Olivetta Gentilin

„es war ihm, als“

Irreale Vergleichssätze als Darstellungsmodus des Wahnsinns in Georg Büchners Erzählung Lenz

The importance of complex illness themes, in particular those of mental illness, has already been emphasized in numerous scientific articles regarding the literary work of Georg Büchner. It is particularly evident that Büchner draws on his medical knowledge into the literary text. In Lenz (1835) he experiments like a scientist with themes, images and structures from his scientific sources. This article opens with a comparative discussion of the narrative structures used in psychological case descriptions of the early 1800s and the ones used in Büchner’s Lenz. As the comparison reveals, the use of metaphors referring to mental illness, as well as the use of the narrative expression “es war ihm, als” (it seemed to him as if) characterize the peculiarity of Büchner’s narrative. Furthermore, this article examines the grammatical and rhetorical functioning of the expression “es war ihm, als” and suggests that it should be understood as a medium which introduces a new perspective on critical aspects of Büchner’s contemporary society.

I. Einleitung

Die Büchner-Forschung hat längst bemerkt, dass das Motiv der psychischen Krankheit die literarischen Schriften von Georg Büchner durchzieht.1 Dies gilt insbesondere für die Erzählung Lenz. Laut Müller-Sievers stellt der Text die Frage nach der Beziehung zwischen Dichtung und Wahnsinn und liefert ein Beispiel dafür, wie Wahnsinn im literarischen Text erfahrbar gemacht werden kann: „[S]obald man die Tiefenschärfe von der Phänomenalität auf die sphärische Oberfläche des Textes zurückfokussiert, wird die Lektüre von Lenz zu einer Erfahrung des Wahnsinns“ (Müller-Sievers 2003, 149). Die Darstellung des Wahnsinns im Büchner’schen Text wird nicht nur auf der Basis eines allgemeinen Wissens, sondern auch auf der Basis wissenschaftlicher Kenntnisse ausgeführt. Büchner war Medizinstudent. Aus den Studienplänen der Gießener Universität kann gefolgert werden, dass er Vorlesungen in Psychologie bei dem Philosophieprofessor Joseph Hillebrand (vgl. Roth 2004, 33-38), über das Wesen der Geisteskrankheiten bei Ernst Ludwig Wilhelm Nebel und in Physiologie und Anatomie bei den Professoren Wilbrand und Wernekinck besuchte (vgl. Wenzel 2007, 173). Sein medizinisches Wissen zeigt sich in der präzisen Beschreibung der Krankheitssymptomatik, sodass die Psychiatrie des 20. Jahrhunderts die Erzählung als „eine frühe Schizophreniestudie“ (Irle 1965, 73) auffasste. Die in den letzten Jahrzehnten angewachsene Forschung zu Lenz tendiert aber dazu, die Erzählung in die medizinischen und psychiatrischen Debatten der Zeit Büchners einzubetten. Carolin Seling-Dietz untersucht den Text „als Rekonstruktion eines Falls religiöser Melancholie“ (Seling-Dietz 2000, 188). Mit Lenzʼ Pathologie setzt sich Wolfram Schmitt auseinander, der im folgenden Zitat eine historische und eine moderne Rezeptionsperspektive gegenüberstellt:

Im Urteil der Zeitgenossen handelte es sich bei Lenzens Krankheit, entsprechend den Krankheitsbegriffen des 18. Jahrhunderts, je nach Krankheitsstadium um Melancholie bzw. religiöse Melancholie, religiösen Wahn, Manie oder Raserei, Verrückung, Verrücktheit oder Verwirrung. […] In der modernen Psychiatrie wird Lenzens Krankheit, wie sie bei Büchner erscheint, meist als Schizophrenie gesehen. (Schmitt 2008, 115f.)

Harald Schmidt (1998, 516) vertritt die Meinung, dass Lenz weder als „geniale literarische Antizipation der erst von der modernen Psychiatrie abgegrenzten Schizophrenie“ noch als „simple[r] Nachvollzug“ (ebd., 518) der von Oberlin diagnostizierten Melancholie zu betrachten sei, sondern als eine Literarisierung des ihm vorliegenden psychopathographischen Materials.2 In Georg Büchners Werken lässt sich mehrfach ein grundlegendes Strukturierungsprinzip erkennen: Er greift auf überliefertes Quellenmaterial zurück und gestaltet es in seinen Texten literarisch um. Anstatt eine Systematisierung der verschiedenen Manifestationen von Krankheit in Lenz vorzuschlagen, konzentriert sich der vorliegende Beitrag also auf die Verfahren ihrer Literarisierung. Es geht darum, das „Wie“ der Darstellung bzw. das besondere Erzählverfahren des Schriftstellers Büchner zu analysieren und die literarischen Mittel zu verdeutlichen, die er zur Darstellung der Krankheit verwendet. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass Büchner sich durch den Einsatz von literarischen Mitteln vom medizinischen Diskurs seiner Zeit abhebt und eine kritische Reflexion über die normbestimmenden Gesellschaftssysteme seiner Zeit versprachlicht. Zu diesem Zweck erweist sich folgende Fragestellung als weiterführend: Was kennzeichnet Büchners Erzählung? Was unterscheidet Büchners Art zu Schreiben von den medizinischen Fallgeschichten seiner Zeit? Was erzielt der Text durch den Einsatz unterschiedlicher rhetorischer Mittel, besonders durch den Einsatz der Phrase „es war ihm, als“? Verhandelt werden sollen die genannten Fragen anhand einer vergleichenden Analyse von relevanten Textstellen. Deshalb gilt es an dieser Stelle, einige Beispiele aus der für Büchner zeitgenössischen Psychiatrie zu liefern.

II. Medizinische Quellen und ihre Verarbeitung in Lenz

Am Ende des 18. Jahrhunderts etabliert sich in der Psychiatrie das Studium des Falles als methodisches Vorgehen. Historisch lässt sich die Bedeutung des Falles durch eine Rückkehr des Individuums ins Zentrum der Beobachtung begründen, die als Folge einer humanitären Reformbewegung der Psychiatrie betrachtet werden kann. Diese Humanisierung setzte 1794 durch die Befreiung der „Irren“ in Bicêtre ein (Foucault 1973, 14). Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Wahnsinnigen, je nachdem, wie sich ihr Wahn manifestierte, nicht anders als die physisch Kranken oder als die Kriminellen behandelt und dementsprechend in Krankenhäuser oder ins Gefängnis eingeliefert. Der französische Psychiater Philippe Pinel nahm den ersten Kranken die Ketten ab und führte eine Anstaltsreform ein, die sein Schüler Esquirol fortsetzte. Eine solche reformatorische Bewegung führte sowohl zur Humanisierung der Irreneinrichtungen als auch zur Gründung eines neuen Asyls, das nur ärztliche Zwecke hatte (vgl. ebd., 479). Pinels wissenschaftlicher Ansatz beruht auf der klinischen Beobachtung. Die Befreiung des Kranken begünstigt die Lage des beobachtenden Arztes. Der psychisch Kranke wird von äußeren Störungen, wie z.B. den Ketten, befreit und in einem geschützten Raum behandelt, somit kann der Arzt ihn regelmäßig besuchen und den Verlauf seiner Krankheitserscheinungen ungestört verfolgen. Aus der Zusammenstellung der unter diesen Umständen registrierten Daten entsteht die Fallstudie, wie Klaus Dörner argumentiert:

Nur durch solche historische Darstellung der Symptome und deren Verknüpfung mit der in jedem Fall genau zu erfragenden Biografie kommt man zu „Tatsachen“, d.h. zu je individuell verschiedenen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichten der Symptome. Aus diesen – und nicht etwa aus dem Inhalt (z.B. Liebe) eines Wahns, sondern formal-genetisch – sind in einem zweiten Schritt Krankheitsformen zu ermitteln. (Dörner 1969, 146)

Auf Basis der zitierten Aussage lässt sich die zeitgenössische Bedeutung der Fallstudie als Modus des methodischen Vorgehens erklären. Der Fall entsteht als Ergebnis bestimmter Praktiken, wie z.B. Beobachtung der Symptomatik, Klassifizierung und Erhebung diagnostischer Informationen, die Wissen über den Fall generieren. Der Fall konstituiert sich aber erst durch seine mediale Bearbeitung: „Das angesammelte Fallwissen wird sortiert, ausgemustert, mit dem professionsspezifischen Regelwissen in Beziehung gesetzt und zu einer Fallgestalt verdichtet“ (Bergmann 2014, 28). Die Darstellungsform des Falles in der Medizin des 18. und 19 Jahrhunderts ist die Fallgeschichte (vgl. Foucault 1988, 103f.). Da Wissen, Methode und Textform sich nicht definitiv trennen lassen, wie Susanne Düwell und Nicolas Pethes vertreten, verknüpft sich in der Fallgeschichte die Ebene der Epistemologie mit der der ästhetischen Ebene der Repräsentation (vgl. Düwell / Pethes 2014, 13). Die Ausdrucksweise in den Krankengeschichten ist an der ärztlichen Praxis orientiert und daher durch die chronologische Notation von Beobachtungen sowie durch die Präsentation von Aussagen in Form der direkten Rede charakterisiert (vgl. Wübben 2013, 208).

Im Folgenden werden einige Beispiele aus medizinisch wissenschaftlichen Werken in Betracht gezogen, die Büchner vermutlich als Quellenmaterial benutzte. Die Forschung kann noch nicht im Einzelnen rekonstruieren, welche Texte aus der psychiatrischen Fachliteratur Büchner genau heranzog. Es können nur Vermutungen angestellt werden. Dabei helfen spärliche Hinweise in den Briefen, biografische Elemente und intertextuelle Bezüge. Büchners Darstellung der Krankheit steht den empirisch orientierten Positionen von Psychiatern wie Philippe Pinel (1745-1826) und Jean Étienne Dominique Esquirol (1772-1840) nahe. Weitere Anregungen erhielt Büchner von den zeitgenössischen Psychiatern Christian August Heinroth, Franz Amelung und Friedrich Bird, wie sich den Textbezügen entnehmen lässt (vgl. Büchner 2001, 135-137). Wörtliche Bezüge zu Amelungs Schriften finden sich im Drama Woyzeck. In der sechsten Szene der zweiten Handschrift diagnostiziert der Doktor: „Woyzeck! er kommt ins Narrenhaus, er hat eine schöne fixe Idee, eine köstliche alienatio mentis“ (Büchner 2005, 17). An einer fixen Idee leidet Lenz, als er vom Tode eines Kindes in Fouday erfährt, wie folgende Textstelle belegt: „Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sey gestorben, er faßte es auf, wie eine fixe Idee“ (Büchner 2001, 42). Die Ausdrücke „fixe Idee“ und „alienatio mentis“ sind Definitionen von Gruppierungen des Wahnsinns, die in Amelungs Beiträgen zur Lehre von den Geisteskrankheiten enthalten sind (vgl. Amelung 1836, 168f.). Amelung war Arzt und Psychiater am Philipps-Hospital in Hofheim bei Darmstadt, in dem auch Büchners Vater und Großvater tätig waren. Die Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten schrieb er von 1832 bis 1836 zusammen mit Friedrich Bird, Arzt an der Irrenheilanstalt in Siegburg.3 Sowohl Amelung als auch Bird gelten als Vertreter der ‚Somatiker‘, die der Psychiatrie eine somatische Basis zu geben beabsichtigten. Sie widerlegen die Auffassung der ‚Psychiker‘, insbesondere diejenige des Leipziger Arztes und Psychiaters Johann Christian August Heinroth, dass die Geisteskrankheit auf moralische Verfehlungen zurückzuführen sei:

Da wir nun allzumal Sünder sind und mangeln des Ruhms, den wir an Gott haben sollen, so gehörten wir auch alle unter die Klasse der Seelengestörten und die Welt wäre demnach nichts, als ein grosses Irrenhaus. (Amelung 1832, 22)

Amelung und Bird plädieren für eine rationale Heilkunde, welche die Krankheitsformen nicht ausgehend von den Emotionen, sondern auf Basis ihrer Entwicklung und Entstehung erforscht. Diese Methode stützt sich auf die Beobachtung, deswegen sind Krankengeschichten ein wesentlicher Teil der Beiträge. In diesen Geschichten sind die erzählerischen Mittel auf ein Minimum reduziert. Es werden nur solche Beobachtungen notiert, die aus Sicht des Arztes für den „Fall“ relevant sind und die die beobachtete Person damit überhaupt erst als „Fall“ konstruieren (vgl. Bergmann 2014, 19-33). Am Anfang jeder Geschichte werden biografische Daten, Informationen über die Familie und die berufliche Tätigkeit zusammengefasst. Der Name des Patienten wird meistens nicht bekannt gegeben, wie im folgenden Beispielfall aus Amelungs Beobachtungen:

J. H., ein Mann von 30 Jahren, von Profession ein Drechsler, und seit 1½ Jahren sich im hiesigen Hospital befindend, hatte in seiner Lehrzeit (1820) von Seiten seines Meisters einen derben Schlag auf den hintern Theil des Kopfs erlitten (Amelung 1832, 176).

