Marie-Theres Federhofer

„So geht denn ein Schmerzenstag
nach dem andern hin“

Krankheitserfahrungen in zwei Frauentagebüchern
des 19. Jahrhunderts1

The article focuses on two unpublished 19th century diaries written by Rebekka Achelis (1770-1833) and Amalie Scharff (1844-1913). It aims at both unveiling their illness experiences and demonstrating the way they recount their experiences. The concepts of the ‘intercalated narration’ (G. Genette) and ‘small stories’ (M. Bamberg / A. Georgakopoulou) serve as entry points to access the narrative techniques in these diaries.

Patient und Tagebuch

Patientengeschichten haben seit etwa Mitte der 1980er Jahre in der Forschung an Status gewonnen. Dies gilt gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn sowohl die Geschichte über Patienten als auch die Geschichten, die Patienten selbst über ihre Krankheiten erzählen, sind seitdem in den Fokus unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen gerückt: Medizingeschichte, Soziologie, Psychologie oder Literaturwissenschaft haben die Patientengeschichte und -geschichten jeweils für sich entdeckt. Entscheidend beigetragen zu dieser Entwicklung hat unter anderem der Wissenschaftshistoriker Roy Porter. In seinem Aufsatz The Patient’s View. Doing Medical History from Below (vgl. Porter 1985) grenzt er sich von einer arztzentrierten Medizingeschichtsschreibung ab und plädiert unter dem Schlagwort einer Medizingeschichte von unten dafür, sich der Patientenhistoriographie zuzuwenden. Nicht mehr allein die Perspektive des Arztes solle erkenntnis- und interesseleitend sein, wenn es darum gehe, die Entwicklung der Medizin nachzuzeichnen. Denn für diese Rekonstruktionsarbeit seien ebenso die Vorstellungen zu berücksichtigen, die Patienten in historisch und kulturell unterschiedlichen Kontexten über Gesundheit und Krankheit hatten, deren Wissens- und Erfahrungshorizonte oder das Verhältnis und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Inzwischen wird der Patientenhistoriographie bescheinigt, nicht weniger als eine „kulturhistorische Wende“ in der Medizingeschichte herbeigeführt zu haben (Ernst 1999, 97). Dieser Neuorientierung sind im deutschsprachigen Raum mittlerweile nicht nur mehrere Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker gefolgt (vgl. z.B. Duden 1987 [1991], Wolf 1998, Hofer/Sauerteig 2007, Nolte 2006 und 2009; kritisch dagegen Condrau 2007). Auch aus der Soziologie und den Literatur- und Kulturwissenschaften liegen inzwischen Untersuchungen vor, die unterschiedliche Aspekte einer Patientengeschichte freilegen und untersuchen (vgl. z.B. Lachmund / Stollberg 1995, Stolberg 2001 und 2003, Rieder 2003, Osten 2010).2

Dem Unterfangen, die Erfahrungen des Patienten mit der eigenen Krankheit im medizinischen Diskurs ernst zu nehmen, wird weiterhin Vorschub geleistet durch eine einflussreiche Forschungsrichtung – Narrative Medicine –, die in der an der Columbia University lehrenden Medizinerin Rita Charon eine ihrer wichtigsten Wegbereiterinnen hat (vgl. Charon 2016). Im Zentrum dieses in den späten 1980er entwickelten Ansatzes steht die Überlegung, dass Geschichten, die Patienten über die eigene Krankheit erzählen, sinnvoll in der klinischen Praxis eingesetzt und zu therapeutischen Zwecken verwendet werden können. Bemerkenswert ist, dass diese Perspektive, Patientengeschichten ernst zu nehmen und deren narratives Potenzial genauer zu verstehen, von der Literaturwissenschaft – wenn auch eher zögerlich – aufgegriffen und methodisch weiterentwickelt worden ist. Eine Pionierleistung in dem Zusammenhang ist die Arbeit des norwegischen Literaturwissenschaftlers Petter Aaslestad, Pasienten som tekst (1997), der mit direktem Bezug auf die Arbeiten von Rita Charon 150 Krankenjournale einer norwegischen psychiatrischen Heilanstalt, entstanden im Zeitraum von 1890-1990, auf deren narratologische Verfasstheit hin untersucht, d. h. daraufhin, wer in diesen Berichten erzählt und wessen Perspektiven in ihnen auf welche Weise wiedergegeben werden.

Eine Herausforderung der Patientengeschichtsforschung, die sich in erster Linie auf Erzählungen von Patienten und deren Angehörigen und nicht auf Darstellungen von Ärzten stützen möchte, ist die Quellenlage (vgl. Hofer / Sauerteig 2007, 124). Autobiographien, Briefe und Tagebücher sind die Materialien, die üblicherweise herangezogen werden, um diese Geschichte und Geschichten zu verstehen (vgl. Lachmund / Stollberg 1995, Stolberg 2003, Osten 2010, Federhofer 2017). Es handelt sich mithin um Dokumente, die oft nicht systematisch erschlossen und nicht immer veröffentlicht sind. Dazu zählen auch die beiden hier vorzustellenden Frauentagebücher, deren Abschriften sich heute im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen befinden. Diese Aufzeichnungen dokumentieren den Umgang mit Krankheit sowohl aus der Perspektive der Erkrankten als auch von Familienangehörigen. In dem einen Fall beschreibt die Tagebuchschreiberin das Sterben ihres Vaters und dann ihren späteren eigenen Krankheitsverlauf, der tödlich enden wird. Aus heutiger Sicht liegt die Vermutung nahe, dass sie an Brustkrebs starb. Im anderen Fall ist die Tagebuchschreiberin eine Angehörige, die die Erkrankung und den Tod von zwei nahen Familienmitgliedern festhält. Es handelt sich um ihre Schwester und deren Neugeborenes, die vermutlich am Kindbettfieber starben. Notiert werden diese Krankheitserfahrungen in einem Medium, das von der Literaturwissenschaft bislang wenig untersucht worden ist, nämlich in Tagebüchern, die ohne Anspruch auf literarisch-ästhetischen Mehrwert verfasst worden sind, in, wenn man so will, ‚unliterarischen‘ Alltagstagebüchern. Bevor ich mich im Folgenden der Frage zuwende, wie man sich als Literaturwissenschaftlerin diesem Material nähern kann, um den Zusammenhang zwischen Tagebuchform und Krankheitsdarstellung bzw. den Einfluss der Tagebuchform auf die Krankheitsdarstellung genauer beschreiben zu können, sollen vorab die beiden Protagonistinnen und ihre Tagebücher vorgestellt werden. Dabei gilt es auch, die Alltagspraktiken zu rekonstruieren, mit denen die Betroffenen Erkrankungen begegneten.

