Horst Gruner und Wim Peeters

„Meine Nervosität“

Der autobiographische Fall in Nervenheilratgebern um 1900

Around 1900 a wide range of self-help books adopt the tendency among laymen medical practitioners to denounce the sole authority of the medical establishment to cure mental and physical dysfunctions related to the so called „Zeitkrankheit“ of neurasthenia. In different autobiographical case narratives ranging from a storyline in form of an odyssey of failed attempts to find therapeutic relief to an imaginary dialogue structuring the account, the authors use their story of successful self-healing to authorize and legitimize their positions. At the same time, on a performative level, they put themselves in the position of spokesmen for an imaginary peer group of external experts who believe that primarily the right mind set suffices to overcome their condition. Drawing on J. M. Lotman’s view on literature as a topological model-building system, the article traces how this claim against conventional medicine is made by focusing on the event of a figure transgressing the semantic boundary between heteronomy and autonomy.

Die Nervosität und die populärwissenschaftliche
Ratgeberliteratur

Die Nervosität, oder auch Neurasthenie genannt, ist um 1900 eines der großen medizinischen Themen und bietet für Ärzte wie für Nervenspezialisten aller Professionsgrade bis hin zum selbsternannten Heilpraktiker eine lukrative Gelegenheit, sich in populärwissenschaftlichen Ratgebern an ein größeres Publikum zu wenden (vgl. Hofer 2004, 151-157). Warum gerade die Nervosität ein Problem war, das vermehrten schriftlichen Rat von professionellen und nicht-professionellen Nervenexperten erforderte, durch welche methodischen Grabenkämpfe sich das im Entstehen begriffene Feld der Ratgeberliteratur auszeichnete und welche Rolle der Selbstbehandlung zukam, soll im Folgenden kurz skizziert werden. Nachdem die Ärzte wiederholt die Zunahme der Nervenkrankheiten unter den hektischen und vom „Hetzen und Jagen“ bestimmten Lebensbedingungen der Moderne festgestellt haben, steigt die Nervosität zur Zeitkrankheit auf (vgl. Steiner 1964, 114f.; Radkau 1998, 173-190). In den unter den Lasten der Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung versagenden Nerven dringt die Modernisierung in die Körper und Psyche der Menschen ein und macht die innere Zerrissenheit zum kollektiven Befindlichkeitszustand der sich radikal wandelnden Gesellschaft. Schwindel, Angst und Erschöpfung sind dabei nicht mehr nur als die pathologischen Zeichen eines chronisch überlasteten Nervensystems zu entziffern, sondern stehen für eine Moderneerfahrung, die von Kontrollverlust, Unsicherheit und Überforderung geprägt ist.

Mit dem Krankheitskonzept der Neurasthenie liefert der New Yorker Arzt und Elektrotherapeut George Miller Beard hierfür das entsprechende pathogenetische Erklärungsmodell. Dabei nimmt Beard, indem er das Reiz-Reaktionsschema des Nervenimpulses mit dem Energiebegriff der physikalischen Wärmelehre verbindet, bei der Entstehung der Neurasthenie eine pathologische Erschöpfung eines bestimmten, aber indefiniten Quantums an Nervenkraft durch die vermehrten Belastungen der modernen Zivilisation an (vgl. Roelcke 1999, 114-117). Im deutschsprachigen Raum avancierte die Theorie von den fortschrittsbedingten Nervenleiden schnell zu einem attraktiven Diagnosekonzept, mit dessen Hilfe sich die Zumutungen der Modernisierung in medizinischen Begriffen beschreiben ließen. Ausdruck fand diese Zustimmung nicht zuletzt in einem sprunghaften Anstieg „sowohl der fachwissenschaftlichen als auch der populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Nervosität“ (ebd., 124). Namhafte Ärzte wie Paul Julius Möbius (1882) oder Richard von Krafft-Ebing (1885) wandten sich in „populären Gesundheitsbüchern“ an die Öffentlichkeit, um das „grosse Publikum“ (ebd., Vorwort) über die Gefahren der Nervosität aufzuklären und ihre weitere Verbreitung zu verhindern. Diesem Anspruch folgten unzählige Ratgeber, die die Nervosität als Kulturfeind und das Bestreben um gesunde Nerven als Kampf stilisierten (Marcinowski 1905), sich als Freund (Raymond 1913) und Wegweiser (Berger 1900) dem Nervenkranken andienten und eine sichere Heilung von Nervenleiden bei zeitlicher Reduzierung der Behandlungsdauer von 24 auf nur noch zwei Stunden versprachen (Baudis 1908; Bondegger 1904). Zur Wiederherstellung der Nervengesundheit empfahl man Abreibungen mit kaltem und warmem Wasser, machte strenge Diätvorschriften, die sich von Ratgeber zu Ratgeber regelmäßig widersprachen, verordnete Ruhe, frische Luft, Massagen und mahnte im Allgemeinen zu einem maßvollen und nervenschonenden Lebensstil. Hinsichtlich der breit propagierten hygienischen Behandlungsmethode, die eine Regulation der Arbeit, Ernährung und Erholung nach dem Prinzip der nervösen Reizkontrolle vorsah, verraten die Nervenheilratgeber ihre Abkunft von der einflussreichen populärwissenschaftlichen Hygieneliteratur aus dem 19. Jahrhundert (vgl. Sarasin 2001, 17-22 u. 118-135). Auch die im medizinischen Sachbuch- und Ratgeberbereich stark vertretene Naturheilkunde (vgl. Jäger 2001, 473f. u. 483f.) zählte zu den gebräuchlichen Verfahren der Nerventherapie und bildete für eine ganze Reihe von Ratgebern das methodische Fundament. Gerade alternative medizinische Strömungen wie die Lebensreform banden ihre Ratgeberpublikationen zudem in ein eigenes Verlagsprogramm ein, das sich dem politisch-utopischen Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung verschrieb (vgl. Krabbe 1974, 159-166; Spiekermann 2016, 43-49). Gegenüber den zum Teil selbsternannten Nervenspezialisten der alternativen Heilbewegungen pochten die Ärzte auf ihren institutionellen Status als Fachmediziner und taten, obwohl sie oft die gleichen Ansätze verfolgten, nicht-medizinische Therapieverfahren als Scharlatanerie ab. Für sie kam entsprechend auch keine Selbstbehandlung infrage. Vielmehr sollten die Ratgeber allein der Ergänzung und Vertiefung der ärztlich verordneten Kurmaßnahmen dienen (vgl. Engelen 1926, 3). So wurde die Nervengesundheit nicht nur zum Gegenstand einer stark expansiven Ratgeberliteratur, es standen sich in ihr auch konkurrierende therapeutische Modelle gegenüber, die dem Leser unterschiedlich viel Autonomie bei der Anwendung der induzierten Kurmaßnahmen einräumten.

Die Expertise des Kranken

Als in diesem Kontext 1902 Reinhold Gerling einen Ratgeber mit dem Titel Meine Nervosität: Wie sie entstand und wie ich sie heilte veröffentlichte, stand dahinter – was aus heutiger Sicht nicht mehr so einfach nachzuvollziehen ist – ein wohl kalkulierter Coup. Gerling, der 1863 in Posen geboren wurde, ein engagierter Verfechter der Naturheilkunde war und zeitweilig als Redakteur für die Neue Heilkunst und den Naturarzt in Erscheinung trat, war ein höchst produktiver Autor im Bereich der populärwissenschaftlichen Ratgeberliteratur. Ein Blick auf sein umfassendes Oeuvre zeigt, dass er zu allen möglichen zeitgenössischen (Mode-)Themen – zum Hypnotismus, zur Willensschulung, zur Menschenkenntnis oder zur Sexualpädagogik – Ratgeber verfasst hat (vgl. Gerling 1923, 25ff.), und das nicht ohne Erfolg. Teils erreichten Gerlings Ratgeber sechsstellige Verkaufszahlen und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Einer der erfolgreichsten Ratgeber war Das intime Buch der Frau mit 220.000 verkauften Exemplaren in 12 Auflagen (ebd., 31-38). Angesichts der thematischen Bandbreite seines Ratgeberwerkes und seines Gespürs für nachgefragte und erfolgversprechende Sujets verwundert es nicht, dass Gerling auch zur Nervosität publiziert hat. Allerdings bediente er mit seinem Ratgeber, der im Titel auf eine persönliche Krankheitserfahrung Bezug nimmt, nicht nur eine thematische Nachfrage, sondern versuchte ein alternatives Hilfsangebot gegenüber den Publikationen von Ärzten und medizinischen Nervenspezialisten zu etablieren.

