Bernd Schon

Discours du récit du film

Markus Kuhns Filmnarratologie – eine transmediale Applikation von Gérard Genettes Analysemodell auf audiovisuelles Erzählen

Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin / Boston: De Gruyter 2013. 428 S. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-030727-6

Innerhalb der narratologischen Forschung koexistieren aktuell klassische, d.h. werkimmanent-strukturalistische und postklassische Narratologien – v.a. in Gestalt transgenerischer und intermedialer Übertragungen sowie interdisziplinärer Erweiterungen etwa durch Rezeptionsästhetik, Kognitionspsychologie, Pragmatik und Rhetorik. Bei dieser Konglomeratbildung ist mitunter ein verwirrendes Neben- und Gegeneinander von Methoden und Begriffen zu beklagen.

Innerhalb der Filmwissenschaft liegen einige Arbeiten zur ‚Narration‘ im Spielfilm vor, etwa David Bordwells Narration in the Fiction Film (1985), Edward Branigans Narrative Comprehension and Film (1992) sowie Seymour Chatmans Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film (1990), daneben zahlreiche Studien zu Einzelaspekten, bspw. Sarah Kozloffs Arbeit zum Voiceover (1988), Jörg Schweinitz’ Überlegungen zum Point of View (2007) oder Fabienne Liptay und Yvonne Wolfs Sammlung zum Unzuverlässigen Erzählen in Literatur und Film (2005).

Die Arbeiten zur Filmnarration schließen allerdings nur teilweise an die narratologischen Modelle literaturwissenschaftlicher Provenienz an und übertragen Methoden und Kategorien in unterschiedlicher Weise. Auch hier ist also das Neben- und auch Gegeneinander von Methoden und Kategorien teils problematisch. Eine originär narratologische Zusammenschau unterschiedlichster Aspekte des Filmerzählens inklusive Klärens und Vereinheitlichens von Begriffen blieb bislang ein Desiderat filmwissenschaftlicher Forschung. Mit seiner erstmals 2011 in der Reihe Narratologia des de Gruyter Verlags erschienenen Studie hat Markus Kuhn sich vorgenommen, ebendiesen Mangel zu beheben. Der vorliegenden Rezension liegt die text- und seitenidentische Paperback Edition (2013) der Erstauflage zugrunde.

Methodische Basis und Argumentationsgrundlage

Laut Selbstaussage strebt Kuhn mit seiner Filmnarratologie eine „Heuristik zur Filmanalyse und ein[en] systematisch entwickelte[n] Deskriptionsmodus für narrative Filme“ (S. 24) an. Kuhn verortet sich expressis verbis in die Tradition Gérard Genettes, immer auch um „inflationäre[n] Begriffsbildungen“ (S. 9) innerhalb der Disziplin entgegenzuwirken, sei „Genette [doch] als lingua franca der Narratologie anerkannt“ (ebd., Hervorhebungen im Original). Kuhns Systematik soll zuallererst die konzise Beschreibung der narrativen Strukturen eines Films ermöglichen, ohne hierbei zur Interpretation derselben voranzuschreiten.

Laut Selbstaussage Kuhns ist sein

Ansatz […] klassisch – oder neoklassisch – darin, dass er sich an Genette und Vertretern der klassischen Narratologie orientiert, sowie im Hinblick auf seine werkimmanente und systematische Ausrichtung und postklassisch im Hinblick auf die transmediale Erweiterung des Gegenstandsbereichs auf den Film – einer Erweiterung, der die methodische Qualität, Differenziertheit und Relevanz der Kategorien klassischer Narratologie nicht geopfert werden sollen. (S. 24, Hervorhebung im Original).

Angesichts der Hybridität des Mediums Film, das vielfältige andere Medien – etwa Malerei, Fotografie, Musik – inkorporiert und simultan über mehrere Kanäle kommuniziert, nimmt Kuhn an, dass „ein filmnarratologischer Ansatz per se komplexer [sei] als ein literaturbasierter“ (ebd., Hervorhebung im Original).

Von der sprachbasierten zur transmedialen Narratologie (Kapitel 2)

Als Gegenstandsbereich der Narratologie fasst Kuhn die „Narrativität“, die „spezifische Qualität des Erzählerischen“ (S. 15). In Anlehnung an Wolf Schmid (2005) definiert Kuhn als deren ‚Minimalbedingung‘, dass „mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt werden“ (S. 56, Hervorhebungen im Original) müsse. Die erzählte Geschichte (histoire) sei hierbei erst einmal medienunabhängig. Die hier mitformulierte Bedingung der Darstellung von Veränderung impliziere allerdings die Vermittlung durch eine Erzählinstanz – was auch für den Film gelte.

