsgefährte zu werden mit dem Kranken“ (Jaspers 1999, 18).

Um dieses Ziel zu erreichen, müsste die in unseren Workshops angestrebte narrative Grundeinstellung des Arztes, den Patienten als Subjekt (s)einer Erzählung wahr- und ernstzunehmen, noch um zusätzliche narrative Kompetenzen ergänzt werden. Damit der Arzt nicht nur bereit, sondern auch befähigt ist, den Anderen so weit wie nötig und so gut wie möglich zu verstehen, braucht es auch die Einübung eines (bei der Narrativ Medicine aus dem „Close Reading“ abgeleiteten) „Attentive Listening“ (Charon et al. 2017, 166) sowie einer angemessenen Interpretationsleistung, um die Komplexität einer fremden Erzählung sinnvoll ab- und aufbauen zu können. Zugleich müsste der Arzt die Technik der narrativen (Re-)Konstruktion einer anderen Lebens- und Leidensgeschichte sowie das narrativen Probehandeln im Umgang mit seinen Patienten konsequent im ärztlichen Alltag verankern. Denn allein die Narration ermöglicht dem Arzt jene „einzigartige Mischung aus emotionaler Partizipation und kognitiver Distanz“ (Neumann 2000, 294), welche das Arztsein tagtäglich von ihm verlangt.

Literaturverzeichnis:

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Barthes, Roland (1981): Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M. [Aus dem Französischen von Michael Bischoff].

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Charon, Rita (2006): Narrative Medicine. Honoring the stories of illness. New York.

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Neumann, Michael (2000): „Erzählen. Einige anthropologische Überlegungen“. In: Ders. (Hg.): Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Symposium. München. S. 280-294.

Rancière, Jacques (2008): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin [Aus dem Französischen von Maria Muhle, Susanne Leeb, Jürgen Link].

Scheffel, Michael (2004): „Erzählen als anthropologische Universalie: Funktionen des Erzählens im Alltag und in der Literatur“. In: Rüdiger Zymner / Manfred Engel (Hg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn. S. 121-138.

Schmidt, Henk / Rikers, Remy (2007): „How expertise develops in medicine: knowledge encapsulation and illness script formation“. In: Medical Education 41(H. 12), S. 1133-1139.



Daniel Teufel, M.A.
TUM Medical Education Center (TUM MEC)
Fakultät für Medizin – Klinikum rechts der Isar
Technische Universität München
E-Mail: daniel.teufel@tum.de
URL: http://www.mec.med.tum.de

Maximilian Dorner
URL: http://www.maxdorner.de/

Prof. Dr. med. Pascal O. Berberat
TUM Medical Education Center (TUM MEC)
Fakultät für Medizin – Klinikum rechts der Isar
Technische Universität München
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1 Da die deutsche Sprache leider nicht über eine schreib- und lesefreundliche geschlechtsneutrale Zusammenfügung von Arzt und Ärztin verfügt, bitten wir um Verständnis, wenn im Folgenden stets nur von „Arzt“ und „Ärzten“ die Reden ist. Beide Begriffe sind in diesem Text ausdrücklich als geschlechtsneutrale und geschlechtsunabhängige Rollenbezeichnungen zu verstehen. Gleiches gilt für „Patient“ und „Patienten“ und alle weiteren Bezeichnungen, die nicht einer bestimmten Person gelten.

2 So setzt sich beispielsweise der mehrtägige Workshop LET ME ... keep you real! mit der ärztlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie der ärztlichen Wirklichkeitskonstruktion auseinander, während die einmalige Vorlesungseinheit LET ME ... know where you draw the line! das Wechselspiel zwischen allgemeiner Krankheitsauffassung und individuellem Krankheitserleben thematisiert und das monatlich stattfindende offene Seminar LET ME ... take a closer look! mithilfe ausgewählter Kunstwerke (Text, Bild, Film) einen scharfen Blick auf die einzelnen Dimensionen des menschlichen Wesens und Daseins wirft.

3 Vgl. http://www.tehchinghsieh.com (Stand April 2018).

4 Die japanische Gedichtform Haiku bietet sich durch ihren spielerischen und eingängigen Formzwang besonders an, Medizinstudierende an ein kreatives Schreiben und einen subjektiven Ausdruck heranzuführen, ohne dabei von Scham und Leistungsdruck gehemmt zu sein. Dazu stellen wir unserer Aufgabe an die Studierenden, ein eigenes Haiku zu verfassen, stets die folgenden Worte Roland Barthes zur Seite: „Im Haiku möchte man sagen, kosten Symbol, Metapher und Lehre beinahe nichts: ein paar Worte, ein Bild, ein Gefühl – wo unsere [westliche] Literatur gewöhnlich ein Gedicht, eine Entwicklung oder (im kurzen Genre) einen gestochenen Gedanken, kurz: eine lange rhetorische Arbeit verlangt. […] Sie haben das Recht, sagt der Haiku, belanglos, knapp und gewöhnlich zu sein. […] Sie haben das Recht, selbst (von Ihnen selbst ausgehend) zu bestimmen, was beachtenswert ist“ (Barthes 1981, 95).