Nina Schmidt

Autobiographische Krankheitserzählungen in der Gegenwartsliteratur: Siri Hustvedt, Paul Kalanithi, Verena Stefan

Illness requires narration: it fulfills a crucial role in the cooperation between patient and doctor, is demanded by one’s social environment, and emerges in the identity work triggered by a medical diagnosis (which in itself constitutes a first narrative model for the ill person to accept, rework or reject). This article examines how contemporary illness narratives recount such communication and how they reflect on the possibilities and limits of narration. It triangulates three life writing texts: Verena Stefan’s Fremdschläfer (2007) about the Swiss-German author’s own experience of breast cancer, Siri Hustvedt’s The Shaking Woman or a History of my Nerves (2010), describing the novelist’s quest for knowledge about the ambiguous shaking she displays, and Paul Kalanithi’s When Breath Becomes Air (2016), which focuses on the author’s role reversal (from doctor to patient) and the approach of his death from lung cancer. Narrative patterns and role models are being traced here; questions about voice and agency appear central in each text. What knowledge does such contemporary life writing hold, and what does it have to say about the dominant conceptualisations of states of health and illness?

Krankheit bedingt Narration: Sie ist nötig in der Kooperation von Patient(in) und Arzt/Ärztin, wird dem Menschen von seiner sozialen Umwelt abgefordert, und entsteht unwillkürlich in der Arbeit an Selbstbild und Lebensentwurf nach Erhalt einer medizinischen Diagnose, die Patient(inn)en gleichsam als erstes Erzählmuster angeboten wird. Der vorliegende komparatistische Beitrag untersucht aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive,1 wie autobiografische illness narratives der Gegenwart dieses Erzählen erzählen und wie sie die persönlichen wie gesellschaftlichen Möglichkeiten und Grenzen ihres eigenen Erzählens reflektieren. Von besonderem Interesse sind hier deshalb Fragen nach Stimme, Selbstermächtigung und Sprachlosigkeit, nach Erzählmustern (z.B. in Form von Intertexten, die Auskunft über literarische Vorbilder geben) und Erzählmotivationen.

Herangezogen werden dazu drei autobiografische Texte, nämlich Verena Stefans Fremdschläfer (2007), Siri Hustvedts The Shaking Woman or a History of my Nerves (2010) und Paul Kalanithis When Breath Becomes Air (2016).2 Die vergleichende Analyse fragt danach, welche erzählerischen Mittel Literatur heute einsetzt, um Kommunikation über Krankheit darzustellen. Untersucht werden soll aber auch, was in der Gesprächssituation möglicherweise ungesagt bleibt – und doch in Literatur als Kommunikation von und über Krankheit Ausdruck findet. Welches Wissen hat solch autobiografisches Schreiben, wie reflektiert (und destabilisiert) es die typischerweise immer noch dichotom gedachten Verhältnisse von Arzt/Ärztin zu Patient(in),3 von Gesundheit zu Krankheit? Die drei ausgesuchten Primärtexte verhandeln dabei ganz unterschiedliche Schreibsituationen: diejenige der feministischen Chronistin, die ihre Brustkrebserkrankung und -behandlung reflektiert (Stefan), die des Arztes, der selbst zum Patienten und schließlich Sterbenden wird (Kalanithi), und die der psychoanalytisch geprägten Autorin, die sich auf die Suche nach Erklärungen für ihre körperliche Reaktion auf den Tod des Vaters begibt (Hustvedt). Ihre Verfasser(innen) verkörpern damit zentrale Positionen in der gesellschaftlichen Verständigung über Gesundheit und Krankheit. In der Gegenüberstellung unterschiedlich europäisch bis nordamerikanisch geprägter Perspektiven deutet sich die heute vorhandene relative Vielfalt im Bereich illness narratives an.

Die Wunde zeigen

Literarisches Erzählen, welches aus persönlichem Erleben von Krankheit oder Behinderung entsteht, ist keine Selbstverständlichkeit in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften, die von Vertretern der disability studies als ableist bis disablist beschrieben werden (zu den Begriffen z.B. Bolt 2014, 172; Linton 1998, 9). Autor(inn)en riskieren mit der Veröffentlichung von Autobiografischem zu den Themen Krankheit, Behinderung und Sterblichkeit also auch immer etwas – ihren Ruf als Intellektuelle etwa, oder den Verlust der Deutungshoheit über ihr Erleben. Doch der Wunsch, dieses Erleben in Worte zu fassen (typischerweise retrospektiv, immer häufiger aber auch unmittelbarer), zu veröffentlichen und damit eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, setzt sich zusehends häufiger durch. Arthur Frank bietet in seiner einflussreichen Studie The Wounded Storyteller folgende Erklärung für diese Entwicklung an: „The possibility, even the necessity, of ill people telling their own stories has been set in place by the same modernist medicine that cannot contain these stories“ (2013, 8). Walter Erhart beschreibt in einem Überblicksaufsatz zur historischen Entwicklung des Verhältnisses von Literatur und Medizin gesellschaftliche Transformationen im 18. Jahrhundert (Stichworte sind: Disziplinierung/ Normierung, Säkularisierung), die sich ergänzend zur Erklärung heranziehen lassen. „Während der Kranke früher [...] als ein bloßer Ort ihn durchdringender, selbständiger Krankheiten galt“, resümiert Erhart, „rückt nun die je individuelle Geschichte des kranken Subjekts – seine Lebensführung, sein Krankheitsverlauf – in den Vordergrund“ (2004, 124). Und Rudolf Käser betont die „Spaltung des Diskurses über Krankheitserfahrung“ (2000, 324) in einen Laien- und einen Expertendiskurs in der westlichen Welt, auf die gerade autobiografisch motivierte Autor(inn)en reagieren.

Christoph Schlingensief zum Beispiel, der das im deutschsprachigen Raum vielleicht einflussreichste Krankheitsnarrativ der vergangenen Jahre lieferte, wurde es entgegen aller Widerstände zur persönlichen Notwendigkeit und zum Politikum, sein Leiden öffentlich zu diskutieren (vgl. Schmidt 2015). Mit Rückgriff auf Joseph Beuys formulierte er in seinem Krebstagebuch die Überzeugung: „Wer seine Wunde zeigt, dessen Seele wird gesund“ (2010, 197). Zitiert wird dabei via Beuys der „Topos der Ostentatio Vulnerum“ (Schappach 2012, 154), der auf das Vorzeigen der Wundmale Christi als Beweis von Glaubwürdigkeit und Integrität zurückgeht. Die Selbstoffenbarung ist bei Schlingensief Ausdruck seines Bemühens, authentisch mit Krankheit leben und schließlich sterben zu lernen.4 Sie ist Spiel mit der Figur des leidenden Sohnes Gottes als Identifikationsfigur, aber auch mit der konkreten Hoffnung verbunden, dass andere es ihm nachtun und ihr eigenes, andernfalls gesellschaftlich ‚unsichtbares’ Leiden in die Öffentlichkeit tragen, damit sich so insgesamt ein offenerer Diskurs über Krankheit und Sterben entwickelt.

Historische Wegbereiter für heutige Krankheitserzählungen sind die v.a. auf Krebs- und Aidserkrankungen fokussierten Texte der 1970er, 80er und 90er Jahre (vgl. z.B. Ricker-Abderhalden 1987; Anz 1989; Couser 1997; Käser 2000). Treffen Krankheitsnarrative noch immer regelmäßig auf die ausdrückliche Skepsis gerade deutschsprachiger Feuilletonist(inn)en (z.B. Angele 2009; Greiner 2014), begegnet die Öffentlichkeit Autor(inn)en, welche sich im Schreiben offensichtlicher dem konkreten, eigenen Sterben annähern (d.h. Autothanatografien produzieren) tendenziell mit mehr Zurückhaltung – und entwickelt oft ein hohes Maß an Bewunderung gerade für die männlichen Verfasser, deren Bild sich rasch medial verklärt (z.B. Mangold 2013).

