Iris Schäfer

Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugend- bzw. All-Age-Roman

“Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, [...], is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling” (Burke 1958, 36), writes Edmund Burke 1757 in A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. The idea that pain, danger and terror are much stronger impressions than pleasure, and may be classified as “sources of the sublime”, not only inspired philosophers like Kant, it also can be found in recent young adult literature, in particular the subgenre of Sick Lit, where suffering from a terminal illness is often represented as a sublime condition. Using the examples of Lara Schützsack’s Und auch so bitterkalt (2014), a novel about an anorexic female character, and Anthony McCarten’s novel Superhero (2007), which focuses on a male cancer patient, this article aims to explore the literary strategies employed in illness narratives, emphasizing their aesthetical dimensions.

Philosophische und literarische Perspektiven ästhetisierter Leidensprozesse

Die Ästhetik als „Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens“ (Hegel 1997, 13, Hervorhebung im Original) hat in Abhängigkeit von individuellen Perspektiven, Erkenntnisinteressen und Fragestellungen eine Bedeutungserweiterung erfahren, die maßgeblich durch Edmund Burke beeinflusst wurde. Dieser etabliert das Erhabene als Gegenbegriff zum Schönen, das im Auge des Betrachtenden konstituiert und durch Gefühlsregungen zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Burke 1958). Schiller (vgl. Schiller 2009) und Schelling (vgl. Schelling 1979) beschreiben das Absolute als Eigenschaft der Kunst, deren Betrachtung die Gegensätze von Subjektivität und Objektivität marginalisiert. Von der Vorstellung objektiver Harmonie rücken sowohl Schlegel, mit seinem Fokus auf das individuell als interessant Wahrgenommene, als auch Rosenkranz ab, der das Ästhetische mit dem Hässlichen verbindet (vgl. Rosenkranz 1853). Den Weg in die erzählende Literatur findet die Ästhetik des Hässlichen wenig später durch Baudelaire und Flaubert (vgl. Urbich 2011, 40). Spätestens seit dem Expressionismus haben sich das Fremde und Andere, das Beschädigte und ,nicht Schöne‘ durch die Betonung von Verfremdungsprozessen und Fragmentierungen in der Literatur etabliert.

Im Bereich der Jugend- bzw. All-Age-Literatur zeichnet sich hinsichtlich der diskursiven Konstruktion körperlich leidender kindlicher und jugendlicher Figuren eine Entwicklung ab, die vom historisch und kulturell dynamischen Erkenntnisinteresse an Krankheiten sowie erkrankten Figuren zeugt. Die von Seiten der Forschung in diesem Zusammenhang geprägten Begriffe des ‚Heidi-‘ (Reese 2007, 146) und ‚Beth-March-Syndroms‘ (Passante Elman 2014, 110) betonen unterschiedliche Auffassungen von kindlichen und jugendlichen Krankheiten sowie Leidensprozessen. Durch das Beth-March-Syndrom, das auf der gleichnamigen Figur aus Louisa May Alcotts Roman Little Women (vgl. Alcot 2004) beruht, wird die Verbindung von idealisierter Weiblichkeit und weiblichem Leiden deutlich. Die geduldige Patientin Beth March erliegt im Laufe des Romans einer nicht näher beschriebenen Krankheit. Die Tugenden der Erkrankten (Genügsamkeit, Bescheidenheit, stilles Ertragen), decken sich mit dem zeitgenössischen weiblichen Rollenideal. Perspektiviert wird die jeweilige Gegenwart; in diesem Fall die pathogene Struktur einer Gesellschaft, in der eine vorbildliche Patientin mit einer idealen Frau enggeführt wird.

Der Begriff ‚Heidi-Syndrom‘ rekurriert auf Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre (vgl. Spyri 2009). Hier wie auch in Frances Hodgson Burnetts The Secret Garden (vgl. Burnett 1987) wird die Opposition von Natur und Kultur betont. Das verwöhnte Stadtkind Clara (aus Heidi) wie auch der vernachlässigte, dekadente Adelige Colin (The Secret Garden) sitzen im Rollstuhl und kranken an Althergebrachtem. Durch den Kontakt mit Naturkindern sowie dem Guten, Wahren und Schönen der Natur werden sie geheilt (vgl. Webb 2016). Fokussiert wird auch in diesen Texten nicht die Krankheit, sondern die Natur als Gegensatz zur pathogenen Kultur. Das Leiden der genannten kindlichen Figuren steht demnach im Zeichen der Romantik.

In jugendliterarischen Erzählungen der Jahrhundertwende leiden die Figuren vornehmlich an nicht benannten Krankheiten, wodurch die mit dem jeweiligen Leiden einhergehende Unsicherheit auf einen beliebigen Zustand der Ungewissheit übertragen werden kann (vgl. Schäfer 2016 a, 12). Im Falle von weiblichen Patientinnen wird das Leiden mitunter auf die begrenzten Möglichkeiten weiblicher Subjektivierung bezogen, wie etwa in Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895). Gewisse Ästhetisierungspraktiken machen sich besonders in solchen Texten dieser Zeit bemerkbar, in welchen die disziplinären Grenzen zwischen Literatur und Psychoanalyse durchlässig werden und eine gegenseitige Beeinflussung deutlich wird (vgl. Schäfer 2016 a, 54 f.), wie beispielsweise in Alfred Döblins Die Tänzerin und der Leib (vgl. Döblin 2012) sowie Arthur Schnitzlers Fräulein Else (vgl. Schnitzler 2012). Ungeachtet der Ästhetisierung weiblichen Leidens, das besonders in Texten von Autoren, die eine gewisse Nähe zur Medizin oder Psychoanalyse aufweisen, zum Ausdruck kommt, verliert dieses Potenzial literarischer Krankheitsdarstellungen im Feld der Jugend- bzw. All-Age-Literatur zunehmend an Bedeutung. Seit dem Paradigmenwechsel der 1970er Jahre1 werden Leidensprozesse in jugendliterarischen Erzählungen überwiegend realitätsgetreu abgebildet. Verbunden sind hiermit das Bemühen um Aufklärung über eine bestimmte Krankheit sowie die Forderung nach Empathie mit den Erkrankten. Erst in jüngster Zeit tritt dieser reduktionistische und wenig kreative Fokus in den Hintergrund. In Romanen wie Und auch so bitterkalt und Superhero wird das vielfältige ästhetische Potenzial literarischer Krankheitsdarstellungen ausgeschöpft.

