Jan Söffner und Esther Schomacher

Die Kehrseite des Wissens

Körperarbeit am Text – und was sie für
die Narratologie bedeutet

When toddlers and younger children first encounter stories, they evince a strong tendency to act them out. They use role play and toys for enactment and thereby to experience the dynamics of a storyline, to pursue possible variations, to embody divergent perspectives, to learn about characters and their attitudes, and to cope with the narrated situations. In analogy with Lev Vygotsky’s (1962) basic insight that thinking is to be considered as an interiorized form of spoken language, it may accordingly be argued that the mental imagery readers which experience in following a narrative is (at least partially) to be understood as an interiorized form of playful enactment. Drawing on insights of the cognitive sciences, phenomenology and research on embodiment, this article pursues this hypothesis and takes a few first steps towards an enactivist perspective on literary narrative. In doing so, embodied knowledge – as opposed to propositional knowledge – will be the main issue.

Anliegen dieses Aufsatzes ist es, den in der Theorielandschaft allmählich Fuß fassenden und auf den späten Francisco Varela zurückgehenden Enaktivismus (einen Einblick in die gegenwärtige radikale Spielart liefern Hutto und Myin 2012) für die Narratologie fruchtbar zu machen.1 Es geht uns daher darum, Erzählungen nicht allein daraufhin zu untersuchen und zu beschreiben, wie sie ‚fiktive Wirklichkeiten‘ entwerfen. Vielmehr geht es darum, in den Blick zu nehmen, wie sie als Praxis in die körperliche Lebenswelt der Leser eingehen. Und es wird uns auch darum gehen, die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus einem solchen Blick auf das Erzählen für genuin narratologische Fragestellungen ergeben.

Der Enaktivismus rückt die Formen des Wissens in den Vordergrund, die Menschen nur als Körpern zur Verfügung stehen. Er stellt heraus, dass für das Gelingen von Körperarbeit nicht nur propositionales Wissen, sondern auch Übung, nicht nur ein gutes Know-how, sondern auch ein erfahrenes Gespür nötig sind.2 Entsprechend wird es in diesem Aufsatz vor allem um dasjenige Wissen gehen, das nicht im semantischen oder episodischen, sondern im prozeduralen Gedächtnis gespeichert wird: Fertigkeiten, Haltungen und Routinen. Es wird also um diejenigen Aspekte der menschlichen Existenz und Erfahrung, der menschlichen Kultur und damit auch des menschlichen Wissens gehen, die sich nicht von Körpern abstrahieren und auf unbelebten Trägermedien speichern und von dort abrufen lassen. Das scheint zunächst widersinnig. Denn schließlich sind Narrationen – zumindest sofern sie niedergeschrieben sind – das Resultat einer Abstraktion vom menschlichen Körper und einer Speicherung auf unbelebten Trägermedien. Unserem Beitrag liegt aber die Beobachtung zu Grunde, dass der Abruf des Gespeicherten nicht ohne die (unterschwellige) Mitarbeit von geübten Körpern auskommt, dass es somit einen vom Körper abstrahierbaren Text trotz allem nicht gibt, und dass sich aus diesem Umstand für die Untersuchung von Erzählungen weitreichende Konsequenzen ziehen lassen. Nicht wenige davon betreffen die klassischen narratologischen Fragen – etwa die Frage der Autor- oder Erzählerfunktion, die Frage der Perspektivierung oder Fokalisierung, aber auch die nach dem Verhältnis zwischen erzählter histoire und der Wirklichkeit der Leser.3

Dass Texte (d.h. ihre Produktion und Rezeption) viel mit Körperarbeit zu tun haben, ist weder ein neuer noch ein revolutionärer Gedanke: Nicht nur ist die Sinnlichkeit von Lektüren spätestens seit Mallarmé in den Fokus des Interesses der literarischen Ästhetik gerückt, vielmehr hat sich im Zuge diverser Verkörperungstheorien die Beschäftigung mit dem Körper auch in den Literaturwissenschaften fest etabliert. Wie körperlich der Umgang mit Texten tatsächlich ist, lassen auch die Ergebnisse der Kognitionsforschung erahnen. Die Fertigkeit zu lesen braucht nicht nur eine spezielle Körperhaltung und eine spezielle, mit einem trainierten Gespür für Erwartbares gekoppelte Virtuosität der Augenbewegungen (für einen Überblick vgl. Fabry 2015), sie geht auch mit einer unterschwelligen und rudimentären Artikulation einher – d.h. braucht die stumme Beteiligung der körperlichen Fähigkeit zu sprechen (für eine Diskussion vgl. Pollatsek 2015). Selbst das Tippen auf einer Schreibmaschine entwickelt dabei einen körperlichen Rhythmus, der mit dem erlernten Sprachrhythmus, seinen Pausen und seinen Akzenten einhergeht (vgl. Nottbusch / Weingarten / Sahel 2007), die wiederum die körperliche (Mit  )Arbeit an der Syntax anschaulich machen. Auch die Produktion von Semantik greift auf körperliche Fertigkeiten und Gewöhnungen zurück – Handlungsverben aktivieren selbst in metaphorischer Verwendung rudimentär die entsprechenden körperlichen Bewegungen, und im Vorgang des Parsens, d.h. des graduellen Mitvollzugs der Semantik eines Satzes, geht das Verständnis der gelesenen Sätze durch ein Stadium latenter körperlicher Aktivität (für einen allgemeinen Überblick vgl. Bergen 2012).

Eigentlich liegen diese Forschungsergebnisse auf der Hand: Wenn das „Virus der Sprache“, frei nach Friedrich Kittler, den Affen Mensch infiziert hat,4 dann werden Sprache und Schrift, so wie andere Viren auch, keinen eigenmächtig funktionsfähigen Körper haben, sondern vielmehr den vorgefundenen Körper für eigene Zwecke arbeiten lassen. Entsprechend besteht unter Neurologen, Evolutionsforschern und Linguisten auch Einigkeit darüber, dass weder die gesprochene noch die geschriebene Sprache zur Ausbildung eines symbolischen Zweithirns geführt hat, sondern dass auf den praktischen Umgang mit Welt und Artgenossen angelegten Hirnfunktionen neue – symbolische – Zweitfunktionen zugewachsen sind. Die besondere Provokation der Philologie, die sich in der kittlerschen Metapher des Virus verbirgt, soll im Folgenden ernst genommen werden: Wenn das Zustandekommen von Erzählungen in Produktion und Rezeption in ähnlicher Weise auf körperliche Mitarbeit angewiesen ist wie eben ein Virus auf die gekaperten Funktionen des Wirtsorganismus, dann gibt es auch Narrationen nicht als eigenständige, rein ‚textuelle‘ Einheiten. Damit soll nicht gesagt werden, dass es unmöglich sei, sie als eine solche Einheit herauszupräparieren und zu analysieren – doch birgt diese Analyse immer eine Einklammerung, eine Suspension oder Epoché der Körperarbeit. Der vorliegende Beitrag versucht, auf diese Einklammerung zu verzichten. Das hat den Nachteil, dass die Narration nicht mehr als scheinbar körperunabhängige semantische Inszenierung fokussiert werden kann. Aber es hat auch den Vorteil, dass Narrationen in Hinblick auf ihren Umgang mit und ihre Tradition von Körperwissen sprechend gemacht werden können: Beschreibbar werden sollen narrative Wissensformen als Enkulturation von Gewohnheiten, Fertigkeiten und Habitus.5 Nach einer Klärung der verwendeten Begriffe sollen exemplarisch die Konsequenzen dieses Ansatzes für zentrale Fragen der Narratologie gezogen werden, nämlich für Fragen der Autorschaft, Fokalisierung und Fiktionalität. Abschließend soll anhand eines der Gründungsdokumente der Philologie – Platons Dialog Ion – ein Ausblick auf die Reichweite des vorliegenden Ansatzes gegeben werden.