Paul Kalanithis When Breath Becomes Air (2016)

Der US-amerikanische Neurochirurg Paul Kalanithi ist ein Autor, dem in den vergangenen zwei Jahren solch große Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist und der – besonders posthum – Überhöhung erfahren hat.5 Dies bildet sich anschaulich im Buch selbst ab, und zwar nicht nur in den Auszügen aus lobenden Rezensionen, die werbewirksam die ersten Seiten füllen, sondern auch im Vorwort von Abraham Verghese, einem der bekanntesten schreibenden Ärzte der US-amerikanischen Gegenwart. Vergheses Geleittext, welcher sich im Wesentlichen aus einer Begegnung der beiden in Stanford tätigen Mediziner speist, ist durchsetzt mit Pathos und religiöser Metaphorik. So vergleicht Verghese den verstorbenen, jüngeren Kollegen (bzw. dessen Wandlung vom Studenten der Literaturwissenschaften zum Humanmediziner) rückblickend mit der Figur des Apostel Paulus und dessen Entwicklung vom Christenverfolger zum Anhänger des Christentums (PK xiii). In dieser konkreten Bemühung des in der autobiografischen Literatur etablierten conversio-Motivs stilisiert er den Verstorbenen zum Heiligen. Die Figur des Arztes-als-Patient bleibt weiterhin, so zeigt sich hier, „a compelling cultural figure“ (Caruso Brown / Garden 2017, 502). In der emotionalisierten Erinnerung Vergheses trug Kalanithi am Tag ihres Gesprächs einen dichten „prophet’s beard“ (PK xii), als unter Medizinstudent(inn)en beliebter Ausbilder begleiteten Kalanithi im Arbeitsalltag regelrechte „Messdiener“ („acolytes“ im englischen Original; PK xiii).6

In seiner Gesamtheit preist das Vorwort den autobiografischen Text, den es ankündigt, auf diese Weise als lesenswert an. Aussagen wie „I was struck by how easily he could have been an English professor“ (PK xiii) und die Beschreibung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten als „stunning“, „powerful“ und „unforgettable“ (PK xv, Hervorh. im Original) tragen außerdem dazu bei. Verghese, selbst Bestsellerautor, bürgt so für die Qualität und Tiefe von Kalanithis Text und führt den Autor und gleichzeitigen Protagonisten von When Breath Becomes Air als vielseitig begabten, außergewöhnlich gebildeten Helden ein.7 Die Lizenz zum autobiografischen Schreiben ist damit rückwirkend wirkungsvoll erteilt. Aber wie reflektiert der Autor nach der Diagnose, die am Anfang steht und die den Leser(inne)n als Eigendiagnose präsentiert wird, sein Selbstbild im Text; wie beurteilt er die eigenen vergangenen Handlungen und Überzeugungen unter so drastisch geänderten Vorzeichen?

Kalanithis eigener Text besteht aus einem Prolog und zwei Kapiteln, deren ÜberschriftenPart I: In Perfect Health I Begin und Part II: Cease Not till Death lauten. Damit zitieren sie Walt Whitman’s Song of Myself: „I, now thirty-seven years old in perfect health begin, / Hoping to cease not till death“ (1921, 30).8 Aus ihnen spricht der Wunsch, die Welt bis zuletzt aktiv mitzugestalten; ein Wunsch, der sich in seiner Entscheidung, auch erkrankt als Chirurg weiterzuarbeiten, wiederfindet. Kalanithi schildert: „[E]ven if I’m dying, until I actually die, I am still living“ (PK 150). Die chiastische Struktur der Überschriften findet sich darüber hinaus in der Struktur des Textes insgesamt wieder. Während das erste Kapitel den Blick zurückwirft und von der Kindheit ausgehend die Geschichte einer Identitätsbildung erzählt, durchkreuzt das zweite Kapitel, das den im Prolog geschilderten Moment der Diagnose wieder aufnimmt und von dort ausgehend weitererzählt, neben Kalanithis Plänen für die Zukunft auch einige der im ersten Teil dargelegten Ansichten aus jüngeren Jahren.

Die Whitman’schen Zeilen deuten auf einen weiteren Aspekt hin, nämlich die Rückbesinnung des erkrankten Arztes und werdenden Autors auf klassische, kanonisierte Literatur (u.a. die Bibel, Beckett, T. S. Eliot, Joyce, Tolstoi) sowie seine Hinwendung zu Selbstzeugnissen aus berühmter (Augustinus, Montaigne) ebenso wie weniger bekannter Feder.9 Literarische Anspielungen und Zitate durchziehen das gesamte Buch. Als Selbsterfahrung gibt ihm Krankheit einen deutlichen Schreibimpuls. Die Auseinandersetzung mit dem Krebs stellt sich heraus als „one of the many moments in life where you must give an account of yourself, provide a ledger of what you have been, and done, and meant to the world“ (PK 199); machbar erscheint diese Art des Bilanzierens jedoch nur mit den Worten anderer Autoren im Rücken. Lesend sucht Kalanithi in den autobiografischen ebenso wie fiktionalen Texten anderer – Ärzte, Patienten, Schriftsteller – nach einem Vokabular „with which to make sense of death, to find a way to begin defining myself and inching forward again“ (PK 148). Denn die Medizin kann ihm ein solches nicht bieten. Der Soziologe Frank erklärt: „Professional medicine [...] institutionalizes having nothing to say beyond the language of survival. Its studied self-restriction to that language is the core of its banality of heroism (2013, 95f.). Die Fachliteratur zu seinem eigenen Fall verwirrt den Patienten Kalanithi entsprechend mehr, als dass sie ihm hilft (PK 126). Kalanithis alternative Literaturauswahl verrät dabei, dass es eine größtenteils männliche Tradition ist, in der er sich verortet.

Der Prolog eröffnet in medias res, und schildert ausgehend von Kalanithis Selbstdiagnose anhand von CT-Aufnahmen die Konfrontation des Arztes mit der eigenen Patientenrolle. Für den aufstrebenden Neurochirurgen ist die Situation so surreal, dass sie inszeniert wirkt; das vermittelt die auffällige Theatermetaphorik, die der life writer hier (wie auch an späterer Stelle) einsetzt.10 Er fühlt sich wie in eine fiktionale Welt versetzt. Ehefrau Lucy spricht in seiner Formulierung „quietly, as if reading from a script“ (PK 4), und Kalanithi thematisiert früh und immer wieder11 die eigene dramatische Fallhöhe zum Zeitpunkt der Diagnose:

My journey from medical student to professor of neurosurgery was almost complete: after ten years of relentless training, I was determined to persevere for the next fifteen months, until residency ended. I had earned the respect of my seniors, won prestigious national awards, and was fielding job offers from several major universities. […] At age thirty-six, I had reached the mountaintop. (PK 6f.)

Die Lungenkrebsdiagnose bricht hinein in einen Abschnitt seines Lebens, in dem er sich einem „coherent worldview and a sense of my place in it“ (PK 113) nahe fühlte.

Der Schauplatz des Geschehens sowie das Kostüm, das er bei der Diagnose trägt, sind ihm als unfreiwilligem Hauptdarsteller erwähnenswert, weil ihm beides so falsch wie vertraut erscheint: „I wasn’t in the radiology suit, wearing my scrubs and white coat. I was dressed in a patient’s gown” (PK 3); und schließlich: I received the plastic arm bracelet all patients wear, put on the familiar light blue hospital gown, walked past the nurses I knew by name, and was checked into a room – the same room where I had seen hundreds of patients over the years (PK 16). Damit ist zumindest äußerlich die Transformation komplett und sein Status als Patient, und damit einem von vielen, visuell unmissverständlich markiert. Das hat direkte Auswirkungen auf die Kommunikation zwischen ihm und dem restlichen medizinischen Personal. Klar wird dem erlebenden Ich dies, als eine ihm unbekannte Krankenschwester im Vorbeilaufen deklariert: „The doctor will be in soon“ (PK 16).

When Breath Becomes Air rekurriert immer wieder auf die Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient(in), in Teil 1 v.a. aus Arztperspektive, in Teil 2 aus Patientensicht. Das Buch thematisiert die immense Bedeutung dieser Verständigung ebenso wie die Schwierigkeiten, denen das Gespräch im Klinikalltag ausgesetzt ist.12 „When there’s no place for the scalpel“, wendet sich Kalanithi offensichtlich an die jüngeren Mediziner unter seinen Leser(inne)n, „words are the surgeon’s only tool“ (PK 87). Der Mann mit der erfolgreichen Bildungskarriere, der sein Leben bis zur Lungenkrebs-Diagnose als „the linear sum of [his] choices“ (PK 180) betrachten durfte und der selbst als Arzt die Rolle des „modernist hero“ im Sinne Franks (Frank 2013, 134) verkörperte (dabei einer in der Ideologie der Aufklärung begründeten Fortschrittsgläubigkeit erliegend, die sich v.a. im ersten Teil in Formulierungen wie der eben zitierten auch rhetorisch niederschlägt), findet sich der eigenen Ärzteschaft erst einmal denkwürdig wortlos gegenüber. Im ersten Gespräch mit der Onkologin Emma, dessen Schilderung am Anfang von Kapitel 2 steht (PK 121-124), ist nun er derjenige, der verwirrt ist, Schwierigkeiten hat seiner Ärztin zu folgen und aus Gründen, die er nicht genauer bestimmen kann, stumm bleibt.13 In der Nacherzählung dieser Unterhaltung wird seine innere Reaktion, die gekennzeichnet ist von einer Vielzahl an Fragen, aus der Perspektive des erlebenden Ich wiedergegeben. Seine unausgesprochen bleibenden Erwiderungen sind kursiv von der Schilderung des äußeren Geschehens abgesetzt. Die Diskrepanz zwischen dem, was Kalanithis erlebendes Ich gerne erfahren würde und dem, was der Arzt als Patient tatsächlich (nicht) sagt, wird Leserin und Leser so besonders deutlich vor Augen geführt.

