Ralph Richter und Nepomuk Rohnstock

Der Erzählsalon als Verfahren strategischen Erzählens

Konzeptionelle Voraussetzungen und empirische Gestalt am Beispiel des Projektes Lausitz an einen Tisch

The Story Telling Salon is a method that regularly brings together groups of people who, under the leadership of a moderator – the salonnière –, exchange stories about personal experiences in a social environment (an organization, a community etc.). In this way, the Story Telling Salon not only strives to generate meaningful collective narrations but also trust, collective identity and commitment in groups which suffer from social alienation. We show how the Story Telling Salon applies collective storytelling as a strategic means towards community building and the empowerment of people. This will be exemplified by the example of “Lusatia at one table” (Lausitz an einen Tisch) – a regional development project that aims at strengthening social cohesion and facilitating civic commitment in the disadvantaged rural region of Lusatia / Germany. The paper presents the empirical findings of a one-year observation of “Lusatia at one table”.

Einleitung

Der Erzählsalon ist eine Methode, um Erlebnisse und anekdotenreiche Erinnerungen, Deutungen und Orientierungen rund um kollektiv bedeutsame Ereignisse und Sachverhalte auf lebendige Weise zu rekapitulieren und als bleibende Erinnerung aufzubereiten. In Erzählsalons kommen Gruppen von Personen mit geteiltem Erfahrungshintergrund wiederholt zusammen und erzählen unter Anleitung einer Salonnière1 die erinnerten Erlebnisse. Das Berliner Unternehmen Rohnstock Biografien entwickelte diese Form kollektiven Erzählens über Jahre weiter und setzt diese bei der Erstellung von Unternehmensbiografien, Stadtteilgeschichten oder zur Gedächtnisschulung bei älteren Menschen ein. Mit dem Projekt Lausitz an einen Tisch überträgt das Unternehmen die Methode des Erzählsalons erstmals auf das Feld der Regionalentwicklung. Bei dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geförderten Projekt2 geht es darum, Mechanismen des Erzählens in Gruppen für die Reproduktion und Initiierung von Vertrauens- und Identitätsbildungsprozessen sowie für die Förderung bürgerschaftlichen Engagements in den Landgemeinden der Lausitz strategisch zu nutzen.3 Lausitz an einen Tisch ist ein paradigmatischer Anwendungsfall für die Methode. Anhand des Projektes soll beispielhaft gezeigt werden, wie beim Erzählen in Gruppen geteilte Erfahrungen, Wissensbestände und Orientierungen aktualisiert und Zugehörigkeitsgefühle gestärkt werden. Das interventionistische Potenzial und die Grenzen des Erzählsalons werden deutlich gemacht und darüber der Erzählsalon als Verfahren strategischen Erzählens konkretisiert.

Der innovative Gehalt des Erzählsalons ergibt sich aus der Zusammenführung und Weiterentwicklung von zwei Methoden, die als sozialwissenschaftliche Erhebungsverfahren bislang getrennt zum Einsatz kamen: dem narrativen Interview und der Gruppendiskussion. Die Überführung des narrativen Interviews in eine Gruppensituation öffnet dieses für kollektiv bedeutsame Prozesse, der Wechsel der Kommunikationsform von der Diskussion zum autobiografischen, aber dennoch kollektiv bedeutsamen Erzählen macht die Teilnehmer/innen mit ihren individuellen Wünschen, Ängsten und Motiven sichtbar. Das Erzählen in Gruppen schafft eine vertrauensvolle Situation, in der sich entfremdete Gruppen über geteilte Erinnerungen ihrer Gemeinsamkeiten und Fähigkeiten bewusst und zum Verfolgen neuer gemeinsamer Ziele angeregt werden sollen. Anders als im narrativen Interview und in der Gruppendiskussion ist das Reproduzieren historischer Ereignisse und kollektiver Orientierungen nicht das Ziel, sondern das strategische Mittel für die Bildung von Vertrauen und für die Selbstermächtigung der jeweiligen sozialen Gruppen.

Im Beitrag erläutern wir zunächst den konzeptionellen Rahmen des Erzählsalons. Wir stellen die Hintergründe, Anliegen und Regeln der Methode vor. Daraufhin kommen wir zum konkreten Anwendungsfall. Wir beschreiben die Ausgangssituation und Ziele von Lausitz an einen Tisch und beleuchten die Landgemeinde Plessa, in welcher das Projekt umgesetzt wurde. Es folgen Beobachtungen der nunmehr ein Jahr währenden erzählerischen Interventionen. Wir zeigen, wie sich einigen Widerständen zum Trotz der Erzählsalon in Plessa etablieren konnte, worum die Erzählungen im Salon thematisch kreisen, wie in den Erzählungen kollektive Erfahrungen und Orientierungen zum Ausdruck kommen und welche über den Erzählsalon hinausweisenden Wirkungen zu beobachten sind. Als Dreh- und Angelpunkt erweist sich die Frage, inwiefern im Erzählsalon Narrationen und Orientierungen lediglich reproduziert oder vielmehr im Salon selbst mit geschaffen werden. Am Schluss kommen wir auf die Frage nach dem strategischen Moment kollektiven Erzählens zurück. Dieses besteht im Erzählsalon in vielerlei: im Erleben eines Rituals, in der Aufbereitung und Bewahrung von Erinnerungen, im Bedürfnis sich mitzuteilen, im Erfahren anregender Geschichten, in der Chronologie des Erzählens, ganz besonders aber im gemeinsamen Aufsuchen von „Resonanzoasen“ (Rosa 2014, 196).