Die schöne Kranke –
Metaphorisierungsstrategien im Magersucht-Roman

Lara Schützsacks Magersucht-Roman Und auch so bitterkalt (2014) bricht mit der Tendenz zunehmender Nähe zur erkrankten Protagonistin (vgl. Schäfer 2016 b) und etabliert eine bedeutsame Distanz, da die Leserschaft durch die Augen der Ich-Erzählerin (der gesunden jüngeren Schwester Malina) das Leiden und den krankheitsbedingten Transformationsprozess der Anorektikerin Lucinda von außen lediglich beobachtet. Malina zählt zu denjenigen homodiegetischen Erzählerinnen, die sich durch eine dem Alter entsprechende eingeschränkte Perspektive auszeichnen. Einher geht hiermit eine unzuverlässige Erzählweise, die Auswirkungen auf die Sympathie- und Rezeptionslenkung hat.

Schützsack richtet in ihrem Roman die Blicke jedoch nicht nur auf die Ästhetik der Krankheit, sondern auch auf die Ästhetik der Weiblichkeit.2 Die durch das Beth-March-Syndrom betonte Verbindung von Weiblichkeit und weiblichem Leiden lässt sich auch in diesem modernen Text ausmachen, was im Zusammenhang mit einer mit der Weiblichkeit eng verbundenen Krankheit zunächst nicht verwundert (vgl. Schäfer 2016 a, 97). Doch ist es hier die erkrankte Figur, die bestimmt, was Weiblichkeit ausmacht und nicht die Gesellschaft, womit der Roman für Selbstermächtigung plädiert. Dass Schützsacks Text nicht in der Tradition patriarchalischer Krankheitsdarstellungen steht, kommt auch darin zum Ausdruck, dass Lucinda andere regelrecht dazu zwingt, sich ihren Idealen von Weiblichkeit und Romantik unterzuordnen. Die Erkrankte erweist sich als handelndes Subjekt, das sein Schicksal selbst bestimmt.

Eine weitere Besonderheit von Und auch so bitterkalt besteht darin, dass der Leidensprozess Lucindas in den Augen ihrer Schwester als ästhetische Metamorphose erscheint. Sich selbst imaginiert die Erkrankte als Muse, d.h. als Quell kreativen Schaffens. Auf der Erzählebene macht sich eine Verbindung zum maroden Elternhaus der Familie bemerkbar. Reflexionen wie „[w]enn Lucinda weint, weint das Haus mit: Wasserhähne fangen an zu tropfen. Das Gefrierfach gibt seinen Geist auf; dicke Tropfen landen auf dem Steinfußboden vor dem Kühlschrank“ (Schützsack 2014, 26) betonen die enge Verbindung der Anorektikerin zu ihrem Wohnort. Die geschilderte Symbiose lässt sich auch auf die äußere Gestalt beziehen, weisen doch beide eine schöne ,Fassade‘ und eine ,beschädigte‘ Substanz auf. Überdies leiden beide an einer nicht benannten Krankheit: „Das Haus selbst ist von Efeu befallen wie von einer unheilbaren Krankheit, die wuchert und wächst, langsam in sein Gewebe dringt“ (ebd., 20);3 auch die Krankheit, an der Lucinda leidet, wird an keiner Stelle beim Namen genannt. Beide Hauptfiguren, Lucinda und das Haus, erscheinen als Relikte einer anderen Zeit, als Denkmäler, die bewundert aber nicht kuriert werden können. Ausformuliert wird dies durch Lucindas Geschichten von dem fiktiven Land Tenebrien, „das Land, in das alle gehen, die nicht für unsere Welt gemacht sind“ (ebd., 10). Ihre Todessehnsucht wird an mehreren Stellen transparent. Insbesondere die Angst der Erzählerin vor dem möglichen Verlust der Schwester verweist auf diese stets präsente Gefahr: „Seit ich mich erinnern kann, verfolgen mich zwei Sorgen: die Angst vor der Dunkelheit und die davor, dass meine Schwester mich alleine lässt“ (ebd., 15). Lucinda, die Leuchtende, vertreibt die Angst vor der Dunkelheit; ihre Abwesenheit potenziert Malinas Angst und erscheint als größtmögliche Gefahr.

Rekurriert wird von Schützsack offensichtlich auf die seit der Romantik etablierte metaphorische Parallele zwischen dem Verfall von Gebäuden und dem Niedergang von alten Dynastien. Doch dient die Semantisierung des Raumes hier nicht der Gesellschaftskritik, sondern der Betonung des ,Kunstcharakters‘ der Krankheit. Dass es sich bei der Anorexie um eine ,künstliche‘ Krankheit handelt, wird bereits in Hilde Bruchs Der Goldene Käfig deutlich: üblicherweise werden Patienten von einer Krankheit befallen, die Anorexie ist jedoch (meist) die Folge einer bewusst eingeleiteten Diät (vgl. Bruch 1982, 9). Sie weist einen Suchtcharakter auf und geht mit einer gestörten Selbstwahrnehmung einher. Der Versuch, den krankheitsbedingt verzerrten Blick einer Anorektikerin zu imitieren, ist mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Schützsack weicht dieser Herausforderung nicht aus, sondern perspektiviert den Blick auf diese ,künstliche‘ Krankheit durch eine (andere) unsichere Erzählinstanz.