Im Verhältnis von Arzt/Ärztin und Patient(in) ist seine Stellung eine drastisch veränderte. Er illustriert dies mit einer grammatischen Metapher:

I had passed from the subject to the direct object of every sentence of my life. In fourteenth-century philosophy, the word patient simply meant the object of an action, and I felt like one. As a doctor, I was an agent, a cause; as a patient, I was merely something to which things happened. (PK 141f.)

Die unerwarteten Veränderungen, die dieser radikale Rollenwechsel für ihn, genauer: für seine Identität und seinen Lebensentwurf bedeuten, fasst der Autor mit einem der Bibel entlehnten Bild: „Instead of being the pastoral figure aiding a life transition, I found myself the sheep, lost and confused“ (PK 120).

Aus der Fülle an erlerntem Fachwissen und Handwerk ragt eine Erfahrung heraus, die jede(r) werdende Mediziner(in) im Studium macht, und die für Kalanithi den entscheidenden Unterschied zwischen der Gemeinschaft der Ärzte und Ärztinnen und ihren potentiellen Patient(inn)en markiert: Es ist die Begegnung mit Leichen im Anatomieunterricht und deren fortschreitendes Zerlegen über den Verlauf eines – prägenden – Semesters (PK 43-50). Kalanithi beschreibt die unumgängliche Lernerfahrung als tabubrechenden Initiationsritus: Cadaver dissection is a medical rite of passage and a trespass on the sacrosanct, engendering a legion of feelings: from revulsion, exhilaration, nausea, frustration, and awe to, as time passes, the mere tedium of academic exercise (PK 44). Die Tätigkeit separiert die jungen Ärztinnen und Ärzte von anderen, gleichzeitig bringt sie ihnen die „total deadness and total humanness“ (PK 45) eines jeden toten menschlichen Körpers näher als den meisten. Doch legt sie auch den Grundstein für die grundlegende Entfremdung zwischen Arzt/Ärztin auf der einen und den Patient(inn)en auf der anderen Seite. Arzt und Ärztin müssen als Handwerker(in) zur souveränen Bewältigung der Aufgabe, eine Sektion durchzuführen, die Identifikation mit dem von ihnen bearbeiteten Körper überwinden. Eben darin liegt die moralische Verfehlung des Berufsstandes; paradoxerweise geht sie einher mit dem Streben danach, heilend zu wirken.

An die absolute Menschlichkeit aller Patient(inn)en zu erinnern ist deshalb eines der Anliegen, die Kalanithi mit dem Buch als Ganzem verfolgt. Ein weiteres ist, das den Patient(inn)en ganz eigene Wissen herauszustreichen.14 Und Kalanithi betont als jemand, der das berufliche Wissen des Arztes in seiner Position als life writer mit dem Erleben von Patient(inn)en abgleichen kann:

As a doctor, you have a sense of what it’s like to be sick, but until you’ve gone through it yourself, you don’t really know. […] When you get an IV placed, for example, you can actually taste the salt when they start infusing it. They tell me that this happens to everybody, but even after eleven years in medicine, I had never known. (PK 140)

Dieses im Erleben begründete Wissen der Kranken ist ebenso exklusiv wie das erlernte Wissen der Ärzte und Ärztinnen und sollte, so ist hier impliziert, ebenso wertgeschätzt werden. Krankheit zu erzählen wie Kalanithi es mit When Breath Becomes Air tut (als jemand, der die Möglichkeit dazu hat, weil er als Absolvent elitärer Universitäten a priori mit einer Stimme privilegiert ist, diese nicht erst noch einfordern muss) ist die Voraussetzung dafür, dass das Wissen der Patient(inn)en überhaupt Beachtung finden kann. Es muss erst einmal kommuniziert werden.

Siri Hustvedts The Shaking Woman or A History of My Nerves (2010)

Siri Hustvedts ersten life writing-Text in Langform treibt die Hierarchisierung und Kompartmentalisierung von Wissen ähnlich um: In The Shaking Woman or A History of My Nerves, der Dokumentation einer intellektuellen Spurensuche nach Gründen für das mysteriöse Zittern, das sie nach dem Tod ihres Vaters ergreift, behandelt die Autorin die verschiedenen Wissensformen der diversen natur- und geisteswissenschaftlichen Fächer gleichberechtigter als dies im heutigen Denken üblich ist; sie verweist ideologiekritisch auf die Vorannahmen, Unklarheiten und Erkenntnisgrenzen einer heutigen Medizin der Hochtechnologie (z.B. SH 32ff.) und hinterfragt die verbreitete, fortschrittsgläubige Unterteilung von medizinisch-kulturellem Wissen in gestrig und damit obsolet auf der einen, modern und deshalb automatisch valide auf der anderen Seite. Jason Tougaw zählt The Shaking Woman zu den ,brain memoirs‘. So bezeichnet er ein sich entlang der Grenzen medizinischen Wissens neu formierendes Subgenre von Krankheitserzählungen, das sich im Erzählen neurologischer Differenz komplexen Sachverhalten wie z.B. der Beziehung von Vorgängen im Gehirn zur menschlichen Identität widmet. Es weist in seinen Augen das Potential auf, Gehirnforschung und klinische Praxis zu beeinflussen (vgl. Tougaw 2012, 173). Mit Frank (2013) lässt sich Hustvedts Text grob den quest narratives zuordnen; mit Einschränkungen, wie Reiffenrath gut darstellt (2016, 243f.). In mancher Hinsicht verkörpert Hustvedt jene Art Universalgelehrtheit, nach der auch Kalanithi Zeit seines Lebens strebte (PK 72). Disziplin- und Diskursgrenzen überschreitend setzt die promovierte Literaturwissenschaftlerin und erfolgreiche Romanautorin in ihrem autobiografischen Essay eigene Erinnerungen und Deutungsversuche zu Darstellungen aus der Literatur und Erklärungsangeboten der Psychoanalyse, Neurologie, Psychiatrie und Philosophie in Beziehung.15 Ihr Zittern aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten ist der Autorin wichtig, da sie um die Kraft der Perspektive weiß: „Disciplinary lenses inevitably inform perception“ (SH 28).16

Der Text ist stilistisch markant zersetzt von unzähligen buts, die ihn in seinem Erkenntnisinteresse immer weitertreiben. Und so nimmt Hustvedt Leserin und Leser mit auf eine gedankliche Reise durch die Wissensgeschichte(n), an deren Ende ein in mancher Hinsicht antizipiertes Scheitern steht.17 Keine klare Ursache für die Anfälle kann ausgemacht werden – einfache Antworten auf Fragen wie diejenige, ob sie eher psychosomatisch zu werten oder doch neurologischer Natur sind, findet Hustvedt konsequenterweise bis zum Schluss nicht. Stattdessen schlägt sie am Ende dieser sich produktiv im Kreis drehenden Suche18 den Bogen zurück zum Anfang, wiederholt: „In May of 2006, I stood outside under a cloudless blue sky and started to speak about my father [...]“ (SH 199; vgl. dazu die Formulierung auf S. 3). In der letztlichen Unergründlichkeit ihrer Symptome liegt jedoch, so erkennt die Erzählstimme im deiktischen Jetzt des Schlusses, zugleich die Chance für eine Versöhnung mit den spät in ihr Leben getretenen Schüttelkrämpfen. Der Satz, der die Suche beendet und das Buch beschließt, lautet daher: „I am the shaking woman“ (SH 199).

Das Politische an der Exploration Hustvedts ist, dass sie aufzeigt, wie sehr die Etikettierung mit möglichen Diagnosen den Blick auf den Menschen, der sich mit bestimmten Symptomen präsentiert, bestimmt – und ihn selbst in seiner Identität tief beeinflussen kann. Dass sie als Frau Symptome zeigt, die an historische Konstruktionen weiblicher Hysterie sowie an Epilepsie, eine lange mit Angst und Aberglaube besetzte Krankheit, erinnern, lässt Reflexionen über das traditionelle Machtgefälle zwischen Patientinnen und typischerweise männlichen Ärzten, über Zusammenhänge von Krankheit, Gender und Glaubwürdigkeit sowie über Diagnostik und Stigma besonders relevant werden. The Shaking Woman verdeutlicht, dass die Interpretations- und Benennungsarbeit der Medizin immer auch einem kulturellen und zeithistorischen Zusammenhang entstammt.