Der Erzählsalon

Entstehung, Anliegen und theoretische Anschlussstellen

Die Haupttätigkeitsfelder von Rohnstock Biografien sind das Verfassen von Autobiografien und Firmengeschichten auf der Grundlage von Interviews und Gruppengesprächen. Nach Auskunft des Unternehmens wurde die Methode des Erzählsalons unter anderem deshalb entwickelt, um auch die Lebensgeschichten von Menschen bewahren zu können, die keine Mittel für das Erstellen einer Autobiografie aufbringen können. Die Regeln und Moderationstechniken sowie die Themenstruktur sind durch Erfahrung gewachsen. Auch die Anwendungsfelder haben sich in den zurückliegenden Jahren ausgeweitet.

In Erzählungen werden Erlebnisse beschrieben und verarbeitet. Aus Sicht von Katrin Rohnstock, der Gründerin und Inhaberin des Unternehmens, fehlen dafür oft Gelegenheiten, Räume und Rituale (vgl. Beobachtungsprotokoll 26.5.2016). Der Erzählsalon will diesem Mangel begegnen: In einem geschützten, halböffentlichen Raum sitzen Menschen zusammen und erzählen sich gegenseitig selbst erlebte Geschichten zu ausgewählten Themen. Das Schaffen einer besonderen Situation, die Regeln des Salons und das regelmäßig Zusammentreffen geben dem Erzählsalon den Charakter eines Rituals. Ein Potenzial der Kulturtechnik des kollektiven Erzählens sieht Rohnstock darin, dass sich durch geteilte Narrative Identitätsbezüge aktualisieren (vgl. Interview 8.7.2015). Durch den Prozess des Niederschreibens und Zurückspiegelns in selbst erarbeiteten Publikationen werden diese Erzählungen objektiviert und gewinnen an Permanenz. Darüber hinaus eigne sich der Erzählsalon zur Vertrauensbildung in Gruppen. Zum einen könne Vertrauen durch das Preisgeben von persönlich Erlebtem, von Motiven, Vorlieben und Ängsten gestärkt werden. Zum anderen durch die geteilte Erfahrung des respektvollen Umgangs miteinander, der durch die Regeln des Salons erreicht wird (vgl. Beobachtungsprotokoll 14.8.2015).

Der Erzählsalon wurde nicht anhand der strengen Kriterien neuester Erzähltheorien und wissenschaftlicher Erhebungsmethoden entwickelt. Dennoch verweist das Verfahren auf Annahmen und Vorgehensweisen, die auch (sozial-)wissenschaftlichen Konzepten und Methoden zugrunde liegen. Mit Blick auf die angestrebte Stärkung von Identitätsbezügen zeigen sich beispielsweise Parallelen zur Biografieforschung, in der heute die Ansicht vertreten wird, dass personale Identität im Erzählen und Reflektieren immer wieder neu entsteht und nicht als homolog zu dem in der Vergangenheit Geschehenen zu verstehen ist (McAdams 1987; Singer 2004). Die unter dem Titel Narrative Identity firmierenden Ansätze begreifen die erzählte Lebensgeschichte als im Sprechakt (mit-)konstruierte Identität, die je nach lebensgeschichtlicher Situation und jeweils relevanten Bezugspersonen und -gruppen auch anders erzählt werden kann (Baddeley / Singer 2007, 197f.). Für den Erzählsalon folgt daraus, dass sich beim Erzählen in der Gruppe auch dann Zugehörigkeits- und Verantwortungsgefühle entwickeln können, wenn der kollektive Zusammenhalt zuvor gestört war. Eine Stütze sind dabei sozial anerkannte Narrative und Mythen. Wie diese das lebensgeschichtliche Erzählen bestimmen, hat unter anderem der Soziologe Armin Nassehi (1994; 2002) deutlich gemacht. Demnach ist die Erzählgestalt nicht so sehr vom Gegenstand der Erzählung bestimmt, als vielmehr von gegenwärtig vorherrschenden „sozialen Erwartungs- und Darstellungsformen“ (Nassehi / Saake 2002, 82).

Wenn es im Erzählsalon gelingt, durch das Aufrufen geteilter Narrative kollektive Zugehörigkeitsgefühle zu aktualisieren, dann verweist das auch auf das sozialwissenschaftliche Gruppendiskussionsverfahren (vgl. Bohnsack 1989, 1997, 2008; Bohnsack / Przyborski / Schäffer 2010). Die kollektive Erhebungssituation soll es im Gruppendiskussionsverfahren ermöglichen, das auf einem „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980, 211) beruhende konjunktive Wissen einer Gruppe – gemeint sind geteilte Erinnerungen und Orientierungen – zu erschließen. Gehen wir davon aus, dass sich diese Erklärung aufgrund der vergleichbaren Erhebungssituation auf den Erzählsalon übertragen lässt, so heißt das: Im Erzählsalon ist es möglich, gemeinsame Narrative, Erinnerungen und Orientierungen zu erschließen, weil das kollektive Erzählen eine gemeinsame Suche nach Resonanzoasen in Gang setzt. Diese zeigen sich dort, wo die Erzählerinnen und Erzähler durch das Leben unter strukturgleichen Bedingungen oder durch gemeinsames Erleben Erfahrungen und Orientierungen teilen.

Die Regeln des Erzählsalons

Die Erzählsalons haben einen strukturierten Ablauf und spezifische Regeln. Die Salonnière leitet den Salon. Neben ihr gehören ein Assistent bzw. eine Assistentin und gegebenenfalls ein Fotograf und Übersetzer zum Team. Um eine gesprächsfördernde Situation zu schaffen, setzt Rohnstock Biografien ovale Tische oder Stuhlkreise ein. Durch die gleichberechtigte Platzierung soll zugleich eine Hierarchisierung der Teilnehmer/innen vermieden werden. Die Salonnière stellt eine idealisierte Zuhörerin dar, welche sich in der thematisierten Materie nicht auskennt oder dies wenigstens so zu erkennen gibt. Sie ist dem Erzähler / der Erzählerin interessiert zugewandt, bestärkt und fragt nach. Sie dient als Fokuspunkt für die Aufmerksamkeit der mitunter aufgeregten Erzähler.