Die narrative Vermittlung im Film (Kapitel 2.3)

Die narrative Vermittlung durch den filmischen Apparat werde aber, so Kuhn, innerhalb der Filmwissenschaft kontrovers diskutiert. Verantwortlich hierfür sei u.a. „Chatmans vielzitiertes Diagramm verschiedener ‚texttypes‘“ (S. 51), das dieser in Coming to Terms (1990) vorgelegt hatte. Denn hier wurde „der Film als ‚mimetic narrative‘ neben dem Drama subsumiert“ (ebd.), welches sich unvermittelt darbiete. Dies habe teilweise zu einer Einordnung des Films als Medium ohne Vermittlungsinstanz geführt. So lehne Bordwell in Narration in the Fiction Film (1985) „jegliche Sender-, Erzähler- oder Enunziationsinstanzen ab“ (S. 36). Für Kuhn bildet die Tatsache einer narrativen Vermittlung aber nachgerade das „Tertium Comparationis zwischen Film und Erzählliteratur“ (S. 75) – eine Einschätzung, die im Übrigen auch Käte Hamburgers und Christian Metz’ Konzeptualisierung des narrativen Films entspricht (vgl. Brössel 2014, 38f.).

Grundlage von Kuhns Modell ist also die Annahme einer vermittelnden Instanz im Film. Diese hatte Chatman cinematic narrator genannt und als einen „overall agent“ begriffen, ein „composite of a large and complex variety of communicating devices” (Chatman 1990, 133f.; hier: S. 79). Statt aber von einem – wenig differenzierten – ‚overall agent‘ zu sprechen, zieht Kuhn es mit Rekurs auf Schweinitz (2005, 93) vor, von einer „Kopräsenz [mehrerer] narrativer Instanzen“ (hier: Kuhn 2013, 86) auszugehen. Das Herzstück von Kuhns Modell bildet entsprechend die detaillierte Aufgliederung der narrativen Vermittlung in verschiedene Instanzen sowie die konzise Deskription ihres komplexen Zusammenspiels.

Narrative Instanzen (Kapitel 3)

Der filmische Erzählprozess entstehe durch das Miteinander einer visuellen Erzählinstanz (VEI), die vermittels „audiovisuelle[n] Zeigen[s] bzw. Vorführen[s] von Szenen“ erzählt, und „mehreren (oder auch keiner) sprachlichen Erzählinstanz(en) [SEIen]“ (S. 85). Erstgenannte VEI sei hierbei nicht einfach mit der Kamera gleichzusetzen. Denn nicht nur die Kamera bilde „eine ‚perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz‘ […], sondern Kamera und Montage im Zusammenspiel“ (S. 74, Hervorhebung im Original). Ferner seien auch die Mise-en-scène – also die räumliche Anordnung, Proxemik und Dynamik vor der Kamera sowie Dekors, Kostüme, Requisite und Maske der VEI zuzuordnen. Die sprachlichen Instanzen (SEIen) erzählen wortsprachlich und realisieren sich im Film bspw. als Voice-over, vermittels Schrifttafeln oder Textinserts. Kuhn ergänzt, dass es sinnvoll sein könne, auch eine auditive Erzählinstanz (AEI) (vgl. S. 94f.) anzunehmen, wenn „der Analyseschwerpunkt auf der narrativen Funktion der außersprachlichen Tonebene“ (S. 94) liege.

(Erzähl-)Perspektive – ‚wissen‘ versus ‚wahrnehmen‘ (Kapitel 4)

Um die Erzählperspektive zu beschreiben, greift Kuhn auf Genettes Terminus der Fokalisierung zurück. Diese meint eine „relationale Informationsselektion“ (S. 123) dahingehend, wie viel Wissen über die diegetische Welt einer Erzählung einerseits den Figur(en) und andererseits dem Rezipienten zuteilwird. Kuhn trennt nun Fragen der Fokalisierung – als Wissensrelation – „von Fragen der Wahrnehmung im engeren Sinn“ (S. 122). Hinsichtlich der Wahrnehmungsaspekte spricht Kuhn mit Rekurs auf François Jost (1987) für „die visuellen Aspekte der Wahrnehmung (das ‚Sehen‘) [von] Okularisierung (franz.: ocularisation), für die auditiven Aspekte (das ‚Hören‘) [von] Aurikularisierung (franz.: auricularisation)“ (S. 122, Hervorhebung im Original). Er geht davon aus, „dass sowohl sprachliche als auch visuelle narrative Instanzen fokalisieren können“ (S. 123).