Die Tagebücher von Rebekka Achelis und Amalie Scharff

Die beiden Tagebücher wurden von Rebekka Achelis (1770-1833) und Amalie Scharff (1844-1913) verfasst. Abschriften von bzw. Auszüge aus diesen Tagebüchern befinden sich, wie bereits erwähnt, im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen, während die Originale entweder in Familienbesitz aufbewahrt werden oder einem öffentlichen Archiv übergeben worden sind.3 Über die beiden Diaristinnen ist nur wenig bekannt. Rebekka Achelis kam aus einer angesehenen Bremer Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie, die auch auf die lokalpolitischen Geschicke der Stadt Einfluss nahm, in der Bremer Bürgerschaft vertreten war und zu deren Angehörigen Senatoren und Konsuln zählten. Sie blieb unverheiratet und verbrachte ihr Leben weitgehend in Bremen. Für einige Jahre, von etwa 1795-1801, lebte sie mit ihrem Bruder Heinrich Nikolaus Achelis und dessen Familie in Göttingen,4 zog danach nach Bremen zurück, wo sie zunächst bei ihren Eltern wohnte und nach deren Tod zu ihrer Nichte zog (vgl. Achelis /
Achelis 1921, 23 f.).5 Amalie Scharff (1844-1913) stammte aus einer begüterten und einflussreichen Frankfurter Familie, die im 19. Jahrhundert zur politischen Elite der Stadt zählte und durch Eheschließungen mit zahlreichen anderen angesehen Frankfurter Familien verbunden war.6 Amalie Scharff war die Tochter von Emilie Louise Lutteroth und Friedrich Adolf Scharff, einem Juristen, der das Scharffsche Familienarchiv begründete, zahlreiche lokalhistorische Arbeiten verfasste und die Gründung eines Historischen Museums in Frankfurt anregte. Sie heiratete 1867 Ludwig Adolf von Harnier, das Ehepaar hatte zwei Söhne (vgl. Klötzer 1996, 258-262).

Die beiden Diaristinnen gehören also zu sozial gehobenen und politisch einflussreichen Schichten, das Alltagsgeschehen, das sie in ihren Tagebüchern festhalten, findet in einer urbanen Umgebung statt: Die jeweiligen Schauplätze sind Bremen und Frankfurt. In den Auszügen aus Rebekka Achelis’ Tagebuch sind die Ereignisse vom 13. Oktober 1813 bis zum 18. April 1817 sowie vom 18. August 1831 bis 24. Dezember 1832 dokumentiert. Amalie Scharff notiert das Geschehen vom 20. Mai bis zum 18. September 1865. Ausführlich und lebhaft schildert Achelis im ersten Teil ihres Tagebuchs die unruhige Situation in Bremen zur Zeit der Befreiungskriege und gewährt durch ihre klugen Beobachtungen einen anschaulichen Einblick in das Alltagsleben, die Sorgen, Nöte und Hoffnungen der Zivilbevölkerung während der wechselvollen politischen Geschicke jener Jahre. Seit 1806 von den Franzosen besetzt, wurde die Stadt 1813 von Russen und Preußen eingenommen und erhielt Ende 1813 ihre Souveränität zurück. 1815, während der Herrschaft der Hundert Tage, musste Bremen eine kurze Zeit um die wieder erworbene Freiheit bangen, bis die Schlacht bei Waterloo die weitere Entwicklung besiegelte, und Bremen Freie Hansestadt im 1815 gegründeten Deutschen Bund wurde. Diese großen politischen Ereignisse werden in Achelis’ Tagebuch gleichsam auf ein Mikroniveau herunter projiziert und ihre Konsequenzen aus der Perspektive einer betroffenen Stadtbürgerin konkret greifbar. Ihr Alltag ist geprägt von wiederholten Plünderungen durch Soldaten (vgl. Achelis, 5f.) und den Belastungen durch die ständig wechselnden Einquartierungen von Kosaken und preußischen Offizieren (vgl. ebd., 13, 15, 20, 22, 26), von der Angst vor erneuter Besatzung durch die Franzosen (vgl. ebd., 11f.), der Freude über den militärischen Sieg (vgl. ebd., 24, 29) und die wiedergewonnene Freiheit. (vgl. ebd., 29f.). Durchbrochen werden diese Schilderungen durch franzosenfeindliche politische Gedichte oder ursprünglich religiöse Gedichte, die politisch umgedeutet werden (vgl. ebd., 17f., 30).

Der Darstellung von Alltagserfahrungen und des öffentlichen Lebens in Bremen während und nach der französischen Besatzungszeit widmet Achelis einen nicht unerheblichen Teil ihres Tagebuchs. Daneben – und für den hier interessierenden Zusammenhang aufschlussreicher – hält sie aber auch private Ereignisse aus dem engeren Familienkreis fest, darunter die schwere Erkrankung und lange Bettlägerigkeit ihres Vaters Thomas Achelis, der am 13. April 1817 verstarb, sowie ihre eigene Erkrankung. Dass in früheren Zeiten mit Krankheit und Sterben anders umgegangen worden ist als heutzutage, ist keine neue Erkenntnis (vgl. Stolberg 2003, Jütte 2013), und die Tagebuchnotizen von Rebekka Achelis und Amalie Scharff fügen dieser gleichwohl recht generellen Einsicht auch nichts hinzu. Der Wert dieser Tagebuchnotizen liegt indes auf einer anderen Ebene, die man in Anlehnung an Carlo Ginzburg eine mikrohistorische nennen könnte (vgl. Ginzburg 1993). Denn sie gewähren einen konkreten Einblick in die damalige Alltagspraxis und erlauben es, ein recht präzises Bild von Krankheitserfahrungen aus der Sicht der Betroffenen zu zeichnen. Aus heutiger Perspektive bemerkenswert erscheint zunächst die Rolle des Arztes, genauer gesagt dessen Abwesenheit. An kaum einer Stelle des Tagebuches von Rebekka Achelis wird im Zusammenhang mit der Krankheit ihres Vaters der Besuch eines Arztes erwähnt (vgl. Achelis, 41). Die Pflege des Vaters fand vielmehr im Kreis der Familie statt und wird so gesehen zu einem „Bewährungsfall des bürgerlichen Familienmodells“ (Lachmund / Stollberg 1995, 55). Dies ließe sich auch als Indiz dafür verstehen, wie wenig verbreitet die sog. Medikalisierung7 der Gesellschaft noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war. Liest man dagegen die 50 Jahre später entstandenen Tagebuchaufzeichnungen von Amalie Scharff, so hat sich dieser Sachverhalt – um dies hier vorwegzunehmen – teilweise geändert. Doch zurück zu Thomas Achelis: Sein Krankenlager befand sich im hinteren Teil der Stube (vgl. Achelis, 45), bot also wenig Privatsphäre. Vielmehr wurde das häusliche Krankenzimmer zu einem allen zugänglichen, öffentlichen Raum, in dem sich Familienmitglieder, Verwandte und Bekannte trafen und gesellig miteinander verkehrten konnten:

23.1. [1817] Wir haben die kleine Donnerstagsgesellschaft. […] Osiander8 liest, dann singen wir noch unsere Choräle. Dies macht unserem alten Vater die größte Freude. Er singt dann selbst noch mit. Es ist ihm eine ganz besondere Erquickung und Freude, wenn diese kleine Versammlung um sein Lager sitzt. (ebd., 39)

Auch als Thomas Achelis zusehends schwächer wurde und sich sein Zustand verschlechterte – „31.3. [1817] Papa ist heute sehr schwach“ (ebd., 40) –, hielten die Besuche an:

4.4. [1817] […] Er liegt fast immer und schlummert. Wenn wir ihn fragen, wie es ihm geht, so winkt er ganz freundlich ‚gut, recht gut‘. Es ist recht voll in der Stube. Er kennt jeden und reicht immer freundlich die Hand. […] Es scheint nicht, dass die vielen Menschen um ihn ihn beklommen machen. (ebd., 41)

Rebekka Achelis vertraute ihrem Tagebuch zwar auch an, dass ihr „von den vielen Menschen der Kopf schwindlig wird“ und sie nicht begreifen könne, „wie es unser alter Vater aushalten kann“ (ebd., 42), doch vollzogen sich das Dahin-Siechen und Sterben ihres Vaters mit einer gewissen Selbstverständlichkeit im Beisein der Familie und von Freunden. Krankheit und Sterben von Thomas Achelis waren ein Vorgang auf der Grenze zwischen familiärer Privatheit und bürgerlicher Öffentlichkeit.