Die Leitlinien des Erzählsalons sehen vor, dass die eigentliche Veranstaltung mit einer Anmoderation beginnt. Die Salonnière nennt die Regeln des Salons, sie begründet das Thema und schildert Beispiele, um die möglicherweise vorhandene Scham abzubauen. Sie bekundet Interesse an allen Geschichten und verweist darauf, dass die Erzähler ihre Geschichten dort einbringen können, wo es aus ihrer Sicht am besten passt. Die Gesamtdauer des Salons darf zwei Stunden nicht übersteigen. Die maximale Länge der einzelnen Beiträge richtet sich nach der Anzahl der Erzähler. Die Salonnière weist darauf hin, dass sie gern unterstützend einwirkt, sollte jemand kein Ende finden oder sich verhaspeln. Die Anmoderation mündet in der Frage, wer beginnen möchte.

Nach jeder Erzählung kommt es im Idealfall zu einer positiven Bestärkung durch die Salonnière. Dabei sollen begrüßenswerte Aspekte des Erzählten, durch Sätze wie „das war aber spannend“ oder „eine beeindruckende Geschichte“, hervorgehoben werden. Im Fall von Regelverletzungen wie dem Führen von Nebengesprächen, dem Abgleiten in Diskussionen oder bei groben Zeitüberschreitungen ist es die Aufgabe der Salonnière, die Erzähler an die Einhaltung der Regeln zu erinnern. Emotionale Ausbrüche wie Lachen, Empörung, Weinen werden hingenommen. An solchen Stellen beschwichtigend einzuwirken, würde nach Ansicht der Verantwortlichen die Tiefe und Ausdruckskraft der in diesem Moment produzierten Erzählung schmälern. Die Theatralik des Geschehens trage entscheidend zur kollektiven Erfahrung des Erinnerns und Erzählens bei. Auch wenn es keine Verpflichtung zum Teilen der eigenen Erlebnisse gibt, wird doch sanft darauf hingewirkt, dass alle Anwesenden erzählen. Am Ende der gegebenen Zeit haben in der Regel alle bis auf die Salonnière erzählt.

Der Erzählsalon wird durch eine kurze, dankende Abmoderation beendet. Die Salonnière kündigt den nächsten Salon an und lädt dazu ein, noch länger zu verweilen und das Erzählte zu reflektieren. Da der Erzählsalon beendet ist, gelten die eingangs gesetzten Regeln nicht mehr. Entsprechend kann jetzt diskutiert und kommentiert werden.

Der Erzählsalon in der Praxis: Das Projekt Lausitz an einen Tisch

Mit Lausitz an einen Tisch wird der Erzählsalon das erste Mal im Bereich der Regionalentwicklung angewendet. Es geht darum, den Entfremdungserscheinungen in einer von Strukturbrüchen und demografischem Wandel geprägten Region entgegenzuwirken. Es lohnt sich Lausitz an einen Tisch als Anwendungsfall des Erzählsalons näher in den Blick zu nehmen.

Ausgangssituation und Zielstellungen des Projektes

Die südöstlich von Berlin und nordöstlich von Dresden gelegene Lausitz ist wie kaum eine andere Region der Bundesrepublik von ökonomischen, ökologischen und sozialen Umbrüchen gezeichnet. Die vormals ländlich geprägte und arme Region (Baxmann / Schirmer 2004, 9) wurde mit Beginn des Braunkohleabbaus seit dem späten 19. Jahrhundert umfassend industrialisiert. Das brachte der Region Arbeit, aber mit dem großflächigen Abbau von Braunkohle in Tagebauen auch für viele Menschen den Verlust der Heimat und einer intakten Landschaft. Mit der politischen Wende gingen tausende von Arbeitsplätzen wieder verloren. Viele verließen seitdem die Lausitz. Heute ist die Bevölkerung überaltert und leerstehende Gebäude sind unübersehbar. Durch die Renaturierung und Flutung der Tagebaue gewinnt die Lausitz zwar an Lebensqualität und an Anziehungskraft für Touristen. Aber mit dem sich abzeichnenden Ende der Kohleverstromung steht die Region weiter vor einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft (Braun et al. 2014; Lintz / Wirth 2015).

An verschiedenen Standorten in der Lausitz wurden Projekte zur Belebung der Region initiiert, allem voran die Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land (2000-2010). Trotz großer Erfolge, insbesondere bei der Umnutzung von Industriedenkmälern, blieben die sozio-ökonomischen Impulse begrenzt. Eine explorative Untersuchung im Vorfeld von Lausitz an einen Tisch zeigte, über welche Fähigkeiten die Menschen in der Region verfügen und welche lebensweltlichen „Umfeldbedürfnisse“ sie haben. Die strukturellen Veränderungen gingen in einem unvorstellbaren Tempo vonstatten, so die Analyse, weshalb es nötig sei, einen „Heilungsprozess für den vielfältigen Verlust der Heimat, der Arbeit, der Identität, des eigenen Stellenwertes in der Gesellschaft“ zu beginnen (Schmidt 2014, 19). Ziel des von Rohnstock Biografien konzipierten Projekts war es dementsprechend, mit dem spezifischen Mittel der Erzählsalons Menschen zusammenzubringen und zu animieren, sich für eine lebenswerte Lausitz einzusetzen. Indem allen Menschen das Erzählen ihrer Geschichten und das Zuhören ermöglicht wird, sollten die Barrieren zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen, zwischen Bevölkerung, Planern, Investoren und Politikern durchlässiger werden. Die Erzählsalons sollten Erkenntnisprozesse anregen, welche die Teilnehmer/innen in die Lage versetzen, Kompetenzen und Potenziale zu erkennen und einzubringen. Durch geteilte Erfahrung sollten sie sich als Teil handlungsfähiger Gemeinschaften begreifen und zum Träger von selbst entwickelten Initiativen werden (Rohnstock Biografien 2014, 3).