Kuhns Taxonomie erlaubt so eine detaillierte Klassifizierung hinsichtlich a) der Informationsrelation (Fokalisierung): ob eine VEI oder SEI etwa nullfokalisiert, d.h. mehr zeigt respektive sagt, als eine Figur weiß (VEI/SEI > F), ob eine VEI/SEI intern fokalisiert, also etwa so viel zeigt/sagt, wie die Figur weiß (VEI/SEI ≈ F), oder ob eine VEI/SEI extern fokalisiert, also weniger zeigt/sagt, als eine Figur weiß (VEI/SEI < F) (vgl. S. 123-124). Analog erlaubt Kuhns Systematik eine Klassifizierung betreffs b) der Wahrnehmung: So zeige eine nullokularisierende VEI mehr als eine Figur sieht – was den filmischen ‚Normalfall‘ bilde (vgl. S. 131) –, eine intern okularisierende das, „was die entsprechende Figur gerade wahrnimmt“ und eine – selten vorkommende – extern okularisierende präsentiere eine Figur, die sichtlich „etwas wahrnimmt, was die VEI nicht zeigt“ (S. 128). Konsequent gilt die entsprechende Systematik analog auch für auditive Sensationen: Eine Nullaurikularisierung gebe alle „Raumklänge[…] und Bildtöne“ wieder, „die potenziell von allen im Raum befindlichen diegetischen Figuren vernommen werden können“ (S. 129), die interne Aurikularisierung das, was nur eine Figur hört und eine externe Aurikularisierung sei der Fall, „wenn markiert ist, dass eine Figur etwas hört, das weder VEI noch SEI präsentieren, z. B. wenn sie etwas zugeflüstert bekommt“ (S. 129).

Filmische Erzählsituationen

Mithilfe seiner Systematik modelliert Kuhn nun idealtypische filmische Erzählsituationen, die in einem Spielfilm i.a.R. aber dynamisch alternieren. Den Normalfall bilde im Spielfilm eine „interne[…] Fokalisierung in einzelnen Abschnitten bei einer ansonsten dominierenden Nullfokalisierung […], bei der das ‚Mehrwissen‘ der VEI im Verhältnis zur Hauptfigur aber zugleich konsequent handlungsbezogen eingesetzt wird“ (S. 101). In diese übergeordnete, vermittels der VEI konstituierte Erzählsituation können sprachliche Erzählinstanzen (SEIen) implementiert sein – so beispielsweise eine homodiegetische SEI in Form eines Voice-overs, das „sowohl Reflexionen des erzählenden als auch Gedanken des erzählten Ich“ (S. 102, Hervorhebung im Original) vermittelt –, so dass sich eine zur Ich-Erzählsituation in der Literatur analoge Form der Vermittlung ergibt.

Redewiedergabe im Film (Kapitel 4.5)

Kuhn versteht jede innerdiegetische Figur, die eine Minimalgeschichte erzählt, als homodiegetische SEI. An Formen der „Redewiedergabe“ (S. 187) unterscheidet er den szenischen / inszenierten Dialog (vgl. S. 189), der meist zwischen Voice-on (der innerdiegetisch Sprechende ist im Bild sichtbar) und Voice-off (der Sprechende spricht von außerhalb des Bildausschnitts, aber nicht von außerhalb der Diegese) changiere. Beim Voice-over seien die wichtigsten Unterscheidungen, ob das Sprechen auto- / homodiegetisch sei oder ob es sich um ein heterodiegetisches Voice-over handle (vgl. S. 188). Ein filmischer innerer Monolog sei bei einer hörbaren Stimme gegeben, deren „Urheber zu sehen ist, aber nicht die Lippen bewegt“ (S. 190).