Im Unterschied zu Kalanithi steht Hustvedt kein klares Krankheitsbild zur Einschätzung ihrer Symptome zur Verfügung. Ebenso besteht kein dringender Therapiebedarf, da ihre Krankheit nur indirekt mit Sterblichkeit zu tun hat (und zwar mit der des Vaters mehr als mit ihrer eigenen), und in erster Linie eine Konfrontation mit Chronizität darstellt. Sie verspürt keine direkten körperlichen Schmerzen und anfänglich auch keinen Leidensdruck. Dies schafft natürlich ganz andere Erzählvoraussetzungen. Hustvedts Begegnungen mit Repräsentant(inn)en der verschiedenen Zweige der Medizin, die sie zur Einordnung ihrer Symptome konsultiert, sind signifikanterweise erst einmal imaginierte. I could go to a neurologist to see if I had come down with epilepsy (SH 9), heißt es früh im Text, doch den Gedanken verwirft Hustvedt schnell wieder.19 Stattdessen schließt sich ein rein hypothetischer Ausflug in die Neurologie an, der der Autorin, die sich hier – noch relativ zu Beginn ihrer Suche – als voreingenommen offenbart, nicht das bietet, nach dem sie sucht: „[A]fter my imaginary visit to the neurologist turned up nothing of interest, I decided to see a psychoanalyst“ (SH 19). Doch wie es sich vielleicht für eine Schriftstellerin gehört, ist auch der Psychoanalytiker erst einmal ein fiktiver. Ganz den Klischees entsprechend schreibt Hustvedt: „My imaginary analyst is a man. I choose a man because he would be a paternal creature, an echo of my father, who is the ghost somehow involved in my shaking (SH 20). Von diesen Sätzen ausgehend entwirft – und parodiert – Hustvedt (eigentlich Sympathisantin der Denkschule) den idealtypischen Verlauf einer klassischen Analyse, die sie abschließend „a peculiar form of storytelling“ (SH 21) nennt. Wie im Buch insgesamt behält sie die Deutungshoheit hier auf diese Weise für sich. Katja Sarkowsky erklärt den Gebrauch des Ironischen/ Karikaturesken in dieser Passage: [T]he irony is not only a criticism [of psychoanalytic dogma; N. Sch.] but also a self-irony that takes up the autobiographical I’s own internalization of (and hope in) a dominant narrative of the talking cure‘“ (2016, 364). Und obwohl sie sich im Laufe der Zeit einige Male zu tatsächlichen Arztbesuchen durchringt,20 verlässt sich die Autorin in erster Linie auf die Erzählkunst mit ihren Methoden des Lesens, (Be-)Schreibens und Synthetisierens als Weg zur (Selbst-)Erkenntnis. Unter Nutzung dieser Mittel macht Hustvedt für Leserin und Leser nachvollziehbar, wie sie den wiederkehrenden körperlichen Kontrollverlust, den sie erlebt und für den die Medizin im Falle Hustvedts letztlich tatsächlich keine klärende Diagnose stellen kann, akzeptiert und in ihr Selbstbild integriert hat. Sie weiß, wie ‚unamerikanisch’ das ist (vgl. Hustvedt 2012, 24; vgl. im Kontrast dazu Käser über Sontag: Käser 2000, 328f.). Die Veröffentlichung des Textes ist auch ein Werben um die Toleranz des Lesers bzw. der Leserin für eine solche Identität.

Der eigenen Akzeptanz der ‚Krankheit’ voraus geht die intensive Beschäftigung der Autorin mit den Begriffen, mit denen die Medizin ihr Zittern möglicherweise bezeichnen würde. Wie Kalanithi sucht auch Hustvedt im Schreiben nach einem passenden Vokabular – nicht zum Sprechen über den Tod, aber um ihr Zittern sprachlich adäquat fassen und ihr Erleben der Anfälle sowie die Reflexion über diese mitteilbar machen zu können. Sie entwickelt ein solches Vokabular für sich wie für Leserin und Leser, indem sie die Termini und Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen, mit denen sie umgeht, in eigene Formulierungen übersetzt und einer breiteren Leserschaft zugänglich macht.21 Gerade zu Anfang des Buches ist ihre Wortwahl dezidiert keine fachsprachliche, sondern erst einmal eher vage, beschreibend und allgemeinsprachlich; vom entscheidenden ersten Anfall auf der Trauerfeier im Mai 2006 für den toten Vater spricht sie z.B. als einer „mysterious bodily transformation“ (SH 3). Diese Formulierung vermeidet bewusst eine allzu frühe Pathologisierung. Und auch im Titel The Shaking Woman or A History of My Nerves findet sich keine medizinische Terminologie. Im Laufe des Textes können Leserin und Leser die Autorin dann dabei beobachten, wie sie verschiedenste Diagnoseetiketten ‚ausprobiert’. Indem sie dies tut, führt sie gleichzeitig den Effekt solcher Benennungen vor. Dass diese sowohl als positiv wie auch negativ erlebt werden können, oder, um es in der Sprache der disability studies auszudrücken, sowohl enabling als auch disabling sein können, wird deutlich. In jedem Falle gilt: „suggestion is powerful“ (SH 46).

Zunächst fühlt sich Hustvedt zu jenen Zuschreibungen hingezogen, die zu ihren eigenen Vorstellungen möglicher Ursachen zu passen scheinen. So beichtet die Autorin ihrer Leserschaft früh folgende Selbstauslegung: I have a vague sense that there are hidden recesses of my personality that I am reluctant to penetrate. Maybe that’s the part of me that shook“ (SH 19). Wenig später im Text schreibt sie, sie habe „a grieving problem“ (SH 27) wie Pierre Janets Patientin Irène, mit der sie sich vergleicht, und die – wie Hustvedt an diesem Punkt auch von sich selbst vermutet (SH 10) – in der Begrifflichkeit der Jahrhundertwende an Hysterie oder, in modernerer Formulierung, an einer „conversion disorder“ (SH 11) litt.22 Im Laufe der Zeit und mit fortschreitenden Recherchen erwägt (und verwirft) Hustvedt für sich weitere, so diverse Leiden – und Labels – wie „panic disorder“ (SH 31), „epilepsy“ (SH 156) oder „stage fright“ (SH 41), die teils von anderen, u.a. den ominösen echten Ärzt(inn)en, an sie herangetragen werden.

Indem sie The Shaking Woman verfasst und veröffentlicht, macht Hustvedt sich selbst zum Exemplum und damit, aus dem eigenen Erleben heraus, zum Lehrstück über die Konsequenzen medizinischer Klassifikation, über die Grenzen des eigenen Wissens und die der vermeintlich ‚harten’ Wissenschaften. Im Erzählmuster der Fallstudie treffen sich die Erlebnisse der Autorin und die Schicksale von Patient(inn)en, häufig Frauen wie Irène, auf die sie lesend stößt. Sie reagiert auf diese Geschichten anderer stark empathisch und räumt ihnen im eigenen Schreiben entsprechend Platz ein. Hustvedt imaginiert dabei v.a. das innere Erleben dieser Menschen im Kontext ihrer Lebensläufe, also genau den Aspekt, der in der Medizingeschichtsschreibung ausgespart blieb und bleibt.

Die Krankengeschichten, die sie besonders interessieren, sind ähnlich schwierig zu erklären wie ihre eigene; die Krankheiten, von denen sie berichten, scheinen häufig psychosomatischer Ausprägung zu sein. Fälle, die unerklärlich erscheinen und Leser(inne)n der rein zweckmäßigen Dokumentation für Forschung und/oder Behandlung typischerweise fremd bleiben, füllt sie mit Leben, bringt ihnen Verständnis entgegen. So beispielsweise, wenn Hustvedt die telegrammstilartig verfasste Fallskizze einer in einer Studie der Zeitschrift Brain erwähnten, anonymisierten Frau erst zitiert, um sie dann wie folgt beginnend umzuformulieren: „Poor V.A. Imagine the grief of losing a child to heart problems and then falling in love with a man who has a heart attack after being falsely accused of what appears to be the violence against or sexual molestation of some young person“ (SH 80, Hervorh. im Original). Der Imperativ „Imagine“ und die Kursivierungen wirken emphatisch. Die Autorin fordert ihre Leserschaft hier dazu auf, inne zu halten, sich für den Moment wirklich in die Situation hineinzuversetzen, in der V.A. sich befindet, und sich klarzumachen, wie relevant diese kontextuellen Informationen, die uns an dieser Stelle der Studie so knapp und im Duktus wissenschaftlicher Unbeteiligtheit mitgeteilt werden, für das Leiden der Frau sein müssen – wie groß ihr Leid sein muss.

Die psychosomatischen Symptome der V.A. und anderer, mit denen sie sich als shaking woman so leicht identifizieren kann, interpretiert Hustvedt vom rhetorischen Standpunkt der Ärztin, den sie sich einzunehmen erlaubt, so: „Their symptoms are a metaphorical expression for what they can’t say: It’s too much. I can’t bear up. If I really pour out my grief and sadness, I’ll fall apart(SH 80, Hervorh. im Original). Die Leser(innen) können Empathie mit den Leidenden empfinden, über ihre eigene Verletzlichkeit reflektieren oder Hustvedts Statement über eine dritte Person Plural (‚they‘) auch als mögliche Aussage der Autorin über sich selbst begreifen.