Ein Blick in den Text macht klar, welche Mittel Gerling für dieses Vorhaben einsetzte und wie er damit die Autorisierung als nicht-ärztlicher Ratgeber sowie die Möglichkeit der laienmedizinischen Selbstbehandlung begründete. So nimmt Gerling in der Einleitung eine gattungstypologische Einordnung von Meine Nervosität vor, die einerseits der Abgrenzung von konkurrierenden Publikationen dient und andererseits die weiteren Absichten der kleinen Broschüre rahmen soll. Mit diesem Ziel vor Augen schreibt er, dass es unter den zahllosen Büchern über die Neurasthenie nur zwei Sorten gebe: die zu umfangreichen Bücher, die meistens für Ärzte geschrieben seien, und die populären Bücher, bei denen zwar die Behandlung, nicht aber die ersten Entstehungsursachen dargestellt würden (vgl. Gerling 1915, 3). Anstatt nun aber in weiteren Erörterungen eine Klassifizierung von Meine Nervosität vorzunehmen, legt er in einer kurzen Erzählung dar, wie er einst selbst an einem schweren neurasthenischen Leiden erkrankt war und wie er sich ohne fremdes Zutun dauerhaft davon heilte:

Ich war infolge von Ueberarbeitung [sic], Sorgen, Aufregungen und wohl auch fanatischer Abstinenz schwer neurasthenisch geworden, Schlaflosigkeit, Herzklopfen, Angstzustände wechselten mit Zwangsvorstellungen ab und meine Reizbarkeit erreichte einen hohen Grad. Damals erkannte ich, daß es so nicht weiter gehe. Ich erforschte meinen Zustand und fand den Weg zur Heilung für mich und andere Leidensgenossen. Heute kenne ich keine nervösen Beschwerden mehr, obwohl ich seit mehr als 28 Jahren ohne Erholung, ohne Ferienreise und oft wochenlang mit nur sieben Stunden Nachtschlaf auskomme. (Ebd.)

Gerlings Erzählung macht den autobiographischen Fall zum entscheidenden Merkmal, über das sich Meine Nervosität von den Büchern zur Neurasthenie gattungstypologisch abgrenzt.1 Die Darstellung des Falls in der Einleitung bildet so etwas wie den narrativen Rahmen für Meine Nervosität, bestimmt Form und Zweck des Buches, legitimiert Gerlings Redeposition als nicht-ärztlicher Ratgeber und wirkt suggestiv auf die Möglichkeit einer laienmedizinischen Selbstbehandlung hin. Dass er selbst eine schwere Neurasthenie mit Angstzuständen und Zwangsvorstellungen durchlitten hat, macht Meine Nervosität zu einem Buch, das von einem Leidensgenossen für Leidensgenossen geschrieben ist (vgl. ebd.). Mit der Erzählung seiner neurasthenischen Episode versucht Gerling ein Nähegefühl herzustellen, indem er zeigt, dass er das Leiden der Betroffenen aus eigener Erfahrung kennt und ihre Situation nachempfinden kann. Zugleich bescheinigt der Umstand, dass er sich ohne professionelle Hilfe geheilt hat und seit 28 Jahren trotz unausgesetzter Arbeit gesund geblieben ist, ihm ein spezielles Heilwissen und legitimiert seine Expertise als Ratgeber.2 Der autobiographische Fall behebt damit das institutionelle Autorisierungsdefizit, das Gerling als Nicht-Arzt entsteht. Gleichzeitig wendet er es in Form der erfolgreich durchgeführten Selbstbehandlung in den positiven Appell, dass jeder Laie unabhängig vom Wissen der Medizin ein Spezialist für sein Nervenleiden sein kann, und präsentiert hinsichtlich der Heilungschance nervöser Zustände eine erbauliche Zukunftsperspektive.

Gerlings Fallerzählung ist über zwei Wendepunkte konstruiert, die sich aus dem Krankheitsereignis und dem Ereignis der Heilung zusammensetzen. Damit steht zugleich die Vermutung im Raum, dass auch andere Nervenheilratgeber, die in der Aufmachung eines autobiographischen Falls erscheinen, auf das Erzählschema einer doppelten Wende zurückgreifen. Tatsächlich werden zwischen 1880 und 1930 immer wieder Ratgeber veröffentlicht, die damit werben, dass ihre Verfasser sich ohne ärztliche Hilfe von ihren Nervenleiden befreit haben, und eine entsprechende Darstellung ihrer Leidensgeschichte zur Aufklärung für andere Leidensgenossen feilbieten.3

Im Folgenden sollen die narrativen Konstruktionsparameter der autobiographischen Fallerzählungen, mit deren Hilfe die Ratgeber ihren Machtanspruch als laienmedizinisches Angebot zur Selbsthilfe gegenüber der Medizin begründen, im Detail untersucht werden. Dabei wird die These verfolgt, dass die narrative Handlungseinheit des Ereignisses eine Art subversives Element im Strukturaufbau der Fallerzählungen bildet. Anhand von Jurij M. Lotmans Raummodell soll nicht nur ein entsprechender Ereignisbegriff erarbeitet, es soll auch ein Analyseinstrument bereitgestellt werden, um die topologische Struktur, in der sich die Kritik an der Medizin in den Fallerzählungen der Ratgeber manifestiert, offenzulegen. Man wird, so viel lässt sich vorwegnehmen, sowohl bei dem Krankheitsereignis als auch bei dem Heilungsereignis einen Grenzübertritt der Protagonisten vorfinden, der in Konflikt zu den Regeln der Medizin steht. Um plausibel zu machen, warum sich überhaupt eine Lektüre der Ratgebertexte mit Lotmans Raummodell anbietet, ist zunächst eine Kontextualisierung im Rahmen des zeitgenössischen Wissensfeldes geboten. Das Ereignis gewinnt für die autobiographischen Fallerzählungen der Ratgeber vor allem im Rahmen der medizinwissenschaftlichen Diskussion um die schwere Diagnostizierbarkeit der neurasthenischen Störungsphänomene an Bedeutung. Für die Betroffenen ist der Eintritt der Krankheit ein ebenso unbegreifliches Ereignis, das mit einer erheblichen Erschütterung des eigenen Weltbildes einhergeht, wie es in der narrativen Rekonstruktion zum Ausweis einer laienmedizinischen Expertise gerät. Aus diesem Grund, und weil die Medizin demgegenüber das Krankheitsereignis weitestgehend aus der Falldarstellung ausschließt, setzt die Untersuchung bei der Deutungsproblematik der Neurasthenie an.