Diegetische Ebenen

Eine wortsprachlich erzählte Geschichte einer intradiegetischen Figur wird im Film nicht selten zusätzlich visuell repräsentiert, so dass es zu einer Staffelung diegetischer Ebenen kommt. Kuhn zufolge seien Rahmen-Binnen-Konstruktionen über „Produktionssystem-, Genre- und Nationengrenzen hinaus nachzuweisen und nicht an das Kino gebunden, sondern auch in Fernsehfilmen und -serien vielfach“ (S. 276) zu finden. Innerhalb dieser zeige die visuell inszenierte Rahmenhandlung (Diegese) meist die Situation des Erzählens (des Schreibens, Denkens), die visuell repräsentierte Binnenhandlung (Metadiegese) zeige dann das Erzählte (Geschriebene, Gedachte). Ist in die Metadiegese noch eine weitere Erzählebene eingeschachtelt, spricht Kuhn von einer Metametadiegese. Die Anzahl der Vorsilben macht also kenntlich, auf welcher diegetischen Ebene sich die Instanz oder Erzählung befinden. Nicht nur eine veritable Erzählung lässt sich mit dem Terminus der Metadiegese fassen, gleiches gilt auch für bspw. Film-im-Film-Sequenzen, Halluzinationen, visualisierte Erinnerungen und Traumsequenzen.

Visuelle Gedankenwiedergabe

Mit Formen der visuellen Gedankenwiedergabe beschäftigt sich Kuhn ausführlich. Innerhalb dieser werde die Wahrnehmung einer Figur repräsentiert, ohne dass hierbei zwangsläufig Point-of-View-Shots (interne Okularisierungen) genutzt würden, bei denen „die VEI mit der Figur sozusagen von innen auf die ‚äußere Welt‘“ (S. 149) blickt. Stattdessen blicke die VEI ins ‚Innere‘ der Figur. Eine ‚Subjektivierung‘ ohne Ebenenwechsel, d.h. eine mentale Projektion, sei immer dann gegeben, „wenn durch Linsen, digitale Bildbearbeitung, technische Effekte, Farben, Lichtführung etc. der innere Zustand einer Figur angezeigt“ (S. 152), hierbei aber keine weitere diegetische Ebene etabliert wird. Eine solche mentale Projektion unterscheidet Kuhn von mentalen Metadiegesen, Sequenzen also, die „derart markiert [sind], dass sie als Ganzes einen Traum, eine Einbildung, eine Halluzination etc. einer Figur repräsentier[en] und keine Ereignisse zeig[en], die in der diegetischen Realität ‚tatsächlich‘ stattfinden“ (ebd.). Werden „in einer Art Split Screen (ähnlich einer Gedankenblase im Comic)“ mentale Bildinhalte „in das [hierbei häufig subjektive, d.h. intern okularisierte] Filmbild projiziert“ (S. 154), spricht Kuhn von mentalen Einblendungen. Mentale Metalepsen hingegen seien dann verwirklicht, wenn ein ‚Ebenenkurzschluss‘ vollzogen werde, also bspw. eine Figur von „anderem diegetischen / ontologischen Status in der Diegese“ (S. 191) auftrete.

Metalepsen – irritierende Ebenenkurzschlüsse

Einen derartigen metaleptischen Ebenenbruch kann ein Film aber nicht nur hinein in eine – oder heraus aus einer – Metadiegese vollziehen (innere Metalepse), sondern auch zu einem ‚Jenseits‘ der diegetischen Welt, hin zum Rezipienten (äußere Metalepse). Als Metalepse hatte Genette „[j]edes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) oder auch […] das Umgekehrte“ (Genette 1998, 168; hier: Kuhn 2013, 357) begriffen. Als Beispiele nannte er „Personen, die plötzlich einem Gemälde, einem Buch, einem Zeitungsausschnitt, einer Photographie, einem Traum, einer Erinnerung, einem Phantasma usw. entspringen“ (Genette 1998, 168; hier: Kuhn 2013, 357). Als die wohl „markanteste Konstellation, in der in einem narrativen Film explizit auf den Rezipienten oder Adressaten verwiesen wird“ (Kuhn 2013, ebd.), d.h. als eine äußere Metalepse, erachtet Kuhn den Blick einer „(intra)diegetische[n] Figur […] frontal in die Kamera“ (ebd., Hervorhebung im Original), wobei sie direkt mit „‚dem Zuschauer‘“ (ebd.) spricht – was im Theater als ad spectatores oder „Durchbrechen der ‚Vierten Wand‘“ bekannt ist.