Der Übergang vom Sprechen über andere zum Sprechen über das Selbst ist hier, wie so häufig im Werk Hustvedts, fließend (vgl. Hartmann et al. 2016, 7f.). Als ähnlich relativ stellt die Autorin andere Grenzziehungen dar. Kalanithi nicht unähnlich spricht Hustvedt mal mehr aus der Perspektive der Patientin, mal mehr aus der der Medizinerin/Wissenschaftlerin. Auch sie ist als Theoretikerin der eigenen Symptomatik in gewisser Weise „a doctor and a patient in the same body“ (SH 30). Denn im Gegensatz zu den historischen Patient(inn)en, deren Geschichten sie mit einbringt, hat sie als Autorin gesellschaftlich eine Stimme, und kann bzw. darf diese erheben. Intellektuelle Autorität und öffentliches Ansehen sind ihr zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von The Shaking Woman relativ sicher. Außerdem hat sie Zugang zu universitären Lehrveranstaltungen und Bibliotheken sowie den Fachjournalen verschiedenster akademischer Fächer. Im Akt bewusster autobiografischer Selbstermächtigung schreibt sie die Geschichte ihrer Krankheit, so dass dies nicht, wie in den Fällen Irènes, V.A.s und so vieler anderer, allein den Ärzten überlassen bleibt.

Und so nutzt sie die Möglichkeit, Dichotomien wie die von Arzt bzw. Ärztin und Patient(in), aber auch allgemeiner die von Gesundheit und Krankheit sowie von Natur- und Geisteswissenschaften von innen heraus zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Anhand ihrer eigenen Geschichte führt Hustvedt vor, wie komplex der Weg zu einer gültigen Diagnose sein kann und dass keineswegs jedes Leiden einer medizinischen Kategorie zugeordnet werden kann oder sollte: „the ups and downs of my own nervous system and my encounters with doctors illustrate the ambiguities of illness and diagnosis“ (SH 188). Noch weiter geht sie an anderer Stelle und lässt die Rede von Krankheit vollständig hinter sich: „At one time or another all of us go to pieces, and it isn’t necessarily a bad thing. That state of disunity may allow a flexible and open creativity that is part of being healthy (SH 80f.).23 Damit postuliert The Shaking Woman Krankheitserfahrungen als natürlichen, wichtigen Teil menschlichen Erlebens und persönlicher Entwicklung und macht Krankheit rhetorisch wirkungsvoll zu einem Bestandteil psychischer Gesundheit.

Verena Stefans Fremdschläfer (2007)

„Mit Krankheit kennst du dich aus. Von Krebs weißt du nichts. Du hast dich nicht gefürchtet, nicht damit gerechnet. Du willst nicht glauben, daß Krebs zum Leben gehört wie du selbst“ (VS 103), so lesen wir in Verena Stefans autobiografischem Roman Fremdschläfer. Stefan stimmt damit einerseits Hustvedt zu (dass Krankheit zum Leben gehört), andererseits erinnert sie aber auch daran, dass Krankheit eben nicht gleich Krankheit ist und gerade potenziell tödlich verlaufende Erkrankungen eine ganz existenzielle Bedrohung des Selbst darstellen – die das Individuum wie auch die Gesellschaft als Gesamtheit typischerweise verdrängen. Krebserkrankungen haben ihre eigenen Spezifika, ihre eigenen Geschichten.24 Die Autorin, die mit ihrer ersten autobiografischen Veröffentlichung Häutungen (1975) einen zentralen Text der neuen Frauenbewegung geschrieben hat und mit ihm in die germanistische Literaturgeschichtsschreibung eingegangen ist, verwebt in dem 32 Jahre späteren, wieder sehr persönlich-politischen Buch Fremdschläfer die Geschichte ihrer Migration nach Kanada mit der ihres Vaters als Sudetendeutscher in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, die auf die Probe gestellte Beziehung ihrer Eltern mit ihrer eigenen zur kanadischen Geliebten, und sie vergleicht ihre Desorientierung als Neuankömmling in Kanada mit dem Orientierungsverlust, den sie plötzlich als Brustkrebspatientin im noch neuen Land erfährt.

Was „unendlich fern“ (VS 23) war, kommt ihr nun bedrohlich nahe; es wandert, so die Vorstellung im Text, in ihren Körper ein (z.B. VS 41). Der Begriff des Fremdschläfers, in der schweizerischen Rechtssprache eine Bezeichnung für „Asylanten, die an einem anderen Schlafplatz als dem offiziell zugewiesenen angetroffen werden“ (VS 218), wird in Stefans Erzählung auf vielfache Weise als Leitmetapher produktiv. Stefan greift darin auch Susan Sontags berühmtes Bild vom Kranksein als Leben mit neuer, „lästige[r]“ Staatsbürgerschaft auf (VS 104), welches diese einst dem Essay Illness as Metaphor voranstellte (vgl. Sontag 2002, 3). Als ein Bild, das ihrer Lebensrealität so erstaunlich nahekommt, spinnt Stefan es kreativ weiter. Sie ästhetisiert ihr Erleben damit auf einer Art, die für Sontag selbst noch unvorstellbar war („unimaginable“; 2002, 20), und von der die Kulturkritikerin in ihrem Essay strikt abriet.

Es ist nicht der einzige Bezug zu Schriften einer feministischen Ahnin und Vorläuferin im Schreiben über Krankheit in Fremdschläfer. In ihrer Darstellung der Brustkrebserfahrung baut sie außer auf Sontag v.a. auf Virginia Woolf und Audre Lorde (vgl. Schmidt 2016, 131-135). Woolfs On Being Ill inspiriert als programmatischer Text, der begann, für das Thema Krankheit Raum in der Literatur einzufordern, und der sich auf die Suche begibt nach einer Sprache, mit der das Erleben von Krankheit ausgedrückt werden kann (vgl. Woolf 2002). Wie schon Woolf stellt auch Stefan fest, dass das Erleben von Krankheit nicht isoliert vom Rest der eigenen Lebenserfahrungen betrachtet werden kann, es hat Auswirkungen „in alle Richtungen“ (VS 27); und so ordnet sie mit Fremdschläfer ihre Lebensfäden insgesamt neu.

Lordes The Cancer Journals ist wichtig als einflussreiches Dokument intellektuellen Widerstandes gegen normalisierende Brustrekonstruktionen nach Mastektomien und allgemeiner als Aufruf an Frauen, sich von gesellschaftlichen Erwartungen (wie derjenigen, dass Frauen ihre Körper ans heteronormative – und ableistische – Schönheitsideal anpassen wollen bzw. sollen) freizumachen, die Stimme zu erheben und die Gemeinschaft und den Austausch mit anderen Frauen zu suchen (vgl. Lorde 1985). Wie die Dichterin, Aktivistin und Akademikerin Lorde hat Stefan als Lesbe im Leben häufig Exklusion erfahren (vgl. Lorde 1985, 4, 32; Oestreich 2008). Als Einwanderin und dann wieder als an Krebs Erkrankte gewinnen Gefühle des Fremdseins erneut an Raum – und an Facetten.

Ihr Feminismus und ihre lesbische Identität beeinflussen Stefans Verhältnis zum Krankheitsbild Brustkrebs, verkomplizieren auch ihre Einstellung der Schulmedizin und dem kanadischen Gesundheitssystem gegenüber:

Du fragst dich, ob Brustkrebs eine Frauenkrankheit sei und ob man eine Frau sei, wenn man Brustkrebs hat, oder ob Brustkrebs menschlich sei und eine Krankheit, die hauptsächlich Frauen betreffe, und wo du selber hingehörst mit der möglichen Krankheit, weder Frau noch Mann. (VS 28)

Sorgenvoll fügt sie sich diesem System, bleibt aber immer darauf bedacht, als Patientin nicht ihre „eigene[] Wahrheit“ (VS 73) aus den Augen zu verlieren.

Die Entdeckung des Knotens in einer ihrer Brüste hat sofortige, gewaltige Konsequenzen für die Ich-Erzählerin – die auch eine Du-, Man- und Wir-Erzählerin ist.25 Über die Zeit noch vor der offiziellen Diagnose, die auf den ersten Verdacht folgt, heißt es im Text:

Der Fremdkörper zieht bereits einen ellenlangen Schweif nach sich, Ärztinnen, Ärzte, Krankenschwestern mit vorsichtigem Tonfall, Märsche durch endlos lange Krankenhausflure zieht der Fremdkörper nach sich, hellblaue und hellgrüne hinten offene Nachthemden, tastende Hände [...]. (VS 42)

