Ursula Kocher

Alles nur gespiegelt?

Julia Richter folgt verschlungenen Pfaden der Wiederholung im Parzival

Julia Richter: Spiegelungen. Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ‚Parzival‘. Berlin / Boston: de Gruyter 2015 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 144). 333 S. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-030893-8

Der Roman der Wiederholungen

Die 2010 an der Universität Zürich eingereichte Dissertation greift eine Feststellung der Parzival-Forschung auf, die bisher immer ohne genauere Überprüfung hingenommen wurde, da sie auf den ersten Blick überzeugt: Alles hängt in dem Roman mit allem zusammen, weshalb sich zahlreiche Anknüpfungspunkte und Parallelisierungen feststellen lassen. Man kann daher von einem Roman der Wiederholungen sprechen. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Offensichtlichkeit dieser Feststellung wurde bisher allerdings noch nie versucht, die Parallelisierungen und Wiederholungen des Parzival zu systematisieren – bis zu dieser Monographie von Julia Richter:

Und obwohl eben dieses Charakteristikum zentral für den poetischen Entwurf des Parzival ist und seine Erzählweise dominiert, steht der Versuch, die Verknüpfungstechnik des Wolframschen Romans systematisch zu untersuchen und auf ihren poetischen Mehrwert im Blick auf Literarizität des Textes hin zu befragen, bislang immer noch aus. Das soll nun im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter Hinzuziehung des theoretischen Ansatzes zum paradigmatischen Erzählen nachgeholt werden. (S. 3)

Durch „variierende Wiederholung“, so die auf Seite 6 vorgestellte These, wird der Parzival zum Beispiel paradigmatischen Erzählens. Nun scheint es auf den ersten Blick merkwürdig, wenn jemand etwas belegen möchte, das kein Leser des Parzival jemals anzweifeln würde und das bereits (vgl. den Forschungsbericht der Arbeit) mehrfach festgestellt wurde. Tatsächlich aber gelingt es Julia Richter, durch die genaue Analyse des Romans auf eine Reihe von wichtigen Aspekten aufmerksam zu machen, die so noch nirgendwo zu lesen waren und die dazu dienen können, den Roman einer neuerlichen Betrachtung aus anderer Perspektive zu unterziehen.

Theorie und Methode

Theoretisch fußt die Arbeit in erster Linie auf Jurij M. Lotman, dessen theoretische Konzepte intensiv an mehreren Stellen referiert werden, sowie auf den Arbeiten von Rainer Warning. Julia Richter unterscheidet in Anlehnung an Lotman paradigmatische von syntagmatischen Texten:

Ein (mittelalterlicher) Text ist syntagmatisch (folgt also einer teleologischen Erzählführung mit Anfang, Mitte und Ende), er ist primär syntagmatisch (in die teleologische Erzählführung werden Wiederholungen qua Äquivalentsetzung eingefügt) oder er ist primär paradigmatisch. (S. 34)

Dabei geht sie davon aus, dass es im Mittelalter wohl kein Werk gibt, das man als rein paradigmatisch bezeichnen könnte, weil dann mit unendlichen Wiederholungen ohne Anfang und Ziel zu rechnen wäre. Mittelalterliche Texte, vor allem die höfischen Romane des Hochmittelalters, folgen jedoch bekanntermaßen in der Regel einem mehr oder weniger brüchigen Strukturmodell, das bei aller Brüchigkeit immer noch als solches erkennbar bleibt und den Text in Anfang, Mitte und Ende gliedert. Damit können diese Texte keine unendlichen Wiederholungen aufweisen. Der Parzival nun, das erläutert Julia Richter bereits im ersten Teil ihrer Arbeit, ist ein primär paradigmatischer Text, bei dem die paradigmatische und die syntagmatische Ebene miteinander so interagieren, dass die Wiederholungen und Analogien der paradigmatischen „die syntagmatische Ebene streckenweise“ (S. 214) auflösen.