Zeitebenen, Zeitpunkt, Dauer, Frequenz (Kapitel 5)

Kuhn stellt fest, dass eine „Vielzahl von narratologischen Zeitanalysen […] die Hypothese bestätigt [haben], dass der unmarkierte Normalfall die chronologische Reihung“ (S. 201) sei. Eine entsprechend internalisierte „Annahme der Chronologie“ (ebd.) werde, so Kuhn, „erst hinterfragt […], wenn Markierungen oder thematische Hinweise auf potenzielle Anachronien [d.h. Umstellungen des Zeitkontinuums] schließen lassen“ (S. 201). Da sich, so Kuhn, „alle Kategorien der Zeit auf das temporale Verhältnis des discours zur histoire […] beziehen und man diese Konzepte transmedial auf dargestellte Zeit und Darstellungszeit erweitern k[önne] […], l[ießen] sich die meisten Aspekte des Zeitkonzepts von Genette auf das Medium Film übertragen“ (S. 195, Hervorhebung im Original).

Unter dem Überbegriff der Anachronie – d.i. eine „Dissonanz zwischen den beiden Zeitordnungen“ (S. 196) von histoire und discours – unterscheidet Kuhn nun Analepsen, d.h. Rückgriffe / Rückblenden auf Vergangenes von der Erzählgegenwart aus, und Prolepsen, d.h. Vorgriffe / Vorausblenden auf Zukünftiges (vgl. S. 195f.). Von Achronien spricht Kuhn, wenn sich, mit Martínez / Scheffel gewendet, „aus den einzelnen erzählten Ereignissen keine chronologisch geordnete Gesamthandlung rekonstruieren lässt“ (Martínez / Scheffel 1999, 33f.; hier: S. 196). Im Weiteren untergliedert Kuhn seine Kategorien dann in partielle und komplette Analepsen. Während partielle nur ein Bruchstück der Vergangenheit vergegenwärtigen, schließen komplette Analepsen nach ihrem Rücksprung in die Vergangenheit später wieder an die Erzählgegenwart an. Zudem unterscheidet Kuhn interne und externe Analepsen, also danach, ob sie innerhalb der Basiserzählung Gesehenes wiederholen oder vorwegnehmen oder ein Geschehen / eine Zeitschicht präsentieren, das / die ansonsten nicht Teil der Basiserzählung ist. Eine analeptische Sonderform bildet eine „rückwärtsgewandte Schleifenstruktur“ (S. 205), wie sie Filme wie Memento 2000), Irréversible (2002) oder 5x2: Cinq fois deux (2004) entwickeln. Indem sie in einer Erzählgegenwart beginnen und dann Analepse um Analepse aneinanderreihen, die immer weiter in die Vergangenheit zurückführen, lassen diese Filme „de[n] Eindruck eines zyklischen oder spiralförmigen Rückwärtserzählens“ (S. 205) entstehen.

In die Erzählgegenwart hineingezogene visuell repräsentierte Erinnerungen, klassische Flashbacks, sind Kuhns Klassifizierung entsprechend nicht allein mentale Metadiegesen, sondern zugleich auch Analepsen (vgl. S. 198). Da diese i.a.R. einer erinnernden Figur zugeordnet sind, bezeichnet Kuhn sie als figurale Analepsen im Gegensatz zu „narrationalen oder auktorialen Analepsen, also Analepsen, die von einer extradiegetischen Erzählinstanz geschaltet werden“ (S. 199, Hervorhebungen im Original).