Es ist eine Reise ins Unbekannte, auf der die Erlebende nur reagieren kann; der Komet, als den sie den Krebs hier darstellt, diktiert die Handlungen aller plötzlich involvierten Parteien. Das Innere ihres Körpers wird in Stefans Imagination zum All, zu einer tiefen, breiten „Dunkelheit“ (VS 42), in die auch die medizinischen Experten, in deren Hände sie sich buchstäblich begibt, letztlich nur mittels Technologie vordringen können. „Du hast die Brüste vom Apparat durchstrahlen lassen, ohne etwas zu sehen, ungesehen bist du weggegangen, die Aufnahmen unter den Arm geklemmt, ohne gesehen zu haben, ohne zu wissen [...]“ (VS 30); so schildert Stefan retrospektiv einen Moment aus dieser Zeit, der exemplarisch für ihr Erleben dieser frühen Phase stehen kann. Ihr Blick als schreibende Patientin ist ein poetischer und, so verstehen wir, ein gänzlich anderer als der diagnostische der Ärzte und Ärztinnen. Aus der Perspektive der Betroffenen kann sie kaum nachvollziehen, was die Mediziner(innen) beim Röntgen oder Ultraschall in ihrem Inneren wirklich sehen; schlimmer jedoch ist, dass ihr anfangs jegliche Ahnung bezüglich einer möglichen Diagnose und damit verbundenen Prognose vorenthalten wird (VS 40f.). Ihre Vorsicht spricht zwar für die Ärzte und Ärztinnen, wie man bei Kalanithi (2016, 95, 134f.) nachlesen kann, doch belastet die in der Anamnese so bewusst eingeschränkte, einseitig verlaufende Kommunikation die Patientin sehr:

Der Arzt weicht aus, er könne keine Diagnose stellen, er sei kein Pathologe. Wieso also fragt er nach Knochenschmerzen, warum diese beiläufig gestellte Frage, die mitten ins Mark trifft, während du seitlich auf der Untersuchungsliege ausharrst, die dir sofort wie eine Totenbahre vorkommt. (VS 41)

Die letztliche Mitteilung der Diagnose und damit der Gewissheit, dass es Krebs ist (VS 59f.), trifft schwer und unvermittelt: „C’est un cancer. Die Fremdsprache schafft diesmal keine schützende Distanz, der Satz trifft mitten ins Herz. Es setzt aus. Setzt wieder ein, hämmert, beginnt zu rasen, während dir die Tränen in die Augen schießen [...]“ (VS 60. Hervorh. im Original). Der Therapieplan, der bald darauf von einem jungen, männlichen Arzt „in zehn Minuten [...] fix und fertig“ (VS 72) entworfen wird, macht Stefans erlebendes Ich misstrauisch. Die Autorin gibt das gesamte Arzt-Patientin-Gespräch in einer atemlosen, sich über 15 Zeilen windenden Hypotaxe wieder. Geschildert wird es wie aus einer dritten Perspektive: „Du hörst, daß er sagt, zuerst […], hier hörst du dich schließlich sagen, […] du hörst den Arzt sagen […]“ (VS 72f.). Es deutet sich an, dass die Autorin dem vorgeschlagenen Behandlungsplan – „in gerader Linie mit Kugelschreiber auf einem Blatt Papier auf[ge]zeichnet“ (VS 73) – möglicherweise nicht Folge leisten wird: Mit dem kontrastiv kurzen Satz „Du sträubst dich dagegen, auf einer geraden Linie weiterzuleben“ (VS 73) schließt der Absatz.26

In just being, einem Kurzfilm über ihr Leben mit Krebs, der von Stefan im Rahmen eines Digital Storytelling Workshops für LGBTs mit Krebsdiagnosen geschrieben und realisiert wurde, erzählt sie aus dem Off, dass sie sich bei der Wiedererkrankung 2006 der Schulmedizin tatsächlich verweigerte: „In 2006, when I learned that there were metastases in my lungs, I refused everything. I refused biopsy, let alone surgery, I didn’t do radiotherapy. And I insisted on finishing the book I was working on“ (vgl. Stefan 2015); Fremdschläfer ist ebendieses Buch.

Die Unterstützung, die ihr Alter Ego in Fremdschläfer bei ihren Terminen in Krankenhäusern und diversen Arztpraxen von der Partnerin und Freundinnen erfährt, nimmt einen wichtigen Platz in Stefans retrospektiver Erzählung ein (VS 73, 103). Doch schlussendlich besteht die Erzählstimme auf einer Grenze, die zwischen ihr, die „[i]m Unsichtbaren tapp[]t“ (VS 75), und denen, die sich noch gesund nennen dürfen, eingezogen wurde. Das Bedürfnis nach Nähe zu anderen Kranken, deren Lebensrhythmus ähnlich gestört wurde wie ihr eigener, die auch Isolation und Schwäche erleben, ist groß: „Du hast keine Termine mehr. Du brauchst die Kranken. [...] Die Kranken reden untereinander ohne zu stocken“ (VS 144f.). Sogar in der Selbsthilfegruppe, die sie besucht, fällt die Autorin jedoch aufgrund ihrer Krebserkrankung in der Wahrnehmung der anderen (u.a. Menschen mit Depressionen und Schmerzpatient(inn)en) in eine eigene Kategorie. Und so beschwört Stefan im Schreiben ein Gemeinschaftsgefühl unter von Brustkrebs betroffenen Frauen herauf, das sich auf den Krankenhausfluren nur bedingt einstellt. Sie bemerkt, eine Makro-Perspektive einnehmend:

In den Umkleidekabinen der Röntgenabteilungen steht jeweils ein Plastikbecher, der sich im Lauf des Vormittages mit kleinen runden Aufklebern aus blauem Plastikmaterial anfüllt. Sie sehen wie große Druckknöpfe aus und werden auf die Brustknospen geklebt, um diese bei der Röntgenaufnahme zu schonen. Ein Behälter voller Brustknospenschoner, die man nach der Mammografie ablegt wie den hellblauen Krankenhauskittel, den man in den Behälter für Schmutzwäsche wirft. Aus der ganzen Stadt, aus allen Himmelsrichtungen kommen Frauen jeden Tag zum Röntgen und klauben hinterher die blauen Plastikaufkleber von ihren Brüsten und werfen sie in den Behälter. (VS 160)

Die sich täglich neu füllenden Becher machen ansatzweise sicht- und greifbar, was der Patientin in ihrem individuellen Erleben sonst eher verborgen bleibt, nämlich die große Zahl an Frauen ganz in ihrer Nähe, die die Brustkrebsdiagnose mit ihr teilen. Sprachlich wird diesen handfesten Beweisstücken ihrer Existenz hier durch die elliptische Wiederholung von „Ein Behälter voller Brustknospenschoner [...]“ in der Mitte des zitierten Abschnitts Gewicht verliehen; sie lädt den Leser zum Innehalten ein. Diese Betonung erinnert an Lorde, die in The Cancer Journals beschreibt, warum sie sich nach der Brustamputation gegen eine Prothese entschied, nämlich u.a. um sich so für andere im öffentlichen Raum als Leidensgenossin erkennbar zu machen (vgl. Lorde 1985). Beide Autorinnen wissen um den Trost und die Kraft, die die Erkenntnis, nicht allein auf weiter Flur zu sein, spenden kann. Damit sieht sich Stefan vielleicht noch weitergehender als Hustvedt mit anderen Frauen verbunden, die ihr Krankheitsbild teilen.

Die Grenzen der Vermittelbarkeit ihres Erlebens der Krankheit sind im Alltag an dem Punkt erreicht, an dem die Gefühle derjenigen, „die im Hellen tappen“ (VS 105), ins Spiel kommen. „Es verrückt deren innere Landschaft, als sei Krebs ansteckend“ (VS 105), hält Stefan mit einem Anflug von Sarkasmus fest. Dies belastet nicht nur die privaten Beziehungen, sondern wird auch für sie als life writer relevant. Wie lässt sich unter diesen Bedingungen über das Erlebte schreiben? Auch das thematisiert Stefan in Fremdschläfer und macht vor allem deutlich, dass dies keine einfache Sache ist. Die offenen Enden heutiger Krankheitserzählungen, die nur noch selten dem von Frank beschriebenen restitution plot (2013, 77-84) folgen, und die über den Text hinaus deutenden Implikationen dieser Enden für die Lebenswirklichkeit der Autor(inn)en machen das Thema Krankheit zu einem schwierigem Stoff – für Autor und Autorin wie für Leser und Leserin.27 Mit Hustvedt teilt Stefan ein Bewusstsein dafür, dass es sich bei ihrer Erzählung um keine ‚gute‘ Geschichte handelt.28 Die Beschreibung ihres Übertritts in das Sontag’sche „Reich der Kranken“ (VS 105) drückt dies aus: „Du beginnst, einen Pfad zu treten, [...]. Es ist nicht abenteuerlich. Du fragst dich, ob der Pfad, den du trittst, in die Unterwelt führt. Du spürst kein Verlangen, das Terrain auszukundschaften. Du kommst dir nicht wie eine Heldin vor“ (VS 118, meine Hervorhebungen). Illness narratives sind nicht die leichte Lektüre, nach der die meisten Leser greifen.