In seinem Werk Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten äußert sich Bird ausdrücklich gegen die Vermischung von Dichtung und Medizin. Nach seiner Meinung ist nur ein Arzt dazu berechtigt, Beobachtungen über Krankheiten zu äußern. Dies gehört zum Beruf des Arztes und dient zur Professionalisierung des ärztlichen Handelns. Krankheitsbeschreibungen anderer Art könnten nur Verwirrungen stiften.4 Bird beschreibt wie folgt die Manifestationen der Krankheit in einem Patienten, der glaubt, eine Katze gewesen zu sein:

Den 1. April. Sehr unruhig und verrückt; Puls voll, kräftig, 80; liess sich von mir besänftigen. Abends: sehr wild, nicht zu regieren, Puls 100, voll kräftig; Carotis wie immer.
Den 2. Sehr verrückt, doch in Güte zu lenken; Puls 90, bald schnell, bald langsam. Abends: Puls 75 bis 80; nicht unruhig, leicht ganz stille zu machen; aber doch verwirrt. […] und ich fahre nicht fort, weil das weitere Interesse fehlt. Übrigens schläft dieser Kranke nie fest, träumt immer; naht sein Anfall, so werden die Träume lebhafter, er sieht Phantasmen – sich selbst z.B. als Katze – und ist er nur rein toll, so glaubt er die Realität der Phantasmen: sein wachender Zustand ist jetzt gleich dem Zustande im Traum (Bird 1832, 83).

Die Zeitangaben dienen hier zur systematischen Notierung der Abläufe. Das Datum leitet alle Einträge ein. Der Monat wird nur am ersten Monatstag explizit genannt, ansonsten fällt er durchgehend weg. Ellipsen der Verben und weitere Auslassungen sind auffällig. Am Gebrauch der Frequenzadverbien („immer“ / „nie“) und des Präsens ist bei der Registrierung der sich wiederholenden Symptome eine Tendenz zu Generalisierungen beobachtbar. Die Beschreibung des traumhaften Zustands des Patienten wirkt extern fokalisiert. Ein unbeteiligter Beobachter sortiert nur die Informationen, die nach seiner Einschätzung für den Fall interessant sind und äußert sich dabei in der ersten Person („und ich fahre nicht fort, weil das weitere Interesse fehlt“). Der Arzt gilt hier nicht als Erzähler, vielmehr geriert er sich als Protokollant und Diagnostiker. Zur Untermauerung seiner Diagnose greift er auf weiteres wissenschaftliches Material zurück und erwähnt im Verlauf der Geschichte seine in Friedreichs Magazin für philosophische, medizinische und gerichtliche Seelenkunde veröffentlichte Traumtheorie, dass der Traum „auf das kranke Leben der Sinnorgane in Delirien und Wahnsinn hindeutet“ (ebd., 83). In Lenz hingegen dienen die Zeitangaben zur Beschreibung der Dynamik der Abläufe. Wenn Büchner anstelle eines trockenen Datums Ausdrücke wie „Den andern Tag“, „am folgenden Morgen“, oder „gegen Abend“ benutzt, wird mehr Wert auf die Entwicklung eines Prozesses denn auf die Exaktheit der Fakten gelegt. Zum Beweis dafür seien hier noch weitere Beispiele genannt: „halbe Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen“ (Büchner 2001, 41); „[u]nterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien“; „so saß er lange starr“ (ebd., 42). Während Bird die Zeitabschnitte zum Zwecke der Registrierung der Phänomene unterteilt, benutzt Büchner das Iterativ-Durative („unterdessen“ / „halbe Nächte“ / „so“), um die schnelle Progression von Lenzʼ Krankheitssymptomen darzustellen.

Die Erläuterungen zu Lenz in der Marburger Ausgabe verweisen an etlichen Stellen auf die die Melancholie erforschenden Schriften des französischen Psychiaters Jean É. D. Esquirol, die 1827 ins Deutsche übersetzt wurden. In seinen Ausführungen beschreibt Esquirol die melancholisch Kranken. Im ersten Krankheitsstadium sind sie

von einer außerordentlichen Empfänglichkeit und Beweglichkeit; Alles macht auf sie einen sehr lebhaften Eindruck, und die kleinste Ursache erregt bei ihnen die größten Wirkungen […] Die Kälte und Wärme, der Regen und der Wind machen sie vor Schmerz und Schreck schaudern; Geräusch stört sie, und bringt sie zum Zittern; Stille ergreift und erschreckt sie. (Esquirol / Hille 1827, 206)

Lenzʼ Krankheitssymptome entsprechen den Beobachtungen des Mediziners. Auch Lenz wird von Angst gepackt, wenn er sich allein und verlassen fühlt. Seine Überempfindlichkeit zeigt sich in Störungen der akustischen und visuellen Wahrnehmung. Hier sei nur ein Beispiel dafür geliefert:

[E]s wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu athmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen; es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hinunter. (Büchner 2001, 32)

Aus inhaltlicher Sicht sind die im Zitat beschriebenen Symptome identisch mit denen des Melancholikers bei Esquirol. Das erste Symptom ist das Gestört-Sein vom Geräusch. Lenz wird von der Wahrnehmung seines eigenen Atems und seiner eigenen Schritte gestört. Als zweites Symptom der Melancholie wird die Angst vor der Stille betrachtet, die bei Lenz mit der Angst vor dem Nichts korrespondiert. Die zwei Texte unterscheiden sich jedoch im Modus des Erzählens. Esquirol betrachtet seinen Patienten aus der Außenperspektive. Die Fokalisierung ist extern. Statt auf den Zustand des Kranken lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Ursachen der Symptome: Die Kälte und Wärme, der Regen und der Wind, das Geräusch und die Stille sind Satzsubjekte. Lenz ist eine extradiegetisch-heterodiegetische fiktionale Erzählung. Der Erzähler berichtet in der dritten Person über Ereignisse, an denen er nicht beteiligt ist. Gleichwohl nimmt Büchners Erzähler an der zitierten Stelle die Figurenperspektive ein. Er verwendet dabei eine deagentivierende grammatische Form: „es wurde ihm“. Obwohl Lenz und die Angst entsprechend in dem ersten und in dem letzten Satz als konkrete Agenten fungieren könnten, ist das beherrschende Subjekt das unpersönliche „es“. Durch die Deagentivierung wird die Handlungsfähigkeit der Figur reduziert, die von einer unbestimmten Instanz getrieben wird. Lenz wird somit zum Objekt seiner Wahrnehmung und zum Opfer seines Wahns, wie der Satz „es faßte ihn eine namenlose Angst“ bezeugt. Das expletive „es“ ist in der Phrase „es wurde ihm“ mit dem Dativobjekt kombiniert. Der Gebrauch des persönlichen Pronomens „ihm“ bezieht das Erzählte auf das Erleben der Figur. Ähnlich wie in einer erlebten Rede verschwimmen die Grenzen zwischen externer und interner Fokalisierung. Der externe Betrachter tritt zurück, stattdessen nimmt er die Perspektive des Erlebenden ein.

Unterschiede der Perspektivierung können auch im Vergleich zu den Beschreibungen des Kranken aus dem Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens von Johann Christian Heinroth herausgearbeitet werden. Heinroth definiert zwei Stadien des Wahnsinns. Im ersten Stadium ist eine extreme Beweglichkeit des Patienten beobachtbar: Ein „hastiges Treiben, unruhiges Hin- und Herbewegen ohne Zweck und Ziel“ (Heinroth 1818, 261). Über das Verhalten des Kranken im zweiten Stadium berichtet Heinroth wie folgt:

Im zweiten Stadium fängt der Kranke an Alles um sich und an sich als Gegenstände einer andern als der gegenwärtigen Umgebung zu behandeln: er scheint Gegenstände vor sich zu sehen, Töne zu vernehmen, sich mit Personen zu unterhalten, die nicht vorhanden sind. Bald wieder unterhält er sich mit sich allein, lacht, weint, singt, declamirt, recitirt, je nachdem er gebildet ist, Stellen aus Dichtern oder Verse aus Gesangbüchern […]. (ebd., 261f.)