Das völlige Gegenteil trifft auf Rebekka Achelis’ eigene schmerzhafte Erkrankung zu, bei der es sich, wie weiter oben erwähnt, vermutlich um Brustkrebs handelte.9 War der Umgang mit der Krankheit des Vaters von öffentlicher Teilnahme geprägt, so fand die Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit weitgehend im Privaten statt. Lange war Achelis darauf bedacht, ihre Krankheit vor der Familie zu verheimlichen. Am 18. August 1831 notierte sie: „Seit Neujahr fühle ich eine Verhärtung in der linken Brust und mitunter Schmerzen […] Ich kann es niemand sagen, weil die Meinigen darauf dringen würden, mit einem Arzt zu sprechen, und dafür habe ich so große Angst.“ (ebd., 49) Sie behandelte ihre Brust mit einem Pflaster, das ihr von einer Bekannten empfohlen worden war, verheimlichte aber ihre Schmerzen weiterhin vor ihrer Familie, obwohl ihr klar war, dass ihre Stimmung und ihr Verhalten falsch ausgelegt werden können.

August, 6. [1832] […] Wie ängstigt mich nun mein Zustand. […] Und wenn ich dann so gedrückt bin und es doch niemand sagen und klagen mag, Ach! wie viel schwerer wird es mir dann, wenn ich mißverstanden werde und man es mir wohl gar für üble Laune hält. (ebd., 53f.)

In ihr Tagebuch notierte sie zwischen dem 3. Juli 1832 und dem 4. August 1832 regelmäßig, fast täglich, wie sehr sie unter ihren Schmerzen litt. „Ich habe seit einigen Tagen Schmerzen“ (ebd., 50), „Diesen Abend […] kann ich wieder vor Schmerzen in der Brust lange nicht einschlafen“ (ebd., 51), „Ich habe diesen Abend im Bette wieder viel Schmerzen“ (ebd., 51), „Ich hatte 3 Abende recht viel Schmerzen gehabt“ (ebd., 51), „Ich habe nun wieder mehr Schmerzen“ (ebd., 53). Sie fasste diese wiederholten und wiederholt registrierten Erfahrungen – mit Genette gesprochen könnte man hier von einem iterativen Erzähltyp10 sprechen – gleichsam summarisch in ihrem letzten Tagebucheintrag vom 24. Dezember 1832 zusammen: „So geht denn ein Schmerzenstag nach dem andern hin.“ (ebd., 70) Ebenso genau und gewissenhaft wie Rebekka Achelis den eigenen Krankheitsverlauf beschrieb und körperliche Veränderungen festhielt, be 
obachtete sie ihre Stimmungsschwankungen, registrierte ihre Niedergeschlagenheit und Angst vor dem Sterben. Am 3. Juli und 21. Juli 1832 notierte sie: „Ach! wie wird mir doch oft so bange“ (ebd., 50f.), am 9. August schrieb sie: „Ich war heute recht bedrückt“ (ebd., 55f.) Dazwischen keimte gelegentlich aber auch die Hoffnung auf Besserung auf, wenn sie am 4. November vermerkte: „Ich fühle mich heute so wohl“ (ebd., 67) oder am 20. Dezember 1832, kurz vor ihrem Tod, festhielt: „Gottlob! es ging mir auch gut“ (ebd., 70).

Erst nach vielen Monaten, im August 1832, suchte sie einen Arzt11 auf, der ihr freilich auch nicht mehr helfen konnte. „Ach! hätte ich doch früher gesprochen“, notierte sie schuldbewusst am 6. August, einige Tage vor dieser Konsultation (ebd., 53), und nach der Konsultation, am 11. August, schrieb sie: „Jedermann sagt, warum ich nicht früher gesprochen habe. Ach, warum that ich es nicht?“ (ebd., 56). Am 24. Dezember enden die Aufzeichnungen von Rebekka Achelis, am 20. Februar 1833 erlag sie ihrer Erkrankung.

Rebekka Achelis war eine zutiefst religiöse Frau, die die Erkrankung des Vaters und die eigene Krankheit als gottgewollte Bewährungsproben begriff.12 Dieses Krankheitsverständnis schlägt sich in ihren Tagebuchaufzeichnungen nieder, in denen sie immer wieder die Bedeutung von Krankheit thematisiert und ein religiös motiviertes Sinnkonzept formuliert: Das Krankenlager ihres Vaters gab ihr „so manche Erquickung und Erholung […] und so manche geistige Freude“ – eine Erfahrung, die sie die rhetorische Frage stellen lässt: „Wo lernt man mehr, als am Krankenbette, und wo giebt es ein Krankenbette belehrender, erquickender und erfreuender, wie dieses?“ (ebd., 38) Das Bemühen, Krankheit in einem religiösen Kontext zu verstehen und zu legitimieren, wird besonders deutlich in den Tagebucheintragungen, in denen sie von ihrer eigenen Krankheit berichtet: „Ach dies sind Prüfungen, die zu den LäuterungsLeiden gehören, und uns früh oder spät doch was eintragen werden“ (ebd., 60). In ihren Aufzeichnungen zitiert sie regelmäßig Auszüge aus Gebeten und Psalmen (vgl. ebd., 52-61) und bedient sich einer religiösen Metaphorik, um ihre Krankheit zu beschreiben, die sie als ein „verborgenes Kreuz, welches [sie] durchs Leben tragen muß“ und „Pfahl in [ihrem] Fleische“ versteht (ebd., 53). Durch ihre wiederholten Hinwendungen an Gott – „Ach Gott! Erbarme dich doch über mich“ (ebd., 62, vgl. z. B. auch ebd., 52, 57, 67) – verleiht sie ihren Tagebucheinträgen teilweise einen gebetsähnlichen Charakter. Dass Achelis in den Tagebuchaufzeichnungen zur eigenen Erkrankung viel ausführlicher als in jenen zur Erkrankung des Vaters die religiöse Dimension von Krankheit thematisiert und Krankheit als eine Angelegenheit zwischen sich und Gott reflektiert, dürfte daran liegen, dass ihr vorwiegend nur das Medium des Tagebuchs zur Verfügung stand, um mit der lange verheimlichten Krankheit umzugehen. Fand die Auseinandersetzung mit der Krankheit des Vaters im Freundes- und Familienkreis statt, so entbehrte Achelis diese Möglichkeit einer kollektiven Bewältigung oder lehnte sie ab und war auf ihr privates Tagebuch verwiesen. Das Tagebuchschreiben wird für sie Teil einer Alltagspraxis, um die eigene Krankheit subjektiv bewältigen zu können.