1. Terminologische Überlegungen: Welt, Realität und Praxis

Die Narratologie beschreibt das, was narrative Texte tun, als Konstruktion fiktiver ‚Welten‘, und bezeichnet entsprechend das, wovon ein solcher Text erzählt, als fiktive oder erzählte ‚Welt‘ bzw. als ‚Welt im Text‘ – während die Wirklichkeit der Leser und Leserinnen gemeinhin als ‚Realität‘ figuriert. Nahezu automatisch wird ein Verhältnis der (mitunter problematischen oder suspendierten) Referentialität zwischen textueller ‚Welt‘ und außertextlicher ‚Realität‘ angenommen.

Möchte man, wie wir es nun vorschlagen wollen, Narratologie und Enaktivismus zusammendenken, kann diese Begriffsverwendung zu einem Missverständnis führen: Welt oder Lebenswelt ist in dieser Philosophie des Enaktivismus als das definiert, was den Hintergrund jedweder Realitätskonstruktion und   konstitution ausmacht.6 Hier gilt die Welt, Lebenswelt oder Umwelt als existential, d.h. im physischen und praktischen Umgang gegeben, Realität ist indes dasjenige, was sich durch soziale und zeichenhafte Konstruktion hervorbringen lässt. Was die Narratologie als ‚Realität‘ beschreiben würde, wäre aus Sicht der enaktivistischen Phänomenologie also die Welt, und umgekehrt wäre das, was die Narratologie als ‚Welt im Text‘ beschreibt, eine Realität, und gerade keine Welt.

Wir werden die Begriffe im Folgenden in dem philosophischen und nicht in dem narratologischen Sinne gebrauchen: Mit Welt oder Lebenswelt der Leser und Leserinnen bezeichnen wir den Ort des körperlich mitvollzogenen Textgeschehens. Wovon Texte erzählen, möchten wir indes als Konstruktion von einer semantisch evozierten oder imaginären Wirklichkeit bezeichnen. Diese für narratologisch geübte Leser und Leserinnen zunächst sicher verwirrende Umkehrung ist nötig, da für unser Anliegen ein Konzept der (Lebens-)Welt fundamental ist; stattdessen von einer außertextuellen ‚Realität‘ zu sprechen, würde jedoch eine Implikation mit sich führen, die unmöglich machen würde das zu sagen, was wir sagen möchten. Denn der Begriff der Realität steht aus philosophischer Sicht in einem historisch kontingenten und für unsere Belange äußerst ungünstigen Verhältnis zum Begriff der Praxis.

Realitas bedeutete bei seiner Prägung durch Duns Scotus noch in etwa so viel wie Gegenständlichkeit. Scotus entlehnte den Begriff dem say-iyya des Avicenna: say ist im Arabischen der Begriff für Ding und so ist say-iyya die Dinghaftigkeit; realitas war entsprechend bei Scotus das, was ein Ding zum Ding machte. Das war zunächst eine essentielle Dinghaftigkeit.7 Die moderne, auf Kant zurückgehende Spielart des Begriffes streicht aber dieses wesenhafte Moment und zudem jedes ‚An sich‘ der Dinge aus dem Begriff; ein Ding wird fortan stattdessen durch die Art, in der sich ein Subjekt auf es bezieht, zum Ding. Nach Kant ist Realität das, worauf man sich als Gegebenes bezieht und das umgekehrt im Akt dieser Bezugnahme überhaupt erst zur Realität wird. Realität ist damit Folge und Modus der Referenz – sie wird in Form von Referentialität konstituiert oder konstruiert. Vor allem, wenn körperliche Praktiken in den Blick genommen werden, wird klar, dass dieser ausschließliche Fokus auf Verhältnisse der Referentialität, wie er im Begriff der ‚Realität‘ bereits angelegt ist, einen nicht unerheblichen blinden Fleck erzeugt: Wenn wir von einer außertextuellen ‚Realität‘ sprechen und den Begriff in dem seit Kant üblichen Sinne verstehen, dann beschreiben wir nämlich auch alle Dinge, die man tut, als Dinge, auf die man sich bezieht.8

Ein begriffshistorisches Gedankenspiel macht dies deutlich: Hätte Scotus nämlich z.B. in Byzanz gelebt und hätte er also griechisch gedacht, wäre es zum Begriff der ‚Realität‘ vielleicht nie gekommen, denn das Altgriechische hat keinen Begriff für ‚Ding‘, der sich für einen Begriff der Dinghaftigkeit geeignet hätte. Die Philosophie sprach entweder vom Sein (ousia), von der Wahrheit (aletheia) oder von den Gütern (chremata), vor allem aber – was dem Dingbegriff am Nächsten kommt – von pragmata. Anders als das lateinische res und das arabische say bedeutet das griechische pragma aber auch Handlung. Es hätte Scotus also unterlaufen können, statt dem Kollektivsingular der res den mehrere pragmata zusammenfassenden Kollektivsingular praxis als Oberbegriff in die Welt zu setzen, und dann würde man vielleicht nicht alle Dinge, die man tut, als Dinge beschreiben, auf die man sich bezieht – sondern alle Dinge, auf die man sich bezieht, als Dinge, die man tut.

Der Enaktivismus ist genau diesem Anliegen gewidmet: Jede Konstitution von Realität wird hier als ausagierende Praxis, jede Bezugnahme auf ein Ding als etwas, das man tut, in den Blick genommen. Genau das haben wir nun mit Texten vor und daher verbietet es sich für uns, von einer außertextuellen ‚Realität‘ zu sprechen. Anders als der Begriff der Realität ist der Begriff der Welt indes neutral, er umfasst Dinge, die man tut, und die Dinge, auf die man sich bezieht, ohne sie zu hierarchisieren. Und deshalb geben wir ihm für die Beschreibung des Lesens den Vorzug, während wir die ‚Welt im Text‘ hier ,vom Text konstituierte Wirklichkeit‘ nennen wollen.