In Malinas kindlichem Blick wird der Verfall des maroden Elternhauses und jener der erkrankten Schwester enggeführt. Sie fokussiert nicht nur die Genese, sondern auch die Therapie, da sie schildert, dass ihr Vater sich in beiden Fällen als hilflos erweist, was die Sanierung bzw. Wiederherstellung betrifft. Er erläutert ihr, dass das Haus unter Denkmalschutz steht, weshalb es ihm lediglich erlaubt sei, an der Oberfläche Ausbesserungen vorzunehmen, beispielsweise die Stuckengel mit Stuckkleber und Mörtel zu behandeln. Malina resümiert, der Vater habe „es sich zu seiner Aufgabe gemacht, den langsamen Verfall ihrer Gipskörper aufzuhalten“ (Schützsack 2014, 21). Der (Ab-)Sturz eines Stuckengels zeugt davon, dass sich seine auf die Oberfläche reduzierte Therapiemaßnahme als erfolglos erweist.

Lucinda erhält ebenfalls keine wirksame Therapie. Sie wird beobachtet, bewundert und verehrt, doch zur Substanz ihres Leidens dringt niemand durch. Sie spielt mit ihrem Leben, mit den Gefühlen ihrer Liebhaber und erlaubt es niemandem, ihr zu nahe zu kommen. Auch dieser Umstand erfährt mittels der metaphorischen Verbindung Lucindas mit dem Elternhaus eine raumsemantische Ausgestaltung: Malina beobachtet, wie Lucinda mit ihren Liebhabern im Keller des Hauses verschwindet. Die Ursache dafür, dass diese verstört, enttäuscht und gekränkt aus dem Keller zurückkehren, erschließt sich Malina nicht. Die psychische Krankheit der Figur legt eine psychoanalytische Deutung nahe, nach der das Untergeschoss des Hauses auf das Unbewusste, die vom Es dominierte Sphäre des psychischen Apparats bezogen werden könnte. Die auf dem Dach thronenden Stuckengel repräsentieren demnach Lucindas Ich-Ideal. Auffällig ist, dass sie von der Ferne aus faszinieren (Passanten bleiben regelmäßig stehen und bewundern die schöne Fassade), doch erweist sich ihre Substanz als brüchig, wovon der Absturz des Stuckengels zeugt, für den Lucinda einen Schrein errichtet. Nach außen hin sichtbar wird der schöne Schein der Fassade, wohingegen die unbewussten (Trieb-) Regungen unter der Oberfläche, im Kellergeschoss, angesiedelt werden und damit für Außenstehende verborgen bleiben.

Die Analogie des langsamen Verfalls des alten schönen Hauses und der krankheitsbedingten Metamorphose Lucindas lässt sich dementsprechend auf mehreren Ebenen beobachten. Die gestörte Selbstwahrnehmung der erkrankten Figur lässt sie ihre Transformation als ästhetischen Prozess empfinden, was im Gespräch mit ihrer Schwester deutlich wird:

„Fühl mal“, sagt sie, und ich fahre mit den Fingerspitzen über die feinen Haare, die überall auf ihrem Rücken wachsen.
„Schön, oder?“
Ich nicke. Aber sicher bin ich mir nicht. Der Rücken meiner Schwester sieht gar nicht mehr aus, als ob er zu ihr gehört. Die Schulterblätter sehen aus wie Flügel, aber zum Fliegen sind sie zu klein. Man kann jede einzelne Rippe sehen. Ein zerbrechlicher Käfig. Schnell ziehe ich meine Hand zurück.
„Vielleicht verwandle ich mich.“
„Warum?“
„Weil ich in diesem Körper nicht leben kann.“
„In was wirst du dich verwandeln?“
„Ich weiß es nicht. In eine Libelle. Oder in einen Vogel. Ober in einen Baum. Vielleicht auch in Wasser. Ich weiß es nicht.“ (Schützsack 2014, 131)

Auch wenn die Anorexie nie benannt wird, weisen Symptome wie die Lanugobehaarung eindeutig auf diese Krankheit hin. Der Haarflaum dient dem Schutz vor der Kälte, den die Erkrankten empfinden und weist dementsprechend einen pragmatischen Zweck auf, der von der erkrankten Figur jedoch als Zeichen einer romantisierten Verwandlung gedeutet wird. Der von den Eltern konsultierte Therapeut4 bedient sich ebenfalls einer Verwandlungs- bzw. Verpuppungs-Metaphorik, allerdings um auf eine andere Art der Transformation zu verweisen: „Diese Mädchen sind gewissermaßen in ihrer eigenen Welt gefangen, in der Verpuppung vom Mädchen zur Frau“ (ebd., 141). Vorgeschlagen wird der Aufenthalt in einer Klinik, in die Mädchen eingewiesen würden, die als Frauen zurückkämen (ebd., 140). Die ärztliche Perspektive reduziert das von der Patientin als ästhetisch empfundene Leiden auf einen Adoleszenzkonflikt, eine typisch weibliche „Reifungskrise“ (ebd.), die es auszukurieren gilt. Die Auffassung des Therapeuten, der die Krankheit mit einem Eskapismus gleichsetzt, und die Wahrnehmung der Erkrankten, die ihre Krankheit als ästhetische und romantische Verwandlung wahrnimmt, markieren scharfe Gegensätze hinsichtlich der Beurteilung des möglichen Krankheitsgewinns. Die Opposition von Rationalität und Imagination wird dadurch betont, dass der Therapeut im Sinne von Novalis argumentiert, der in Fragmente und Studien chronische Krankheiten als „Lehrjahre der Gemüthsbildung und der Lebenskunst“ (Novalis 1983, 686) begreift.