Auch das Tagebuch von Amalie Scharff gewährt genaue Einblicke in den Umgang mit der Erkrankung und dem Sterben engster Familienmitglieder. Ihre ältere Schwester Marie, verheiratet mit Alexander Manskopf, gebar am 20. Mai 1865 ihr zweites Kind, einen Sohn, und verstarb knapp drei Wochen später, am 9. Juni 1865, vermutlich am Kindbettfieber, dessen Ursache und Behandlung seinerzeit noch unbekannt waren. Ihr Neugeborenes starb kurze Zeit danach, am 28. Juni. Das Tagebuch beginnt mit einer frohen Botschaft: „Samstag den 20. Mai [1865] um 11 Uhr kam Alexander freudestrahlend in den Garten: Marie habe ein Söhnchen. Grosser Jubel und herzliche Beglückwünschung“ (Scharff, 1). Diese Freude über die glückliche Geburt wurde allerdings rasch getrübt durch den sich verschlechternden Gesundheitszustand der Schwester und ihres Kindes: „Nach 3-4 Tagen war die Freude etwas gedämpfter, weil Marie nicht so wohl war, wie man es sich wünschte […]“ (ebd.). Auch das Neugeborene sah „schrecklich schlecht“ aus, es war „ganz grau auf der Stirn, […] furchtbar blass und mager“ (ebd.). Die Aufzeichnungen von den nun folgenden fünf Wochen sind ein detailliertes und gleichzeitig dramatisches Zeugnis über das Sterben und den Tod der geliebten Schwester und ihres Kindes. Wie auch im Falle des Vaters von Rebekka Achelis fand die Pflege der Sterbenden im Familienkreis statt: „Alex pflegte sie unermüdlich“ (ebd.), „Samstag und Sonntag Nacht hatten immer 2 Menschen bei dem Kind gewacht, seit Sonntag früh war Tante Varrentrapp zur Pflege bei Marie“ (ebd., 2), es „standen oder sassen alle um das Bett herum“ (ebd., 7). Allerdings wurden anders als bei der Familie Achelis von Anbeginn Ärzte hinzugezogen, wobei dies durch die allgemein weiter fortgeschrittene Medikalisierung der Gesellschaft um 1860 wie durch familiäre Bindungen erleichtert worden sein dürfte. Bei dem von Amalie Scharff mehrfach genannten „Onkel Varrentrapp“ (ebd., 5), handelt es sich um den Arzt Georg Varrentrapp, der mit ihrer Tante, Mathilde Lutteroth, verheiratet war.

Die Einträge, die von den Ereignissen teilweise im Stundentakt, teilweise mit mehreren Tagen Unterbrechung erzählen, erhalten ihre Spannung aus der nüchternen Schilderung des Alltagsgeschehens – den Besuchen, ärztlichen Verordnungen, diätetischen Maßnahmen – und dem persönlichen Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Nüchtern beschreibt Amalie Scharff die ihr zugeteilten Pflegeaufgaben – „ich […] füllte die Arzenei ein, holte Schleim oder Eis und den kalten Aufschlag […]“ (ebd., 2) – gewissenhaft notiert sie die unzusammenhängenden Äußerungen ihrer hochfiebrigen und „ganz irr“ (ebd., 3) redenden Schwester, sachlich beobachtet sie deren Zustand: „Sie war wohl ganz irr, aber ruhig, wollte nicht aus dem Bett, bewegte nur ihre Arme viel, und suchte oft auf dem Bette herum“ (ebd., 3). Zwischen diese distanziert erscheinenden Beschreibungen eines Krankheitsverlaufs schieben sich immer wieder Äußerungen, in denen Amalie Scharff ihre eigenen Gefühle mitteilt und ihre Hoffnungslosigkeit und Trauer unvermittelt durchbrechen. Sie gesteht, dass ihr im Zimmer der sterbenden Schwester „so schauerlich, so ängstlich zu Muthe“ sei (ebd., 3) und verschweigt auch nicht die eigene Erschöpfung durch die aufreibende Pflege: „Meine Müdigkeit und Abspannung war so gross, meine Nerven so gereizt, dass ich die merkwürdigsten Visionen hatte.“ (ebd., 6) In diese Konstellation von nüchternem Registrieren des Alltagsgeschehens auch in dessen banalen Einzelheiten einerseits und Reflektieren des subjektiven Empfindens andererseits passt auch, dass Amalie Scharff in ihrem Tagebuch akribisch die Namen derjenigen auflistet, die Kränze zum Begräbnis der Schwester schickten und in diese Liste teilweise die gewählten Blumen vermerkt (ebd., 12), und gleichzeitig über ihr Unvermögen nachdenkt, das Geschehen verstehen zu können – ein Unvermögen, das für sie einer Glaubenskrise gleichkommt. Der Tod ihrer Nächsten wird ihr „unbegreiflich bleiben“ (ebd., 22), und offen räumt sie ein, wie wenig ihr Glaube ihr zunächst über den Verlust der geliebten Schwester helfen kann.

Da war nun die schauerliche Wirklichkeit vor uns, da war alles nun so gekommen wie ich es von Montag an gefürchtet hatte; Unsere liebe gute Marie hatte uns verlassen […]. Aber hart, furchtbar schwer wird der Kampf sein, bis ich es begreifen, fassen lerne, bis ich mich in seinen unerforschlichen Willen ergebe, Gott möge mir helfen. (ebd., 9)

Der Trost durch die Religion, den Rebekka Achelis suchte und dem sie mit einer gewissen bzw. gewiss erscheinenden Selbstverständlichkeit vertraute, bot sich Amalie Scharff offensichtlich nicht ohne weiteres als Bewältigungsstrategie an und musste erst erkämpft werden.

Die Aufzeichnungen zu diesen fünf aufreibenden Wochen beziehen ihre Spannung aus dem Verhältnis von Wiederholung und Unbestimmtheit, von Serialität13 und Kontingenz. Der detaillierten Beschreibung der immer wiederkehrenden, teilweise veränderten Alltagsroutinen steht das gleichzeitige Wissen um die Offenheit des Geschehens gegenüber. Es ist diese „entsetzliche […] Ungewissheit“ (ebd., 2), ob Mutter und Kind genesen oder sterben werden, die sich im Tagebuch manifestiert, dessen regelmäßige Einträge das Schwanken zwischen Verzweiflung und „neue[r] Hoffung“ (ebd., 6) gleichsam seismographisch festhalten.