Außerdem fehlt der Wortschatz, ihr Erleben auszudrücken; in dieser Auffassung stimmt Stefan mit Woolf, die fast 80 Jahre vor ihr schrieb, überein (vgl. Woolf 2002). Stefan schildert im Kapitel In der Dunkelheit wieder das Funkeln den Effekt der Krankheit auf die Liebesbeziehung und die gestörte Kommunikation zwischen den zwei Frauen: „Ich habe keine Worte. [...] Man müßte Worte aus einer Sprache, die man nicht kennt, zur Hand haben, die es geben könnte, die man aber beim ersten Mal, wenn Krebs ins Leben eingebrochen ist, wenn eine plötzlich zu den Krebskranken zählt, noch nicht gelernt hat“ (VS 144). Ihr Schreiben, das schließlich zur Publikation Fremdschläfer führt, ist entsprechend eine prozessuale, langsame Tätigkeit – ein regelrechtes „Buchstabieren“ (VS 122).

Trotz oder gerade wegen der thematisierten Herausforderungen schreibt die Chronistin den Brustkrebs mit Fremdschläfer in ihr Werk ein.29 Mit dem Buch kann Stefan sowohl dem persönlichen Bedürfnis „laut Ich zu sagen“ (VS 137) nachkommen, das der Krebs in ihr auslöst und das sich während der Chemotherapie noch einmal intensiviert, als auch, politisch aufgeladener, „sichtbar machen, was sich im Unsichtbaren abspielt“ (VS 118). Als die Geschichte einer älteren Frau, homosexuell und Migrantin obendrein, trägt Fremdschläfer zur Diversifizierung der Krebserzählungen bei, die im öffentlichen Raum zirkulieren. Wie Thatcher Carter für den nordamerikanischen Raum schon im Jahr 2003 betont hat, ist es an der Zeit, das in Medien und Öffentlichkeit akzeptierte, standardisierte Bild der Brustkrebspatientin – welches Carter mit den Worten „almost exclusively heterosexual, white, married, middle class, thin, and thirty“ (2003, 658) beschreibt – auf seine Normalisierungs- und Idealisierungsstrategien hin zu hinterfragen. Man darf annehmen, dass sich nur ein Bruchteil der an Brustkrebs erkrankten Frauen mit dieser Darstellung identifizieren kann.

Im Akt des Schreibens kann Stefan der Komplexität des Erlebens von Krankheit eher gerecht werden als im alltäglichen Sprechen darüber. Im Schreiben, so lesen wir, „denkst [du] darüber nach, wie du die Wirklichkeit formst, mit dem, was du denkst, wie du es denkst, wie du diese Geschichte bereits einige Male erzählt hast, wie oft sie sich bereits, manchmal über Nacht, verändert hat“ (VS 118). Die Schriftstellerei lässt solch bewusstes Formen zu, verlangt geradezu danach. Pausieren wird möglich und nötig, schafft Stefan – und in der Tat jeder Verfasserin, jedem Verfasser einer persönlich motivierten Krankheitserzählung – Raum zum Nachdenken, und bietet Leser(inne)n, die sich darauf einlassen, in der Form des veröffentlichten Textes die Chance, das Erlebte bis zu einem gewissen Grad nachzuvollziehen und auf dieser Basis nicht zuletzt die eigenen Vorstellungen vom Leben mit Gesundheit, Krankheit, Sterben und Tod zu überprüfen.

Fazit

Paul Kalanithi nutzt mit When Breath Becomes Air seine gesellschaftliche Stellung als Arzt, um Fürsprache zu halten für andere tödlich Erkrankte und deren Nöte und Belange – Patient(inn)en, von denen die wenigsten hoffen können, vergleichbares Gehör in der anglophonen Öffentlichkeit und speziell der Ärzteschaft zu finden. Er schildert den eigenen, im Vergleich drastischsten Rollenwechsel, um dann zwischen den divergierenden Sichtweisen von Ärzt(inn)en und ihren Patient(inn)en, Gesunden und Kranken, Noch-Lebenden und Schon-Sterbenden zu vermitteln. Siri Hustvedts Shaking Woman zeigt die Grenzen einer hochspezialisierten Medizin auf, ihrer Denkweisen wie praktischen Möglichkeiten, und thematisiert die Macht, die die Medizin ungeachtet dieser Grenzen als „Leitdisziplin“ (Erhart 2004, 122) über das leidende Individuum entfaltet. Ausgehend von ihrer eigenen Geschichte erinnert Hustvedt an die grundsätzliche historisch-kulturelle Bedingtheit der Medizin. Wie aktuell Hustvedts Befunde, die diese neben der Selbstanalyse v.a. aus historischem Material gewinnt, gerade in Bezug auf marginalisierte Identitäten sind, verdeutlicht Verena Stefans Erzählung einmal mehr. Fremdschläfer zeigt eine skeptische Patientin, die die Krankheitserfahrung poetisiert und damit über die Medikalisierung hinaus in ihr Leben und Werk einschreibt.

Die diskutierten Autor(inn)en sind sich ihrer relativ privilegierten Stellung in der Gesellschaft bewusst. Sie nutzen diese, um sowohl zu einem breiteren Lesepublikum als auch für andere in vergleichbaren Lebenssituationen zu sprechen; um von Verständnis- und Verständigungskrisen, die sie erleben, zu berichten; und um zu einer gesellschaftlichen Verständigung über den Umgang mit Krankheit und Kranken beizutragen. Dabei erfüllen sie in unterschiedlichem Maße gesellschaftliche Erwartungen: Kalanithi verkörpert das Modell des „guten Kranken“ (Schappach 2012, 59) insofern, als er sich noch lange nach der Diagnose bemüht, seinen Arztberuf auszuüben, und schließlich im Schreiben eine neue ‚therapeutische‘ Aufgabe erkennt. Hustvedt wird nicht nur durch die fehlende eindeutige Diagnose die Aufnahme einer Kranken- bzw. der Parson’schen Patientenrolle erschwert; sie entscheidet sich letztendlich bewusst dagegen, sucht gar nicht mehr die Heilung, sondern akzeptiert stattdessen aktiv ihr Zittern wie schon ihre Migränen als Teil ihres Selbst. Noch direkter politisch wird Stefan – die, wenn man so will, wohl ‚schlechteste’ bzw. ‚widerständigste‘ Patientin – in ihrer Skepsis gegenüber dem schulmedizinischen System und ihrer Suche nach einer Solidargemeinschaft krebskranker Frauen, die sie sich ein Stück weit zu erschreiben beginnt. Gänzlich konträr zum Parson’schen Entwurf entscheidet in Fremdschläfer die Erlebende mit ihrem Netzwerk an Vertrauten dabei teils gegen medizinischen Rat, inwieweit und für wie lange sie sich zur Patientin macht, indem sie Therapieangebote den eigenen Zeitvorstellungen unterwirft oder ganz ausschlägt.

When Breath Becomes Air, The Shaking Woman or a History of my Nerves und Fremdschläfer sind nur drei Beispiele für illness narratives im frühen 21. Jahrhundert. Sie stehen für eine ganze Fülle solch neueren life writing dies- und jenseits des Atlantiks und veranschaulichen ansatzweise dessen Diversität, nicht zuletzt stilistisch. Kalanithi, Hustvedt und Stefan treiben, je auf ihre Art, die Relativierung absoluter, in der gesellschaftlichen Imagination häufig noch binär gesetzter Kategorien und Rollenverständnisse wie gesund vs. krank, wissend vs. unwissend und Arzt/Ärztin vs. Patient(in) voran. Allein die Tatsache ihrer Autorschaft läuft passiven Verständnissen vom Kranksein zuwider. Krankheit bleibt erhalten als Erfahrung, aber die Vorstellungen vom Kranksein verändern sich.

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Dr. Nina Schmidt
Einstein-Projekt Patho/Graphics
Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien
Freie Universität Berlin
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin
E-Mail: n.schmidt@fu-berlin.de
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1 Literatur wird aus dieser Perspektive „als Spur gesellschaftlicher Kommunikation“ (Käser 2014, 15) begriffen, die Einfluss nehmen will auf den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Kranken und Angebote macht zur individuellen wie sozial-gesellschaftlichen Bewertung von Leiden, Sterben und Tod.

2 Nachweise für die drei Primärtexte erfolgen mit den Siglen PK, SH bzw. VS und Angabe der relevanten Seitenzahl(en) in Parenthese.

3 An dieser Stelle sei auf die einflussreiche Theoretisierung der sick role durch Talcott Parsons in den 1950er Jahren verwiesen, von der ausgehend sich die Disziplin der Medizinsoziologie an den sozialen Rollen von Arzt/Ärztin und Patient(in) mitsamt der jeweiligen Verantwortung, ihren Rechte und Pflichten abgearbeitet hat (vgl. Williams 2005; Burnham 2014). Parsons definierte die Beziehung von Arzt/Ärztin und Patient(in) als eine fundamental asynchrone, in der Arzt und Ärztin hierarchisch über der kranken Person, die sie aufsucht, stehen – schon allein durch ihr Fachwissen (vgl. Parsons 1975). Bis heute gilt: Erst der Arztbesuch legitimiert die Aufnahme der Krankenrolle gesellschaftlich.