Die Erkrankte selbst zelebriert ihre Krankheit als ästhetischen Zustand, mit dem sie sich geradezu schmückt. Im kindlich anmutenden Blick der Schwester wird der Umstand, dass sich Lucinda als Muse und als Wesen aus einer anderen Welt imaginiert, nicht infrage gestellt. Auch ihre Eltern scheinen diese Sichtweise zu akzeptieren, weshalb keine konkreten Therapiemaßnahmen eingeleitet werden. Der Umgang mit Lucindas Krankheit erweist sich als ebenso oberflächlich wie der Versuch des Vaters, die Stuckengel zu restaurieren. Folgerichtig nehmen Malinas Reflexionen über den Zustand des Hauses das Ende von Lucindas Krankengeschichte vorweg: „Armes altes Haus, denke ich, so krank, und wir dürfen dir nicht helfen. Keinen Ton gibst du von dir. Ob du irgendwann einfach stirbst?“ (Schützsack 2014, 23).

Die Erkrankte lässt keine Hilfe zu und verliert nach und nach ihre Sprache. Die Transformation des Körpers zum Sprachorgan trägt dem Umstand Rechnung, dass das Sprechen über Leid und Krankheit zahlreichen Schwierigkeiten unterliegt. So klagt etwa Virginia Woolf in ihrem Essay On Being Ill über die Armut des englischen Wortschatzes, der keine Begriffe für die Beschreibung individuellen Leidens bereit halte (vgl. Woolf 2012). Ein Umstand, der auch von Eduard Beutner (vgl. Beutner 1995) beklagt wird. Um dieses Defizit auszugleichen, bieten sich Metaphern und Symbole, d.h. Formen des uneigentlichen Sprechens an.5 So verwundert es nicht, dass in Malinas kindlicher Wahrnehmung Symbole und Metaphern dominieren, um das Unerklärliche des Leidens und der Transformation der Schwester zum Ausdruck zu bringen.

Der von den Eltern konsultierte Therapeut geht darauf ein, dass Lucinda ihren Körper sprechen lässt. Er erläutert den Eltern, dass sie sich einer anderen ,Sprache‘ bediene, die es zu erlernen gelte. Lucindas Vater versucht diesen Ratschlag zu beherzigen; doch deutet er keine körperlichen Symptome, sondern notiert sich die wenigen, zusammenhanglosen verbalen Äußerungen der bereits im Sterben liegenden Tochter in ein Notizbuch, „über dem er dann den Rest des Abends in der Küche brütet, ihre Worte auseinander- und wieder zusammensetzt“ (Schützsack 2014, 164). Die Strategie der Fokussierung auf verbale Äußerungen erweist sich als ebenso sinnlos wie das Lauschen der Mutter auf die Stille, die aus Lucindas Zimmer dringt und die als „beunruhigender als jedes Geräusch“ (ebd., 163) empfunden wird.

Die unterschiedlichen Strategien veranschaulichen die Vielfalt des Lesens und Deutens körperlicher Symptome, womit die Performanz der Anorexie akzentuiert wird. Da sich Lucinda emotional verschließt und eine Kommunikation auf herkömmlichem Wege unmöglich ist, gilt es, Zeichen zu deuten. Dieses Bemühen überträgt sich auf die Leserschaft, was auf das ‚Ansteckungspotenzial‘ literarischer Krankheitserzählungen verweist – die Analyse und Interpretation vielfältiger Symptome erweisen sich als Schlüsselkompetenzen bei der Lektüre derartiger Krankheitsdarstellungen (vgl. Schäfer 2016 b). Aufgrund der narrativen Strategie von Schützsacks Roman wird die Positionierung durch die kindliche, unsichere Erzählinstanz vorweggenommen. In ihrem Blick erscheint die sterbende Schwester als ein leuchtender Stern; als Wesen aus einer anderen Welt, das nicht einfach einer Krankheit unterliegt, sondern aus Rücksicht den Sterblichen gegenüber verglüht. Spätestens mit Blick auf das Ende wird eine Verbindung zwischen der Erzählerin Malina und dem gleichnamigen Roman von Ingeborg Bachmann (vgl. Bachmann 1980) deutlich. Denn auch in Bachmanns Roman verschwindet die Protagonistin am Ende in der Mauer eines Hauses, geht demnach eine Verbindung ein, die von Schützsack in ihrem Roman von Beginn an betont und künstlerisch ausgestaltet wird.

Lucinda verschwindet aus den Augen ihrer Schwester und aus dem Blickfeld der Leserschaft:

Niemand weiß, wohin sie gegangen ist, niemand weiß, wann sie wiederkommt. Wenn die Erwachsenen immer und immer wieder fragen ,Warum?‘, denke ich an den Stern, der auf dem Höhepunkt seines Lichts vom Himmel fällt. Damit die anderen nicht geblendet werden. So ist das eben. (Schützsack 2014, 174)

Der kindliche Blick auf die Erkrankte forciert eine Überhöhung, die so weit geht, dass der Tod der Schwester als glückliches Ende, als vorhersehbare Folge ihrer krankheitsbedingten Metamorphose erscheint. Bezogen werden kann diese subjektive Sichtweise auf Edmund Burkes Ausführungen zum Erhabenen als Gegenbegriff des Schönen, das im Auge des Betrachtenden konstituiert und durch Gefühlsregungen zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Burke 1958, 36). Die ästhetische Dimension von Schmerz und Leiden wird von Schützsack künstlerisch ausgestaltet und zwar nicht nur mit Blick auf die erzählerische Vermittlung, sondern auch hinsichtlich der Textgestaltung. So kommt Malinas Angst vor der Dunkelheit, die mit der Abwesenheit bzw. dem Ableben geliebter Personen verknüpft ist, etwa darin zum Ausdruck, dass der Selbstmord des Nachbarjungen Jarvis durch eine schwarze Doppelseite visualisiert wird. Malinas Bestürzung wird durch nahezu leere Doppelseiten markiert und visuell dramatisiert. Die Ästhetisierung von Krankheit, Leid und Schmerz lässt sich in Und auch so bitterkalt demnach auf unterschiedlichen Ebenen beobachten. Mittels der geschilderten narrativen Strategie unterläuft Schützsacks Roman die Gattungskonventionen sowie die üblichen Lesarten der so genannten Sick Lit.6