2. Umrisse einer Narratologie der körperlichen Praxis

Wie wichtig es ist, Narrationen auch als Praktiken in einer umfassenden Welt zu beschreiben (und d.h. eine Perspektive einzunehmen, die bislang in der Narratologie schon auf der begrifflichen Ebene ausgeblendet wurde), veranschaulicht bereits ein einfaches ontogenetisches Beispiel: Wenn kleine Kinder ihren ersten Zugang zu Geschichten finden, beginnen sie damit, sie auszuagieren. Sie spielen die Erzählungen nicht nur ‚in ihrem Kopf‘, sondern vor allem mit ihrem Spielzeug oder in Form von Rollenspielen nach.9 Sie probieren sich an Alternativen und loten so den Spielraum von Geschichten aus, sie versetzen sich leiblich in ähnliche Situationen, bringen einzelne Sätze und Sprüche in allen möglichen verschiedenen Kontexten an, spielen sie in verschiedenen Stimmlagen und Tonfällen durch, testen Sichtweisen auf die Dinge als Perspektiven verschiedener Figuren (die Gadget-Industrie macht damit erstaunliche Geschäfte). All dies geschieht immer und immer wieder: so lange, bis sie eine Handhabe zu der entsprechenden Geschichte gefunden haben. Geschichten sind für Kinder offensichtlich nicht nur etwas zum Verstehen, sondern auch etwas zum Einüben. Es zählt das körperliche ‚Hineinfinden-Können‘, und dieses Hineinfinden-Können unterscheidet sich insofern von einem bloßen Einfühlen-Können, als es ausagiert werden muss und sich nicht auf innerliche Gefühle beschränkt. Die kindliche ‚Hermeneutik‘ findet ihren Austragungsort nicht darin, Geschichten auf eine äußere Realität zu beziehen, sondern sie in der eigenen Welt auszuagieren.

So gesehen scheinen Narrationen nicht (nur) als textuelle Inszenierung zu funktionieren. Menschen scheinen die Fertigkeit, einen Text auf seine ‚Inszenierung‘ hin produzieren oder rezipieren zu können, erst ausagierend lernen zu müssen – die damit einhergehende Perspektive auf Texte ist offenbar das Ergebnis einer narrativen ‚Enkulturation‘. Analog zur These Lew Semjonowitsch Wygotskijs (Vygotsky 1962), dass sprachliches Denken ein allmähliches Stummwerden einer zunächst lauten Rede sei, besteht also vielleicht Anlass zur Vermutung, dass auch die Leserimagination ein allmählich unterschwellig gewordenes Ausagieren sei. Rudimentär spiegelt auch die lesende Imagination diesen Umstand noch wider. Diese Imagination erschöpft sich schließlich nicht im mentalen ‚Sich-Vorstellen‘, d.h. in Formen des so genannten ‚Cartesianischen Theaters‘, von dessen Konzept sich ja auch die Metapher textueller ‚Inszenierung‘ herleitet. Texte bedienen zudem andere Formen der Imagination, wie sie z.B. auch im sportlichen Mentaltraining zu beobachten sind. Hier geht es nicht um eine entwerfende, vorstellende Geistestätigkeit, um keinen tagträumenden Weltentwurf, sondern um imaginäre Arbeit an körperlichen Fertigkeiten. Beides sind imaginäre Akte, aber nur die erste Form, der Weltentwurf, zielt auf eine Vorstellung, ein geistiges Vor-Augen-Stellen, eine Modellierung imaginärer Wirklichkeiten. Mentaltraining hingegen nutzt die Imagination zum immersiven Mitgehen, wobei der Übergang ins manifeste körperliche Ausagieren fließend ist.

Schon die sprachliche Semantik ist zu einem guten Teil auch und gerade auf eine solche, unterschwellig ausagierende Tätigkeit angelegt und lässt einen fließenden Übergang zwischen den Dingen, die man tut, und den Dingen, auf die man sich bezieht, erkennen: Die Semantik des Wortes Banane z.B. gilt der Linguistik insofern als multimodal, als der Wortsinn nicht nur in Bezug auf eine mentale res, ein Ding mit Eigenschaften, zu denken ist, sondern auch in Bezug auf ein pragma, eine Handlung (vgl. z.B. Glover et al. 2004). Es bezeichnet nicht nur etwas Gelbes, Längliches, Krummes, Süßes usw., sondern sein Sinn manifestiert sich auch in der Aktivierung einer körperlichen Gerichtetheit auf prozedural Eingeübtes wie z.B. Schälen, Essen, Werfen und Ausrutschen. Mit James J. Gibson (1977) könnte man von einer Semantik der affordances sprechen, dessen also, was die Wortverwendung als (unterschwellige oder simulierte) Körperhandlung erfordert oder nahelegt. Semantik ist auch Arbeit der Sprache am Körper, sie ist eine Form, ihn auszurichten. Wie wichtig dieses Moment sprachlicher Semantik ist, tritt anschaulich an dem Unterschied hervor, mit dem Menschen und Computer den Umgang mit sprachlichen Zeichen lernen: Computer sind allein auf Information hin programmiert und so genügt die einmalige Installation eines Chinesisch-Programms für den ‚Spracherwerb‘. Menschen lernen auf diese Weise hingegen so gut wie nichts. Sie brauchen Einübung und Gewöhnung – und was dabei gelernt wird, ist Sprache als Praxis zu verkörpern.

Im Hinblick auf Verben wird dies natürlich auf besondere Weise deutlich, aber auch Adjektive liefern eindrückliche Beispiele – wie das in eine besondere Stimmung hineinführende ‚feierlich‘ – oder Pronomina, wie das ein körperliches Selbstgefühl voraussetzende ‚mein‘. Sie benennen nicht nur Dinge, sondern erfordern auch Dinge, die man unterschwellig tut, damit sie einen spürbaren Sinn gewinnen. Konjunktionen, wie das Unsicherheit nach sich ziehende ‚aber‘, beziehen sich nicht nur auf andere Wörter des Satzes, sondern aktivieren darüber hinaus eine Haltung und ein von ihr orientiertes Sprechen oder Sprachverstehen. William James (1950, Bd. 1, 245f.) ging sogar so weit, von einem „feeling of if“, d.h. einer spezifischen, sowohl semantisch als auch syntaktisch spürbaren Gerichtetheit zu sprechen, die den Sinn von Konjunktionen ausmache – eine Auffassung, die derzeit etwa von Mark Johnson (2007) geteilt wird. Wenn aber sowohl der ontogenetisch gelernte Nachvollzug von Geschichten als auch die sprachliche Semantik auf das Ausagieren angelegt sind, warum sollte sich dann die Imagination im Hinblick auf narrative Texte allein im Rahmen erzählerischer Inszenierung beschreiben lassen?

Die Konsequenz dieser Beobachtung für die Narratologie ist immens, denn es liegt nun nahe, eine zentrale Fragerichtung umzukehren. Fragte man bislang nach der textuellen Inszenierung und dann erst nach ihren Effekten auf die Leserkörper, so stellt sich nunmehr die Frage, wie die Leserkörper überhaupt dazu kommen, eine imaginäre Inszenierung vorzunehmen: Der Text allein inszeniert nichts; vielmehr braucht es eine bestimmte Technik der Einklammerung aller möglichen semantischen Aspekte, um textuelle Inszenierung überhaupt als solche wahrzunehmen. Versucht man diese Einklammerung nicht zum Ausgangspunkt zu machen, sondern nur als einen möglichen Umgang mit einem narrativen Text zu fassen, zu dem es auch Alternativen gibt, dann ist, was der Text als solcher zu inszenieren schien, an eine spezifische Psychologie der mentalen Vorstellung gebunden – zu der es auch psychologische Alternativen gibt.