Das Fallbeispiel Plessa

Im Rahmen des von Mai 2015 bis September 2016 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Projekts wurden an sechs Standorten Erzählsalons durchgeführt: in Lauchhammer, Sedlitz, in der Gartenstadt Marga, in Großräschen, in Geierswalde und in Plessa. Die teilnehmende Beobachtung, die die Grundlage für diesen Beitrag bildet, konzentrierte sich auf den letztgenannten Ort. Mit seinen multiplen Problemlagen versprach Plessa ein besonders interessantes Fallbeispiel zu werden. Nicht nur verlor Plessa mit der politischen Wende fast seine gesamte ökonomische Basis und etwa die Hälfte seiner einstmals fast 5.000 Einwohner (LDSB 2006, 10), der Ort schien vor Beginn der Feldexploration auch durch einen verfestigten Konflikt geprägt zu sein, den die Plessaer allein nicht lösen konnten. Stein des Anstoßes sind zwei Kulturdenkmäler, über deren Erhalt erbittert gerungen wird. Auf der einen Seite verfügt Plessa mit einem in den 1920er Jahren errichteten Braunkohlekraftwerk – heute das einzig erhaltene seiner Art in Europa – über ein außergewöhnliches Industriedenkmal. Dieses wurde mit Millionenaufwand im Rahmen der IBA saniert, ist jedoch nur schwer zu bewirtschaften. Wegen Meinungsverschiedenheiten mit den wechselnden Kraftwerkseignern und einem Millionenkredit, den die Gemeinde einem längst insolventen Eigner in den 1990er Jahren gewährte, sorgte das Kraftwerk wiederholt für Verdruss (LR 21.02.2013; LR 08.05.2013). Auf der anderen Seite besitzt Plessa ein Kulturhaus mit einer wertvollen Inneneinrichtung aus den 1950er Jahren, das stark sanierungsbedürftig, aber deutlich besser mit Leben zu füllen ist. Viele Plessaer setzen sich für den Erhalt der Denkmäler ein. Da die verschuldete Gemeinde jedoch allenfalls den Erhalt eines Gebäudes tragen kann, hat sich über die Zeit ein Interessenskonflikt zwischen den Kraftwerksbewahrern auf der einen Seite und den Kulturhausbefürwortern auf der anderen Seite entwickelt. So jedenfalls lautete die Analyse zu Beginn des Projektes. Vor diesem Hintergrund hatte es sich Lausitz an einen Tisch zur Aufgabe gemacht, ein kooperatives Klima zwischen den zwei Interessensgruppen herzustellen.

Der Erzählsalon in Plessa: Beobachtungen und Einsichten

Vom Eklat zur Auszeichnung: Die „Karriere“ der Plessaer Erzählsalons

Entgegen den Erwartungen des Projektteams spielt der Konflikt zwischen Kraftwerksbewahrern und Kulturhausbefürwortern im Alltag vieler Plessaer keine vordergründige Rolle. Im Verlauf der sechs Erzählsalons, die zwischen August 2015 und März 2016 unter der Regie von Rohnstock Biografien in Plessa durchgeführt werden, tritt die Auseinandersetzung zwischenzeitlich in den Hintergrund. Allerdings sorgt der Konflikt gleichermaßen am Anfang des Projektes wie an dessen (vorläufigem) Ende für Aufregung. Er bildet eine thematische Klammer, ohne deshalb ein fortwährender Gegenstand der Erzählungen zu sein.

Nach intensiven Vorgesprächen mit lokalen Akteuren und dem Besitzer des Kraftwerks wird im August 2015 der erste Salon anberaumt. Die Wahl des Themas – „Was ich mit dem Kraftwerk Plessa erlebt habe“ – und die Bestimmung des Kraftwerks als Veranstaltungsort stellen den Versuch dar, jene Plessaer, die dem Industriedenkmal heute mit Argwohn begegnen, mit diesem ein Stück weit zu versöhnen. Außerdem soll den ehemaligen und vielfach schon betagten Beschäftigten des Kraftwerks durch das kollektive Erinnern eine Möglichkeit des Abschieds und Abschlusses gegeben werden. Wie sich jedoch im Verlauf des ersten Erzählsalons herausstellt, hat der Kraftwerkseigner – ungeachtet der zuvor bekundeten Unterstützung – gänzlich andere Pläne. Entgegen allen Regeln des Erzählsalons nutzt er diesen als Bühne für seine eigenen Interessen. Im Beisein der rund vierzig Teilnehmer/innen – darunter viele ehemalige Beschäftigte und interessierte Plessaer – fordert er die ebenfalls anwesenden lokalen Honoratioren dazu auf, sich zu dem von ihm erdachten Nutzungskonzept für das Kraftwerk zu bekennen.4 Darauf lassen sich die Entscheidungsträger nicht ein. Der Salon endet in Vorwürfen und Geschrei und hinterlässt viele ratlose und verärgerte Erzähler/innen. In der 15-jährigen Geschichte des Erzählsalons ist dies nach Auskunft des Projektteams der erste Salon, der abgebrochen werden musste.