Mit dem Begriff der Dauer (auch: des narrativen Tempos) bezeichnete Genette das zeitliche Proportionsverhältnis zwischen histoire und discours – analog zu Günther Müllers (1948) Relationierung von erzählter Zeit zur Erzählzeit. Im Rückgriff auf Martínez / Scheffel (1999, 39-44) unterscheidet Kuhn elliptisches (d.h. Ereignisse aussparendes), zeitraffendes (oder summarisches), zeitdeckendes (d.h. szenisches) sowie zeitdehnendes Erzählen (vgl. S. 213). Eine erzählerische „(deskriptive) Pause lieg[e] vor, wenn der discours weitergeht, während die histoire stillsteht“ (ebd., Hervorhebung im Original), was sich im Film etwa im freeze frame verwirkliche. Den Normalfall im narrativen Spielfilm bilde zeitraffendes Erzählens vermittels „Alternation von Szene und Ellipse“ (S. 216), äußerst selten finde sich über die gesamte Filmlänge „ein zeitdeckendes Erzählen [Kuhn nennt hier als Sonderform Hitchcocks Rope (1948)] (und wahrscheinlich nur im Experimentalfilm ein zeitdehnendes)“ (S. 216, Hervorhebung im Original). Als Sonderformen summarischen Erzählens nennt Kuhn Montagesequenzen, die „eine klar erkennbare zeitraffende Funktion haben“ (S. 222) und die oftmals die „metonymische, metaphorische und / oder symbolische Aussagekraft der kurzen Mikroszene [nutzen]: Das Unterschreiben eines Vertrags steh[t dann] für den Kauf eines Hauses, das Anstecken der Ringe für die Hochzeit“ (ebd.).

Mit dem Begriff der narrativen Frequenz beschrieb Genette „Wiederholungsbeziehungen zwischen Erzählung und Diegese“ (Genette 1998, 81; hier: Kuhn 2013, 228), genauer: wie oft „ein einmaliges oder sich wiederholendes Ereignis der histoire auf der Ebene des discours repräsentiert wird“ (S. 228). Als „Regelfall des filmischen Erzählens“ (S. 230) nennt Kuhn „die singulative Frequenz: Ein Histoire-Ereignis wird in seiner Spezifität genau ein einziges Mal repräsentiert“ (ebd., Hervorhebung im Original). Denkbar wäre aber unter der Rubrik auch, dass n-mal erzählt werde, was n-mal passiert ist. Als weitere Formen nennt Kuhn die iterative Erzählung, die einmal repräsentiert, was sich n-mal ereignete (vgl. S. 229), sowie die repetitive Erzählung, die n-mal repräsentiert, was einmal geschah. Als „Klassiker für repetitives Erzählen bei multipler Fokalisierung“ (S. 240, Hervorhebungen im Original) nennt Kuhn Akira Kurosawas Rashômon (1950), den bereits Genette (1998, 135) als Beispiel anführte.

Anders als in der Erzählliteratur bilde im Spielfilm nicht die spätere Narration im Präteritum – bei der die Erzählinstanz zu einem späteren Zeitpunkt wiedergibt, was zuvor, also in der Vergangenheit, geschah – den Standard. Der „empirisch nachweisbare Regelfall“ sei hier vielmehr eine „zeitlich unmarkierte Narration“ (S. 245), „die eine Tendenz zur gleichzeitigen Narration hat, zumindest so lange keine weiteren sprachlichen oder nichtsprachlichen Markierungen auf einen anderen Typus verweisen“ (S. 243, Hervorhebungen im Original). Entsprechend entstünden „[e]indeutige Formen einer späteren Narration im Film […] durch sprachliche Markierung oder durch Ebenenschachtelung“ (S. 247). Der, wie Kuhn annimmt, wohl häufigste Fall der späteren Narration bildet die bereits genannte Rahmen-Binnen-Konstruktion, die „den Einsatz eines homodiegetischen Voice-overs mit einer Rahmenhandlung [verbindet], die den nachträglichen Erzählvorgang zeigt, bevor die eigentliche Geschichte in Form einer kompletten Analepse durch VEI und SEI erzählt wird“ (S. 251, Hervorhebung im Original). Einen kuriosen Sonderfall dieser konventionalisierten Rahmen-Binnen-Struktur bilden „ontologisch unmögliche[…] ‚tote[…]‘ homodiegetische[…] Voice-over-Erzähler“ (S. 254), wie sie etwa in Billy Wilders Sunset Boulevard (1950) und Sam Mendes’ American Beauty (1999) auftreten.

Als ein Beispiel für eingeschobene Narrationen im Film – Beispiele in der Literatur wären „Brief- und Tagebuchromane“ (S. 257) – nennt Kuhn Lars von Triers Idioterne (1998), ein ‚Handkamera-Film‘, der immer wieder von die Handlung kommentierenden, zeitlich später situierten Interview-Sequenzen unterbrochen wird, in denen sich die Figuren zum Geschehen äußern.