Der krebskranke Superheld –
Intermediale Visualisierungspraktiken in Superhero

Ähnlich vielschichtig gestaltet sich die Auseinandersetzung mit einer tödlichen Krankheit in Anthony McCartens Roman Death of a Superhero (2005), der im Jahr 2007 unter dem Titel Superhero in deutscher Übersetzung erschien. Auch in diesem Fall unterstützt die Erzählkonstruktion eine ästhetisierte Überhöhung des krebskranken 14jährigen Protagonisten Donald. Die durch den Konsum zeitgenössischer multimedialer Angebote gekennzeichnete Erlebniswelt des Protagonisten wird durch die Erzählweise gespiegelt, was zu einem Verfremdungseffekt führt. Die narrative Struktur zitiert die Montagetechnik des Films, die Darstellungskonventionen des Drehbuchs sowie die Text-Bild-Kombination des Comics, bedient sich dabei allerdings im Gegensatz zu multimodalen Erzählungen ausschließlich sprachlicher und typographischer Mittel.

Diese intermedialen Bezüge (vgl. Rajewsky 2002, 17) werden schon beim Blick auf die Segmentierung des Textes deutlich. Der Roman ist in drei ,Akte‘ geteilt, die auch als solche benannt und durch einen Appendix („Outtakes und gestrichene Szenen“) ergänzt werden. Lesbar wird das im Inhaltsverzeichnis angedeutete filmische Erzählverfahren bereits in den ersten Sätzen: „Aufblende… Donald Delpe. Vierzehn. Magerer Junge, Schultern dürr wie ein Kleiderbügel. Schräger Vogel. Keine Augenbrauen, keine Haare. Gesicht wie eine Pellkartoffel“ (McCarten 2007, 11, Hervorhebung im Original). Regieanweisungen, Soundwords sowie typografische Variationen erinnern auf der gestalterischen Ebene auch an das Genre des Comics. Die multi- und intermediale Erzählweise wird durch die Integration von Comicelementen in die Histoire ergänzt (vgl. Stemmann 2016, 73), worauf bereits der Titel verweist.

Diese ästhetisch ausgestaltete Überschreitung und Auflösung medialer Grenzen trägt zu einer Distanz bei, die durch die idiosynkratische Weltsicht des Protagonisten potenziert wird. Bereits auf den ersten Seiten imaginiert er sich als Superheld, der ein Kind in letzter Minute vor einem Auto rettet, um sich unmittelbar darauf auf Bahnschienen stehend in aller Ruhe die Schuhe zu binden, während sich ein Zug nähert. Diese auf wenigen Seiten beschriebenen heldenhaften und waghalsigen Szenarien werfen Fragen auf und lassen die Lesenden im Unklaren darüber, ob Donald Delphe (die Alliteration des Namens erinnert nicht zufällig an Comic-Helden) all das tatsächlich erlebt, oder ob es sich primär um Variationen eines adoleszenten und krankheitsbedingten Eskapismus handelt. Insbesondere die betont souveräne Haltung des ,Helden‘, der jeglicher Gefahr gewachsen scheint und diese völlig unbeschadet überwindet, lässt Zweifel aufkommen. Die im Zusammenhang mit der Anorexie erwähnte krankheitsbedingte Wahrnehmungsstörung wird hier mittels schneller Szenen- und Perspektivwechsel veranschaulicht, die an den Filmschnitt erinnern. Doch während sich der typische Film- und Comic-Superheld als unverwundbar und unsterblich erweist, scheint sich Donald mit seinem bevorstehenden Ableben bereits abgefunden zu haben. Betont wird das Morbide der (vermeintlich) unsterblichen Heldenfigur. Im Sinne Foucaults „läßt das Morbide genau wahrnehmen, wie das Leben im Tod seine differenzierteste Figur findet“ (Foucault 2011, 185). Der Todkranke löst sich aus der Banalität des Lebens und weist eine zynische morbide Weitsicht auf.

Im Gegensatz zu anderen Sick Lit-Romanen, wie etwa John Greens The Fault in Our Stars (2012), kreiert McCarten keinen todkranken jungen Helden, der über sein nahendes Ende philosophiert. Konstruiert wird ein intermedial ästhetisierter Diskurs um einen krankheitsbedingten Eskapismus. Die multimediale Ästhetisierung des Leidenden trägt zu einer Distanzierung bei, welche die Problematik des Außenseiterstatus der erkrankten Figur innerhalb einer ,gesunden‘ Gesellschaft unterstreicht (vgl. auch Sontag 1991).