Der Schock, den der Eklat bei den Projektverantwortlichen auslöst, führt fast zur Beendigung des Projektes. Es scheint, als sei die Methode des Erzählsalons nicht geeignet, um bei solch verhärteten Konflikten eine vertrauensvolle Gesprächsebene herzustellen. Nach einer zweimonatigen Pause entscheidet sich das Projektteam zusammen mit den lokalen Entscheidungsträgern für die Fortführung und für eine Verschiebung des Fokus vom Kraftwerk hin zur gesamten Gemeinde. In der Folge finden die Erzählsalons zu unterschiedlichen Themen und an wechselnden Veranstaltungsorten statt. In Abstimmung mit den Erzähler/innen widmen sich die Salons nacheinander den prägenden persönlichen Erlebnissen der Plessaer in ihrer Gemeinde, dem vielfältigen Vereinsleben, den Geschichten rund um das Kulturhaus sowie zweimal dem Thema „was ich mir für die Zukunft von Plessa wünsche“. Es bildet sich ein lokaler Unterstützerkreis, der sich für die Durchführung der Salons als sehr wichtig erweist. Dieser bildet nicht nur den Kern der Erzähler/innen, er sorgt auch für das Bekanntmachen des Projektes und die gezielte Ansprache der für das jeweilige Thema als besonders geeignet erscheinenden Erzähler. Die Teilnehmerstärke pendelt sich bei zehn bis zwölf Erzähler/innen ein und damit bei einer für Erzählsalons günstigen Größe. Die meisten Teilnehmer/innen sind älter als fünfzig Jahre. Mit der Wahl des Jugendclubs als Veranstaltungsort werden im sechsten Salon aber auch jüngere Erzähler/innen angesprochen. Unter den zwanzig Teilnehmer/innen sind zwei Drittel Jugendliche. Auch wenn der Salon im Jugendclub, anders als die Vorgängersalons, häufiger Beschreibungen und Argumentationen statt Erzählungen hervorbringt, wird er aufgrund des intergenerationalen Austauschs von den Beteiligten als besonders inspirierend erlebt, wie diese im Nachgang betonen (Beobachtungsprotokoll 4.4.2016).

Bedingt durch den kurzen Förderzeitraum kann Rohnstock Biografien den angestoßenen Prozess nicht direkt weiter begleiten. Um mit dem Projekt dennoch nachhaltig in die Region zu wirken, bildet das Unternehmen ausgewählte Erzähler/innen selbst zu Salonnièren aus. Durch die Ausbildung und durch die anfängliche Supervision sollen diese in die Lage versetzt werden, in ihren Orten eigene Erzählsalons zu etablieren oder weiterführende Initiativen ins Leben zu rufen. Für Plessa finden sich mit der ehemaligen Bürgermeisterin und einer von auswärts kommenden Studentin zwei Salonnièren zusammen, welche die Brücke zwischen den Generationen und zwischen dem Ort und seiner Umwelt schlagen können. Inwiefern der erste selbstinitiierte Salon, der Ende Juni 2016 unter dem Titel „Was wir in Plessa aufgebaut haben“ stattfindet, der Auftakt für weitere Salons oder andere Initiativen ist, kann zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags nicht vorhergesagt werden. Für eine Motivation ist in jedem Fall gesorgt. Um den rund 170 Erzähler/innen in sechs Projektorten für ihre Teilnahme an den Salons zu danken und um ihnen ihre erzählerischen Kompetenzen bewusst zu machen, lobt Rohnstock Biografien Preise für die besten Geschichten aus. Ende Mai 2016 kürt die Jury, bestehend aus dem Redakteur einer Tageszeitung, aus Politiker/innen, Regionalmanager/innen und einem Regionalplaner, überraschend zwei Kollektiverzählungen zum Kraftwerk und zum Kulturhaus Plessa zu den besten Geschichten.5

Plessaer Geschichten: Die politische Wende als radikaler Bruch

Die Plessaer verbinden eine Fülle von schönen, lustigen, nachdenklichen und dramatischen Lebenserinnerungen mit ihrem Wohnort. Darunter sind viele, die an kollektive Ereignisse erinnern und so die Biografie des Ortes mitschreiben. Die Erzählungen können grob drei Zeitabschnitten zugeordnet werden: erstens den Jahren in der DDR, zweitens den Nachwendejahren und drittens der jüngeren Vergangenheit, Gegenwart und nahen Zukunft. Von einschneidender Bedeutung sind für die meisten Erzähler/innen die politische Wende in der DDR und ihre Folgen. Der Systemwechsel teilt die erzählte Erinnerung in ein Davor und ein Danach, in eine historisch gewordene Phase der Ordnung und Sicherheit und in eine Phase der Unsicherheit und des Sich-neu-Orientierens. Biografisch bedingt gilt dies freilich nur für die älteren Erzähler/innen. Da diese aber etwa drei Viertel die Erzähler stellen, dominiert diese Perspektive in den Salons.

Zeitschichten überspannende Themen sind die in Plessa stattfindenden Kulturveranstaltungen mit ihrer überlokalen Anziehungskraft sowie der Karneval. Dieser für Südbrandenburg eigentlich untypische Brauch kam erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts durch eine nach Plessa zugezogene Rheinländerin auf und erfreute sich bereits in der Zeit der DDR großer Beliebtheit. Kommt die Rede auf den heutigen Karneval, drehen sich die Erzählungen um die mit viel Engagement durchgeführten Umzüge und Veranstaltungen sowie darum, dass beim Karneval gleichermaßen Jung und Alt, abgewanderte und sesshaft gebliebene Plessaer zusammenkommen.