Zur Deutungsproblematik der Neurasthenie

Eine Qualität, die laut der zeitgenössischen Medizin die Fälle von Neurasthenie auszeichnet, ist ihre ausgeprägte Individualität (vgl. Gruner 2015, 96f.). Kein Fall, lautet das oft wiederholte Dogma der Ärzte, gleicht dem anderen (vgl. Krafft-Ebing 1885, 105). Nicht nur leiden die neurasthenischen Patienten an einem ganzen Bündel an Beschwerden, die von Kopfschmerzen über Verdauungsprobleme bis hin zu Stimmungsschwankungen und Selbstmordgedanken reichen, auch das Erscheinungsbild ist dynamisch. Im Verlauf einer chronisch bestehenden Neurasthenie können deshalb Symptome an verschiedenen Stellen des Körpers auftauchen und nach einiger Zeit wieder verschwinden. Das gibt dem Leiden nicht nur einen höchst individuellen Ausdruck, es macht auch die Erkennung und Behandlung zu einem schwierigen Unterfangen. Schon George Miller Beard, der sich in seinem Buch A Practical Treatise On Nervous Exhaustion (Neurasthenia): Its Symptoms, Nature, Sequences, Treatment (1880) als Entdecker der Neurasthenie profiliert, weist auf die Schwierigkeiten bei der diagnostischen Bestimmung der Fälle von Neurasthenie hin.4 Für Beard liegt diese Schwierigkeit in der speziellen Natur der Neurasthenie als einer funktionellen Störung begründet. Demnach verweisen ihre Symptome nicht auf eine organische Schädigung, die eine entsprechende lokale Dysfunktion nach sich zieht, sondern auf eine pathologische Schwächung des Nervensystems (vgl. ebd., 11f.). Diese Schwächung oder, wie Beard sagt, dieser Mangel an Nervenkraft (vgl. ebd., VI) bewirkt, dass nervöse Störungen im gesamten menschlichen Organismus auftreten können, Lage und Dauer ihres Erscheinens verändern und ein insgesamt widersprüchliches Symptombild zeigen (vgl. ebd., 84f.). Körperliche Anzeichen wie Magenbeschwerden oder Gliederschmerzen bergen dabei die Gefahr, falsch behandelt zu werden, während gewisse Empfindungsanomalien nach außen hin nicht wahrnehmbar sind (vgl. ebd., 86-96). Um die Fälle von Neurasthenie richtig zu erkennen, ist nach Beard neben einer sorgfältigen Untersuchung, die über einen längeren Zeitraum immer wieder auch die Patientenaussagen zu prüfen hat, vor allem genügend therapeutische Erfahrung und eine professionell geschulte Deutungskompetenz erforderlich (vgl. ebd., 6f. u. 12-15). Die Fälle, die Beard in A Practical Treatise On Nervous Exhaustion in großer Anzahl publiziert, haben entsprechend Lehrcharakter und sollen dem erklärten Anspruch des Buches genügen, unerfahrene Klinikärzte mit den eigentümlichen Erscheinungsformen der Neurasthenie vertraut zu machen (vgl. ebd., 1-10). Im Mittelpunkt stehen deshalb die durch die Nervenschwäche verursachten Komplikationen und weniger die Umstände ihrer Entstehung oder die Empfindungen der Patienten. Sehr häufig findet man bei Beard deshalb kurz geschilderte Fälle wie den folgenden, in dem lediglich das charakteristische Detail einer neurasthenischen Angststörung vorgeführt wird: „I have now under care a patient who for a long time has been shut up in his house, unable to go anywhere, simply from fear of going anywhere“ (ebd., 30). Auch der folgende Fall von Waschzwang ist ganz auf die Objektivierung des pathologischen Details eingestellt: „One of the patients washed her hands as many as two hundred times a day“ (ebd., 27). Die Darstellungsform der Fälle ist bei Beard eng mit den medizinwissenschaftlichen Ansprüchen von A Practical Treatise On Nervous Exhaustion verbunden.5 Als Lehrbeispiele für die klinische Praxis sind die Fälle Teil einer nosologischen Ordnung und in ein System von Symptomgruppen wie Angststörungen oder Zwangshandlungen eingegliedert. Sie dienen vordergründig der Veranschaulichung der zum Teil sonderbaren Erscheinungsformen der Neurasthenie und sollen die diagnostische Urteilsfähigkeit von Ärzten schulen.6 Die Deutungsproblematik, die der Neurasthenie als funktioneller Krankheit zukommt, ist dabei nicht Teil der Darstellung und durch den Publikationskontext didaktisch abgefedert. Das ist auch der Grund, warum die Fälle den Prozess der Diagnosefindung nicht zeigen und im Gegensatz zu Beards Forderungen, ein möglichst intensives Studium derselben zu betreiben, relativ kurz und ereignisarm ausfallen. Hieraus lässt sich folgern, dass mit der medizinischen Erforschung und Klassifizierung der Neurasthenie nicht nur die Deutungsproblematik aus den Fällen verschwindet, sondern auch das Geschehen auf die objektiven Erkennungsmerkmale der neurasthenischen Leidenszustände reduziert wird.7 Dass Beard damit sozusagen die medizinwissenschaftliche Folie liefert, vor der die Ratgeberliteratur ihr Gegenprogramm entwickelt, lässt sich in der Gestaltung der laienmedizinischen Fälle nachverfolgen.

Schon in Gerlings Fall zeichnet sich ab, welchen Stellenwert die richtige Erkennung der neurasthenischen Beschwerden für die hier infrage stehenden Ratgebertexte hat. Dass er als Laie seinen eigenen Leidenszustand erforscht und eine erfolgreiche Heilmethode findet, erscheint im Licht von Beards Überlegungen zur Deutungsproblematik der Neurasthenie als besondere kognitive Leistung. Für einige der Ratgeber bildet es daher ein wichtiges Erzählmotiv, dass die Zeichen der Nervenschwäche anfangs nicht erkannt werden und sich erst im Rückblick ein Verstehen einstellt. Nur so können die Autoren ihre Leidensgeschichte als einen Erkenntnisprozess inszenieren, der mit einer persönlichen Entwicklung korrespondiert und sich unabhängig von den diagnostischen Bestimmungsversuchen der Medizin vollzieht. Eine Tilgung der Deutungsproblematik, wie sie die professionelle Beobachterinstanz in Beards Fällen vornimmt, wenn sie den Blick ganz auf die Komplikation der neurasthenischen Störungsphänomene richtet, würde deshalb auch der verfolgten Abgrenzungsstrategie zum medizinischen Fachdiskurs zuwiderlaufen. Vielmehr ist das Unwissen über die Erscheinungen der Nervenschwäche und ihre retrospektive Entschlüsselung Teil der Geschichte und aufs engste mit der autobiographischen Form der Fallerzählungen verschränkt. In der Rückschau beobachtet sich das Erzähler-Ich nicht nur selbst, es zieht, indem es die Deutungsproblematik der Neurasthenie von einem veränderten Wissensstandpunkt aus thematisiert, eine kognitive Differenz zwischen der Ebene des discours und der Ebene der histoire in den Text ein.8 Oder anders gesagt: Das erzählte Ich der histoire befindet sich gegenüber dem erzählenden Ich des discours in einem Zustand der Unkenntnis und wird zum Ausgangspunkt einer Geschichte, der es um die Profilierung einer Krankheitserfahrung im Sinne eines identitätsbildenden Erkenntnisprozesses geht. Auf diese Weise gerät die retrospektive Entschlüsselung der nur schwer zu diagnostizierenden Neurasthenie zum Ausweis einer laienmedizinischen Expertise und macht das Krankheitsereignis zum Gegenstand verstärkter Rekonstruktionsbemühungen. Die ungekannte Situation, die mit dem Ausbruch der neurasthenischen Beschwerden eintritt, setzt nicht nur die Erzählung in Gang; sie dient zugleich der nachträglichen Sinngebung und Autorisierung einer Laienexpertise. Entsprechend wird der Eintritt der Krankheit von Überlegungen des Erzähler-Ichs begleitet, ob diese früher erkannt und durch rechtzeitige Gegenmaßnahmen hätte verhindert werden können. Im Gegensatz zu den ereignisarmen Falldarstellungen, wie sie im Kontext von Beards A Practical Treatise On Nervous Exhaustion zahlreich mitgeteilt werden, erfährt das Krankheitsereignis dabei eine umfassende narrative Ausgestaltung.