Abgesehen von den intermedialen Referenzen auf der Ebene des Discours ist mit Blick auf die Histoire zu berücksichtigen, dass die Hauptfigur selbst einer Künstlerfigur entspricht. Donald zeichnet Comics und reiht sich demnach in die lange Reihe erkrankter Künstlerfiguren ein, deren Außenseiterstatus durch ihre Krankheit potenziert wird. Wobei McCartens jugendlicher Krebspatient von dem tradierten Bild des leidenden Künstlers, der Anz zufolge „meist entweder als Verkörperung von Qualitäten, die von der herrschenden Kultur pathologisiert werden, oder als Opfer pathogener Verhältnisse, das dem allgemeinen Leiden an der Gesellschaft eine dissidente Stimme zu geben vermag“ (Anz 1989, 187) abweicht. Seine Krankheit erscheint weder als Strafe für ungebührliches Verhalten noch als Symptom einer als pathologisch markierten Gesellschaft. Das metaphorische Potenzial seines Leidensprozesses wird auf einer anderen Ebene lesbar: Während der Chemotherapie wie auch in den ersten Sitzungen der nach einem missglückten Suizidversuch verordneten Therapie zeichnet Donald einen Comic über Miracleman, der von seinem Widersacher, dem Arzt Gummifinger, beständig drangsaliert wird. Dieser fiktive Held entspricht nur bedingt tradierten Vorstellungen eines Comic-Helden. Zwar ist er unverwundbar, doch leidet er an Blähungen, weshalb er keinen Erfolg bei Frauen hat. Diesen Umstand kompensiert er durch die Schändung weiblicher Leichen. Donalds sprachlich geschilderte ,Bilderzeugnisse‘ erweisen sich als Schlüssel zum Verständnis seiner Wahrnehmung. Durch sein Alter Ego Miracleman wird deutlich, wie sehr er unter der Behandlung durch seine Ärzte, aber auch an seiner sexuellen Unschuld leidet. Die imaginierte sexuelle Vereinigung mit einer Leiche rekurriert auf die bereits angesprochene Morbidität, die seinem Zustand geschuldet ist.

Während in Und auch so bitterkalt eine metaphorische Verbindung zwischen der Erkrankten und dem Elternhaus hergestellt wird, erscheint der krebskranke Protagonist in Superhero mit unterschiedlichen Medien verbunden. Die Nähe zum Medium des Comics zeigt sich etwa am Beispiel der Bewusstseinsdarstellung. Donalds Gedanken werden als Denkblasen geschildert: „Worte schweben über ihm, umrahmt von einer mit Fineliner (Künstlerqualität) gezeichneten Linie, und eine Kette von immer kleineren Blasen (alle leer) erstreckt sich bis seitlich an seinen Kopf, den Ausgangspunkt“ (McCarten 2007, 23). Während er seinem Therapeuten gegenübersitzt, „greift er zu einem seiner feinsten Stifte, dem, mit dem seine Phantasie immer zeichnet“ (ebd., 49), und versieht das Gesicht des Therapeuten mit einem Schnurrbart, Falten und Teufelshörnern. Mit diesen dem Comic entnommenen Erzählverfahren (vgl. Stemmann 2014, 15 f.) kombiniert sind theatrale und filmische Sequenzen. In Donalds Gedanken spielen sich Filmszenen, Vorschauen auf sich womöglich anbahnende ,Liebesfilme‘, aber auch plötzliche Schnitte, wütende Regieanweisungen und Szenenwechsel ab. Um diese auf Bildmedien fokussierte Wahrnehmung zu erweitern, werden diese Sequenzen von jeweils an die Stimmung des Geschehens angepassten ,Soundtracks‘ untermalt.

Die filmische und an Erzählverfahren des Comics angelehnte Erzählweise gibt Aufschluss über Donalds Ängste und Wünsche. Regieanweisungen, wie z.B.: „,Schnitt!‘ brüllt irgendwo angewidert ein Regisseur (vielleicht Gott). Die Abteilungsleiter treffen sich zu einer improvisierten Besprechung und sind sich auf Anhieb einig. Dieser Film ist erledigt. Gestorben. Geschichte“ (McCarten, 2007, 25) veranschaulichen den Konflikt zwischen Es und Über-Ich. Sie werden immer dann geschildert, wenn Donalds Fantasien über einen möglichen ,Film‘ jäh von Selbstzweifeln oder abrupten Stimmungsschwankungen konterkariert werden. Beispielsweise als Donald mit einer Prostituierten alleine ist, die seine Freunde und sein Therapeut engagiert haben, um Donalds Wunsch, nicht als Jungfrau zu sterben, zu erfüllen: „Kamera stop. ‚Schnitt!‘ brüllt der Regisseur. Was geht hier vor? Hat der männliche Hauptdarsteller dieses Pornostreifens da gerade ‚Moment‘ gesagt?“ (ebd., 227).

Diese gedankliche Regieanweisung leitet einen Medienwechsel (vgl. Rajewsky 2002, 16) ein, denn Donald tauscht die Rolle des Hauptdarstellers in einem Erotikfilm durch die Beobachterrolle eines Künstlers, als er sich dafür entscheidet, die Prostituierte lediglich zu zeichnen. Der hierdurch bedingte Perspektivwechsel wirkt sich unmittelbar auf die Erzählweise aus, da nun nicht mehr der imaginierte Dialog zwischen ,Schauspieler‘ und ,Regisseur‘ dominiert, sondern der Blick eines Künstlers auf sein Modell: Donalds Stift bewegt sich „nicht schneller als eine zaghafte Liebkosung. Und die Spitze [...] fährt in langen kraftvollen Linien immer hin und her, nimmt die äußeren Umrisse und die inneren Konturen in einer einzigen Bewegung […]“ (ebd., 230). Das intermediale Erzählverfahren betont die Schnittmenge von Künstler, Leidendem und Comic-Superhelden; der Blick des Künstlers wird mit jenem eines Erkrankten enggeführt. Die Verbindung von Donald mit dem von ihm geschaffenen Comic-Text im Text erinnert an die „Vorstellung vom Text als Körper, als Organismus [...] [was wiederum] dem Paradigma der ästhetischen Moderne [entspricht]: Die Textstrukturen verlieren ihre festen Konturen, verflüssigen sich, lösen sich (scheinbar) auf, die Einzelteile entfalten ein Eigenleben, werden beweglich, austauschbar“ (Anz 1989, 191). Superhero erweist sich somit als Beispiel für einen postmodernen Krankheitsroman, der sich durch ein außerordentlich hohes Formbewusstsein auszeichnet.