Reproduzierte und produzierte Gemeinschaftsorientierung

Bei der Analyse von Lausitz an einen Tisch wird deutlich, dass im Erzählsalon auf vielfältige Weise Gemeinschaftlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Es werden gemeinsame Erinnerungen wachgerufen, in wechselseitiger Bezugnahme kollektive Erzählungen entwickelt und schließlich auch geteilte Orientierungen sichtbar. In diesen drücken sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Bindung an diese aus. Die Erzählung über einen schweren Betriebsunfall, der sich in das kollektive Gedächtnis der Plessaer eingebrannt hat, liefert ein gutes Beispiel für solche gemeinsamen Erinnerungen und Orientierungen:

Erzählerin 1: Was für mich ein besonderes Erlebnis war, war die Verpuffung im Jahr 1983.
Erzählerin 2: Am 17.8.83
Erzählerin 1: Am 17.8.83. Ich habe Urlaub gehabt, sitze noch in der Küche, auf einmal gibt es einen Knall. Ich dachte, ein Flugzeug ist irgendwie in die Brikettfabrik rein, seh’ bloß nur noch Qualm und Staub. Meine Nachbarin ruft: „Was ist denn passiert“. Ich sage: „Ich seh’ noch nichts, alles staubig.“ Und dann war das.
Salonnière: Was ist denn da passiert?
Erzählerin 1: Und zwar ist eine Kohlestaubverpuffung gewesen, die Menschen waren schon zum Frühstück gewesen, und vier Arbeiter waren noch in der Brikettfabrik. Und in dem Moment, wenn Kohlestaub zusammenkommt, und eine gewisse Menge, und das entzündet sich. Und es wird nicht beräumt oder irgendwie, das war eine Reparaturschicht gewesen, dann ist die hochgegangen, und hat so eine Explosion, so eine Wucht, vier Schlote hat‘s in die Luft gejagt, und diese Verpuffung hat eben auch vier Menschenleben gefordert. […]
Erzählerin 2: Die Verpuffung und die Brandhitze waren so stark. Da stehen doch an der heutigen Von-Delius-Straße diese Klinkerbauten. Mein Schwager, der hat zu der Zeit in diesen Häusern gewohnt. Und meine Nichte, die war zweieinhalb, die kann heute noch erzählen: „Das hat geknallt, und dann hat mein Rücken gebrannt.“ So stark war die Hitzeentwicklung, dass die im Küchenfenster noch gemerkt haben, dass das heiß ist.
Erzählerin 1: Ja, es ist ein Wahnsinn gewesen, ja.
Erzähler: Und nach der Verpuffung war erst’ mal drei Tage, fünf Tage totenstill. Schockstarre, rundherum alles. Und danach hieß es, es wird aufgebaut. Und ich war zu der Zeit in einem ziemlich großen Elektrobetrieb angestellt als Elektriker. Wir wurden abgezogen, mit zehn, zwölf Leuten, das war damals ein großer Betrieb eigentlich, und sind in die Fabrik Plessa zum Wiederaufbau. Ich hab’ Eisenträger gesehen, Doppel-D-Träger, von dieser Stärke, die kann man nicht verformen, das waren Korkenzieher, das waren Korkenzieher.
Erzählerin 1: Welch eine Wucht, eine Gewalt dahinter gesteckt hat, das ist ein Wahnsinn.
Erzähler: Wände, hier, wie ein Tisch, Klinker gemauert, die kann man gar nicht zerstören. Also, man kann se schon zerstören, aber mit roher Gewalt. Und das war für uns, das gibt’s gar nicht.
Erzählerin 1: Du hast das hinterher noch erlebt, gesehen?
Erzähler: Ja, dort sind wir ringekrabbelt, in diese Ruinen sind wir ringekrabbelt und haben dort angefangen Elektro zurückzubauen. Und die Maurer, Schlosser, die haben dann zurückgebaut. Und dann ging das los, Aufbau wieder. Die ist ja, zu DDR-Zeiten, in Rekordzeit wieder aufgebaut worden.
Erzählerin 1: Ja genau, so ist es. Und es kamen auch die modernsten Schlote rein, so dass wir nicht mehr so eine Dreckschleuder wie vorher hatten. Eben, wurde nach den neusten Gesichtspunkten dann aufgebaut. Und war auch ziemlich, relativ, wie wir sagen, sauber geworden. [lacht]
Erzähler: Ja, muss man och sagen.
Erzählerin 1: Muss man so sagen.
(ES2, Abs. 130-147)

Nachdem eine Erzählerin einleitend das Geschehen umreißt, ergänzen zwei weitere Erzähler/innen das Gesagte und unterstreichen die Tragweite der Ereignisse. Die Folgebeiträge sind für sich genommen keine vollständigen Geschichten, sie sind nur vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten verständlich. Indem sie auf selbstläufige Weise an das zuvor Geäußerte anschließen und neue Aspekte ergänzen, entwickeln die drei Redner/innen eine gemeinsame Erzählung. Die Ausformung zu einer Gesamterzählung wird auch am gemeinsamen Versuch erkennbar, das scheinbar Unmögliche („die kann man gar nicht zerstören“) durch dramatisierende Benennungen in Worte zu fassen („Wahnsinn“, „totenstill“, „Schockstarre“, „welch eine Wucht, eine Gewalt“). Dass die drei Erzähler/innen einen konjunktiven Erfahrungsraum teilen wird daran deutlich, dass sie um das Ereignis und dessen Bedeutung für den Ort wissen und sich lebhaft an die Katastrophe erinnern. Die erste Erzählerin und der Erzähler verbinden unmittelbare Erlebnisse mit dem Geschehen, die zweite Erzählerin Schilderungen aus dem familiären Umfeld. Die Kenntnis des genauen Datums, das Teilen der Erinnerung in der Familie und die Aussage, dass selbst der damals zweieinhalbjährigen Nichte das Geschehen noch gegenwärtig sei, unterstreichen die Bedeutung des Ereignisses.