Julia Richter beschreibt den Parzival demnach als einen primär paradigmatischen Text, dem die „teleologische Struktur des Syntagmas quasi als Textskelett“ (S. 35) zugrunde liegt. Dabei erweist sich der Textraum als äußerst dynamisch, woraus sich eine dezentrierte Textgestalt und Semantik ergeben, die zur Auflösung von semantischen Oppositionen führen. Der Nachweis dieser vorab geäußerten Thesen und Annahmen erfolgt anschließend in mehreren Bereichen. Zunächst beschreibt Julia Richter das Syntagma des Romans als ein gemessen an Umfang und Vielfalt der Handlung schlichtes:

Das Syntagma im Parzival lässt sich recht schnell zusammenfassen: Es geht offenkundig um den Werdegang eines tumben toren hin zum Artusritter und schließlich zum Gralskönig, dem von Gott erwählten Herrscher über die Gesellschaft des Grals. Parzivals Fortschritt verläuft analog zu seinen vier Begegnungen mit Sigune; sie markieren wichtige Wendepunkte in der Handlung. Wie Sigune erlangt auch Parzival im Verlauf der Erzählung die göttliche Gnade. Darüber hinaus ist der Weg Parzivals strukturell an den Lehren orientiert, die er erhält: Nach einer allgemein-weltlichen Einweisung durch seine Mutter Herzeloyde wird Parzival von Gurnemanz in das höfisch-ritterliche Tugendsystem eingeführt, um danach von Trevrizent auf dem Gebiet der christlichen Spiritualität unterwiesen zu werden. (S. 47)

Parzival wird dabei „in vier sukzessiv ineinander übergehenden Etappen“ (S. 48) Schicht für Schicht aufgebaut. Er entwickelt sich nicht, sondern erscheint als „Aneinanderreihung unterschiedlicher Variationen einer einzelnen Figur“ (S. 49), die noch dazu eingeschränktes transgressives Potenzial aufweist. Damit erweist sich das Syntagma vor allem als notwendig für die Konstitution des Paradigmas, auf das es immer wieder verweist (vgl. S. 51).

Räume und Figuren

Der größte Teil der Arbeit widmet sich entsprechend den paradigmatischen Bezügen zwischen Räumen und zwischen Figuren. Dabei scheint das eine ohne das andere nicht analysierbar. Eigentlich getrennte Sphären und Orte werden, so zeigt sich bei der Untersuchung, durch Bezüge aufeinander in Analogie zueinander gesetzt. Fünf Raumentwürfe werden herausgearbeitet, die entweder als Grenzbereiche vorgeführt werden oder an denen sich „kulturelle Semantiken entfalten“ (S. 55). Obwohl der Artushof, die Gralsburg und Schastel marveile als getrennte Welten zu betrachten sind, werden sie dennoch „über inhaltliche Relationen als Varianten entworfen“ (S. 81). Diese Bezüge wurden so bisher noch nicht erfasst.

Derartige Analogien lassen sich ebenso anhand der Hauptfiguren beobachten, die in dreierlei Hinsicht ähnlich gestaltet sind: hinsichtlich des Verwandtenparadigmas, der Relationierung ihrer Wege und des Paradigmas der wiederholten Frage. An dieser Stelle zeigt sich erneut, wie ergiebig das Vorgehen von Julia Richter für eine neue Lektüre des Parzival ist. Sie kann anhand der Betrachtung von Spiegelungsfiguren beispielsweise herausstellen, dass tumpheit kein spezifisches Merkmal Parzivals ist und damit kein identitätsstiftendes Element, wie es in der Parzival-Forschung bis heute meist heißt. Vielmehr erscheint

[v]ermittels der Äquivalentsetzung von Parzivals Verhalten im höfischen und Gawans Verhalten im außerhöfischen Raum [...] tumpheit [...] als ein äußerndes Unverständnis gegenüber einem fremden kulturellen Code und damit eine einhergehende, mangelhafte Fähigkeit zur Adaption, die offenbar beide Ritter teilen. (S. 142)

Plötzlich wird damit die Frage, was tumpheit ist, eine Frage der Perspektive.