Komplexe Kommunikations- und Ebenenstrukturen (Kapitel 6)

In einem Kapitel zu komplexen Ebenenstrukturen widmet Kuhn sich eigens raffinierten narrativen Strukturen, wie etwa mehrschichtigen Ebenenschachtelungen oder dem ‚Citizen-Kane-Muster‘, innerhalb dessen „intradiegetische SEIen mit visueller Umsetzung“ (S. 283) einander ablösen. Darüber hinaus erörtert er Film-im-Film-Strukturen (mit verschiedenen Fiktionsebenen), episodisches und schrittweises Rückwärtserzählen. Ferner widmet er sich Formen der filmischen mise en abyme, die er mit Martínez / Scheffel (1999, 79f.) als „paradoxe Konstruktion“ (S. 365) definiert, „bei der Binnen- und Rahmenerzählung einander wechselseitig enthalten“ (ebd.), so dass für Kuhn „formale Mise-en-abyme-Strukturen […] zumindest eine metaleptische Struktur aufweisen, indem kurzschlussartige Relationen zwischen zwei Ebenen hergestellt werden“ (ebd.).

Komplexe Ebenenstrukturen betreffende „Markierungen und Zuordnungen [seien i.a.R.] eindeutig“ (S. 302), Ausnahmen bildeten allein „Filme[…], in denen bewusst keine eindeutige Ebenenstruktur etabliert werden soll, wie in einigen Filmen von David Lynch“ (S. 302), etwa Lost Highway (1997) oder Mulholland Drive (2001). Innerhalb von Lynchs Inland Empire (2006) finde sich bspw. eine veritable „Ebenenambivalenz“, werde hier doch „das Muster des Vortäuschens, dass der Film im Film die diegetische Realität darstellen könnte, mehrfach durchgespielt und variiert“ (S. 339).

Der implizite Zuschauer vs. Naturalisierungsleistung des Rezipienten

Um sich der ‚Intention‘ des Einsatzes von derlei ambigen und paradoxalen Strategien zu nähern, biete sich Kuhn zufolge an, auf das von Wayne C. Booth (1961) eingebrachte, nicht unumstrittene Konzept des impliziten Autors zurückzugreifen. Der implizite Autor ist weder mit dem Erzähler noch mit dem realen empirischen Texturheber gleichzusetzen – was für den Film ohnehin problematisch wäre, nimmt Kuhn hier doch sowieso nicht einen ‚Text‘-Urheber an, spricht stattdessen von einer „kollektiven Autorschaft“ (S. 116, Hervorhebung im Original). Vielmehr bildet der implizite Autor die heuristische Fiktion eines ‚semantischen Fluchtpunkts‘ eines Werks. Als Alternative zum Konzept des impliziten Autors – zur „Erklärung von textinternen und referenziellen Widersprüchen“ (S. 112) – nennt Kuhn im Rekurs auf Tamar Yacobi (1981) die Annahme „verschiedene[r] Naturalisierungsstrategien […], mit denen der Zuschauer Widersprüche erklären oder auflösen kann, etwa den perspectival mechanism, bei dem ein unzuverlässiger Erzähler für die widersprüchliche story data verantwortlich gemacht wird“ (ebd., Hervorhebung im Original).