Diese Alternativen treten besonders dann zutage, wenn man den Begriff der außertextuellen Realität, durch den der (Lebens-)Welt ersetzt und Narration sowohl in ihrer Produktion als auch in ihrer Rezeption als körperliche Praxis begreift. Derartige Alternativen werden bei einem Blick auf solche erzählerischen Formen deutlich, die das Ausagieren besonders kultivieren. Dazu gehört natürlich vor allem die Praxis der Textverkörperung im Schauspiel, auf die hier nicht eigens eingegangen werden soll (vgl. hierzu Söffner 2014, S. 153-190). Aus narratologischer Warte ergiebiger sind mythische Erzählungen. Versteht man einen Mythos nämlich mit Walter Burkert (1977) als „angewandte Erzählung“ im Spannungsfeld zwischen Narration und Ritual, dann erweist sich das Ausagieren und Einüben als eine der maßgeblichen kulturellen Funktionen von Narrationen. Anhand mythischer Erzählungen und der mit ihnen vermittelten Ritualität tritt zutage, dass Kulturen ihr Gedächtnis nicht allein nach dem Paradigma des deklarativen und episodischen, sondern auch nach demjenigen des prozeduralen Gedächtnisses organisieren. Die rituelle Einbettung mythischer Narrative mag zwar auch, wie von Jan Assmann (1992) beschrieben, einer besonderen und auf eine spezifische kulturelle Identität hin angelegten Memorierung von speicherbarem Wissen dienen, doch gilt das gleiche auch umgekehrt: Erzählungen können auch auf das Erlernen von Körperwissen angelegt sein. Will man diese Dimension von Texten fassen, wird es nötig, nicht nur ihren Inszenierungscharakter, sondern auch ihren Praxischarakter in den Blick zu nehmen. Auf einen Aspekt der narratologischen Konsequenzen dieser breiteren Sichtweise geht das erste Beispiel unseres Beitrags ein.

2.1. Perspektive

Traditionell werden Perspektive und Fokalisierung in der Nachfolge Gérard Genettes vornehmlich über die Frage verhandelt, auf welche Weise ein Text Wissen über die erzählte Welt vermittelt – als Wissen einzelner Figuren, einer ‚allwissenden‘ Erzählerinstanz etc. (z.B. Genette 1983, S. 49) –, was von Mieke Bal auf die Frage nach dem Wahrnehmungsfokus erweitert worden ist (vgl. Bal 1977). Damit wird die Frage nach der Fokalisierung in beiden Fällen sub specie realitatis gestellt, als Frage nach den Dingen, auf die ein Text Bezug nimmt, nicht als Frage nach dem, was man mit ihm tut.

Zur Überprüfung unserer Hypothese, dass Narrationen nicht nur eigene Wirklichkeiten inszenieren, sondern auch Körperarbeit herausfordern und brauchen, bietet es sich an, einen Blick auf ihre Perspektivierung zu werfen, denn in dieser müsste dann nicht nur eine Vorstellung und ein Wissen, sondern auch eine action in perception (um eine gelungene Formulierung Alva Noës zu verwenden) anzutreffen sein. Phänomenologen von Erwin Straus (1934) bis Maurice Merleau-Ponty (1976), von Heidegger (1927) bis Gallagher (2005) begreifen die Wahrnehmung im Rahmen körperlichen Handelns so nicht als Vorgang, der eine strikte Trennung zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt voraussetzt – wie man es beispielsweise von einer Fokalisierungsinstanz erwarten würde, die den visuellen Raum strikt gemäß einer mehr oder weniger euklidischen Räumlichkeit und einem perspektivischen Fokus auf diese Räumlichkeit organisierte. Da die Phänomenologie den interaktiv handelnden Menschen in den Fokus rückt, beschreibt sie das Wahrnehmen selbst als körperliche Praxis (und nicht etwa als Summe von Eindrücken, vgl. Noë 2005). In dieser Sichtweise treten an die Stelle perspektivischer (d.h. außerkörperlicher) Raumorganisation ein zwischenleiblicher Raum des Ausagierens und leibliche Handlungsrichtungen, an die Stelle des Vorhandenen tritt das Zuhandene: ein Raum, in dem z.B. das Greifbare und das Kommende ‚näher‘ scheinen kann als das in einem euklidischen Raum ‚Nahe‘. Statt eines Koordinatensystems zählt für die Raumkonstitution die Dynamik körperübergreifender Handlung, der wechselnde Vollzug des eigenen und Mitvollzug des fremden Handelns.

Experimentalpsychologische und neurowissenschaftliche Studien der letzten Jahre legen tatsächlich nahe, dass eine solche action in perception auch am Vorgang des Lesens beteiligt ist. So wird der nullfokalisierte Satz „The young scientist looked at the glass“ (Bergen 2012, S. 83) als körperliche Praxis von einer unterschwelligen Greifhandlung flankiert, die die Grenzen zwischen Beobachtendem und Beobachtetem auf eine Weise verwischen lässt, wie dies seit der Entdeckung der Spiegelneurone in den Kognitionswissenschaften zu denken üblich geworden ist. Der Satz „Before the big race, the driver took out his key and started the car“ bringt eine unterschwellige Handdrehung im Uhrzeigersinn mit sich (ebd. S. 125-138) – und das ganz offenkundig, obwohl die Fokalisierung nicht auf die Inszenierung eines Wahrnehmungsfokus in der erzählten Welt angelegt ist und obwohl von einem bei Rennwagen nicht vorauszusetzenden Zündschloss auch keine Rede war. Die körperliche Übung hängt nicht vom Wissen ab, arbeitet geradezu gegen es, denn es zielt auf das Zündschloss, das sich vorzustellen der Text gerade nicht anleiten sollte. Der Unterschied zur durch eine Fokalisierungsinstanz perspektivierten Vorstellung erschließt sich auch insofern, als sich im zweiten Fall die unterschwellige Drehhandlung schon bei „started“ ereignet – wo der Satz auch noch mit einem „started to run“ hätte enden können. Die körperliche Mitarbeit funktioniert offenbar inkremental (d.h. von Wort zu Wort) und dabei zunächst ausagierend, während die die erzählte Wirklichkeit konstituierende Fokalisierung sich erst in der Nachbereitung des Satzes ergibt. Es zeigt sich hier, dass Perspektivführung kein reines Textphänomen ist. Ihre Untersuchung muss vielmehr all das umfassen, was geschieht, wenn eine Narration gelesen wird, und dafür genügt nicht der Nachvollzug einer Psychologie der ‚Inszenierung‘, berücksichtigt werden müssen auch die enaktivistisch beschreibbaren Alternativen: Entsprechend der Voraussage zerfällt nämlich die Lektüre in eine ausagierende und eine vorstellende Haltung, in eine ähnliche Dichotomie zwischen dem Spiel mit imaginären Wirklichkeiten und mit imaginärer Fertigkeitsauslotung, wie wir sie oben beispielhaft am Unterscheid zwischen Tagträumen und Mentaltraining umrissen haben.