Über das Teilen eines konjunktiven Erfahrungsraumes hinaus finden wir in der Erzählung auch Hinweise auf damit verbundene gemeinsame Orientierungen. Das zeigt sich mit dem Aufrufen eines Aspektes am Ende der Erzählung. Die Geschichte schließt nicht mit der Zerstörung, sondern mit dem Wiederaufbau der Fabrik, der nach damaligem Ermessen schnell ging und ökologische Verbesserungen brachte. Der Wiederaufbau sei eine besondere Leistung gewesen, da dieser trotz der widrigen Umstände in der damaligen DDR möglich war. Die Sequenzen „zu DDR-Zeiten, in Rekordzeit“ und „relativ […] sauber“ scheinen dabei als „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2008, 379) zu fungieren. Mit der „DDR“ wird ein Orientierungsrahmen aufgerufen, der mit Verweis auf den schnellen, verbesserten und zu mehr Sauberkeit führenden Wiederaufbau mehrfach positiv gefüllt wird. Die erste Erzählerin und der Erzähler signalisieren durch gegenseitige Zustimmung, dass sie sich in der positiven Bewertung dieser Leistung einig sind („Ja, so ist es“, „Ja, muss man och sagen“).

Hier wie auch in der Gesamtsicht wird deutlich, dass die Salons in der Regel harmonisch und wenig konflikthaft verlaufen. Es herrscht ein aufmerksames, einander zugewandtes Miteinander vor. Wenn Erzähler andere Erfahrungen oder Ansichten haben, dann wird das eher durch andere Akzentuierungen denn durch offene Widersprüche sichtbar. Mit Bohnsack und Przyborski (2010) können wir für den Modus des kollektiven Erzählens daher von einer weitgehenden „Rahmenkongruenz“ – verstanden als ein sich positiv bestärkendes Erzählen in der Gruppe – sprechen.6 In seltenen Fällen beobachten wir aber auch das apodiktische Thematisieren persönlicher Weltsichten oder gar das Erheben von Vorwürfen zum Zweck persönlicher Interessensdurchsetzung. Wo dies geschieht, verlassen die Redner jedoch den Modus des (autobiografischen) Erzählens und wechseln zu einer argumentativen Sprechweise.

Sieht man von diesen Abweichungen ab, dann schafft das Erzählen in Gruppen eine vertrauensvolle Grundhaltung, die Konfrontationen verhindert. Das autobiografische Erzählen macht den Erzähler als ganze Person mit ihren Motiven, Wünschen und Ängsten sichtbar und daher auch verletzlich. Es stellt einen Vertrauensvorschuss dar, den andere Teilnehmer in der Regel durch das Erzählen eigener persönlicher Geschichten rechtfertigen und erwidern. Dabei geht es nicht unbedingt nur um die Geschichten selbst, sondern auch um das Erleben geteilter Erfahrungen, Ansichten und Emotionen, um die Suche nach kollektiven Resonanzoasen.

Das Stärken gegenseitigen Vertrauens kann dabei auch über den Salon hinausweisende Konsequenzen haben. In Plessa ist es beispielsweise gelungen, zwischen den Konfliktparteien in der Auseinandersetzung um Kraftwerk und Kulturhaus zu vermitteln. Während das Verhältnis zwischen beiden Gruppen anfangs von großem Misstrauen und offener Auseinandersetzung geprägt war, gelang es im Verlauf der Salons die Vertreter beider Gruppen wiederholt in die Erzählrunden einzubinden. Anlässlich der Präsentation der Erzählbroschüren regte der Kulturhausvertreter an, die Geschichte des Kraftwerks in weiteren Salons noch besser auszuarbeiten (Beobachtungsprotokoll 4.4.2016). Ein Vertreter des Kraftwerkvereins wiederum beglückwünschte die „Kulturhäusler“ bei anderer Gelegenheit dazu, dass es diesen gelungen sei, Fördermittel für die Sanierung ihres Hauses zu akquirieren. Nachdem man das Kraftwerk aus IBA-Mitteln bereits Instand setzen konnte, sei die jetzige Förderung des Kulturhauses so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit (Beobachtungsprotokoll 26.5.2016).

Der Erzählsalon als Verfahren strategischen Erzählens? Ein Zwischenfazit

Den Erzählsalon als Methode strategischen Erzählens zu verstehen, hieße, dass es sich um ein Verfahren handelt, mit dem definierte Ziele mit den Mitteln kollektiven Erzählens mehr oder weniger planmäßig erreicht werden können. Die erste Bedingung, das Verfolgen von Zielen, erfüllt der Erzählsalon. Im Fall von Lausitz an einen Tisch geht es um ein besseres soziales Miteinander in den Gemeinden und um das Erkennen und Nutzen kollektiver Potenziale. Schwieriger ist die Frage der planmäßigen Erreichbarkeit dieser Ziele. Denn im engeren Sinn steuerbar ist die Umsetzung der Erzählsalons nicht. Die Resonanz der lokalen Bevölkerung, die Bereitschaft zum Erzählen persönlicher Geschichten, das Vorhandensein konjunktiver Erfahrungsräume und anderes mehr bleiben dauerhafte Unwägbarkeiten. Verstehen wir unter planmäßigem Vorgehen hingegen weniger voraussetzungsvoll das Wissen um geeignete Mittel und deren gezielte Anwendung, dann kann der Erzählsalon mit Recht als strategisches Erzählverfahren bezeichnet werden. Die im Erzählsalon zum Einsatz kommenden Mittel sind dreierlei: Sie bestehen im Schaffen des sozialen Rahmens, in der Ermöglichung kollektiven Erzählens und im Bewahren des Erzählten.