Büchner stellt ähnliche Manifestationen der Krankheit dar. Die Schreibweise ist aber anders: Er verwendet Bilder und irreale Vergleichssätze anstelle des Aussagesatzes im Präsens, wie folgende Beispielsätze beweisen:

Beispiel 1:
„[E]s war ihm als träten alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf, er war weg, weit weg“ (Büchner 2001, 32).

Der von Heinroth beschriebene Wahnsinnige sieht Gegenstände vor sich. Bei Lenz handelt es sich hingegen um „alte Gestalten, vergessene Gesichter“, die aus dem Dunkeln heraustreten. Statt Töne zu vernehmen, hört Lenz alte Lieder und eine fremde Stimme.

Beispiel 2:
„[E]s war ihm als müsse er immer ‚Vater unser‘ sagen“ (ebd., 33).

Statt Verse zu rezitieren, sagt Lenz das Vaterunser auf, was auf sein problematisches Verhältnis zur Religion hindeutet. Das Beten, in dem religiöse Menschen Trost und Gottesnähe finden, wird von Lenz als Zwang empfunden.5

Heinroth nimmt die Außenperspektive ein und verwendet die Aussage „er scheint“, damit vermittelt er seinen Eindruck über die Verhaltensweise des Kranken. Im Gegensatz dazu bedient sich Büchners heterodiegetischer Erzähler der Phrase „es war ihm als“ und des Konjunktivmodus, um Lenzʼ Innenwahrnehmung zu veranschaulichen. Durch die Kombination mit dem Personalpronomen „ihm“ wird ein höherer Grad an Subjektivität erzeugt. Im Konjunktiv wird Lenzʼ Innenwelt imaginiert.

Ein weiteres Merkmal der medizinischen Krankengeschichten ist der Bericht von Zeugenaussagen in der Form der direkten Rede. Als Beispiel dafür dient hier eine kurze Passage aus der von Büchners Vater protokollierten Fallgeschichte „Versuchter Selbstmord durch Verschlucken von Stecknadeln“. In den Anfangszeilen der Geschichte lässt der Arzt Ernst Büchner seine Patientin sprechen: „Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr Doktor, mit der Bitte, mir meinen Magen aufzuschneiden und circa dreißig Stück Stecknadeln herauszunehmen“ (Büchner, Ernst 2013, 5). Die direkte Rede kommt nur selten in Lenz vor, stattdessen wählt der Schriftsteller Büchner eine Art erlebte Rede, um über die Gedanken und Emotionen der Hauptfigur zu berichten. Die Figurenperspektive ist für die Erzählung kennzeichnend.

Zusammenfassend ist Büchners Darstellung im Vergleich zu den Fallgeschichten seiner Zeit durch Unbestimmtheit der Zeitangaben, der Pronominalgrammatik und der Vergleiche gekennzeichnet. Büchner experimentiert mit der Sprache und erprobt Techniken für die Darstellung des Wahnsinns. Mit seinen Sprachexperimenten scheint Büchner die Struktur der Fallgeschichte in Frage zu stellen. Die Tatsache, dass Büchner sich historischer und medizinischer Quellen bedient, heißt m.E. nicht, dass er sich der Argumentation seiner Quellen anschließt. Durch die Destruktion der Fallgeschichte kritisiert Büchner die Erkenntnismethode von sozialen Systemen wie Wissenschaft und Religion, die beanspruchen, die Wahrheit über die Natur des Menschen zu besitzen. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, dass Büchners Text eine durch den besonderen Aufbau der Erzählung und den Einsatz von metaphorischen Ausdrücken abweichende Meinungsäußerung in der zeitgenössischen Diskussion darstellt.

III. Darstellung der Krankheit in der Erzählung Lenz

Die Verlaufsdarstellung des Wahnsinns in Büchners Lenz folgt laut Wübben dem klassischen narrativen Muster der Pathologie. In seinen Ausführungen bezieht sich Wübben auf Johann Christian Heinroth im Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens und stellt ihn Büchner gegenüber:

Wie Büchner unterscheidet er Anfang, Mitte und Höhepunkt der Krankheit und verleiht der Seelenstörung damit eine temporale Dimension, die nach dem traditionellen Muster coctio – crisis – lysis organisiert ist. (Wübben 2013, 213)

In diesem Modell wird die Krankheit von ihrem Ausbruch bis hin zu einer Krise nachgezeichnet, wobei sie sich aber sowohl zu einer Heilung, als auch – ganz entgegengesetzt – zu einer endgültigen Verschlimmerung auflösen kann. Für die Erzählung Lenz trifft das allerdings nur teilweise zu, da die chronologische Beschreibung der Ereignisse nur teilweise der Verzeitlichungsform der Krankheit entspricht, die in den Fallgeschichten angewandt wird. Sie entspricht wohl eher dem Aufbauprinzip des Oberlinʼschen Berichts, der Büchner als Vorlage diente.6 Büchner distanziert sich aber auch von diesem Quelltext. Er erweitert ihn um neue Ereignisse und verzichtet dabei auf die Eintragung von präzisen kalendarischen Daten. Als Beispiel sei hier der Anfang des Berichts zitiert: „Den 20 Januar [1778] kam er hieher. Ich kannte ihn nicht“ (Oberlin 2001, 230). Büchner beginnt mit der Einführung des Protagonisten. Im Gegensatz zu Oberlins Bericht wird er jedoch selektiver und lässt dabei sowohl das Jahr als auch den Monatsnamen aus: „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg“ (Büchner 2001, 31). Diese Einführung schwebt zwischen Exaktheit und Unbestimmtheit, genauso wie der Schluss der Erzählung: „– – So lebte er hin“ (ebd., 49). Der Zeitpunkt der Erzählung bleibt in Büchners Lenz unbestimmt. Der Gebrauch des Verbs im Präteritum setzt die Hauptfigur in eine zeitlose Vergangenheit (vgl. Martínez / Scheffel 2016, 76). Im Laufe des Aufenthalts bei Oberlin verschlechtert sich der Zustand des Dichters. Der Leser erfährt aber weder von der Vorgeschichte des Kranken noch von den Ursachen und der Entstehung der Krankheit. Im Vergleich zu dem bereits erwähnten chronologischen Muster scheint der Aufbau der Erzählung auf einem Prinzip der Opposition zwischen Ruhe und Unruhe, zwischen Krankheitsanfällen und scheinbar heiteren Phasen zu beruhen. Der antithetische Aufbau kann durch eine Untersuchung des Textes im Hinblick auf Häufigkeit und Verteilung der Wörter veranschaulicht werden. Abgesehen von den Eigennamen „Oberlin“ und „Lenz“ sind die Wörter „Ruhe“ und „Angst“ diejenigen, die mit hoher Frequenz in der Erzählung auftauchen. Beide Ausdrücke sind mit dem semantisch-begrifflichen Feld der Krankheit verbunden. Angst kommt immer wieder in Verbindung mit Krankheitsanfällen vor, Ruhe hingegen bedeutet Abwesenheit der Krankheit.7 Der Wechsel des Zustandes des kranken Lenz von einem grauenerregenden Anfall in eine beruhigende Phase durchzieht die ganze Erzählung. Statt der Phasen einer psychischen Krankheit werden hier Zustandsbilder gezeigt.