Daran anschließend liegt der Verdacht nahe, dass narrative Genres in unterschiedlicher Intensität auf dieses unterschwellige Ausagieren, auf die Ausbildung von Fertigkeiten abzielen. Realistische Erzählungen sind besonders auf die inszenierende Perspektivführung hin angelegt, was insofern nicht mehr belegt werden muss, als gerade solche Texte narratologisch gut erschlossen sind. Die bereits oben erwähnten mythischen Erzählungen hingegen scheinen als ‚angewandte Erzählungen‘ in besonderer Weise auf die ausagierende Seite der Perspektivführung hin angelegt zu sein. An einem Beispiel möchten wir dies verdeutlichen. Es ist der Ilias entnommen, die zu feierlichen rituellen Anlässen dargeboten wurde und dabei offenkundig auf die Ausprägung eines kollektiven affektiven Habitus hin angelegt war. Darin ist auch das ‚kulturstiftende‘ und insofern mythische Moment dieser Narration zu sehen, schließlich ist die Ilias einem Affekt und dessen Transformation gewidmet: Bereits im ersten Vers stellt sie klar, der Zorn des Achill sei, was es zu singen gelte, und nicht etwa der Kampf um Troja. Mit anderen Worten: Es geht um die Affektdynamik (die der homerischen Psychologie entsprechend eine dem Ausagieren intrinsische Körperdynamik war). Als Beispiel dient eine fast beliebige Passage (in der machtvollen Übersetzung von Heinrich Voss (Homer 2002); das griechische Original findet sich in der Endnote):

Jetzt aber rannten sie [Lykon und Peneleos] an mit erhobenen
[Schwertern, und Lykon
Hieb auf den Bügel des buschigen Helms, doch am Hefte die Klinge
Barst entzwei; doch unter dem Ohr in den Nacken des Gegners
Traf des Peneleos Schwert und drang in die Tiefe; die Haut nur
Hielt, und seitwärts hing ihm der Kopf; ihm erschlafften die Glieder.
(Ilias 16, 337-341).10

Zu erkennen ist – was die perspektivische Inszenierung von ‚Realität‘ und das Vermitteln von Wissen über sie angeht – vor allem eine merkwürdig unergiebige Form der Fokalisierung: Nicht die Frage ist entscheidend, ob das Geschehen von außen oder von innen her beschrieben wird (das ist teilweise gar nicht festzustellen), sondern vielmehr das Wandern der Wahrnehmung zwischen einem Fokus auf das Gesamtgeschehen und demjenigen auf kleine Details (wie das Heft von Lykons Schwert oder die Halspartie unter seinem Ohr), um sofort wieder zu einer Art Gesamtansicht überzugehen. Auch mit Hilfe anderer Begriffe, die die optische Perspektivierung hervorheben, wie z.B. der technischen Metapher des ‚camera-eye‘, lässt sich diese Fokalisierung schwerlich erklären, denn die ‚Kamerafahrt‘, die ein solches ‚Auge‘ einschlüge, scheint schwer nachvollziehbar – ohne dass dies das Anliegen des homerischen Textes sein kann. Ergiebiger ist eine Beschreibung nach Maßgabe der zwischenkörperlichen Dynamik, die Kampfsportlern gut bekannt ist. Denn fokussiert wird jeweils das in der zwischenkörperlichen Dynamik kampfentscheidende Detail. Der Fokus ist weder einem externen Beobachter noch einem der beiden Kämpfer überantwortet, er liegt zwischen den Körpern und intensiviert den Fokus auf die relevanten Details des Kampfes. So wird der Leser, die Leserin in raschem Wechsel zu einer Mit-Verkörperung mit erst Lykons und dann Peneleons Schlag angehalten, dann zur Visualisierung des schrecklichen Anblicks von Lykons halb abgeschlagenem Kopf und schließlich zum Mitvollzug des Erschlaffens von Lykons Gliedern. Der Effekt eines solchen Vollzugs ist nicht eine ‚Innen-‘‚ oder ‚Außensicht‘, sondern eine Immersion in die Dynamik der Gewalt, die sich über die beteiligten Kämpfer hinweg erstreckt.

Vorausgesetzt für das Gelingen einer solchen Ästhetik ist ein als Rezipient des homerischen Rhapsodengesangs vorauszusetzender Hellene, d.h. ein Mann mit militärischer Schulung, der die benannten Bewegungen unterschwellig mitvollziehen konnte und den Schrecken des Krieges, der bei Homer eine Ästhetisierung und vielleicht auch Heiligung erfährt, affektiv kennengelernt hatte. Das wirft natürlich die Frage auf, inwiefern ein im 21. Jahrhundert kulturalisierter Leserkörper einem solchen Text Genüge tun kann, und wie viel zusätzliche Körperarbeit es erfordert, in einen solchen Text hineinzufinden. Grundlage dafür, diese Anforderung aber überhaupt als solche zu erkennen, ist eine die unterschwellige Körperlichkeit als Praxis und nicht als textuellen Effekt bedenkende Narratologie. Nur auf diese Weise erschließt sich das Körperwissen, das für einen solchen Text ebenso entscheidend ist wie das Wissen, das sich erschließt, wenn man ihn auf seine Wirklichkeitsdarstellung hin untersucht.

2.2. Autor und Stimme

Dass Texte auf einen körperlichen Vollzug angewiesen sind, tritt auf einfache und konkrete Weise im Vorlesen zutage – oder auch in der unterschwelligen stimmlichen Artikulation, ohne die kein ‚stummes‘ Lesen möglich ist (s.o.). Hier nämlich tritt eine Form der körperlichen Enkulturierung zutage, die Erzählen als sprachliches Geschehen an eine Dynamik anbindet, die nicht nur intertextuell, sondern auch interkorporell, nämlich von Körper zu Körper, vermittelt ist. Schließlich benutzen wir nicht nur die Wörter und die Grammatik unserer Vorfahren, sondern wir verkörpern auch ihren Tonfall, ihre den Habitus bündelnde Prosodie, das emotive Timbre ihrer Stimmen.

Paradigma für diese Form des Körperwissens sind die Funktionen von Autor und Erzähler. Die Inszenierung von Autorschaft und von Erzählinstanzen ist von der Narratologie umfassend beschrieben worden. Autor und Erzähler sind in Hinblick auf ihren Bezug zum Text gut analysiert, den Erzähler und den impliziten Autor begreift man als Inszenierung des Texts. Seitdem man den Autor insofern (d.h. nach dem ‚Tod des Autors‘) als Textfunktion und nicht mehr als Urheber des Textes beschreibt, ist es allerdings schwer geworden, ihm noch in seiner Funktion als körperliche Stimme gerecht zu werden – und folgerichtig ist die narratologisch unter dem Begriff der Stimme (voix) verhandelte Textfunktion eine Stimme ohne Körper.11

Sehr häufig geben narrative Texte aber implizite und auch explizite Hinweise darauf, in welchem Tonfall sie gelesen werden sollen. Auch das gilt selbstverständlich weniger für eine realistische Erzählhaltung, die Gustave Flaubert programmatisch impassibilité nannte (aber realistische Texte sind schließlich Texte, die programmatisch bemüht sind, die Realität darzustellen). Andere Erzählungen aber warten gern entweder mit klaren Bezugnahmen auf den Charakter des Autors oder mit Herausgeberfiktionen oder Binnenerzählern auf, die den sozialen Typus, die Herkunft und Ethnie – und d.h. immer auch die leiblich habitualisierte Stimmlichkeit, den Tonfall – erkennen lassen und damit implizite Leseanweisungen für adäquates Lesens geben.