4 Vgl. Titel seines Theaterstücks von 2009: Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten.

5 Sein Text reiht sich ein in eine wachsende Zahl autobiografischer Sterbenarrative der Gegenwart, die heute schon zu Lebzeiten ihrer Autor(inn)en oder von einer mit dem Manuskript betrauten Person bald nach dem Tod des Verfassers oder der Verfasserin veröffentlicht werden. Beispielhaft genannt seien hier Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur und Cory Taylors Dying. A Memoir – letzteres ein Buch, das diese neue Unmittelbarkeit schon im Titel anzeigt.

6 Interessant ist, dass Kalanithis Witwe diese Idealisierung ein Stück weit zurücknimmt, stattdessen die Menschlichkeit ihres Mannes herausstellt, wenn sie in ihrer Danksagung am Ende des Buches korrigiert: „[W]hat Dr. Verghese judged to be a ‚prophet’s beard‘ was really an ‚I-don’t-have-time-to-shave‘ beard!“ (PK 228).

7 Kalanithi studierte zunächst in Stanford englische Literatur und Humanbiologie, bevor er nach einem Jahr in Cambridge (UK), in dem er einen MPhil in History and Philosophy of Science and Medicine erwarb, in Yale das Medizinstudium aufnahm.

8 Die Nähe von Kalanithis’ Alter zu dem von Whitmans lyrischem Ich fällt auf: Kalanithi begann die Arbeit am Manuskript im Alter von 36 Jahren, verstarb mit 37. Sie mag dazu beigetragen haben, dass diese Zeilen so prominent zitiert wurden.

9 Letztere sind im Text selbst entsprechend weniger sichtbar markiert, d.h. sie werden nicht namentlich sondern nur kollektiv als „memoirs of cancer patients“ (PK 148) genannt.

10 Über den praktischen Teil seiner medizinischen Ausbildung schreibt der Autor beispielsweise: „we would grow from bearing witness to medical dramas to becoming leading actors in them“ (PK 72f.). Vergleiche auch die Bezeichnung des Prologs als ebensolchem [„Prologue“], und nicht etwa als ‚preface‘; die Bezeichnung Prolog ist die für Theatertexte typischere.

11 Auf Seite 112 beispielsweise heißt es wieder: „I had reached the pinnacle of residency“.

12 Beispielhaft sei auf einen Abschnitt (PK 86-88) verwiesen, in dem Kalanithi die wichtige Vermittlerrolle von Arzt/Ärztin im Angehörigengespräch thematisiert, in dem diese(r) Familien bei der Entscheidung für oder gegen mögliche Therapieoptionen unterstützen muss.

13 Damit verhält er sich exakt wie die vielen Patient(inn)en, denen er selbst ähnliche Nachrichten überbrachte. In Teil 1 beschreibt Kalanithi: Patients, when hearing the news, mostly remain mute. (One of the early meanings of patient, after all, is one who endures hardship without complaint.) […] silence usually reigns“ (PK 96).

14 Der 2013 verstorbene deutsche Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat es im Kontext des Erlebens von Unheilbarkeit als „eine eigene Form von Erfahrungswissen“ bezeichnet (2013, 227).

15 Wie Kalanithi beweist auch sie Belesenheit, ist dabei aber weniger um ihren Status als Autorin besorgt und mehr darauf fokussiert, ihr autodidaktisch erworbenes Wissen der Psychoanalyse und Neurowissenschaften unter Beweis zu stellen.

16 Später heißt es ganz ähnlich: I cannot be satisfied with looking at [the shaking woman] through a single window. I have to see her from every angle (SH 73) und Dogmas can make people blind (SH 151).

17 Erwartbar auch deshalb, weil es im Motto des Buches, einer Strophe aus einem titellosen Gedicht Emily Dickinsons, angekündigt wird: I felt a Cleaving in my Mind – / As if my Brain had split – / I tried to match it – Seam by Seam – / But could not make it fit.

18 Diese Denkbewegung erinnert an das Modell des hermeneutischen Zirkels (eine ähnliche Assoziation findet sich bei Mildorf 2017, 174); man könnte sie auch als spiralförmig beschreiben. Der Text selbst verweist mehrmals darauf, dass seine Suche keine geradlinige ist, sondern seine Erzählerin und gleichzeitige Protagonistin im Kreise führt („round and round“ [SH 73]), sodass sie sich mal einer Einsicht nahe fühlt („It feels as if I am circling some emotional truth“ [SH 126]) und doch später wieder fragen muss: „Am I back at the beginning yet again?“ (SH 186).

19 Die Skepsis des erzählten Ichs kündigt sich schon in der Verwendung des Ausdrucks ‚to come down with‘ an, der in Bezug auf Epilepsie bewusst unpassend gewählt ist und im gewöhnlichen Sprachgebrauch nur in Kombination mit ansteckenden Krankheiten (wie typischerweise der Grippe) auftaucht; er ironisiert die Epilepsie-Vermutung sofort, lehnt diese als intuitiv unpassend ab.

20 Sie nimmt schließlich einen Termin bei einem „real psychiatrist in a real office“ (SH 31) wahr, wie es nicht ohne Witz heißt; später schreibt Hustvedt: „one by one, living persons replace my imaginary doctors“ (SH 153).

21 In den Danksagungen am Ende des Buches erwähnt sie „the complex debates that surround the integration of two disciplines that have entirely different vocabularies“ (SH 213) als die vielleicht größte Herausforderung, mit der sie sich in ihren Recherchen v.a. auf den Gebieten der Psychoanalyse und der Neurowissenschaft konfrontiert sah. Im Text selbst diskutiert sie die Entwicklung der Fachsprache(n) und Termini mit ihren jeweiligen Konnotationen konkret z.B. an der Stelle, an der sie die verschiedenen Begriffe thematisiert, mit denen Phänomene wie posttraumatische Belastungsstörungen im Laufe der Zeit belegt worden sind (SH 74-77). Sie kritisiert in diesem Zusammenhang deutlich sowohl die Geschichtsblindheit heutiger Medizin als auch die zunehmende Jargonisierung der Wissenschaft (SH 77f.).

22 Für eine Zusammenfassung von Irènes Geschichte, die nach dem Tod ihrer Mutter alle Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung an den Tag legte, siehe van der Kolk und van der Hart (1995, 160-162).

23 Carmen Birkle hat dargelegt, inwiefern in Aussagen wie dieser die Stimmen fiktionaler Charaktere Hustvedts widerhallen (vgl. Birkle 2016).

24 Dietrich von Engelhardt (vgl. 2007) gibt einen knappen Überblick über die Medizin- und Kulturgeschichte der Krebserkrankungen; Mary K. deShazer (vgl. 2005; 2013) schreibt aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive detaillierter zum Diskurs über Brustkrebs und andere Krebserkrankungen, die v.a. Frauen betreffen.

25 Dies ist eine stilistische Parallele zu Woolf, die die Ich-Form ebenfalls gerne variierte, wie Hermione Lee aufgezeigt hat (2002, xxxii).

26 Damit lehnt Stefan für sich genau die Denkfigur ab, der Kalanithis Lebensvorstellung bis zur eigenen Erkrankung wie selbstverständlich entsprach. Ihr Widerwille erinnert an den berühmt gewordenen Verweigerer Peter Noll, ruft speziell einen Satz von ihm ins Gedächtnis: „Ich will nicht in die chirurgisch-urologisch-radiologische Maschine hineinkommen“ (2005, 11).

27 Die Krankheitserzählungen der Gegenwart ‚beruhigen‘ ihre Leserschaft nicht mit dem „traditional disease narrative“ (Finger 2005, 613), das die US-amerikanische Autorin, Akademikerin und Behindertenaktivistin Anne Finger so zusammenfasst: „A disease happened to me; science has conquered that disease; you are safe; my body is the aftermath“ (2005, 613). Auch wenn Finger hier mit dem Beispiel Polio arbeitet, finden solche rhetorischen Formen der Beschwichtigung im Gespräch mit Nicht-Behinderten/ Nicht-Kranken in ableistischen Gesellschaften alltäglich und in Bezug auf eine Vielzahl an Lebensrealitäten Anwendung. Die Literatur kann und will solcherlei Versicherungen, so scheint es, immer seltener aussprechen.

28 Im Kontext der imaginierten psychoanalytischen Therapie heißt es in The Shaking Woman: „there is supposed to be an end“ (SH 21) – ein Kommentar, der sich auf den Idealverlauf von Therapien und Phasen des Krankseins bezieht, der sich aber auch als Kommentar zur Dramaturgie von Krankheitserzählungen verstehen lässt. Mit Blick auf die Erwartungshaltung der Leser(innen) von illness narratives, die, so die Annahme, in der Regel ein positives Ende der Geschichte bevorzugen, spricht G. Thomas Couser von „the tyranny of the comic plot“ (1997, 75).

29 Dass sie zögerte, dies zu tun, kann man aus den working notes zu Doe a Deer (vgl. Stefan 2006) ableiten. Dort erfahren wir, dass der Brustkrebs, ein so zentraler Aspekt im fertigen Roman, ursprünglich kein Thema in Fremdschläfer sein sollte.