Büchner verwendet zudem eine metaphorische Ausdrucksweise und greift auf Bilder zurück, um das darzustellen, was an der Krankheit nicht beobachtbar oder messbar ist, nämlich die Gefühle, Gedanken und Emotionen der kranken Figur. Der massive Gebrauch von Metaphern unterscheidet Büchners Text von seinen Quellen. In Anlehnung an die aristotelische Definition wird die Metapher als ungewohnter Ausdruck verstanden:

Gehoben und eine Abweichung vom normalen Wortgebrauch ist die ‚Ausdrucksweise‘, die fremdartige Wörter verwendet. ‚Fremdartig‘ nenne ich die Glosse, die Metapher, die Wortdehnung und alles, was vom Normalen abweicht. (Aristoteles 2008, 22, 1458a, 31)

Metaphorisch sind dementsprechend die Ausdrücke, die nicht zum herrschenden Sprachgebrauch gehören. Diese Definition findet eine Entsprechung in den Ausführungen Searles über die Metapher. Laut Searle gibt es Standardäußerungen und Äußerungen, die vom Standard abweichen, nämlich die Metapher und die Ironie (vgl. Searle 1982, 98f.). Büchners metaphorisches Verfahren besteht darin, dass er Bilder auswählt, die aus den Bereichen der Natur, der Wissenschaft und der Religion stammen, und diese in den literarischen Text überträgt. Im literarischen Zusammenhang erscheinen solche Bilder als ungewöhnlich. Ungewohnt ist die Beschreibung der Natur durch Elemente, die einen krankhaften Zustand evozieren. Lenz scheint der Gewalt dieser Naturerscheinungen zu erliegen, und dementsprechend erscheint die Krankheit als ein unaufhaltsamer Prozess, dem Lenz zum Opfer fällt. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Anfangspassage, von der hier nur einige Abschnitte der Analyse unterzogen werden:

Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. (Büchner 2001, 31)

Von Anfang an wird die Natur in dieser Passage anthropomorphisiert. Zwei Verbmetaphern („das Wasser […] sprang über den Weg“ / „Die Äste hingen schwer herab“) eröffnen die Passage und zwei Adjektivmetaphern („so träg, so plump“) schließen sie. Die herabhängenden Äste und der träge Nebel erinnern an den Gang eines Melancholikers. In der für Büchner zeitgenössischen Literatur kennzeichnen die gebeugte Körperhaltung und die hängende Kopfstellung die typische Gestalt eines Melancholikers (vgl. Esquirol 1827, 260). Einige Zeilen später erscheint der Nebel in Gestalt eines Kämpfers oder Raubtiers:

Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte. (Büchner 2001, 31)

Diese Art der Metaphorik wird in der Personifikation des herankommenden Sturms fortgesetzt und intensiviert die Wahrnehmung des Wahnsinns als apokalyptischen Reiter am Ende von Lenzʼ Wanderung:

Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog […]. (ebd., 31)

Der tobende Sturm wird mithilfe von Bildern veranschaulicht, die aus dem Bereich des Kampfes kommen. Die Wolken sind wie wilde Pferde und der Sonnenschein erscheint in Gestalt eines bewaffneten Kämpfers. An dieser Stelle spielt Büchner nicht nur mit Bildern, sondern auch mit Tönen. Die Alliteration der Laute /ʃ/ und /v/ beschreibt lautmalerisch den Lärm des Sturms. In diesen Landschaftsbeschreibungen zeigt sich die poetische Kraft der büchnerschen Bildsprache. Dies unterstreicht Büchners Freund und Verleger Karl Gutzkow in seinem Lob für die Erzählung:

Welche Naturschilderungen, Welche Seelenmalerei! Wie weiß der Dichter die feinsten Nervenzustände eines, im Poetischen wenigstens, ihm verwandten Gemüths zu belauschen! Da ist Alles mitempfunden, aller Seelenschmerz mitdurchrungen; wir müssen erstaunen über eine solche Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung. (Gutzkow 2001, 181)

Büchner beschränkt sich aber nicht auf eine poetische Naturschilderung. Das Bild des Sturms evoziert Lenzʼ Kampf gegen seinen Wahnsinn. Auf das Verhältnis zwischen der Naturbeschreibung und Lenzʼ innerem Empfinden hat die Forschung bereits hingewiesen:

Wiederum ist ein enger Zusammenhang zwischen dem Zustand der Natur und dem Zustand des Individuums Lenz zu verzeichnen. Die träge Stille und Bewegungslosigkeit ist dem Sturm gewichen. Dieser wird beschrieben in einer mit großer Kraft dahinströmenden Sprache, die sich nicht nur syntaktisch von der Schlichtheit des Beginns abhebt, sondern auch in ihrem Bilderreichtum. (Kubitschek 1988, 91)

Auf der syntaktischen Ebene unterscheidet sich die Beschreibung des Sturms von den Anfangszeilen der Erzählung dadurch, dass Büchner sich am Anfang der Passage an eine parataktische Konstruktion mit Ellipsen („aber Alles so dicht“ / „so träg, so plump“) hält, während die Beschreibung des Sturms hypotaktisch aufgebaut ist. Die Satzfolge beginnt mit einem wenn-Satz („Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf“) und wird von langen, verschachtelten wenn-, als- und dass-Nebensätzen weitergeführt. An dieser Stelle lehnt sich Büchner an Goethe an. Eine ähnliche hypotaktische Struktur weist die Beschreibung der Naturerscheinungen im Brief vom 10. Mai des Werther-Romans auf, wie in den Erläuterungen der Marburger Ausgabe (Büchner 2001, 374 [Erläuterung zu 53,17-54,2]) gezeigt wird.

Am Ende der Anfangspassage wird der Wahnsinn nicht nur durch Bilder evoziert, sondern explizit genannt: „Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (ebd., 32). Statt die Gefühle der Hauptfigur in der direkten Rede zu äußern, verwendet der Erzähler ein weiteres Mal die Phrase „Es war als“. Die Konstruktion ermöglicht es, die Innenwelt von Lenz zu beschreiben. „Es war als ginge ihm was nach“ ist allerdings nicht aus der Perspektive der beschriebenen Person, sondern aus der Perspektive der beschreibenden gesprochen. In den Augen des Außenstehenden ist Lenz vom Wahnsinn getrieben. Der Gebrauch der als-Satz-Konstruktion im Konjunktivmodus lässt aber die Frage offen, ob dies auch für den Kranken so ist.