Wie wichtig dieser Umstand ist, zeigen Autoren, die sich ihrerseits nicht auf ihre Einbildungskraft verlassen, sondern eine Art Method-Acting betreiben, um den richtigen Tonfall zu finden – der dann seinerseits die Leserkörper zu erreichen hat. Diese Praxis ist weit verbreitet. Ein markantes Beispiel ist der deutsche Gegenwartsromancier Matthias Politycki, der sich zum Schreiben notorisch körperlich an die Orte und Erlebnisse seiner Geschichten anschmiegt und dafür auch ab und an in Lebensgefahr bringt. Weniger spektakulär, aber dafür sprechender ist das Beispiel Italo Svevos, eines italienisch schreibenden Triestiner Schriftstellers des frühen 20. Jahrhunderts. Für die Abfassung seines großen Romans La Coscienza di Zeno (deutsch übersetzt als „Zeno Cosini“ oder „Zenos Gewissen“) übte er seinen Protagonisten körperlich ein. So schrieb er in einem Brief vom 17.2.1925 an den Dichter Eugenio Montale: „Ich nahm seine [Zenos] Art zu gehen an, rauchte wie er und spürte in meiner Vergangenheit all seine Abenteuer auf, die sich meinen eigenen angleichen ließen“ (Svevo 1965, 144, übers. J.S.). Offenbar trachtete Svevo danach, seinen Text mit einer Haltung zu imprägnieren.

Dass auch die Rezeption von körperlichen Fähigkeiten und Haltungen abhängig ist, erschließt sich ebenfalls leicht. Wir denken z.B. daran, dass dem einen Mitglied des Verfasserteams Robert Musils Mann ohne Eigenschaften lange Zeit in seiner Ästhetik versperrt blieb. Der Roman wurde zwar durchaus als sehr schlau, komplex, vielschichtig wahrgenommen und entsprechend auch als ‚literarisch wertvoll‘ anerkannt; aber er erschien elend lang, umständlich, teilweise albern und gelegentlich besserwisserisch. Das änderte sich, als der Text mit österreichischem Akzent vorgelesen wurde. Dem anderen Mitlied des Verfasserteams erging es mit Dylan Thomas’ Under Milk Wood – und dem walisischen Akzent – ganz ähnlich. Den Unterschied machte keine neue ‚Erkenntnis‘. Der Roman und das „radio drama“ hatten vielmehr eine andere Haltung, einen anderen Tonfall gefunden, der sich in einer besonderen Stimmung niederschlug. Diese Seiten der Stimme ernst zu nehmen und Verfahren zu entwickeln, ihr Verständnis zu trainieren, scheint uns eine Aufgabe der Narratologie und ihrer Beschreibung der Autorschaft und der Erzählinstanzen als Textfunktionen zu sein. Eine Analyse dieser Verfahren kann aber keine rein philologische Text-Analyse sein – im Gegenteil gilt es, historische Formen des körperlichen Habitus (inklusive Tonfall, emotiver Körperspannung, Rhythmus usw.) zu erschließen und sich zumindest rudimentär so anzueignen, wie ein Schauspieler das täte. Es zählt dabei nicht allein das Verständnis, sondern auch die Gewöhnung.

2.3. Welthaltigkeit bzw. der Text als ‚Spiel‘

Damit kommen wir zur Ebene der histoire, der erzählten Wirklichkeit. Sub specie realitatis lässt sie sich klar von der Welt der Leser und Autoren unterscheiden, und die Narratologie hat entsprechend Staffelungen verschiedener Ebenen textueller Vermittlung entwickelt, die z.B. die körperliche Ebene von derjenigen des implizierten Autors, diese wiederum von der des (möglicherweise unzuverlässigen) Erzählers und diese schließlich von der erzählten Welt und den Binnenerzählungen trennt. Eine solche Staffelung lässt sich allerdings nur für eine inszenierte Wirklichkeit und eine Psychologie des ‚Cartesianischen Theaters‘ einer Erzählung aufrechterhalten. Denkt man Texte von der Körperarbeit und vom Körperwissen her, stellt sich stattdessen die Frage nach der spielerischen Suspension, d.h. nach dem, was man beim Lesen ‚im Ernst‘ und was nur ‚im Spiel‘ erlebt (vgl. hierzu auch Mellmann 2005).

Auch Spiele haben eine eher enaktive und eine eher realitätskonstituierende Seite. Sub specie realitatis setzen sie eine eigene Wirklichkeit, die im Konjunktiv eines „Ich wär jetzt…“ steht und damit von der als ‚Realität‘ konstituierten Wirklichkeit unterschieden ist. Als enaktive Praxis betrachtet, werden hingegen im Spiel lediglich einzelne, konkret festzulegende Konsequenzen dessen, was man tut, suspendiert – ein Mammutsteak wird als Bauklotz und zudem nur pantomimisch gegessen; die Essbewegungen aber werden nicht nur dazugedacht, sondern ausgeführt. Kinder loten sogar die notorischen Missverständnisse, die aus der Unterschiedlichkeit beider Suspensionen resultieren – die Missverständnisse zwischen Als-Ob-Realität und faktischer Körperpraxis – gern aus, indem sie z.B. sagen, sie hätten das Überraschungsei ihres Bruders nur im Spiel gegessen (auch wenn es in ihrem Mund verschwunden ist).

Niemand hat die Konsequenzen dieses ‚doppelten Spiels‘ in Hinblick auf literarische Spiele genauer benannt als Dante Alighieri in einer Episode des fünften Gesangs seiner Göttlichen Komödie. Auch dieser Text ist in besonderem Maße auf den körperlich-affektiven Habitus hin angelegt (vgl. dazu Söffner 2011), denn als ein solcher werden Sünden und Tugenden begriffen. Nicht das in diesem Text so überwältigend konzise gebündelte Weltwissen, sondern das ausagierende Mitgehen ist diejenige Seite, die für Dante heilsrelevant ist.

Im besagten Gesang beschreibt Dante nun ein Leserpaar – Paolo und Francesca. Sie lesen zum Vergnügen, per diletto, also dem delectare zuliebe und damit ohne den dem docere eigenen Anliegen einer Wahrheits- und Wirklichkeitsreferenz. Obwohl ihnen bewusst ist, dass sie es mit bloßer Fiktion zu tun haben (kaum ein Roman des Mittelalters stellt seine Erfundenheit derart offensichtlich zur Schau wie der Prosalancelot, den Paolo und Francesca lesen), werden sie von der Geschichte verführt. Die Lesenden haben zwar narratologisch gesprochen den Bezug zwischen der fiktiven ‚Welt‘ und ihrer ‚Realität‘ suspendiert und haben das Spiel damit eigentlich verstanden. Erregt werden sie in ihrer eigenen Lebenswelt trotzdem: Welthaltigkeit ergibt sich nicht als Aussage über die Welt, sondern durch körperlich-praktisches Wirken in ihr. Dante bringt diesen Umstand auf den dritten rhetorischen Begriff, nämlich denjenigen des movere, d.h. auf den Begriff der affektiven Bewegtheit, die auch Paolos und Francescas Höllenstrafe ausmachen wird. Dieses movere war offenbar von dem fiktionalen Konjunktiv der Lesehaltung nicht belangbar. Dabei lässt Dante die imaginäre Bewegtheit sofort ins leibliche Ausagieren übergehen. Es stellt sich heraus, dass Paolo und Francesca zwar die Wirklichkeit der Geschichte, nicht aber die spielerische Erregtheit suspendiert haben, und das wird ihnen zum Verhängnis: Sie werden vom eifersüchtigen Ehemann erschlagen.