Zeitstrukturen und small stories

Die Frage, wie Krankheit in Tagebüchern erzählt wird, lässt sich vorläufig so beantworten, dass die beiden vorgestellten Tagebücher eine Dimension von Krankheitserfahrung aufzeigen, die letztlich auf eine menschliche Zeiterfahrung verweist: die Unverfügbarkeit von Zukunft. Die Diaristinnen wissen zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht, welchen Ausgang die eigene Krankheit bzw. die Krankheit ihrer Angehörigen nehmen werden. Ihre Aufzeichnungen sich wiederholender, alltäglicher Ereignisse sind gegenläufig zur Unbestimmtheit des Ausgangs, eine Unbestimmtheit, die ein plötzliches Ende nimmt, indem der Tod eintritt. Wenn diese Beobachtung im Folgenden ausgeweitet und nach dem Zusammenhang gefragt werden soll, der zwischen den spezifischen Erzählstrukturen des Tagebuchs und der Darstellung von Krankheit besteht, dann rücken Überlegungen zur zeitlichen Organisation des Erzählten in den Fokus, die, um dies vorweg zu nehmen, durch das in der Gesprächs- und Soziolinguistik entwickelte Konzept der small stories erweitert werden sollen. Small stories, also kurze Alltagsgeschichten, die in bestimmten sozialen Kontexten erzählt werden, zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie gewöhnlich nicht von einem vergangenen Geschehen in einer zeitlich linearen Ordnung berichten. Statt auf den Beginn eines Geschehens dessen Höhe- oder Wendepunkt und schließlich dessen Ende folgen zu lassen, sind small stories vielmehr oft multilinear strukturiert, d. h. das Erzählen von Ereignissen ist noch vorne hin offen und bringt weitere Erzählungen hervor (Georgakopoulou 2015, 260). Doch zuvor ein Blick auf Tendenzen der Tagebuchforschung.

Als eine „misfit form of writing“ (Langford / West 1999, 8) wurde die Gattung Tagebuch lakonisch bezeichnet. Tatsächlich erschwert die formale und inhaltliche Hybridität von Tagebüchern – eine Vielfalt, die eine vor einigen Jahren veranstaltete Ausstellung zum Tagebuch übrigens eindringlich vor Augen geführt hat (vgl. Gold et al. 2008) – literaturwissenschaftliche Definitionsbemühungen. Neben dieser Herausforderung ist die interessierte Literaturwissenschaftlerin weiterhin mit der Tatsache konfrontiert, dass aus narratologischer Perspektive bislang kaum Annäherungsversuche an dieses Genre unternommen worden sind und das erzähltheoretische Begriffsinstrumentarium selten genutzt wird, um sich mit Tagebüchern näher zu befassen. Tagebücher spielen in der Forschung generell eine marginale Rolle, allerdings sollte diese pauschale Feststellung mit einem vergleichenden Blick auf unterschiedliche Forschungsgebiete kurz präzisiert werden. Je nach Disziplin zeigen sich nämlich Unterschiede, die sowohl die Auswahl des Materials als auch die Fragen betreffen, die an das Material gestellt werden. So werden aus historischer, (jugend)psychologischer14 oder bildungswissenschaftlicher Perspektive gerne unveröffentlichte Tagebücher eher unbekannter Diaristinnen und Diaristen herangezogen, Dokumente mithin, die keinen Status als kanonisierte Texte haben (vgl. Bernfeld 1931, Ariès / Duby 1987, Behnken / Schmid 1993 und 1996, Marschewski 2007, Faßhauer 2016). Literaturwissenschaftliche Untersuchungen hingegen tendieren dazu, wie kürzlich moniert worden ist (vgl. Kalff / Vedder 2016, 237, vgl. auch Lejeune 2009), zumeist veröffentlichte Texte renommierter Tagebuchschreiber zu wählen. Repräsentativ für einen solchen Zugriff ist die Anthologie von Gustav René Hocke, die als Teil seiner umfassenden Arbeit zu europäischen Tagebüchern Auszüge aus Tagebüchern bekannter Künstler, Philosophen und Politiker von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert versammelt (vgl. Hocke 1986).15 Tagebücher von Schreibern, die nicht zu den Größen der europäischen Geistesgeschichte zählen, finden hingegen gewöhnlich keine Beachtung in literaturwissenschaftlichen Arbeiten (vgl. Boerner 1969, Jurgensen 1979, Wuthenow 1990, Dusini 2005). Auch die Fragestellungen, die an das Tagebuch-Material gerichtet werden, variieren je nach Forschungsdisziplin. Während aus historischer, psychologischer oder erziehungswissenschaftlicher Perspektive Tagebücher als Teil einer Alltagskultur verstanden werden (vgl. Ariès / Duby 1987, 11, 195-196, 457-460), an denen sich historisch und kulturell unterschiedliche Formen der Identitätsbildung und Sozialisation bzw. Selbstfindung und Selbstinszenierung ablesen lassen (vgl. Bernfeld 1931, Behnken / Schmid 1993 und 1996, Marschewski 2007, Faßhauer 2016), rückt für das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse diese referentielle Dimension von Tagebüchern in den Hintergrund. In den Vordergrund treten stattdessen Fragen nach dem Verhältnis von Fiktionalität und Authentizität, von Literarischem und Nicht-Literarischem oder nach der Rolle von Tagebüchern als literarischen „Werktagebüchern“ (vgl. Kalff / Vedder 2016, 237).

Für das Verständnis der Erzählstrukturen in den beiden Tagebüchern von Achelis und Scharff erweisen sich solche Perspektiven allerdings als wenig weiterführend. Daher sei zunächst die naheliegende und womöglich banal wirkende Beobachtung in Erinnerung gerufen, dass dem Tagebuch ein bestimmtes zeitliches Organisationsprinzip zugrunde liegt: Geschrieben wird in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, entweder täglich bzw. mehrmals täglich oder in größeren Abständen. Als eine Art gemeinsamer Nenner der literaturwissenschaftlichen Tagebuchforschung dürfte immer noch die bereits 1969 formulierte Einsicht von Peter Boerner gelten:

Ein Tagebuch ist ein fortlaufender, meist von Tag zu Tag geschriebener Bericht über Dinge, die im Lauf jedes einzelnen Tages vorfielen. Seine formalen Kennzeichen liegen in einer gewissen Regelmäßigkeit des Berichtens und einer deutlich erkennbaren Trennung der einzelnen Niederschriften voneinander. (Boerner 1969, 11)

Arno Dusini hat diesen Sachverhalt, dass der Tag die strukturierende Einheit des Tagebuchs ist, so auf den Punkt gebracht:

Es ist legitim, hinsichtlich des Tagebuchs von einer ‚Verbuchung der Zeit‘ zu sprechen […]. Der Gattungsname […] verweist auf die unverwechselbare Zeiteinheit des ‚Tages‘ als auf das „dariographische Maß“ und expliziert diesbezüglich ein eindeutiges Differenzkriterium. (Dusini 2005, 74f.; Zitat bei Hocke 1986, 300)

Diese spezifische Zeitstruktur des Erzählens im Tagebuch, das Notieren von Tag zu Tag, führte Gérard Genette zur Überlegung, Tagebücher stellten eine „(zwischen die Momente der Handlung) eingeschobene Narration“ (Genette 1994, 155)16 dar. Bei diesem Erzähltypus, den Genette als den „komplexeste[n]“ und „heikelsten“ (ebd.) bezeichnet, ist das erzählte Geschehen zum Zeitpunkt des Erzählens noch nicht abgeschlossen, und die Erzählung changiert zwischen gleichzeitigem und späterem Erzählen:

Das Tagebuch und der vertrauliche Brief verknüpfen ständig das, was man in der Rundfunksprache Direktübertragung und Übertragung zu einem späteren Zeitpunkt […] nennt, eine Art inneren Monolog mit einem nachträglichen Bericht. […] Die Ereignisse des Tages sind schon vergangen, und der point of view kann sich seitdem verändert haben; die Gefühle und Ansichten am Abend und am folgenden Tag jedoch gehören völlig zur Gegenwart […]. (ebd.)