Im Gegensatz zu Und auch so bitterkalt wird in Superhero nicht der Leidensprozess selbst als ästhetisierte Metamorphose geschildert, vielmehr erzeugt die Verknüpfung von verschiedenen Medien sowie diskursiv erzeugten Figuren (Künstler, Patient, Superheld) ein ästhetisch anmutendes Gesamtkunstwerk. So erscheint die intermedial ästhetisierte Wahrnehmung des Leidenden nicht als Folge seiner Krankheit, sondern als literarische Strategie, um den Leidensprozess auf möglichst facettenreiche Weise zu akzentuieren.

Fazit: Über die Grenzen des Sag- und Darstellbaren hinaus

Die Anfang der 1990er Jahre innerhalb der englischsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung vorherrschende Ansicht über die ästhetischen Möglichkeiten der Kinder- und Jugendliteratur – „Aesthetic completeness is achieved in children’s literature through representation of symmetries or movements from states of lack to states of plenitude, as found in, for example: the completion of a quest or purging of an evil“ (Stephens 1992, 42) – erfährt durch Texte wie Und auch so bitterkalt und Superhero eine maßgebliche Erweiterung: Das Böse wird nicht überwunden; beide Protagonisten erliegen ihrer Krankheit und veranschaulichen als diskursive Konstrukte das ästhetische Potenzial literarischer Krankheitsdarstellungen. Die Romane experimentieren mit narrativer Unzuverlässigkeit und innovativen intermedialen Verfahren. Sie weisen einerseits eine Nähe zu den eingangs erläuterten philosophischen Überlegungen zur Verbindung des Schrecklichen und Hässlichen mit dem Schönen und Erhabenen auf und sind gleichermaßen Exempel einer neueren Form der Sick Lit, in der die Protagonisten als kulturell konfigurierte Konstrukte erscheinen, deren Leidensprozess ästhetisch akzentuiert und mit Hilfe innovativer Erzählstrategien literarisch inszeniert wird.

Effekte wie die visuelle Wahrnehmung der gesunden Schwester in Und auch so bitterkalt oder das filmische Erzählverfahren in Superhero werden in multimodalen Erzähltexten, insbesondere in der Graphic Novel, noch stärker betont. In Katy Greens Lighter Than my Shadow (2013)7 oder David Smalls Stitches A Memoir (2009) manifestieren sich zudem die „Tendenzen zu literarischen Autopathographik“ (Anz 1989, 195), die Anz den deutschsprachigen Texten der 1970er und 1980er Jahre bereits 1989 attestierte. Die Romane von Green und Small sind Ergebnisse einer Schreib- bzw. Maltherapie, die die Komplexität der visuellen Repräsentation von krankheitsbedingtem Leiden besonders deutlich machen: „The idea of representing the diseased through visual images reaches back through the ages. The act of ‘seeing disease’ […] is socially coded in many complicated ways“ (Gilman 1988, 3).

Als relevant erweisen sich in diesem Zusammenhang die gesellschaftlich und kulturell konstruierten Kategorien von Leidensprozessen wie auch die Internalisierung dieser ,Bilder‘. In Superhero wird auf dem sprachlich konstruierten und mitunter lediglich fantasierten ,Zeichenblatt‘ die Krankheit als Gegner des Helden personifiziert und somit trotz des Verzichts auf Bildelemente visuell und ästhetisch erfahrbar. Die in den Romanen von Schützsack und McCarten präsente Distanz zur leidenden Hauptfigur bestärkt die Klassifikation der beiden Primärtexte als All-Age-Literatur, denn distanzierendes Erzählen ist in der Kinder- und Jugendliteratur die Ausnahme (vgl. Nodelman 2008, 196).

Wie eingangs angedeutet wurde, lassen sich beide Romane auch vor dem Hintergrund der historischen Debatte zu den Zusammenhängen von Krankheit und Ästhetik lesen. Letztere wurde maßgeblich durch Lessing beeinflusst, der über Laokoons Todeskampf schreibt: „Er mußte ihn [den Schmerz] also herabsetzen; er mußte Schreien in Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet“ (Lessing 2014, 17).8 Hinsichtlich der Schilderung der ,häßlichen‘ Seiten krankheitsbedingter Leidensprozesse scheinen mit Blick auf die aktuelle All-Age-Literatur nahezu sämtliche Dämme gebrochen. Am Beispiel der als ,schön‘ geschilderten Körper (insbesondere magersüchtiger Frauenkörper) lassen sich unterschiedliche Positionen philosophischer Ästhetik-Diskurse veranschaulichen. Obwohl in Und auch so bitterkalt der subjektive Blick der kindlichen Erzählerin vorherrscht, erscheint die Schwester als ein Kunstwerk, das an die von Schiller (vgl. Schiller 2009) und Schelling (vgl. Schelling 1979) etablierte objektive Harmonie erinnert. Am Beispiel von Superhero wird hingegen der Ansatz von Rosenkranz deutlich, der das Ästhetische mit dem Hässlichen verbindet (vgl. Rosenkranz 1973). Die ,schöne‘ Seite der ,hässlichen‘ Krankheit wird durch inter- und multimediale Erzählweisen akzentuiert und ästhetisch erfahrbar. Edmund Burkes Verknüpfung des Erhabenen mit dem Schrecklichen, Gefährlichen und Schmerzvollen, welche die stärksten Gefühle erzeugen soll (vgl. Burke 1958), findet sich in beiden Romanen bestätigt und literarisch ausgestaltet.