Man erkennt hier die Kippfigur zwischen einem Lesen in Hinblick auf das Spiel mit der Fiktion und einem Lesen in Hinblick auf das Mitgerissen-Werden und dessen Eingang in die Lebenswelt der Leser als handlungsorientierende Stimmung und Haltung. Es ist das Spiel zwischen einer Welthaltigkeit qua Bezugnahme der Aussage eines Textes auf die Welt und einer Welthaltigkeit qua Eingang in die Haltungen und Handlungen der Leser, zwischen einer Lektüre, die von der Lebenswelt getrennt ist und auf sie bloß referieren kann, und einer Lektüre, die den Text zur Extension des Körpers macht, zwischen Fiktion als einem Spiel mit der Vorstellungskraft und Fiktion als Spiel mit dem Körper – kurz: zwischen textueller Wirklichkeitskonstitution und körperlicher Textpraxis.

3. Ausblick

Die Literaturtheorie entstand zu einer Zeit, in der mythische Erzählungen ihre rituelle Verortung noch nicht eingebüßt hatten, und sie entstand im Rahmen der Philosophie, d.h. im Rahmen einer Disziplin, die zur literarischen Sinnlichkeit ein eher ambigues Verhältnis hatte. Vor allem der platonische Dialog des Ion scheint uns einschlägig zu sein, um einen exemplarischen Rückblick zu wagen und die Frage aufzuwerfen, wie man überhaupt auf die Idee gekommen ist, das literarische Wissen nicht mehr auch als Körperwissen zu fassen.

Platon wirft in diesem Dialog die Frage nach der Wahrheit der Literatur auf (er stellt sie ex negativo, als Frage nach der Täuschung durch Literatur). Entscheidend ist daran, dass er diese Frage noch nicht stellt, wie es uns heute selbstverständlich geworden zu sein scheint, nämlich indem er das Verhältnis der Literatur zu den Dingen problematisiert, auf die sie sich bezieht. Sondern er stellt sie als Frage danach, wie man mit Literatur umgeht. Er stellt sie also noch als Frage der Praxis in der Welt, nicht als Frage nach der Realität.

Wie in kaum einem anderen Dialog betreibt er dabei die Bloßstellung seines Titelhelden. Ion ist ein Rhapsode, ein Verkörperer homerischer Texte, der aufgrund seines Publikumserfolgs anfangs noch glaubt, über ein umfassendes, ja enzyklopädisches Fachwissen (téchnē) zu verfügen. Zwei Argumentationslinien sind dabei maßgeblich. Erstens treibt Platon die Unterscheidung von dem schauspielerisch evozierten Anschein des Könnens und dem eigentlichen Können voran (ein guter Homer-Rhapsode ist aufgrund seiner Verkörperung militärischer Reden noch kein guter Feldherr; ihm fehlt das entsprechende Fachwissen, die téchnē). Zweitens betreibt er eine Passivierung körperlicher Fertigkeiten. Gesang und Schauspiel gelten Platon nur als Form der Besessenheit vom Text, nicht als aktive Kompetenz im Umgang mit ihm.

Beide Argumente zielen darauf, den Wert eines sängerischen und schauspielerischen Ausagierens zu negieren. Am Ende steht der Rhapsode da als ein von seinen Texten Besessener, der über das in seinen Aufführungen auf den Punkt kommende Wissen – so es ein solches denn gibt – keinerlei eigene Kontrolle hat; ein Problem, das sich insofern potenziert, als die Texte von ihrerseits besessenen Autoren verfasst waren. Nach Platon kann Literatur in keinem ihrer Stadien technische Wahrheit, ein Know-how, vermitteln (ob sie in der Lage ist, etwas Wahres als Gehalt zu besagen, ist eine andere Frage, um die sich der Dialog, wie gesagt, nicht kümmert).

Wir möchten diesen Dialog auf ein prägendes Grundproblem der Philologie hin lesen. Denn so sehr Platon das Selbstbewusstsein der Philologie zum Ausdruck bringt, über literarisch gebundenes Wissen bessere Auskunft geben zu können als die Verkörperer der Texte, so teuer ist dieses Selbstbewusstsein erkauft. Denn es beruht auf einer radikalen Trennung von denjenigen Textexperten, deren Zugang zur Literatur das Ausagieren ist und deren Kompetenz sich als Körperarbeit versteht. Die Schwäche von Platons Argumenten ist dabei kaum zu übersehen: Denn erstens übt ein Rhapsode, der eine militärische Rede verkörpert, durchaus aktiv eine Fertigkeit aus und bringt darin auch etwas auf den Punkt – zwar keine politische Kompetenz, wohl aber eine verkörperte Haltung und einen politischen Habitus. Und zweitens ist ein Sänger oder Dichter nicht einfach von dem Text, den ersterer verkörpert und letzterer schreibt, besessen – vielmehr sind beide Künste auf eine mühsam angeeignete Virtuosität angewiesen.

Schließt man sich Platon daher nicht in seinem zweifelhaften Ergebnis, wohl aber in seinem Anliegen an, die Frage nach der Wahrheit und dem Wissen der Literatur auch als Frage nach dem praktischen Können im Umgang mit Texten zu stellen, so tritt die in unserem Beitrag immer wieder anklingende doppelte Gestalt narrativer Texte einmal mehr hervor. Narrativer Wissenskonstitution eignet, so lässt sich folgern, eine doppelte Form der Prägnanz: Erstens eine solche sub specie realitatis. Es handelt sich um eine Prägnanz, die ihre Präzision im Bezug einer erzählten Wirklichkeit auf eine äußere Realität findet. Diese Präzision der Bezugnahme zu erkennen, erfordert den Nachvollzug einer dargestellten Welt und die analytische Kompetenz, aus diesem Nachvollzug Einsichten über die Welt oder über das Weltwissen oder über die Gestalt von Texten zu ziehen. Zweitens eignet Texten aber auch eine andere Form der Prägnanz, die ihre Präzision im adäquaten körperlichen Umgang mit einem Text findet. Dies zu tun, erfordert körperlich geübte Kompetenz.