Die besondere Verteilung der Zeitverhältnisse zwischen dem Erzählen und dem Erzählten in der Tagebuchform verknüpft erzählendes und erlebendes Ich eng miteinander, und der (Ich-)Erzähler kann immer wieder zwischen dem Erzählen von Vergangenem und dem Eingehen auf die augenblickliche Situation hin- und herwechseln. Im Verlauf des Schreib- oder Erzählprozesses ereignen sich zu erzählende Begebenheiten, die dann wiederum tatsächlich erzählt werden. In den Tagebüchern von Rebekka Achelis und Amalie Scharff wird diese spezifische Zeitstruktur der eingeschobenen Erzählung auf einerseits unterschiedliche, andererseits vergleichbare Weise fassbar. Während sich Rebekka Achelis in ihren Einträgen fast durchgängig der Präsensform bedient und das Perfekt, kaum allerdings das Präteritum verwendet,17 um vergangene Ereignisse aufzuzeichnen, gebraucht Amalie Scharff sowohl die Präsens- als auch Präteritumsform, um Begebenheiten und Eindrücke festzuhalten. Nutzt sie in ihren Einträgen, in denen sie von der Krankheit und dem Sterben der Schwester erzählt, ausnahmslos die Vergangenheitsform, so wechselt sie ins Präsens, wenn sie ihre Gefühle nach dem Tod Maries beschreibt – „Marie, ihr Geist lebt ja noch im Zusammenhang mit dem unsrigen, das fühle ich, das macht mich freudig, das gibt mir Kraft und Muth“ (Scharff, 11) – oder wenn sie von ihrer kleinen, halbverwaisten Nichte Marianne berichtet: „Nun haben wir nur noch Marianchen […]. Schon ihre Erscheinung bezaubert Jeden […]“ (ebd., 19). Wie bewusst oder unbewusst, gezielt oder zufällig die beiden Tagebuchschreiberinnen den Tempuswechsel verwenden, lässt sich natürlich nicht entscheiden, diese Frage ist für den hier interessierenden Zusammenhang allerdings auch wenig relevant. Festzuhalten ist, dass der Wechsel zwischen verschiedenen grammatischen Zeitformen es ermöglicht, die unterschiedlichen bzw. unterschiedlich erlebten Zeitebenen des im Tagebuch Erzählten zu profilieren.

Als Beschreibungskategorie erweist sich das Konzept der ‚eingeschobenen Narration‘ für die beiden Tagebücher insofern als geeignet, da die beiden Diaristinnen, wie mehrfach erwähnt, zum Zeitpunkt ihrer Einträge nicht wissen können, welchen Verlauf die eigene Krankheit bzw. die Krankheit der Angehörigen nehmen wird. Im Unterschied zur Autobiographie,18 die im Rückblick das Ganze eines Lebens darzustellen versucht, ist das Tagebuch insofern eine offene Form, als die Tagebuchschreiberinnen zum Erzählzeitpunkt das zu erzählende Geschehen nicht überblickten. Beim Tagebuch handelt es sich, mit Philippe Lejeune gesprochen, um „a text whose ultimate logic escapes us; we agree to collabarate with an unpredicatable and uncontrollable future“ (Lejeune 2009, 208). Das Erzählgeschehen ‚hangelt‘ sich von Tagebucheintrag zu Tagebucheintrag weiter. Inmitten dieser regelmäßigen Aufzeichnungen – in Genettes Terminologie eine anaphorische Erzählweise – von wiederkehrenden Alltagsereignissen, etwa der Besuche des Hausarztes, des Verteilens der Pflegeaufgaben oder des Verabreichens von Medizin, heißt es dann ebenso lakonisch wie endgültig: Ihr „Athem […] [hat] um 12 ¼ Uhr ganz aufgehört“ (Scharff, 8). Einsichtsvoll umschreibt aus einer übergeordneten Perspektive Günter Oesterle diesen Sachverhalt:

Das Tagebuchschreiben hat etwas Serielles an sich; der Tagebuchschreiber scheut sich nicht, Alltägliches zu notieren und das zum wiederholten Male. [....] Aber dabei hat es nicht sein Bewenden. Unvorbereitet […] steht plötzlich ein Ereignis mitten in einer Serie des Banalen. (Oesterle 2008, 100)

Dieses ‚eingeschobene‘ Erzählverfahren im Tagebuch, das „schubweise[...] Wachsen ständig zur nächstfolgenden Eintragung hin“ (Boerner 1969, 11) bringt – etwa im Unterschied zur Autobiographie – zwangsläufig keine big narrative hervor. Vielmehr handelt es sich bei den Einträgen oft um „Notate und Notizen, der Skizze verwandter als einer ‚runden‘ Geschichte“ (Oesterle 2008, 100).19 Zur Illustration dieses Sachverhalts sei aus dem Tagebuch von Amalie Scharff zitiert:

Gegen Abend wurde Marie aber doch wieder unruhiger, und es steigerte sich so, dass spät Abends noch zu Onkel Varrentrapp geschickt wurde. Sie schrie so furchtbar, dass an den Nebenhäusern die Fenster aufgemacht wurden. Frau Manskopf blieb noch bei Marie, Alex, Christine u. Anna. Tante Varrentrapp ging erst Nachts um 12 Uhr. Wir waren nur bis 7 Uhr geblieben, Grossmutter wollte noch ein wenig sich an der Luft erfrischen. (Scharff, 6)

Vergleichbare Einträge finden sich auch im Tagebuch der Rebekka Achelis. Die Diaristinnen zählen Ereignisse auf, reihen sie parataktisch aneinander, und gelegentlich dringen in ihre Niederschriften Formen von Alltagsmündlichkeit– erinnert sei an die erwähnten gebetsähnlichen Passagen in Rebekka Achelis’ Tagebuch oder an Amalie Scharffs Festhalten der Fieberreden ihrer Schwester.