Minne, Gewalt und die lieben Verwandten

Ebenso richtet die Untersuchung von Julia Richter ihr Augenmerk auf ein in der Tat auffälliges Merkmal des Parzival, wenn es über die komplexe Verknüpfung von Minne und Gewalt heißt: „Die durch das Minne-Gewalt-Paradigma eingerückten, gestörten Liebesbeziehungen legen sich in ihren unterschiedlichen Varianten wie ein Netz über den gesamten Roman“ (S. 164). Viele der dargestellten Liebesbeziehungen enden in Krankheit, Tod und Krieg. Diskutiert wird dadurch die Frage, was eigentlich mit all den Liebenden ist, die nicht zu den Siegreichen im Kampf um Minne und einen Platz in der Gesellschaft gehören: „So wird denn auch die Aporie, dass es zwar immer den einen und die eine geben muss, dass aber eine Gesellschaft nun einmal aus mehr als einem Siegerpaar besteht (und in Konsequenz die anderen irgendwie alle Verlierer sind), in immer neuen Varianten vorgeführt“ (S. 165). Zugleich verweisen die Paare durch die Varianz aufeinander.

Hinzu kommt, dass im Parzival jeder mehr oder weniger mit jedem verwandt ist, und da diese Verwandtschafts- und Genealogieproblematik auch biblisch gespiegelt werden kann („Wiederholung gleichsam als Grundprinzip der menschlichen Geschichte“, S. 176f.), sind erneut mehrere paradigmatische Felder miteinander verknüpft. Gerade an dieser Stelle kann Julia Richter ihre Hauptthese besonders gut plausibel machen: durch die strukturelle Vervielfältigung zahlreicher Figuren in analog gestalteten Räumen wird die syntagmatische Ebene zu einem großen Grad aufgelöst.

Der Erzähler als Figur?

Aus narratologischer Sicht richtig spannend wird die Untersuchung in Kapitel 4, in dem eine „Poetik des Parzival“, so verheißt bereits die Überschrift, entworfen wird. Entscheidend dabei ist der Erzähler, der bereits Generationen von Forschern verwirrt hat. In der Tat fällt auch ohne jede erzähltheoretische Grundbildung auf, dass der Erzähler sich in seinen Kommentierungen widerspricht, dass er sich selbstbewusst auf eine Bühne fingierter Mündlichkeit stellt und dass er dem Erzählten unterschiedlich nah und fern ist. Die Frage ist nur, welche theoretischen Konsequenzen man aus dieser Beobachtung zieht: Muss man zwischen Autor und Erzähler unterscheiden? Gibt es mehrere Erzähler? Schlüpft der Autor, um uns zu verwirren, in mehrere Erzählerkostüme?

Für Julia Richter gibt es keinen einheitlichen Erzähler, sondern verschiedene Entwürfe von Erzählerrollen. Sie unterscheidet zwischen einer Erzählerrolle außerhalb der Erzählung, aus der das Geschehen kommentiert werde, und einer Erzählerrolle, die in die Handlung eingelassen ist (vgl. S. 221). Das bedeutet, dass im zweiten Fall aus ihrer Sicht der Erzähler dem Leser als innerhalb der Erzählung selbst handelnde Figur entgegentritt. Dies ist deshalb besonders aussagekräftig, weil sich dieser Erzähler, der sich auf der Handlungsebene aufhält, als unglücklich Liebender inszeniert und sich damit in den Reigen der Verlierer einreiht.