Diese zweite Form der Prägnanz, dieser zweite Aggregatzustand narrativ gebündelten Wissens, ereignet sich nicht im Rahmen einer referentiellen Prägnanz (der Perfektion des Spiels mit der Wirklichkeit), sondern im Rahmen einer funktionalen (einem Spiel mit der Richtigkeit) und ästhetischen Prägnanz (einem Spiel mit der Stimmigkeit). Die Unterscheidung dieser Formen der Prägnanz könnte ein Weg sein, das Körperwissen für die Diskussion um das Wissen von Erzählungen fruchtbar zu machen.

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Prof. Dr. Jan Söffner
Zeppelin Universität
Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse
Am Seemooser Horn 20
88045 Friedrichshafen
E-Mail:
jan.soeffner@zu.de

Esther Schomacher
Zeppelin Universität
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse
Am Seemooser Horn 20
88045 Friedrichshafen
E-Mail:
esther.schomacher@zu.de

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1 Gewiss kann ein solcher Ansatz auf den ersten Blick unbefriedigend wirken. Es sieht so aus, als wollten wir jede Kulturalität um ihren Symbolwert, ja um ihr Imaginäres bringen, um sie stattdessen auf ein primitives enactment zu reduzieren. Das ist aber nicht der Fall. Das Potential der enaktivistischen Denkrichtung erschließt sich u.E. gerade erst, wenn man auch das Symbolische und das Imaginäre ausgehend vom Ausagieren neu zu beleuchten sucht.

2 Lose folgen wir in diesem Anliegen grundsätzlich Michael Polanyi (1958/1974), Hubert Dreyfus (1993), Peter Sloterdijk (2009) und Ben Spatz (2016), deren Ansätze wir für die Literaturwissenschaft sprechend machen.

3 Zu weiteren Versuchen in diese Richtung vgl. Eibl 2004, Mellman 2009, Herman 2010, Kuzmičova 2012/2014, Hiergeist 2015 und allen voran Gallese / Wojciehowski 2011. Vorbereitet ist unser Ansatz in Söffner 2014 und Klemm / Schomacher / Söffner 2011.

4 Vgl. Interview mit Telepolis, 17. April 2005, https://www.heise.de/tp/features/Nicht-Cyborg-sondern-Affe-3506634.html (letzter Zugriff 31.12.2016).

5 Die spezifische Zeit-Form mythischer Wissensvermittlung spiegelt diesen Umstand wider. Mythische Erzählungen siedeln sich häufig in einer ‚heroischen‘ Zeit an und selbst Gegenwartsmythen erscheinen weder in einer Chronologie der lebendigen Erinnerung noch in einer offiziellen Historiographie oder Chronik aufzugehen. Dieser Umstand erklärt sich u.a. mit einem Blick auf die longue durée des Lernens und Verlernens eines Habitus und auf die Phänomenologie des prozeduralen Gedächtnisses, das den Verlauf des Lernens im Können zusammenfasst und jenseits der ablaufenden Zeit steht. Mythen kommt in dieser Hinsicht eine besondere Zwitterstellung zu. Zum einen konstituieren sie Realitäten (‚Welten‘) und benötigen daher eine episodische Zeitlichkeit, zum anderen sind sie nicht innerhalb der ablaufenden Zeitlichkeit situiert: Hier sind sie auf ein Wissen angelegt, das sich eher so gestaltet, wie das körperliche Wissen, das zur Anwendung kommt, wenn man einen Purzelbaum schlägt – ein Wissen, das an keine konkrete Episode und keinen konkreten Wissensinhalt gebunden ist, sondern als Muster im Kontext abgerufen werden kann.

6 Darin ist die enaktivistische Philosophie kein Sonderfall. Ein alternatives Beispiel ist der gegenwärtig viel diskutierte Markus Gabriel (2013), der die Welt als das definiert, was es ‚nicht gibt‘, da sie kein Element ist, das in ihr selbst gegeben sein kann. Eine ‚Welt im Text‘ wäre in seiner Philosophie eine contradictio in adiecto.

7 Ein Ding wurde in der mittelalterlichen Theologie nicht durch sein bloßes Dasein, sondern durch sein (von Gott verliehenes) Wesen zum Ding. Die realia sind daher in dieser Zeit noch der Gegenstand dessen, was im Quadrivium gelehrt wurde – sie waren Gegenstand der komplexen, abstrakten Wissenschaften, nicht der im Konkreten verhafteten Disziplinen des Trivium. Als Realist galt insofern auch, wer glaubte, dass die Dinge ihr je partikulares Sein aus dem allgemeinen Sein bezögen. Nominalisten stattdessen glaubten an die Realität der Einzeldinge – und das gab auch dem Begriff der Realität eine neue Wende, denn dadurch erhielt, noch vor Kant, die Dinghaftigkeit eine größere empirische Eigendynamik und Unabhängigkeit von der Transzendenz.

8 Das erste Beispiel ist Kants eigene Verwendung einiger vom griechischen pragma abgeleiteter Begriffe, z.B. demjenigen des Praktischen und der Praxis: Kants Praxis schließt bloßes Ausagieren (wörtlich „Hantirung“ – Kant 1923, 275) explizit aus und ist stattdessen entweder an einen technischen Verstand oder an moralisches Urteilen gebunden, also an eine Realitätskonstitution. Ähnliches gilt für den Pragmatismus, der den Blick auf die pragmata nicht als Alternative zur philosophischen Realitätsfrage, sondern als Strategie zu ihrer Lösung begreift. Der Fokus konstruktivistischer Theoriebildung auf die Hervorbringung von Realität sorgte schließlich dafür, dass selbst praxeologische Forschung dazu tendiert, Praxis auf die Realität hin zu untersuchen, die von ihr hervorgebracht wird; nicht als Alternative zum Beschreibungsmodus sub specie realitatis. Nicht einmal gegenwärtige Theorien körperlicher Performanz sind eine Ausnahme, wo der Begriff der Performanz als eine Form der selbstbezüglichen Realitätskonstitution bestimmt wird. Das gilt sowohl für den paradigmatischen Performanzbegriff John Langshaw Austins als auch den Judith Butlers, die beide auf ihre Weise das Performative als Form handelnder Realitätskonstitution begreifen.

9 Daran, dass es nicht allein um Rollenspiele geht, lässt sich schon erahnen, dass die Geschichten schon in diesem frühen Stadium eine Perspektive des ‚von innen‘, dem Rollenspiel, und eine Perspektive des ‚von außen‘, dem Spiel mit Spielsachen, kennen, wobei aber auch letztere ein Handeln und Ausagieren, ein Sprechen etwa mit der Stimme der jeweiligen Figur, impliziert und also keine bloße Beobachtung ist.

10 [T]ὼ δ᾽ αὖτις ξιφέεσσι συνέδραμον. ἔνθα Λύκων μὲν
ἱπποκόμου κόρυθος φάλον ἤλασεν, ἀμφὶ δὲ καυλὸν
φάσγανον ἐρραίσθη: ὃ δ᾽ ὑπ᾽ οὔατος αὐχένα θεῖνε
Πηνέλεως, πᾶν δ᾽ εἴσω ἔδυ ξίφος, ἔσχεθε δ᾽ οἶον
δέρμα, παρηέρθη δὲ κάρη, ὑπέλυντο δὲ γυῖα.

11 Vgl. hierzu Blödorn / Langer / Scheffel (2006) und darin insbesondere Zymner (2006).