IV. „Es war ihm, als“-Satzkonstruktion

Vergleichssätze, die mit „als“ eingeleitet werden, kommen im Lenz-Text 32-mal vor. In 24 Sätzen ist die „es war ihm“-Konstruktion der regierende Ausdruck. Jeweils einmal tauchen die Ausdrücke „es wurde ihm, als“ und „es ist, als“ anstatt der Phrase „es war ihm, als“ auf. Überdies wird ein Vergleichssatz eingesetzt, als Lenz in die Rolle des Erzählers schlüpft und von Friederike berichtet: „es war, als war ihr die Welt zu weit“ (ebd., 42). Außer in diesem Fall verwendet Büchner in den Vergleichssätzen immer den Konjunktiv. Es kann daher festgestellt werden, dass die „es war ihm, als“-Satzkonstruktion mit dem Verb im Konjunktiv den Erzählmodus der Erzählung determiniert. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um ein Stilelement Büchners. Es lässt sich einfach nachweisen, dass die Phrase „es war ihm, als“ weder im Bericht Oberlins noch in den medizinischen Quellen der Erzählung auftaucht. In den oberen Ausführungen wurde bereits darauf hingewiesen, dass Heinroth statt irrealer Vergleichssätze die Verben „scheinen“ oder seltener „erscheinen“ verwendet, um seine Beobachtungen über das Verhalten des psychisch Kranken wiederzugeben. Damit wird nur eine einzige Perspektive anschaulich gemacht, nämlich die des beobachtenden Arztes. In seiner Untersuchung der Form der Lenz-Erzählung illustriert Gerhard Knapp, inwieweit sich einige Passagen vom Vorlagetext entfernen:

Die Handlung des „Lenz“ verläßt sich über längere Strecken auf die Vorgaben der Quelle und weicht von deren Faktizität grundsätzlich dort ab, wo entweder eine Vertiefung des Geschehens durch die Perspektive von ‚innen‘ oder eine thesenhafte Verdeutlichung wesentlicher Positionen angebracht erscheint. (Knapp 1984, 90)

Knapp bezieht sich in diesem Zitat auf den Bericht des Pfarrers Oberlin. Dieselben Beobachtungen gelten aber auch, wenn man den Lenz-Text mit den medizinisch-wissenschaftlichen Quellen vergleicht. Büchners Erzählung weicht von deren „Faktizität“ ab, insofern nicht nur auf den klinischen Fall, sondern auch auf den sozialen Fall Wert gelegt wird: Durch den Wahnsinn wird das gesellschaftliche Unbehagen eines nicht anpassungsfähigen Individuums veranschaulicht.8 Dies wird durch eine tiefere Analyse der „es war ihm“-Satzstruktur ersichtlich. Büchner scheint mit der Technik der Innenperspektivierung und dem Einsatz der Phrasen „es war ihm“, „es war ihm, als“ zu experimentieren. Davon zeugt, dass die Kombination „es war ihm“ und die irrealen Vergleichssätze nur in bestimmten Teilen der Erzählung vorkommen, genauer in der dritten und in der zweiten Handschrift, die der Schriftsteller im Vergleich zu seiner Hauptquelle am stärksten überarbeitet hat.9 Die Satzstruktur „es war ihm“ erscheint in zwei wesentlichen Varianten, nämlich als irrealer Vergleichssatz mit Konjunktiv oder gefolgt von einem Adjektiv und / oder Substantiv. Zur besseren Übersicht werden diese Varianten tabellarisch zusammengefasst (Seitenangaben in Klammer beziehen sich auf Büchner 2001).




In allen oben katalogisierten Sätzen signalisiert die Satzkonstruktion „es war ihm“ eine Änderung der Perspektive. In der ersten Variante leitet die Konjunktion „dass“ einen Inhaltssatz ein, der im Indikativ steht: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte“ (Büchner 2001, 31). Dieser Satz liefert das erste Signal für einen Perspektivenwechsel im Text. Der Ausdruck kann auch ex positivo so gelesen werden, dass es Lenz angenehm wäre, auf dem Kopf gehen zu können. Bereits im 17. Jahrhundert war der Ausdruck „auf dem Kopf gehen“ gleichbedeutend mit: „verkehrte, tolle, unerhörte Dinge treiben“ (ebd., 373 [Erläuterung zu 53,9]). Wenn es Lenz angenehmer ist, tolle Dinge zu treiben, bedeutet dies, dass das Verrückt-Sein für ihn gewöhnlich und normal ist. Die Tabelle zeigt, dass Büchner am häufigsten die Kombination „es war ihm als“ benutzt, auf die abwechselnd der Konjunktiv I oder der Konjunktiv II folgt. Das Personalpronomen „ihm“ taucht fast immer in Verbindung mit dem unpersönlichen „es“ und dem Verb „sein“ auf. Falls es nicht auftaucht, kann es impliziert werden, z.B. in dem Satz: „Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen.“ Nur einmal gibt der Vergleichssatz einen Eindruck wieder: „es war als löste sich alles in eine harmonische Welle auf“ (ebd., 35). An allen weiteren Stellen lässt sich die Phrase „es war ihm, als“ durch den Satz „er hatte das Gefühl, dass“ ersetzen und gleicht somit einer Art indirekte Rede, d.h. der „Wiedergabe eines Bewusstseinsinhalts“ (vgl. Hàjek 1986, 56). Auf jeden Fall leitet sie die sprachliche Fassung von Dingen ein, die in Lenzʼ Kopf vorgehen: „es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer inʼs Gesicht speien“ (Büchner 2001, 43). An dieser Stelle äußert Lenz seinen Widerstand gegen Gott und die Religion, nachdem er vergebens versucht hat, ein totes Kind zu erwecken. Als Theologe geht Oberlin davon aus, dass die Geisteskrankheit aus der Sünde resultiert. Er behandelt Lenz daher religiös und ermuntert ihn, in der Bibel zu lesen und zu beten: „Oberlin bat ihn inständig […] sich mit Gott zu unterhalten“ (ebd., 46). In Lenzʼ Augen hingegen ist die gescheiterte Auferweckung ein Zeichen dafür, dass Gott und die Religion ihm nicht helfen können. Der Erzähler Büchner experimentiert hier mit ungewohnten Perspektiven. „Es war ihm als“ fungiert als Einleitungssatz für eine spezifische neue Perspektive. Die Frage ist nun, wodurch diese neue Perspektive gekennzeichnet ist. Aus dem oberen Beispiel kann gefolgert werden, dass es sich um eine Perspektive handelt, in der die Grenzen der gewohnten Erfahrung und des Denkens nicht mehr gelten. Grammatikalisch wird die neue Perspektive durch den Gebrauch des Konjunktivs veranschaulicht. Der Konjunktiv sprengt die Grenze des Möglichen und erweitert den Bereich der Imagination (vgl. Plessner 1985, 104), wobei irreale Vergleichssätze hier als Darstellungsmodus des Wahnsinns dienen. Als Beispiel für den Gebrauch des Konjunktivs zur Darstellung einer ungewohnten Denkweise sei hier folgendes Zitat angeführt:

[J]a wenn ich so glücklich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müssiggang. Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig! (Büchner 2001, 44)

Die anderen sind für Lenz inkonsequent und langweilig. Sie geben sich mit Halbwahrheiten und vorgefertigten Verhaltensmustern zufrieden, deswegen bleibt für Lenz die Möglichkeit einer Identifikation mit dem „gesunden“ Verhalten Oberlins ausgeschlossen. Er versucht konsequent zu denken und sein Gedankengang über die Konsequenz führt ihn zu der Ansicht, dass allein das Nichts konsequent und widerspruchsfrei sei: „Es war ihm dann, als existire er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sey nichts, als er, er sey das ewig Verdammte, der Satan“ (ebd., 47). Wenn die Welt nur durch die Imagination entsteht, dann ist es konsequent, dass es keine äußerliche gegebene Ordnung gibt. Wer so denkt, ist aber in den Augen der anderen der Teufel. Durch den Konjunktiv äußert der Kranke Gedanken, die außergewöhnlich bzw. nicht zeitkonform sind und aus Sicht der scheinbar normalen Menschen ‚verrückt‘ erscheinen. Unter dieser Perspektive wird auch die übliche Denkweise über Krankheit in Frage gestellt. Vom kranken Lenz wird die psychische Krankheit in der Figur eines apokalyptischen Reiters („Es war als ginge ihm was nach“, „als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“) sowie einer unfassbaren Entität („jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte sich zu seinen Füssen“, ebd., 34) personifiziert bzw. abstrahiert. Die Verkörperung der Krankheit in Gestalt eines Feindes bzw. die Annahme eines unsichtbaren Vorgangs hat zur Folge, dass es so scheint, als wäre der Kranke seiner Krankheit völlig ausgeliefert und insofern nicht verantwortlich für sie. Dieser Krankheitsbegriff steht im Kontrast zu der damaligen Auffassung der ‚Psychiker‘, wie auch zum konventionellen Denken, das die Geisteskrankheit prinzipiell als seelisches Phänomen betrachtete und mit Bosheit oder Unmoral assoziierte. In seinen literarischen Texten argumentiert Büchner gegen diese moralische Auffassung, die den Kranken beschuldigt und zeigt am Beispiel der ‚normalen‘ Leute die Grenzen einer solchen Denkweise.10

Fazit

Die vorangegangenen Ausführungen haben die stilistischen Besonderheiten der Erzählung Lenz untersucht und zu zeigen versucht, welche Wirkung der Schriftsteller Büchner bei der Darstellung von Krankheit damit erzielt. Obwohl sich Büchners Schreibweise an den medizinischen Fallgeschichten und an dem Bericht des Pfarrers Oberlin orientiert, unterscheidet sie sich wesentlich von diesen Quellen. Die Unbestimmtheit der Zeitangaben und der Pronominalgrammatik sowie der massiven Rekurs auf metaphorische Ausdrücke zeugen davon, dass Büchner sich nicht darauf beschränkt, Fakten und biografische Angaben wiederzugeben, sondern wendet eine Technik an, die es ihm erlaubt, sich in seine Hauptfigur zu vertiefen und ihre Gedanken zu veranschaulichen.11 Gerhard Oberlin betrachtet diese Technik als einen Mechanismus der Übertragung und Gegenübertragung von einer Perspektive in die andere und erklärt ihn dadurch, dass „der Erzähler seinen Helden als Perspektivenfigur wählt und gleichzeitig durch große Beobachtungsschärfe und Detailgenauigkeit ein objektives Darstellungsinteresse vorgibt“ (Oberlin2014, 156). Büchner experimentiert mit Perspektiven und argumentiert gegen die damaligen Auffassungen von Krankheit, indem er sie sowohl aus der Perspektive der normalen Welt (Oberlin, die Einwohner des Tals, Kaufmann) als auch aus der Perspektive des Kranken zeigt. Die Änderung der Wahrnehmungsperspektive wird im literarischen Text durch den Einsatz der Satzkonstruktion „es war ihm, als“ signalisiert. Wenn sich Büchner auf Lenz bezieht, verwendet er in den meisten Fällen die Satzkonstruktion „es war ihm, als“. Dieser Satz könnte mit einem verbum sentiendi umgeschrieben werden und wie folgt lauten: „er fühlte / hatte das Gefühl, dass“ und somit wäre er als eine Art indirekte Rede denkbar. Durch ihn werden Bilder eingeleitet, die Lenzʼ Gefühle und Gedanken darstellen. Büchner entwickelt mit den „es war ihm als“-Sätzen eine Technik, um Gefühle sprachlich zu fassen. Die Darstellung von Gefühlen ermöglicht einen kritischen Blick auf die Personen der Umwelt und die Distanzierung von Religion und Wissenschaft. So betrachtet, gelten Lenzʼ psychotische Anfälle als Gegenargument gegen Oberlins Krankheitsauffassung und gegen die moralische Behandlungstherapie. Die mit dem als-Satz eingeführten Bilder entsprechen inhaltlich einer Argumentation, die sich bei Büchner auch in anderen Darstellungen findet und sich in dem Bild „nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“ verdichtet. Aus der Sicht der Figur ist die Welt verkehrt. Die Figur hat die Sicht für sich vom Kopf auf die Füße gestellt und hat damit eine andere Weltsicht als ihre Zeitgenossen. Das macht es für die Figur schwierig, sich mit den Zeitgenossen zu verständigen. Entsprechende Argumentationen finden sich sowohl an anderen Stellen der Erzählung, auf die bereits hingewiesen wurde (z.B. als Lenz die Betriebsamkeit der normalen Menschen als langweilig beschreibt), als auch in Büchners Briefen und Abhandlungen. In der politischen Schrift Der Hessische Landbote zeigt Büchner die verkehrte Weltsicht der politischen Herrscher:

Seht nun, was man in dem Großherzogthum aus dem Staat gemacht hat; seht, was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700,000 Menschen bezahlen dafür 6 Millionen, d.h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden. (Büchner 2013, 17)

Aus der Sicht des Verfassers des Hessischen Landboten ist die Ordnung gefährlich, aus der Sicht des Religionskritikers hingegen ist sie langweilig. Die nachstehende Textstelle aus dem Brief vom Januar 1833 an die Familie unterstützt, was in Bezug auf Lenz bereits beobachtet wurde: Die Religion suggeriert dem Menschen ein langweiliges und abgedroschenes Verhaltensmuster:

Ich bin kein Katholik und kümmere mich wenig um das Schellen und Knieen der buntscheckigen Pfaffen, aber der Gesang allein machte mehr Eindruck auf mich als die faden, ewig wiederkehrenden Phrasen unserer meisten Geistlichen, die Jahr aus Jahr ein an jedem Weihnachtstag meist nichts Gescheidteres zu sagen wissen, als, der liebe Herrgott sei doch ein gescheidter Mann gewesen, daß er Christus gerade um diese Zeit auf die Welt habe kommen lassen. (Büchner 2012, 18)

Der Schriftsteller Büchner zeigt zwei Arten, mit der beschriebenen Situation umzugehen und wählt dafür die entsprechenden Argumentationsstrukturen aus. Die erste Art ist kämpferisch, wie im Hessischen Landboten: „Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!“ (Büchner 2013, 17). Die Struktur dieses Textes ist vorwiegend appellativ. Die zweite Art, die zur Frustration und Krankheit führt, ist fatalistisch, wie in dem Brief an die Braut, von Mitte Januar 1834, dem sogenannten Fatalismusbrief, ausgeführt wird: „Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte!“ (Büchner 2012, 30). Zu beachten ist, dass Büchner an dieser Stelle einen Vergleichssatz einsetzt. Seine Gefühle werden nicht direkt angesprochen, sondern ähnlich wie in der Erzählung durch ein verbum sentiendi („ich fühle mich“) und einen Vergleich („wie zernichtet“) eingeleitet. Hier findet sich eine Korrespondenz zur Argumentation und zur Struktur der Erzählung. Nach der Definition von Wolfgang Hallet (2007, 37) ändert jeder literarische Text die Vorstellungen des Lesers vom Zusammenleben des Menschen, von den Gründen seiner Handlungen sowie von der kulturellen Bedingtheit seines Handelns und seiner Denkweise. Der Leser konfrontiert sich mit dargestellten Lebenssituationen, Konflikten und wird dadurch zum Hinterfragen aufgefordert. Georg Büchner zwingt in seinen literarischen Texten zur Reflexion, indem er dem Leser den Spiegel einer gesellschaftlichen Situation vorhält und erforscht, zu welchen Reaktionen der Mensch unter den beschriebenen Umständen getrieben werden kann.

Literaturverzeichnis

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Dr. Olivetta Gentilin
Liceo St. A. Pigafetta
36100 Vicenza, Italien
E-Mail: g.olivetta@libero.it

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1 In seiner Abhandlung über die Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der Literatur führt Georg Reuchlein (1986, 373) aus: „Pathologisches nimmt in Büchners Werk einen breiten Raum ein. So kommen für die Darstellung speziell des Wahnsinns drei herausragende Gestalten in Betracht: Lucile (‚Dantons Tod‘), Lenz und Woyzeck.“

2 In dieselbe Richtung gehen auch weitere Definitionen des Lenz-Fragments. Ariane Martin bezeichnete es als „literarische Pathographie“ (Martin 2007, 210f.), Nicolas Pethes als „literarischen Fallbericht“ (Pethes 2012, 222).

3 Überschneidungen mit den Ausführungen von Amelung und Bird in den Texten Büchners untersucht Caroline Seling-Dietz (2009, 188-236).

4 Vgl. Bird (1836, 270): „Wenn wir nun bedenken, welche enorme Verwirrungen der Meinungen über das Wesen der Geisteskrankheiten besteht, […] sahen und sehen wir, dass Juristen, Theologen, Philosophen, Dichter, Romantiker, theoretische Psychologen, speculative Köpfe aller Art – sich die Seelenheilkunde zum Gegenstand ihrer gelehrten Leistungen wählten und wissen wir, dass nur durch Naturanschauungen wie sie nur ein guter Arzt machen kann, hier Gutes zu leisten ist, so ist die Nothwendigkeit der Stiftung einer Academie einleuchtend.“

5 Es handelt sich hier um die Verkehrung einer Gebetssituation, im Gegensatz zu den Darstellungen im Neuen Testament und in Merlins Le Pasteur Oberlin, die als Büchners Quellen gelten (vgl. Büchner 2001, 385 [Erläuterungen zu 55,14]).

6 Vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1778 hielt sich Jakob Michael Reinhold Lenz beim Pfarrer Oberlin in Waldbach im Elsass auf. In seinem Bericht „Herr L......“ präsentiert Oberlin chronologisch die Fakten von der Ankunft des Dichters bis zu seiner Abfahrt (vgl. Oberlin 2001, 230-241). Davon, dass Oberlins Bericht als Hauptquelle der Erzählung gilt, zeugen etliche Textstellen, die Büchner fast wörtlich aus dem Bericht übernimmt. Siehe dazu den „Quellenbezogenen Text“ in der Marburger Ausgabe (Büchner 2001, 51-74).

7 Den besonderen Aufbau des Lenz-Textes habe ich ausführlicher in meiner Arbeit Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners „Lenz“ und „Woyzeck“ behandelt (vgl. Gentilin 2017, 62-90). Zu diesem Thema vgl. auch Peter Kubitschek (1988, 86-104).

8 Hiermit teile ich die Meinung von Gerhard Oberlin: „Die Geschichte von Lenz, wie Büchner sie erzählt, wird hier über ihre pathographische Eigenschaft als literarisierter Fallbericht hinaus in der Art eines historischen ‚Symptomtexts‘ gelesen, der die Auswirkungen eines geistigen Ordnungsverlusts bis ins Detail beschreibt und darüber ein Symbol errichtet, das wie immer klüger ist als die diskursive Vernunft und die versammelten Wissenschaften. Es ist ein Symbol für die mentale Verletzlichkeit des Subjekts im Allgemeinen und dessen Anfechtungen in Zeiten des Umbruchs im Besonderen“ (Oberlin 2014, 17).

9 Die Genese der Erzählung und die konsequente Einteilung in Handschriften untersucht Burghard Dedner (1995, 3-68). Die genetische Darstellung der Lenz-Erzählung erfolgt laut Dedner in drei Handschriften, die nach ihrer Entstehung nummeriert werden. Handschrift 1 entspricht der ersten Arbeitsstufe und erstreckt sich über Oberlins Rückkehr aus der Schweiz bis zu den Ereignissen des 8. Februar. Handschrift 2, die Dedner als „Berichtspassage“ bezeichnet, ist in die erste Handschrift eingeschoben. Hier differenziert Büchner seine Vorgehensweise von der ersten Arbeitsstufe. Das dritte Manuskript umrahmt den gesamten Text und geht von der Anfangspassage bis zum schweren Ausbruch von Lenzʼ psychotischem Prozess nach der gescheiterten Kindeserweckung und bis zu seinem Abtransport im letzten Absatz.

10 Detailliert finden sich ähnliche Ausführungen in meiner Abhandlung über Krankheitsbilder im Werk Büchners (vgl. Gentilin 2017, 87-115).

11 Im sogenannten Kunstgespräch mit Kaufmann erklärt Lenz sein poetisches Verfahren: „Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im ‚Hofmeister‘ und den ‚Soldaten‘“ (Büchner 2001, 37).