Verständlicherweise ist für die Verfasserin vor allem eine Szene dabei besonders wichtig: diejenige, in der der Gral zum ersten Mal für den Leser und zugleich Parzival sichtbar wird (eigentlich wird er das natürlich nicht wirklich, weil er als textuelle Chiffre für einen semantischen Überfluss konstruiert ist, wie Julia Richter am Ende ihrer Arbeit aufzeigt). Hier sieht sie den Erzähler in besonderem Maße in die Handlung involviert, sodass er geradezu in die Handlung hinein ‚kippe‘ (vgl. S. 227):

Er wird in der Gralsepisode [...] relativ schnell nacheinander dargestellt als eine Figur, die einmal quasi interaktiv ins Handlungsgeschehen eintritt oder dies zumindest andeutet, aber dann wieder unabhängig von der Handlungsebene eine âventiure nacherzählt. In der Gestaltung des erzählerischen Ichs wird an dieser Stelle einmal mehr deutlich, dass das erzählende Subjekt scheinbar auf mehreren Ebenen gleichzeitig fungieren kann: als Vermittlerinstanz einer Erzählung, der âventiure, als Kommentator, als ausführende Instanz der imaginatio seiner Rezipienten wie auch als handelnde Figur innerhalb der Erzählung. (S. 227)

Gerade jedoch anhand der Gralsprozession lässt sich gut beobachten, dass es weniger um unterschiedliche Erzähler, sondern um Perspektivierung und das Verhältnis zwischen Erzähler und Figuren geht. Der Erzähler tritt hinter Parzival zurück und lässt den Rezipienten mit dessen Augen sehen. Dadurch wird aber der Erzähler ebenso wenig zu einer Figur wie der Leser selbst.

Auch wenn man Julia Richters Überlegungen, die einem Denken in zwei Ebenen, die sich immer wieder aufeinander beziehen müssen, geschuldet sein dürften, folgt, fällt an dieser und anderen Stellen des Buches eines auf: Es bleibt unklar, wie die Verfasserin den Begriff ‚Perspektive‘ versteht. Erstaunlicherweise kommt er relativ häufig vor, bleibt aber merkwürdig unpräzise. Dies verwundert schon allein deswegen, weil sie sich gerade am Ende des Buches anhand ihrer hervorragenden Betrachtung des Prologs im Zusammenhang mit einer übergreifenden Poetik mit Sehen, Erblicken und Erkennen beschäftigt. Da hätte es nahegelegen, ‚Perspektive‘ als Instrument der Textanalyse genauer in den Blick zu nehmen und den Begriff nicht ohne jede Definition und Schärfung einfach zu verwenden.

Überhaupt stellt man sich als Leser der Dissertation immer wieder die Frage, was noch aus dieser ausgezeichneten Untersuchung herauszuholen gewesen wäre, hätte sich Julia Richter einer narratologischen Analyse im engeren Sinne genähert. Dann nämlich hätten sich weitere Arten von Analogien, Sichtweisen und Positionierungen im Raum ermitteln lassen. Ebenso störend sind einige Argumentationsgänge, bei denen Julia Richter von ihren Lesern verlangt, ihren Schlussfolgerungen einfach zu glauben – teilweise springt sie etwas rasch von Beobachtung zu These.

Nichtsdestotrotz bleibt festzustellen, dass es sich bei dem Buch von Julia Richter um eine hervorragende und wegweisende Studie handelt, die zwar sicherlich nicht einfach auf andere Romane übertragbar sein wird, die aber gerade in ihrer Komplexität eine Vielzahl von Anknüpfungsmöglichkeiten für die Untersuchung anderer Erzähltexte der Vormoderne bietet. So macht sie deutlich, dass sich eine historische Narratologie im Fall von Texten vor 1800 stärker mit den Interferenzen von Räumen sowie Strukturebenen und -elementen beschäftigen muss. Es reicht eben nicht festzustellen, dass mittelalterliche Texte einem Strukturmodell folgen, es muss vielmehr untersucht werden, wie und wo sich Figuren zu den strukturellen Achsen verhalten und welche Blickwinkel den Rezipienten zugestanden werden.



Prof. Dr. Ursula Kocher
Bergische Universität Wuppertal
Fakultät 1: Geistes- und Kulturwissenschaften
Allgemeine Literaturwissenschaft / Germanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail:
kocher@uni-wuppertal.de
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