Der Fall von Carus und die Chronologie eines nervösen Schwächeanfalls

An dem Ratgeber Gesunde Nerven! eines Autors mit dem Namen Carus lässt sich dieser Sachverhalt nun konkretisieren. Zunächst ist die Rekonstruktion des Krankheitsereignisses, wie es für die autobiographische Erzählform der Fälle bestimmt wurde, von der kognitiven Differenz zwischen erzählendem und erzähltem Ich bestimmt. Carus, der Leiter eines industriellen Großbetriebes war und parallel dazu einen landwirtschaftlichen Güterkomplex zu verwalten hatte, erleidet mit 44 Jahren einen Blutsturz, auf den ein langwieriger Bronchialkatarrh folgt (vgl. Carus 1910, 8). Obwohl der Blutsturz eine erhebliche Schwächung herbeiführt, ist damit das eigentliche Krankheitsereignis noch nicht eingetreten. Vielmehr bildet dieser nur eine vorbereitende Ursache für den später erfolgenden nervösen Zusammenbruch. Hier, während der Vorphase des eigentlichen Krankheitsereignisses, setzt nun auch Carus’ Reflexion zu den verkannten Anzeichen der Neurasthenie und ihrer möglichen Verhinderung ein:

Beim Zurückblicken auf diese letzte Arbeitsperiode ist es mir jetzt vollständig klar, daß ich damals den Grund gelegt habe zu dem späteren nervösen Leiden: Die Weiterführung einer sehr aufreibenden, verantwortlichen Berufstätigkeit mit einem beträchtlich geschwächten Organismus konnte eben nur geschehen auf Kosten der Nervenkraft. Ein schließliches Versagen derselben mußte sich früher oder später geltend machen. (Ebd., 8f.)

Die Stelle zeigt, wie Carus die veränderte Sicht auf das zurückliegende Geschehen in den Aufbau der Erzählung integriert und Orientierung bietet, indem er eine Erklärung für den später erfolgenden nervösen Zusammenbruch vorausschickt. Auf diese Weise stellt die autobiographische Fallerzählung nicht nur nachträglich eine kausale Beziehung zwischen der letzten Arbeitsperiode und der erlittenen Nervenschwäche her, sie moderiert auch den Verlauf der Handlung, baut im Vorgriff auf die kommende Krise einen Spannungsbogen auf und reflektiert die Ahnungslosigkeit von Carus bezüglich der vor sich gehenden Ereignisse. Im Anschluss wird entsprechend ein Bedauern laut, die Anzeichen der sich anbahnenden Nervenschwäche nicht richtig erkannt zu haben, obgleich sie wahrgenommen wurden und sich auf charakteristische Weise in Gefühlen der Übermüdung und Niedergeschlagenheit mitteilten (vgl. ebd., 9). Hier wird entsprechend die Deutungsproblematik bei der diagnostischen Erkennung der Neurasthenie thematisiert und der Unterschied zu den medizinischen Fallkonstruktionen im Stile Beards offenbar. Während bei Beard die Darstellung und Klassifizierung der Fälle von einer Beobachterinstanz vorgenommen werden, die über ausreichend medizinische Sachkenntnis verfügt, bilden die autobiographischen Fallerzählungen der Ratgeber die Entschlüsselung der neurasthenischen Leiden im Vollzug der Geschichte ab. Das heißt, dass die dargestellte Episode zwischen dem Krankheitseintritt und der Heilung zum Ausweis eines Wissens wird, das sich aus der Lebenserfahrung heraus entwickelt und in der erzählerisch prozessierten Referenz auf Selbsterlebtes einen persönlichen Wandlungsprozess symbolisiert. Für Carus hat die Rekonstruktion des Krankheitsereignisses deshalb eine wichtige Bedeutung. Sie markiert einerseits die Redeposition eines gewandelten Ichs, das durch eigene Erfahrung zu einem Begriff der neurasthenischen Störungsphänomene gekommen ist und die kontingenten Zusammenhänge ihrer Entstehung in ein sinnhaftes Geschehen umdeutet (vgl. Müller / Wermeling 2016, 41-44). Andererseits dient sie der erzählerischen Entfaltung einer bedeutsamen lebensgeschichtlichen Zäsur. Mit dem nervösen Zusammenbruch geht eine grundlegende Veränderung in Carus’ Leben einher, die ihn berufsunfähig macht und ihn zwingt, mehrere Kuraufenthalte in Anspruch zu nehmen. Hat die Vorgeschichte um den früher erlittenen Blutsturz und die darauffolgenden unausgesetzten Anstrengungen im Beruf eine kausal motivierte Chronologie der vorbereitenden Ursachen geliefert, ereignet sich der nervöse Zusammenbruch nun als ihre logische Konsequenz und bricht als ein plötzlicher Anfall von Nervenschwäche über den ahnungslosen Carus herein.

Nur noch wenige hundert Schritte von meiner Wohnung entfernt, hatte ich das Gefühl, als ob ein elektrischer Schlag von oben nach unten meinen Körper durchzuckte. Ich fürchtete zusammenzubrechen, da die Füße zu versagen drohten, schleppte mich aber unter Aufbietung der letzten Kräfte noch bis zu meiner Wohnung. Dort stellten sich dann sofort heftiger Schüttelfrost, starkes Herzklopfen, Atemnot und hochgradiges Angstgefühl ein. Diesem Anfall folgte ein Zustand großer körperlicher Schwäche und einer krankhaften Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen äußere Eindrücke. Vor allem aber fürchtete ich, herzkrank geworden zu sein. Während mir früher meine Herztätigkeit niemals zum Bewußtsein gekommen war, […] empfand ich jetzt jeden Herzschlag und wurde dadurch fortwährend an meine abnorm gewordene Herztätigkeit erinnert. (Ebd., 9f.)

Die Art, wie Carus den Anfall beschreibt, unterstreicht den Ereignischarakter des Geschehens, lässt aber auch die rhetorische Seite der Erzählung hervortreten. So suggeriert die Rede, dass sein Körper wie von einem elektrischen Schlag durchzogen wurde, eine Plötzlichkeit, die dem Eintritt der Nervenschwäche eine gewisse Unerwartbarkeit beimisst. Gleichzeitig stellt sich hier die Erzählung ganz in den situativen Erlebniszusammenhang der Geschichte und nivelliert für einen Moment die Distanz der retrospektiven Fokalisierung. In dem Krankheitsereignis tritt so gesehen die Perspektive des erlebenden Ichs in den Vordergrund. Das ist aber nicht das Ausschlaggebende; es fragt sich vielmehr, wie man die makrostrukturelle Organisation der autobiographischen Fälle beschreiben kann, die im Gegensatz zu den medizinischen Falldarstellungen einen derartigen rhetorischen Aufwand um die Rekonstruktion des Krankheitsereignisses betreiben.

Krankheit als Ereignis

Das Ereignis, wie es von Jurij M. Lotman in Die Struktur literarischer Texte bestimmt wird, bietet einen Ansatz, um die textuellen Konstruktionsbedingungen der autobiographischen Fallerzählungen näher ins Auge zu fassen. Lotman entwickelt den Ereignisbegriff anhand der modellbildenden Funktion des Raumes im künstlerischen Text. Demnach ist die Struktur des Raumes im künstlerischen Text ein endliches Modell der unendlichen Struktur des Raumes der Welt (vgl. Lotman 1972, 312). Das Raummodell, das ein künstlerischer Text von der Welt entwirft, muss nach Lotman als ein geschlossenes Kontinuum (Gesamt-Topos) vorgestellt werden, das von einer räumlichen Struktur organisiert wird. Diese räumliche Struktur ordnet nicht nur die Figuren und Objekte in dem Kontinuum der modellierten Welt an, sondern verleiht den räumlichen Relationen eine Sprache (vgl. ebd., 329f.).

Im künstlerischen Text findet sich das vorherrschende topologische Organisationsprinzip häufig in einer binären Opposition wie etwa zwischen ‚oben / unten‘ oder ‚offen / geschlossen‘ ausgedrückt und verbindet sich mit sprachlichen Zuschreibungen zu nichträumlichen Relationen wie ‚gut / böse‘ oder ‚hell / dunkel‘ (vgl. ebd., 311-328). Entsprechend der semantischen Oppositionsbildungen teilt sich der Raum des Textes in Teilräume ein, die eine eigene Welt repräsentieren und eine distinkte Umgebung für die Elemente der Handlung bilden. So können die räumlichen Merkmale ‚oben / unten‘ für die Aufteilung des Textes in eine irdische und eine Welt im Himmel stehen, denen zugleich die ethische Codierung von ‚gut / böse‘ zukommt.