Als eine Weiterführung der hier extrahierten literaturwissenschaftlichen Beobachtungen zu den Zeitstrukturen des Tagebuchs und zur ‚eingeschobenen Erzählung‘ ließe sich das unlängst in der Soziolinguistik entwickelte Konzept der small stories verstehen,20 das abschließend kurz vorgestellt werden soll. Es handelt sich dabei um einen noch sehr vorläufigen und revisionsbedürftigen Versuch, Anstöße aus der Soziolinguistik für die literaturwissenschaftliche Erzähl- und Tagebuchforschung aufzugreifen. Die Advokaten der small stories sind Alexandra Georgakopoulou und Michael Bamberg (vgl. Bamberg 2006, Georgakopoulou 2006, 2007, Bamberg / Georgakopoulou 2008). Ausgehend von der Beobachtung, dass die Erzähltheorie ihr analytisches Rüstzeug in der Beschäftigung mit den „grand narratives“ erarbeitet habe und eine „big story research“ (Georgakopoulou 2007, 147) darstelle, plädieren sie dafür, ein geeignetes Instrumentarium zu entwickeln, das andere, nicht-kanonische Geschichten, die sie in bewusster Abgrenzung zu diesem Trend small stories nennen – Alltagsgeschichten, kurze, fragmentarische, ungeordnete Geschichten ohne literarischen Anspruch – auf ihre Form und ihren Kontext hin zu untersuchen. ‚Small‘ verweist dabei buchstäblich auf die Kürze dieser Geschichten, aber auch auf die Alltäglichkeit des Erzählten. Das Interesse von Bamberg und Georgakopoulou gilt vornehmlich dem mündlichen Erzählen in Alltagssituationen, ihr Ziel ist es, durch empirische Untersuchungen konkreter Einzelfälle das Verständnis davon, wie erzählt wird, zu erweitern und zu verfeinern. Das Erzählen von vollständigen und abgeschlossenen Geschichten ist eben nur eine Weise narrativer Aktivität, und Georgakopoulou hat für die narrative Analyse kleiner Geschichten eine eigene Heuristik erarbeitet, deren Ebenen sie in „ways of telling, sites, tellers“ (Georgakopoulou 2015, 258) differenziert. Freilich ließe sich hier kritisch einwenden, dass Bamberg und Georgakopoulou ihren Ausführungen ein etwas verkürztes Verständnis der grand narratives zugrunde legen und beispielsweise literaturwissenschaftliche Ansätze außer Acht lassen, die Heterogenität und Unabgeschlossenheit der grand narratives aufzuzeigen, etwa indem die Dialogizität und Polyphonie von Literatur beschrieben oder das Spiel mit Erzählkonventionen im modernen Roman freigelegt werden.

Wie erwähnt, gewinnen und erproben Bamberg und Georgakopoulou ihre Beschreibungskategorien nicht an schriftlichen, sondern an mündlichen Erzählungen. Gleichwohl scheint mir ihr Ansatz weiterführend für das Verständnis der hier vorgestellten Frauentagebücher zu sein, zumal diese ja auch, wie gesehen, Formen von konzeptueller Mündlichkeit verwenden. Schärfer als bisher verspricht die small stories-Perspektive die Erzählbarkeit von Krankheit im Tagebuch21 in den Blick zu nehmen und schließt dabei gleichzeitig an die referierten Einsichten von Boerner, Dusini, Genette und Oesterle zum Tagebuch an. Neben der räumlich-zeitlichen Situiertheit des Erzählens – Rebekka Achelis schreibt zwischen 1813 und 1832 in Bremen, Amalie Scharff 1865 in Frankfurt – gehören dazu etwa die zeitnahe und nach vorne hin offene Erzählung von Geschehnissen, die Tatsache, dass es sich bei den meisten Eintragungen der beiden Diaristinnen nicht um zusammenhängende Erzählungen mit literarischem Anspruch handelt und dass die vielen kleinen Einzelaufzeichnungen letztlich das Ganze ergeben. Um dies an einem Beispiel aus dem Tagebuch von Rebekka Achelis zu illustrieren: Die Tagebucheintragungen vom 4.4.1817 bis zum 13.4.1817 schildern kurz Alltagsbegebenheiten, die sich im Verlauf dieser Tage nacheinander zutragen: „Ich kann nicht zur Kirche gehen, weil Mama sich fürchtet, mit unserm Vater allein zu sein“ (Achelis, 41); „Diese Nacht bleibt Heinrich seine Frau und Vogel. Es müssen nun immer zwei bei ihm bleiben“ (Achelis, 42); „Wir stehen nun alle um das Lager des sterbenden Vaters. Er verlangt noch etwas und niemand versteht ihn. Dann winkt er mich, als ob ich ihn wohl am besten verstehen werde“ (Achelis, 44); „Dann fordert er [der Vater] noch einmal von dem Warmbier und ißt einige Löffel voll. Justus und Thomas gehen weg. Doch kommen sie beide nach einer Stunde wieder“ (Achelis, 45). Das Erzählen einzelner Geschehnisse generiert weitere Erzählungen, und das Erzählen dieser aufeinander folgenden Einzelgeschehnisse mündet schließlich in das Erzählen über den Tod des Vaters: „So geht es ab und zu, bis 5 Uhr Nachmittag, dann senkt er [der Vater] das Haupt und entschläft wie ein Heiliger“ (Achelis, 45). Man könnte sagen, dass sich die einzelnen Ereignisse auf einen Endpunkt hin zu bewegen – den Tod des Vaters – und dass sich die kurzen, nicht weiter verbundenen Schilderungen des Alltagsgeschehens im Hinblick auf diesen Endpunkt zu einer Art Ganzem fügen. Dieser Zusammenhang ist allerdings zum Zeitpunkt des Erzählens noch nicht absehbar, und die regelmäßigen Tagebucheinträge gleichen einer Aneinanderreihung von small stories. Narratologisch gewendet: Erzählenswert – ‚tellable‘ im Sinne von Labov und Georgakopoulou (Georgakopoulou 2015, 263) – ist eben nicht nur vorgängiges Geschehen, erzählenswert sind auch unabgeschlossene Ereignisse des Alltags: „announcing and […] assessing events that are part of everyday routine“ (ebd.). Davon legen die Tagebücher von Rebekka Achelis und Amalie Scharff Zeugnis ab.

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Professor Dr. Marie-Theres Federhofer
Universitetet i Tromsø – Norges arktiske universitet
Institutt for språk og kultur
Postboks 6050 Langnes
N – 9037 Tromsø
Norwegen
E-Mail: marie-theres.federhofer@uit.no
URL:
https://uit.no/om/enhet/ansatte/person?p_document_id=43437&p_dimension_id=210121

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1 Auch an dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen bedanken, die mir immer rasch und zuverlässig bei den Recherchearbeiten zu diesem Beitrag geholfen haben.

2 Angesichts der notorischen Referenz auf Porters Artikel sollte nicht übersehen werden, dass bereits 1951 der Schweizer Medizinhistoriker Henry E. Sigerist darauf verwiesen hat, wie wertvoll, doch wenig genutzt Aufzeichnungen von Patienten als Quellen für die medizinische Geschichtsschreibung sind. „In our historical investigations, medical books represent our chief sources, but we shall also have to consult a great many non-medical books and documents. Such works as Pepy’s diary, the memoirs of St. Simon, the letters of Madame de Sévigné are full of information on various illness and their treatments as seen from the patient’s angle. They tell us better than medical books what disease meant to the individual and how it affected his life.“ (Sigerist 1977, 24). Vgl. auch ebd., S. 15: „While there is a good deal of literature on the history of the physician, the history of the patient has rather been neglected.“

3 Die Abschrift von R. Achelis’ Tagebuch ist unter der Signatur Reg. 523  registriert. Nach Auskunft des Archivs erhielt es die Abschrift im Jahr 2001 von einer nicht weiter genannten Einsenderin, die die Abschrift auf der Grundlage einer handschriftlichen Kopie anfertigte. Diese ist heute in Privatbesitz. Die Abschrift von A. Scharffs Tagebuch ist unter der Signatur reg. 1495 / XI  registriert und gelangte 2006 ins Tagebucharchiv. Die Abschrift bzw. der Auszug wurde 1965 von einem Nachfahren angefertigt, Hermann Schmidt-Scharff. Die Original-Tagebücher von A. Scharff sind heute Teil des Nachlasses von Hermann Schmidt-Scharff, der im Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main aufbewahrt wird (S. 1-259, Nachlass Hermann Schmidt-Scharff). – Wenn ich im Folgenden den Ausdruck ‚Tagebuch‘ verwende, beziehe ich mich auf die Abschriften, die mir das Emmendinger Tagebucharchiv freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

4 Heinrich Achelis studierte in Göttingen Theologie, wurde später Pastor an der reformierten Kirche in Göttingen und unterhielt Kontakte u.a. zu Johann Heinrich Jung-Stilling und dem deutsch-baltischen Adeligen Gotthard Emanuel von Aderkas, seinerzeit Student in Göttingen, später ein hoher Verwaltungsbeamter in russischen Diensten.