Einschätzung und Kritik – Das Potenzial von Kuhns Filmnarratologie

Kuhns Analysemodell basiert auf der – streng genommen nicht unproblematischen – Trennung von Werkstruktur und Rezeptionsprozess. In der Verengung seines Blicks auf die Werkstruktur(en) liegt aber großes heuristisches Potenzial, v.a. durch die große Beschreibungsgenauigkeit seines Kategoriensystems, das im Rahmen dieser Rezension zugunsten einer kompakten Skizze von Schwerpunkten nur vergröbernd und vereinfachend rekonstruiert werden konnte. Einzelne Annahmen Kuhns mögen durchaus kontrovers zu diskutieren sein, bspw. diejenige, dass dem Film durch seinen illusionistischen Charakter „eine zeitliche Unmarkiertheit oder Zeitlosigkeit eingeschrieben“ (S. 243) sei. Dem wäre entgegenzuhalten, dass sich aufgrund des Dokumentcharakters der fotografischen Abbildung dem Filmbild meist die konkrete Zeitlichkeit des Aufnahmemoments aufprägt, die v.a. bei einer deutlich späteren Rezeption immer wieder ins Bewusstsein tritt. Auch klingt es zu apodiktisch, wenn Kuhn formuliert: „Eine intradiegetische audiovisuelle Kommunikation von einer Figur zur anderen ohne technische Hilfsmittel gibt es nicht“ (S. 311, Hervorhebung im Original) – kann bspw. der phantastische oder auch der Horror-Film doch durchaus eine von technischen Hilfsmitteln unabhängige telepathische Übertragung von Figur zu Figur behaupten und inszenieren. Auch kann es nutzbringend erscheinen, die mediale Abbildung von Welt und deren Gestaltung bzw. Vermittlung zu differenzieren, wie es unterdessen etwa Stephan Brössel (2014, 42f.) tut. Ungeachtet solcher kleinerer Mängel respektive Unschärfen ist Kuhns Analysemodell aufgrund seiner Beschreibungsgenauigkeit, seiner Detailliertheit und seiner Kompatibilität mit literaturwissenschaftlichen Modellen eine breite Rezeption und auch Anschlussnahme zu wünschen. Zu befürchten ist, dass seine mitunter – im Vergleich zu innerhalb der Filmwissenschaft und -kritik etablierten Begriffssystemen – komplexe Terminologie manchem möglichen Nutzer zu sperrig sein könnte. Dass eine fruchtbare Rezeption seiner Studie tatsächlich möglich ist, belegen nachfolgende Anwendungen wie etwa Thomas Boykens (2014) Analyse komplexer Erzählsituationen in Qualitäts-Fernsehserien (vgl. 54-56). Dass sie sogar produktiv auf die Literaturwissenschaft zurückzuwirken vermag, zeigt Stephan Brössels (2014) Monographie zum ‚Filmischen Erzählen‘, die Kuhns Applikation einer „einst literaturwissenschaftliche[n] Nomenklatur auf den Gegenstand Film“ (37) ihrererseits auch für die Analyse literarischer Texte nutzt. Nicht zuletzt diese Studien bestätigen: Mit seinem Modell, d.h. vor allem mit seiner konzisen Deskription narrativer Instanzen und deren Mit- und Gegeneinander, hat Kuhn eine solide Grundlage für weiterführende Untersuchungen geschaffen. Diese können intertextuellen und intermedialen Zusammenhängen gelten oder etwa auch der Frage, welche kinematographischen Erzählstrategien universal gültig und welche historisch, kulturell oder in anderer Weise kontextuell spezifisch sind.

Literaturverzeichnis

Booth, Wayne C. (1961): The Rhetoric of Fiction. Chicago / London.

Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film. Madison / London.

Branigan, Edward (1992): Narrative Comprehension and Film. London / New York.

Brössel, Stephan (2014): Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin / Boston.

Boyken, Thomas (2014): „Funktionspotentiale komplexer Erzählsituationen in neueren Fernsehserien“. In: Jonas Nesselhauf / Markus Schleich (Hg.), Quality-TV. Die narrative Spielwiese des 21. Jahrhunderts?!. Berlin et al, S. 51-65.

Chatman, Seymour (1990): Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca et al.

Genette, Gérard (1998): Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt. 2. Auflage. München.

Jost, François (1987): L’oeil – caméra. Entre film et roman. Lyon.

Kozloff, Sarah (1988): Invisible Storytellers. Voice-Over Narration in American Fiction Film. Berkeley et al.

Liptay, Fabienne / Wolf, Yvonne (2005) (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München.

Martínez, Matías / Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie. München.

Müller, Günther (1948): „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Tübingen, S. 195-212.

Schmid, Wolf (2005): Elemente der Narratologie. Berlin / New York.

Schweinitz, Jörg (2005): „Die Ambivalenz des Augenscheins am Ende einer Affäre. Über Unzuverlässiges Erzählen, doppelte Fokalisierung und die Kopräsenz narrativer Instanzen im Film“. In: Fabienne Liptay / Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München, S. 89-106.

Schweinitz, Jörg (2007): „Multiple Logik filmischer Perspektivierung. Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe“. In: montage / av 1 (Heft 1), S. 83-100.

Yacobi, Tamar (1981): „Fictional Reliability as a Communicative Problem“. In: Poetics Today 2 (Heft 2), S. 113-126.



Dipl. Des. Bernd F. Schon
E-Mail: info@berndschon.com
URL: www.berndschon.com

Bitte zitieren Sie nicht die HTML-Version, sondern ausschließlich die PDF-Datei / Please do not cite the HTML version but only the PDF file:

URN: urn:nbn:de:hbz:468-20170606-144136-7

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.