Die Verbindung räumlicher Gegensätze mit binären Bedeutungsstrukturen anderer Art dient nach Lotman kulturübergreifend zum „Aufbau von Kulturmodellen mit keineswegs räumlichem Inhalt“ (Lotman 1972, 313; vgl. Frank 2012, 221). Man muss hier nicht die endlosen Möglichkeiten durchspielen, in denen literarische oder auch nicht-literarische Texte das Verhältnis zwischen der räumlichen Struktur und ihrer semantischen Codierung entwerfen. Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es festzuhalten, dass die spezifische räumliche Struktur eines textuellen Weltmodells eine semantisch codierte Grenze festlegt, die für Lotmans Definition von Ereignis bestimmend ist.

Lotman definiert das Ereignis als den Übertritt einer Figur über die von einem Text festgelegte Grenze. „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ (Lotman 1972, 332). Zunächst konstituiert also die Bewegung einer Figur von einer Welt des textuellen Gesamt-Topos in eine andere Welt das Ereignis. Ob etwas als ein solches gilt, hängt dabei wesentlich von dem Weltbild des gegebenen Raummodells ab, das eine derartige Versetzung zulässt oder verbietet (vgl. ebd., 333f. u. 336-340). Gleichwertige Ereignisse können so gesehen in unterschiedlichen Texten ein Ereignis werden oder nicht. Die Grenzüberschreitung einer Figur muss im Weltbild des gegebenen Raummodells eine hinreichende Abweichung von der Norm darstellen, um als Ereignis gefasst zu werden.

Anhand der Bestimmung des Ereignisses als eine normverletzende Grenzüberschreitung kann nun auch das Krankheitsereignis von Carus in seiner textstrukturierenden Funktion näher betrachtet werden. Ohne Zweifel markiert der nervöse Zusammenbruch von Carus eine Grenzüberschreitung im Sinne einer Normabweichung. Präsentiert sich Carus am Beginn noch als arbeitstüchtiger Betriebsleiter, der Sommer wie Winter von früh bis spät im Geschäft tätig ist, erscheint er danach als pflegebedürftiger Kurpatient mit multiplen neurasthenischen Beschwerden. Carus legt, was die Anwendbarkeit von Lotmans topologischem Ereignisbegriff unterstreicht, die Grenze, an der sich der Übertritt von einem gesunden zu einem kranken Leben ereignet, entlang der binären räumlichen Aufteilung in eine Welt der Arbeit und des Geschäftslebens und eine Welt der Nervensanatorien und Pflegheilstätten an. So gesehen entwirft die autobiographische Fallerzählung von Carus ein Raummodell, das die topographischen Weltenteile ‚Arbeitswelt / Sanatorium‘ mit der semantischen Opposition ‚gesund / krank‘ koppelt.

Lotmans topologischer Ereignisbegriff ermöglicht allerdings nicht nur die Deutung von Carus’ nervösem Zusammenbruch als normverletzendem Grenzübertritt, sondern auch eine Bestimmung der Textform des Falls. Für Lotman ist das Ereignis eine Einheit des Sujetaufbaus (vgl. ebd., 332). Ein Sujet ist die Entfaltung eines Ereignisses und setzt insofern die Verletzbarkeit der von einem Text vorgegebenen Ordnung voraus (vgl. ebd., 338). Texte, die ein Ereignis im Sinne einer Grenzüberschreitung darstellen, bezeichnet Lotman als sujethafte Texte. Sie bilden ein sekundäres System zu dem sujetlosen Text, der als primäres System die Grenze als undurchdringbar postuliert und die Ordnung des gegebenen Weltmodells einhält (vgl. ebd., 338f.). Hiernach wären zunächst alle Fälle, die einen Grenzübertritt wie den zwischen gesund und krank aufweisen, als sujethafte Texte zu bezeichnen. Die autobiographischen Fälle der Ratgeber-Autoren unterscheiden sich von den Fällen der Medizin dann nur darin, dass sie die mit dem semantischen Gegensatzpaar ‚gesund / krank‘ einhergehenden topographischen Übertritte sichtbar machen. Das ist aber, wie man bei Gerling beobachten konnte, nicht der einzige Unterschied; denn neben dem Krankheitsereignis gibt es immer auch noch das Ereignis der Heilung, das erzählt wird. Und hier zeigt sich nun eine interessante Verschiebung im Sujetaufbau. Zunächst kann man das Ereignis der Heilung auch lediglich als eine Grenzüberschreitung im Sinne einer Versetzung der Protagonisten von der Welt der Kranken in die Welt der Gesunden begreifen. Geschieht dies ohne dauerhafte Folgen für die dargestellte Welt und wird die alte Ordnung wiederhergestellt, so liegt, in der Terminologie von Matías Martínez und Michael Scheffel, ein restitutiver Text vor (vgl. 2000, 142). Die temporäre Erschütterung eines gesunden Lebens tangiert dann nicht länger die Weltordnung, da der Übertritt aus der Welt der Sanatorien und Pflegeheilstätten zurück in die Welt der Gesunden im Einklang mit den Normen der Medizin erfolgt. So verhält es sich etwa im Fall von Carus. Nachdem dieser verschiedene Sanatorien aufgesucht hat und nach kurzen Besserungsphasen immer wieder Rückschläge erleidet, erlangt er schließlich im „Weißen Hirsch“, einer naturheilkundlichen Kuranstalt bei Dresden, vollständige Genesung. Auch stellt die Heilung für Carus einen einschneidenden Wendepunkt in seinem Leben dar. „Mit der Übersiedelung nach dem ‚Weißen Hirsch‘ begann nun ein bedeutsamer Wandel in meiner bisherigen Lebensweise sowie in meinen Lebensgewohnheiten“ (Carus 1910, 16). Carus pflegt sich nicht nur gesund, er wird zum Verfechter der Kurmethode, die ihm der leitende Arzt des „Weißen Hirsch“, Heinrich Lahmann, verordnet hat. Die Verordnungen, die Luftbäder, leichte Wasseranwendungen, Massagen, gymnastische Übungen, gemischte Kost u.v.a. umfassen, bilden letztlich auch das Kurprogramm, mit dem Carus’ Ratgeber wirbt und für das er als lebendes Beispiel einsteht (vgl. ebd., 16-18).

Eine revolutionäre Fallerzählung

Im nächsten autobiographischen Fall schafft es der Protagonist, die Krankheit ohne nennenswerte Hilfe der Medizin zu überwinden. Hier richtet sich die laienmedizinische Heilung gegen die etablierte Ordnung und gerät zum eigentlichen Sujet der autobiographischen Fallerzählung. Ein solches Sujet verfügt nach Lotman über ein „‚revolutionäres Element‘ im Verhältnis zum ‚Weltbild‘“ (1972, 339).

In Max Brands Nervenkranker, Neurastheniker sei dein eigener Arzt! Praktische selbsterprobte Ratschläge eines Laien zur Heilung der Nervenkrankheit von 1907 findet das Ereignis der Heilung ohne Hilfe – oder sogar trotz – des medizinischen Apparates statt. In diesem Fall ist auch die Rückkehr in die Arbeitswelt ereignishaft im Sinne von Lotman, da sie medizinische Normen verletzt. Neben dem ersten Ereignis, das in eine vom therapeutischen Apparat dominierte Welt der Krankheit führt, befreit hier ein zweites Ereignis aus dieser Welt. Dieses zweite Ereignis ändert dauerhaft die erzählte Weltordnung; diese vollzogene Grenzüberschreitung macht den Text revolutionär.