5 Rebekka Achelis und eine jüngere Verwandte – Elisabeth Achelis – sind die einzigen weiblichen Familienmitglieder, die in der Chronik jeweils einen eigenen Eintrag erhalten haben. Im Eintrag zu Rebekka Achelis werden ausdrücklich deren „hinterlassene Briefe […] und Tagebücher [...]“ erwähnt (Achelis / Achelis 1921, 24). – Die im Tagebucharchiv aufbewahrte Abschrift von R. Achelis’ Tagebuch wurde auch in der Dissertation von M.-A. Marschewski als Quelle verwendet, allerdings wird die Diaristin in der Arbeit von Frau Marschewski als Maria Michels identifiziert (vgl. Marschewski 2007). Nach Auskunft des Archivs handelt es sich bei diesem Namen um ein Pseudonym für R. Achelis, und die Abschrift ließ sich seinerzeit nur unter diesem Pseudonym finden.

6 Dazu zählten etwa die Familien Gontard, von Harnier, Lutteroth, Manskopf oder Willemer.

7 Der Begriff Medikalisierung (‚médicalisation‘) wurde erstmals 1982 von Jean-Pierre Goubert, einem Historiker in der Tradition der Annales-Schule definiert. Gemeint ist damit die staatlich verordnete medizinische Versorgung der Bevölkerung durch Ärzte, die im 18. Jahrhundert einsetzte, womit das Wissen etwa von Heilern, Wundärzten und Hebammen ausgegrenzt wurde. Die Medikalisierung als staatliches Herrschaftsinstrument wird in der Forschung unterschiedlich bewertet, vgl. Ernst 2003, Loetz 1993.

8 Vermutlich handelt es sich um den evangelischen Theologen Johann Ernst Osiander (1792-1870), der nach Ende seines Studiums Hauslehrer in der Senatorenfamilie Castendyk in Bremen war (1811-1817). Die „Castendiecks“ werden in Rebekka Achelis’ Tagebuch mehrmals erwähnt (vgl. Achelis 43, 45) und gehörten zum Freundeskreis der Achelis’.

9 Der genderspezifische Aspekt liegt auf der Hand – die Öffentlichkeit der Krankheit des Vaters, die Privatheit und nahezu Tabuisierung der eigenen Krankheit –, kann hier aber nur erwähnt werden, vgl. dazu weiterführend Nusser / Strowick 2002.

10 Genette versteht darunter „einmal [...] erzählen, was n-mal passiert ist [...]“ (Genette 1994, 83).

11 Bei dem im Tagebuch genannten Arzt „Doctor Wichelhausen“ (Achelis, 56, 58) handelt es sich vermutlich um Peter Jacob Wichelhausen. Die Familien Achelis und Wichelhausen waren durch Eheschließung miteinander verbunden.

12 So auch Marschewski 2007, die feststellt, dass R. Achelis ihre Krankheit als eine „persönliche [...] Bewährungsprobe vor Gott“ (158) versteht.

13 Zu Tagebüchern als „serial autobiographies“ vgl. Fothergill 1974, 152-154.

14 Die Entwicklungspsychologen Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld gelten als die ersten Wissenschaftler, die Tagebücher von Jugendlichen konsequent für ihre Forschungen nutzten (vgl. Bühler 1922, Bernfeld 1931).

15 Zwar betont Hocke, dass es „gerade die unliterarischen, das heißt wenigstens im vorhinein […] nicht für das ‚Publikum‘ bestimmten Tagebücher“ sind, die seiner Arbeit zugrunde liegen (Hocke 1986, 11). Obwohl das Prädikat ‚literarisch wertvoll‘ also offenbar kein Selektionskriterium für Hockes Tagebuch-Anthologie ist, so tragen allerdings die ausgewählten Verfasser – und wenigen Verfasserinnen – dieser Tagebücher einen Prädikat-Stempel, insofern sie als prominente Vertreterinnen und Vertreter einer europäischen Bildungselite gelten können. Untersuchungen zu Tagebüchern von Frauen sind, wie kürzlich zu Recht moniert worden ist (vgl. Kalff / Vedder 2016, 236), selten, vgl. allerdings Heyden-Rynsch 1997.

16 Der französische Ausdruck lautet „narration intercalée“, vgl. z.B. Genette 1972, 229. Zur Kritik an Genettes Konzept einer „narration intercalée“ vgl. Lejeune 2009, 207f. Lejeune meint, der Ausdruck sei nur dann sinnvoll, wenn er aus der Perspektive des Lesenden, nicht aus der Perspektive des Schreibenden verwendet werde, da der Schreibende nicht zwischen zwei äquivalenten Dinge ,eingeschoben‘ sei: „there is something behind me, nothing in front“.

17 Vgl. z.B. die Einträge vom 9.8. 1832, Achelis, 55: „Ich war heute recht bedrückt [...]“ oder vom 19.9.1832, Achelis, 63: „Dies wurde mir ein saurer Abend. Doch that es mir wohl, daß ich eine Zeitlang mit der Vagt allein gehen konnte“.

18 Dieser Unterschied zwischen Autobiographie und Tagebuch ist in der Forschungsliteratur mehrfach hervorgehoben worden, vgl. z.B. Boerner 1969, Dusini 2005, Fothergill 1974, Lejeune 2009, Wuthenow 1990.

19 Den Aspekt einer fehlenden kohärenten Geschichte im Tagebuch betonen u.a. auch Bernfeld 1931, Dusini 2005, Fothergill 1974. Fothergill adressiert den Sachverhalt mit einer metaphorischen Formulierung: „The autographer […] should see a wood for a diarist’s trees“ (Fothergill 1974, 152).

20 Dieses Konzept ist inzwischen auch ins linguistische Handbuchwissen eingegangen, vgl. Georgakopoulou 2015.

21 Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Krankheit und Sterben im Leben der beiden Protagonistinnen Rebekka Achelis und Amalie Scharff sind alles andere als ,kleine Geschichten‘, sondern zutiefst traumatische Erlebnisse. Mit dem Konzept der small stories geht es mir lediglich darum, die Form des Erzählens im Tagebuch besser fassbar zu machen.