Im Kontrast zur Mehrzahl der unter die Kategorie der Sick Lit fallenden jugendliterarischen Texte werden psychische und physische Krankheiten in Und auch so bitterkalt und Superhero nicht instrumentalisiert, um eine Liebesgeschichte zu dramatisieren; betont wird das ästhetische Potenzial literarischer Krankheitsdarstellungen. Während in Texten wie etwa John Greens The Fault in Our Stars oder A. J. Betts’ Zac and Mia der Schwierigkeit der Grenzen des Sag- und Darstellbaren mit Metaphern (hier insbesondere der Kriegsmetaphorik) begegnet wird, werden in den herangezogenen Beispielen vielfältige Aspekte des Repertoires uneigentlichen Sprechens ausgeschöpft, um die Wahrnehmung der erkrankten Figuren im Angesicht einer potenziell tödlichen Krankheit erfahrbar zu machen.

Die Abwesenheit einer moralischen Instanz wie auch eines didaktischen Zeigefingers hat bereits zu kontroversen Debatten darüber geführt, ob die Lektüre solcher Texte für eine jugendliche Leserschaft schädlich sein könnte.9 Am Beispiel der Werke von Schützsack und McCarten zeigt sich, dass didaktische Botschaften in derlei künstlerisch ausgeformten literarischen Werken keine Daseinsberechtigung haben. Im Gegensatz zur Kinderliteratur wird in der zeitgenössischen Jugend- und All-Age-Literatur im Kontext literarischer Krankheitserzählungen der Schwerpunkt ohnehin nicht mehr auf die Vermittlung von Informationen zum Leben mit einer tödlichen Krankheit sowie zur empathischen Einfühlung in die erkrankten Figuren gerichtet, vielmehr wird der Kunstcharakter diskursiv erzeugter Leidensbilder fokussiert und ästhetisiert.

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Dr. Iris Schäfer
Institut für Jugendbuchforschung
Goethe-Universität
Frankfurt am Main
Norbert-Wollheim-Platz 1
60323 Frankfurt am Main
E-Mail: i.schaefer@em.uni-frankfurt.de
URL: http://www.uni-frankfurt.de/55253049/Dr_-Iris-Schaefer

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1 Zum kinder- und jugendliterarischen Paradigmenwechsel der 1970er Jahre siehe: Weinmann 2015.

2 Doch wird diese Verknüpfung nicht zum Mittel einer Gesellschaftskritik, da in diesem Text keine explizite Kritik an herrschenden Weiblichkeitsmodellen geübt wird, wie es in anderen Magersuchtromanen so häufig der Fall ist (vgl. Balmer 2014, 59).

3 Die Schilderung dieser Krankheit erinnert an Metastasen bzw. Krebserkrankungen. Der erstmals von Aristoteles verwendete Begriff der Metastase veranschaulicht das Wachstum und den Befall gesunder Organe durch Tumore und weist in seiner ersten Beschreibung ebenfalls eine gewisse Ästhetik auf (vgl. Eckart 2005).

4 Zum ambivalenten Charakter des oppositionellen Verhältnisses von Ärzten/Therapeuten und PatientInnen siehe Zwierlein et al. (2014, 11): „[T]he patient-doctor binary itself, and the cultural scripts about how we respond to disease, partake of underlying, and always-already gendered, cultural patterns.“ Auch Foucault geht in Die Geburt der Klinik auf die Charakteristik der ärztlichen Diagnose ein, in der „[d]as Zeichen [...] nicht mehr die Natursprache der Krankheit [spricht]; es existiert, ja es wird von dieser Untersuchung erst hervorgerufen und beinahe erzeugt. Es ist nicht mehr die spontane Aussage der Krankheit […]“ (Foucault 2011, 175). Rekurriert wird hier wie dort auf den künstlichen Charakter der ärztlichen Analyse und Diagnose sowie ihrer sozialen und kulturellen Eingebundenheit.

5 Zum Aspekt des uneigentlichen Sprechens innerhalb der Sick Lit siehe Pitschke 2016.

6 Der Begriff wurde von Julie Passante Elman in ihrer Studie: Chronic Youth (Passante Elman 2014, 94) geprägt und bezieht sich auf solche Texte, die um das Lieben und Leiden von schwer erkrankten jugendlichen Figuren kreisen. Diese Texte erlebten in den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika eine erste Blütezeit und wurden pejorativ als „Tear Jerkers“ bezeichnet (ebd.). Mit dem Erfolg von John Greens: The Fault in Our Stars (2012) erfolgte eine neue, nun überregionale, Blütezeit dieser Textsorte, die sich bewusst von der ähnlich klingenden so genannten „Chick Lit“ abzugrenzen sucht.

7 Zur Ästhetik dieser Graphic Novel siehe Scheurer 2016.

8 Besonders eindrucksvoll karikiert wird diese Vorstellung vom hässlichen, zum Schrei geöffneten Mund in Thomas Manns Tristan in der Konfrontation des nervösen Künstlers mit einem gesunden Kind, das wie folgt beschrieben wird: „Seine Augen waren beinahe geschlossen vor Vergnügen, und sein Mund war so klaffend aufgerissen, daß man seinen ganzen rosigen Gaumen sah. Er warf sogar seinen Kopf hin und her, indes er jauchzte. Da machte Herr Spinell kehrt und ging von dannen. Er ging, gefolgt von einem Jubilieren des kleinen Klöterjahn, mit einer gewissen behutsamen und steif-graziösen Armhaltung über den Kies, mit den gewaltsam zögernden Schritten jemandes, der verbergen will, daß er innerlich davonläuft“ (Mann 2010, 49). Aus der Sicht des geistig Kranken erscheint das Gesunde als abstoßend, fremd und Angst einflößend.

9 Insbesondere Anfang 2013 als Folge auf den großen Erfolg von John Greens The Fault in Our Stars in einem Schlagabtausch zwischen den Zeitschriften Daily Mail und The Guardian.