Vergleichbar mit Carus beginnt Brand seine Fallerzählung mit der Bemerkung, dass er anfangs die ersten Symptome seines Nervenleidens verkannt habe. Brand erleidet aber keinen plötzlichen Zusammenbruch, sein Leiden entwickelt sich eher schleichend. Als Brand sich seiner Krankheit bewusst wird, findet seine Grenzüberschreitung in die Welt der Krankheit zunächst keine Anerkennung. Die Ärzte, die er aufgrund seiner Beschwerden konsultiert, können bei der Anamnese keine Organschäden oder pathologische Störung identifizieren. Es besteht also keine Einigkeit über ein eingetretenes Krankheitsereignis; dieses entbehrt zu diesem Zeitpunkt den objektiven Status der diagnostischen Bestimmung. Die Tatsache, dass Brands Leiden für seine Umwelt an der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit verharrt, prägt die autobiographische Falldarstellung. Mehrere Arztbesuche und therapeutische Behandlungen bleiben ohne Erfolg: „Die Ärzte, die mich bereits untersucht und behandelt hatten, behaupteten einstimmig, ich sei gesund und doch fühlte ich mich so elend, hatte Tag und Nacht die schrecklichsten Schmerzen auszuhalten, sah blaß und eingefallen aus!“ (Brand 1907, 14) Den ersten Arztbesuchen folgt eine wahre Odyssee, in deren Verlauf er diverse therapeutische Behandlungen über sich ergehen lässt: Brand hält sich in mehreren Sanatorien auf, verbleibt für längere Zeit im Krankenhaus und besucht eine Reihe von Fachspezialisten für Nervenleiden, während sein Zustand sich zunehmend verschlechtert.

Ein Nervenzusammenbruch auf dem Weg zu einem weiteren Sanatoriumsaufenthalt bereitet das Ereignis vor, das zu seiner Genesung führt. Auf einer Parkbank, auf der er versucht, sich von der Attacke zu erholen, begegnet er, neben ihm sitzend, einem gut gekleideten Herrn. Der erkundigt sich nach Brands Zustand, woraufhin letzterer seine komplette Leidensgeschichte erzählt. Sein neuer Gesprächspartner hört aufmerksam zu und erkennt nach eigener Aussage sein persönliches Schicksal darin wieder:

‚Armer Kerl, welch’ schrecklichen Weg des Leidens und der Verzweiflung mußten Sie schon durchwandern, was für Enttäuschungen wurden Ihnen schon bereitet, von denen sich andere Menschen, die davon nichts wissen, keinen Begriff machen können. Aber ich,‘ fuhr er mit erhobener Stimme fort, so daß ich ganz erstaunt zu ihm aufsah, ‚ich kann mit Ihnen fühlen und mich in Ihren Zustand hineinversetzen, hatte ich vor längeren Jahren das gleiche Leiden mit denselben Symptomen. [...]‘ (Ebd., 32)

Es stellt sich heraus, dass der fremde Herr Brand die Rückkehr in die Alltagswelt ermöglichen wird. Der Mann diagnostiziert Brands Beschwerden und Schmerzen als Symptome eines Neurasthenieleidens. Aber anstelle eines Aufenthaltes in einem Sanatorium empfiehlt er Brand, ihn auf eine gesundende Reise über Lausanne nach Italien zu begleiten. Auf dieser Reise kann Brand sich sowohl körperlich als auch seelisch erholen. Er ist nicht länger depressiv und findet die Lebensfreude und den Witz, die ihn früher ausgezeichnet haben, wieder.

Das Ereignis der Grenzüberschreitung zurück in die Welt der Gesundheit ist mit dem plötzlichen Erscheinen eines Schicksalsgenossen verbunden. Die Tatsache, dass diese Begegnung auf einer Parkbank und nicht in einer Klinik stattfindet, ist ein Zeichen für den Verlust der Autorität der Medizin; das gleiche gilt für die Reise nach Italien. Beide markieren topologisch bzw. topographisch den heilsamen Gegensatz zu der Welt der medizinischen Institutionen. Das Gespräch im Park und die gemeinsame Reise stehen in topologischer Hinsicht für die Möglichkeit eines alternativen Heilungsereignisses jenseits der Welt der Medizin.

Mit seiner autobiographischen Falldarstellung inszeniert sich Brand als Leidensgefährte des potenziellen Lesers, der Verständnis für seine Suche nach alternativen Heilungschancen jenseits der medizinischen Bevormundung hat. Er übernimmt damit die Position des rettenden Herren aus seiner Erzählung. Wie diesem verleihen ihm sein Leidensweg durch die Welt der Sanatorien und die therapeutischen Gespräche mit einem Leidensgefährten eine Expertise. Dieses Wissen überträgt er in die mediale Form des Ratgebers; wie der Mann auf der Bank hat auch er Verständnis für den Irrweg des Lesers und ermächtigt ihn durch seine Erzählung, die Grenze zwischen gesund und krank aus eigener Kraft zu überschreiten.

Die topologisch strukturierte Erzählung von Brand markiert auch die institutionelle Grenzüberschreitung eines Laien in die Welt der Experten. Die paradoxe Losung im Titel des Buches in der Form eines direkten Befehls markiert die Transformation: „Nervenkranker, Neurastheniker sei dein eigener Arzt!

Selbstbehandlung in Dialogform

In Kontrast zu Brands chronologisch erzählter Handlungslinie in Form einer Odyssee von Fehlversuchen, therapeutische Abhilfe zu finden, hat Philipp Weinmann, ein Lehrer aus Mainz, eine Art FAQ (Frequently Asked Questions)-Sammlung für Neurasthenieleidende zusammengestellt.9 Wenn auch die Struktur anderes vermuten ließe, basiert sein 1892 erschienener Ratgeber auf einer autobiographischen Fallerzählung, die gestückelt und teilweise redundant über die einzelnen Fragen hinweg verteilt wird. Auch diese Sammlung richtet sich an Personen, denen nicht über medizinische Behandlungsmethoden geholfen werden kann. Sie trägt den bezeichnenden Titel: Warum werde ich mein Nervenleiden nicht los? Weil du bis jetzt den richtigen Heilweg noch nicht kennen gelernt und eingeschlagen hast. Oder: Wie ich mich selbst von meiner zwölfjährigen Nervenschwäche geheilt habe. Ein Trost- und Hilfsbuch für alle Nervenleidenden. Weinmann konzentriert sich im Buch auf das Ereignis der Heilung, das er bereits im Titel mit der topologischen Figur des Weges verbindet. Das Krankheitsereignis setzt der Autor als gegeben voraus, darauf vertrauend, dass die Leser durch die Flut an Neurasthenieveröffentlichungen bereits ausreichend über die Ursachen informiert sind.

Weinmann gibt vor, Fragen zu beantworten, die von einem noch nicht ganz überzeugten Gesprächspartner stammen, der den Heilungsweg durch Selbsthilfe ohne medizinische Intervention anzweifelt. Dies ist die Eröffnungsfrage des Buches:

Warum schreibst du dieses Werkchen, da es doch in unserer Zeit eine Unmenge Bücher, wissenschaftliche und gemeinverständliche, über Nervenleiden, speciell über Nervenschwäche, von berufenen und unberufenen Autoren giebt?
Weil ich damit meinen Mitleidenden bei den vielen Theorien unserer Tage, bei dem Wenn und Aber unserer Kenner und Nichtkenner, bei dem Wortreichtum unserer Autoritäten, in kurzen Zügen, anknüpfend an das von mir selbst Erlebte, Erlittene und Erprobte oder mein Ich in das Allgemeine verwebend, alles sagen will, um ihnen das Bild „der Krankheit unseres Jahrhunderts“ und zugleich den Heilweg für dieselbe klarzulegen. Wissen und verstehen sie aus meinem Buche das für sie Passende herauszufinden, für sich zu individualisieren und zu befolgen, so werden sie sichere Hilfe finden. (Weinmann 1892, 1 [Hervorhebung im Original])

Dadurch dass er immer wieder über den eigenen Heilungsweg berichtet, suggeriert Weinmann, als ehemaliger Leidensgenosse in einem symmetrischen Verhältnis zum Leser zu stehen. Auch hier autorisiert der autobiographische Fall wieder die institutionelle Position des Ratgeberautors. Er macht sich zum Sprecher einer Peergroup von Außenseiter-Experten, die in klarer Absetzung von der medizinischen Welt der Überzeugung sind, dass man allein kraft der richtigen Lebenseinstellung das disparate Feld von Leiden, die unter dem Namen Neurasthenie zusammengefasst werden, kurieren könne.

Weinmann wäre bestimmt der Überzeugung, sein Büchlein verfüge zumindest über das gleiche Beratungspotenzial, wie der aus dem Nichts auftauchende Leidensgefährte auf der Parkbank in der Fallerzählung von Brand. Diesmal findet das stets wieder in Aussicht gestellte Ereignis der Heilung des Lesers im virtuellen Raum beim Dialog mit dem Autor statt. Öfter tut der Autor so, als ließe er sich vom Leser überzeugen, eine Frage zu seinem Leben zu beantworten, die er eigentlich lieber nicht beantworten möchte, wie zum Beispiel bei der 86. Frage: „Warum giebst du mir aber nicht an, wie du jeden Tag lebst, und was du speciell gethan oder thust, um gesund zu werden oder es zu bleiben?“ (Ebd., 86) Der Autor verspricht durch die Transformation seines Falles in das Frage-Antwort-Format mehr Flexibilität bei der Lektüre und damit einhergehend eine schnellere Adaption auf den Fall des Lesers.

Im Gegensatz zu der Nacherzählung der therapeutischen Beratungssituation bei Brand begleitet Weinmanns Büchlein den Leser interaktiv bei der Entgrenzung seiner Sicht auf die eigene Krankheit. Im Vorwort der verbesserten dritten „und mit den neuesten Erfahrungen und Erforschungen vermehrte[n] Auflage“ (ebd., Titelseite) betont der Autor, dass sein Buch ständig erweitert und an die Nöte des Lesers angepasst werde (ebd., o.S.). Um das zu unterstreichen, wird das Medium vom Autor mit den gleichen topologischen Markierungen versehen wie es in den autobiographischen Fallerzählungen mit dem Ereignis Neurasthenie geschieht. Er schickt sein Büchlein wörtlich in die Welt hinaus; seine Losung am Ende der Vorbemerkung zur dritten Auflage lautet entsprechend: „Gehe hinaus Büchlein, und wirke weiter!“ (Ebd., o.S.) Bei Weimann wird die topologische Erzählstruktur auf das Medium selbst übertragen und wird der Ratgeber selbst zum Akteur im Prozess der Suche nach einem Ausweg aus der Welt der Krankheit. Dadurch dass er immer und überall disponibel sein kann, verfügt der Ratgeber als dialogisches Verbreitungsmedium über eine potenzierte Interventionskraft, eine substanzielle semantische Verschiebung von Krankheit im Leben des Lesers zu bewirken.

Wird ihm nun in vernünftiger Weise zugeredet von Mund zu Mund, oder kann er in vernünftigen Büchern lesen, dass seine Krankheit keine den Organismus zersetzende und zerstörende ist, dass ¸die Krankheit des Jahrhunderts‘ von Tausenden von Mitleidenden und Schwächeren als er auch ertragen wird, lernt er erkennen, dass es eine Heilung giebt [...]. (Ebd., 74)

Fazit

Um 1900 geben Laien-Autoren als Ziel vor, die Selbsthilfefähigkeit der Leser stärken zu wollen, damit diese Leidensgenossen die ausweglose Situation, in der sie sich befinden, überwinden können. Zu diesem Zweck arbeiten sie mit der gängigen Topik aus der Welt der Neurastheniker, die sie in einer möglichst eingängigen Form darstellen: Die beispielhaften Fallerzählungen sollen an erster Stelle suggerieren, dass die Odyssee der Leser auf der Suche nach Heilmöglichkeiten kein Einzelschicksal ist. Auf diese Weise vermeiden die Autoren folgendes Dilemma aus der Praxis der Ärzte: Einerseits basiert die medizinische Expertise dieser Zunft auf einer Extrapolation von statistischen Daten, die zwangsläufig individuelle Unterschiede nivelliert; andererseits wird von den Ärzten erwartet, dass sie die Leiden der Patienten als besonderen Fall betrachten, der stets einer genaueren Untersuchung bedarf.

Die Selbsthilfebücher von Laien für Laien kompensieren dieses Dilemma, indem sie eine attraktive Alternative offerieren. Sie betonen, dass der Leser ein einzigartiges Individuum ist, genauso wie das Individuum, das gerade seinen autobiographischen Fall im Buch präsentiert und dass jeder seine oder ihre Krankheit mit dem gleichen Erfolg überwinden kann, vorausgesetzt man befolgt akkurat den Rat des Buches, jenseits totaler Fremdbestimmung seinen eigenen Weg zu gehen.

In dem Sinne leiten diese Selbsthilfebücher den Leser weniger an, eine neue Selbstvermessungs- oder Selbstoptimierungsmethode auszuprobieren, wie es vielleicht in anderen Ratgebern der Fall ist; die Fallerzählungen gehen von der Erfahrung des „Verlust[es] der Entscheidungsfreiheit als autobiographische Erkenntnis“ (Wagner-Egelhaaf 2017, 24) aus und sollen dann den Leser darin trainieren, mittels einer topologisch strukturierten Gegenerzählung das semantische Feld, in dem man sich verhaftet fühlt, neu zu verorten und zu überschreiten. Gerade auf den Neuentwurf solcher semantisierter Räume hat die autobiographische Literatur einen erheblichen Einfluss (vgl. Frank 2012, 224). Lotman betone, so Michael C. Frank, „das de-konstruktive Verhältnis“ des sujethaften Textes zur jeweiligen Weltkonstruktion „sowie das transformative Potential der Grenzüberschreitung“ in der Literatur (ebd., 223). Dabei geht Lotman nicht einfach davon aus, dass es an den Grenzen Unruhe und Spannungen gibt; Kulturen brauchen diese Zonen der Unbestimmtheit, um sich entwickeln zu können. Das erklärt das ambivalente Verhältnis der Gesellschaft literarischen Erzeugnissen gegenüber (Lotman 1974, 417; vgl. Frank et al. 2010, 404).

Legitimiert durch eine positive Darstellung des eigenen Falles lautet die revolutionäre Botschaft der hier präsentierten Ratgeber: Du bist nicht länger der verkannte Außenseiter der medizinischen Welt; in Wirklichkeit bist du Teil einer Gemeinschaft von selbstbestimmten Neurasthenikern, die ihre Lage selbst sehr gut einschätzen und die Kontrolle darüber wiedergewinnen können. Die Ratgeber suggerieren damit, dass jeder es schaffen kann, nach einem ereignishaften Zusammenbruch aus eigener Kraft Heilung zu finden, indem sie zunächst das Werte- und Normensystem des Lesers dadurch neu ausrichten, dass dieser nicht länger auf seine Krankheit reduziert wird, sondern wieder eine aktive Rolle für sich entdeckt.

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Horst Gruner M.A.
FernUniversität in Hagen
Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft
Universitätsstraße 33
D-58084 Hagen
E-Mail: Horst.Gruner@fernuni-hagen.de

Dr. Wim Peeters
FernUniversität in Hagen
Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft
Universitätsstraße 33
D-58084 Hagen
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1 Als paratextuelles Element (vgl. Genette 1989) ist der Titel von Gerlings Ratgeber natürlich ein ergiebiger Analysegegenstand. Nicht nur evoziert er eine Identität zwischen Fall und Autor, er lockt auch mit einem medizinischen Modethema und positioniert das Buch auf der Grenze zwischen Ratgeber und Autobiographie. Auf diese Weise kommen mit dem Titel auch bereits all die Fragen ins Spiel, die sich um die Wahrhaftigkeit von autobiographischen Darstellungsformen drehen, womit zugleich eine spezifische Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser hergestellt wird.

2 Dass Gerlings Ratgeber über die Form der autobiographischen Fallerzählung eine Expertise produziert, die sich vornehmlich auf Erfahrung stützt, deckt sich mit Rudolf Helmstetters Befund, die Ratgeberliteratur übernehme in den sich ausdifferenzierenden Wissenssystemen der Moderne vermehrt eine Mittlerfunktion für praktisches Handlungswissen (vgl. 1999); zudem zeichnet sich in Gestalt des laienmedizinischen Ratgebers für Nervenkrankheiten eine Demokratisierung von Berufsfeldern ab, die eine Bedingungsmöglichkeit von Expertenwissen überhaupt ist (vgl. Stehr / Grundmann 2010, 18f.).

3 Zum Beispiel: Georg Christian Schwarz (1907): Das einzige Heilmittel bei Nervenleiden (Neurasthenie etc.). Auf Grund zwölfjähriger Leidenszeit allen Nervenkranken zu Rat und Trost, den Ärzten zur Beachtung geschrieben. Leipzig; Fritz Sternhagen (1909): Die Selbstheilung der Neurasthenie. Ratschläge eines Laien zur sicheren Selbstheilung der Nervosität ohne Arzt und Sanatorium. Berlin; Gustav Lehmann (1909): Wie ich meine Nervosität verlor. Natürliche Selbsthilfe bei Nervosität durch Selbstwachsuggestion. Nach der Methode des Dr. Paul Emile Lévy in Nancy. Leipzig; Gustav Eberhardt (1920): Warum ich nervös und wie ich wieder gesund wurde. Der Weg zu Gesundheit und Lebensfreude. Stuttgart. Auffallend an den hier verhandelten Texten ist natürlich, dass sich unter den Autoren, zumindest dem Namen nach, keine Frauen finden. Über die Gründe für diesen Überhang an männlichen Verfassern kann man nur spekulieren. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die Neurasthenie mit ihrer ätiologischen Fundierung in den Sphären der Technik und Ökonomie in der zeitgenössischen Wahrnehmung eher männlich konnotiert war (vgl. Hofer 2004, 20f.). Umgekehrt könnte man dann in den laienmedizinischen Ratgebern, in denen männliche Autoren ihre Schwäche im Sinne ihrer versagenden Leistungsfähigkeit öffentlich bekennen, auch ein Medium sehen, mit dem stereotype Geschlechterrollen vom starken und leistungsfähigen Mann ausgehebelt werden (ebd., 21).

4 Beard bezeichnet das Gebiet der Neurasthenie als Zentral-Afrika der Medizin, das bislang, gleich einem unerforschten Gebiet, nur von wenigen Menschen betreten wurde. Dieser etwas abstruse Vergleich ist als wissenschaftsrhetorische Geste zu werten und deckt sich mit dem Gesamttenor von Beards Buch, das darauf zielt, die Neurasthenie als neue Krankheit zu präsentieren. Tatsächlich waren die Krankheitsphänomene, die Beard unter dem Namen Neurasthenie versammelte, der zeitgenössischen Medizin hinlänglich bekannt und unter allgemeineren Begriffen wie dem der Nervosität verhandelt worden. Angesichts des Erfolges, den die Neurasthenie gerade unter europäischen Medizinern zu verbuchen hatte, sahen sich einige Ärzte wie der Schweizer Psychotherapeut Paul Dubois zur Kritik an Beards Krankheitskonzeption herausgefordert (vgl. hierzu Shorter 1994, 372-375).

5 Zur Epistemologie von fallbasierten Darstellungsverfahren in der Medizin siehe etwa Brändli et al. (2009), Behrens / Zelle (2012) und Düwell / Pethes (2014).

6 In dem Punkt weist Beards Arbeit Parallelen zum psychiatrischen Lehrbuch des 19. Jahrhunderts auf. Wie dort bildet das nosologische System, in das die Falldarstellungen eingeordnet werden, ein internes Referenzsystem, das in der Vorführung von konkreten Einzelfällen Evidenz erzeugt. Entsprechend dieser didaktisch-epistemischen Beziehung zwischen Einzelfall und nosologischer Systematik übernimmt die Rahmung und Platzierung der Falldarstellungen eine wichtige Funktion im Genre des wissenschaftlichen Lehrbuchs (vgl. Wübben 2014, 66).

7 Die Reduktion auf die objektiven Erkennungsmerkmale dient der Subsumierbarkeit des Falls unter das Krankheitsbild der Neurasthenie. Dabei verringert sich der erzählerische Anteil des Krankheitsgeschehens auf eine bloß deskriptive Darstellung der eigentümlichen neuropathischen Erscheinung. Diese Konvergenz eines narrativen Reduktionismus mit der Fokussierung auf ein problematisches Detail hat Michael Niehaus (2015) unter dem Begriff des „Kasuems“ zu fassen versucht. Das Kasuem versteht er in Anlehnung an strukturalistische Theorieansätze als kleinste bedeutungstragende Einheit, die ein Ereignis zu einem Fall macht und das Verfahren zu seiner Erledigung bzw. zur Einordnung in ein Regelsystem in Gang bringt (vgl. ebd., 35f.).

8 Das Problem, dass sich das Ich im autobiographischen Erzähldiskurs in die zwei Positionen des erzählenden und erzählten Ichs aufspaltet und zur Bedingung der Erkenntnis seiner selbst wird, spitzt sich unter der menschenwissenschaftlichen Heuristik der Autobiographik zu, wie sie mit den epistemischen Umbrüchen im 18. Jahrhundert aufkommt. „Das moderne Ich wird sich im autobiographischen Akt, in der textuellen Performanz des Ich als Differenz zwischen einem erzählten und erzählendem [sic] Ich auf den Textebenen von histoire wie discours selbst problematisch: Es befindet sich in der ‚doppelten Position‘, zugleich Subjekt wie Objekt seiner Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung zu sein“ (Nübel 2013, 57f.). Als Leitmedium einer modernen Identitätskonstruktion formt die Autobiographik damit das Bewusstsein einer fragmentierten Existenz, die sich nicht mehr in das Ideal einer bruchlosen, von einem entelechischen Prinzip getragenen Biographie integrieren lässt (vgl. ebd., 66-71).

9 Ratgeber in Form von Fragen und Antworten finden sich selbstverständlich auch außerhalb des Neurastheniekontextes. Jedes Subgenre der Selbsthilfeliteratur entdeckt früher oder später diese Möglichkeit. Sie präsentieren sich in therapeutischer Hinsicht als überlegen, sogar besser noch als der größte Konkurrent dieser Literatur, das face-to-face Gespräch. Das Buch als Medium sei geduldiger, diskreter und stets zur Hand, erfülle jeden Wunsch, so Messerli (2010, 41f.). In historischer Perspektive fand dieses didaktisch auf den Leser zugeschnittene Medium, das in Form von Frage und Antwort eine Lehre verbreitet, kurz nach der Reformation in Form von Katechismen starke Verbreitung (vgl. ebd., 30). Alsbald folgt die Anstandsliteratur, die weiter den Weg für das Selbsthilfegenre bahnt. Performative Widersprüche zwischen Rat und Drohung legen offen, dass die autoritäre katechetische Tradition in der dialogischen Selbsthilfeliteratur immer noch präsent ist. Was passieren kann, wenn man den Rat, seinen Weg nachzufolgen, nicht beherzigt, beantwortet Weinmann mit einer klaren Drohung; so unverbindlich ist der Rat scheinbar doch nicht: „4. Warum soll ich aber den Weg der Selbsthilfe betreten? Weil dir schliesslich, wenn du, wie ich und viele andere, alle Mittel, die dir der Arzt an die Hand giebt, versucht hast, ohne eigentliche Heilung zu finden, doch nichts anderes übrig bleibt. Hast du dein Nervenleiden schon lange, so wirst du mir sofort recht geben, hast du es erst kürzere Zeit, so wirst du, folgst du meinem Rate nicht, erst viel später gewitzigt werden.“ (Weinmann 1892, 2 [Hervorhebung im Original]) Der Leser hat zwar die Wahl, im Falle von Neurasthenie wird Selbsthilfe dennoch dogmatisch als alternativlos präsentiert.