Das Schaffen des sozialen Rahmens meint das Organisieren von Gelegenheiten zum kollektiven Erzählen und das Mobilisieren der Erzähler. Beidem kommt bei Lausitz an einen Tisch besondere Bedeutung zu, da das Projektteam, anders als im Fall einer Beauftragung, erst Erzähler für die Teilnahme gewinnen und als auswärtiger Akteur vor Ort Vertrauen gewinnen musste. Beim Schaffen von Erzählgelegenheiten geht es um rituelle Erfahrungen, die in Erzählsalons vermittelt werden sollen. Die regelmäßige Durchführung, das Einhalten von Regeln und das Schaffen einer vertrauensvollen Atmosphäre sollen die Teilnahme zu besonderen Ereignissen machen. Rituale schaffen Welt- und Gemeinschaftserfahrung der gegenseitigen Versicherung und eine Permanenz, die über die Projektlaufzeit hinausweist. Ob der transitive Charakter des Rituals in Plessa greift, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings noch nicht gesagt werden.

Der Anlass der Erzählsalons ist das Rekapitulieren und Festhalten kollektiv bedeutsamer Erfahrungen. Das Bewahren gemeinsamer Erinnerungen ist dabei keinesfalls nur Mittel zum Zweck, sondern selbst auch ein wichtiger und mit großem Aufwand umgesetzter Bestandteil der Erzählsalons. Dazu werden die Erzählungen aufgezeichnet, transkribiert, in eine gut lesbare Form gebracht, autorisiert und schließlich in Form von Broschüren oder in Buchform veröffentlicht. Durch das geschriebene Wort werden die vorher fluiden Identitäten der Erzähler und ihrer Gemeinde festgeschrieben. Ob und wie weit dieser objektivierte, permanente Referenzrahmen trägt, muss weitergehend untersucht werden. Sicher scheint jedoch, dass sowohl die Erzähler/innen als auch die Gemeinde als Ganzes Gefühle der Selbstermächtigung und weltlicher Relevanz erfahren, die durch die Bewahrung der eigenen Geschichte und ihrer Verbreitung in Buchform ausgelöst werden. Insofern dient der veröffentlichte Text den Erzähler/innen auch als selbstaffirmative Motivationsquelle.

Schließlich ist es die Form des kollektiven Erzählens und nicht etwa der Diskussion oder der Beschreibung, die im Erzählsalon gezielt als Mittel der Gemeinschaftsbildung und Selbstermächtigung angewendet wird. Dafür kommen mehrere Qualitäten kollektiven Erzählens zum Tragen. Zum ersten stillt das Erzählen von persönlich Erlebtem das menschliche Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen. Viele kostet es dabei zunächst Überwindung, vor einer Gruppe zu erzählen. Indem sie das tun, bringen sie den Zuhörern Vertrauen entgegen, wofür sie wiederum durch – meist – aufmerksames Zuhören und Zeichen der Anerkennung Wertschätzung erfahren. Die Beteiligten erleben im Erzählsalon eine Kultur der Empathie. Zum zweiten ermöglicht kollektives Erzählen, Geschichten anderer Menschen zu erfahren. Die persönlichen Bezugspunkte zum Erzähler und zum Erzählten, die sich im Erzählen ausdrückende Persönlichkeit und die Perspektivverschiebung in Hinblick auf den erzählten Sachverhalt machen den Reiz des Zuhörens im Erzählsalon aus. Einen besonderen Wert hat kollektives Erzählen, drittens, weil es dem Einzelnen ein tiefes Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit vermitteln kann. Das gelingt, wenn kollektives Erzählen zu einer gemeinsamen Suche nach Resonanzoasen wird. Indem die Erzähler je eigene Erfahrungen zu einem kollektiv bedeutsamen Thema oder Ereignis beisteuern und sich womöglich auch eine Kollektivgeschichte entspinnt, versichern sie sich implizit, einen konjunktiven Erfahrungsraum zu teilen. Da Erzählungen auch Deutungsweisen und Orientierungen transportieren, können sich auch auf der Gefühlsebene resonante Erfahrungen einstellen. Das Wiedererkennen kulturell verankerter Narrative und die Übereinstimmung mit den vermittelten Positionen rufen dann Emotionen wie Lachen, begeisterte Zustimmung oder Betroffenheit hervor.

Insgesamt zeigt sich, dass mit der Methode des Erzählsalons nicht lediglich Erfahrungen und Orientierungen reproduziert werden, sondern aktiv auf die Stärkung von Vertrauen, Performanz und Engagement hingewirkt wird. Die wiederholt stattfindenden Erzählsalons stellen selbst Formen der Vergemeinschaftung dar. Dazu trägt nicht nur das Erleben von Gemeinschaft bei, sondern auch das Erzählen selbst. Das Erzählen von persönlich Erlebtem setzt Vertrauen voraus und erzeugt Vertrauen. Es bietet Anknüpfungspunkte für das Entwickeln von Kollektivgeschichten und verdeutlich der Gruppe ihre Handlungsfähigkeit. Das kollektiv gewordene Erzählen macht die Dorfgemeinschaft erfahrbar, ja, sie erzeugt diese im Sinne einer narrativen Identität (McAdams 1987; Singer 2004) selbst mit.

Literaturverzeichnis

Verwendetes empirisches Material

Beobachtungsprotokoll 14.8.2015: Beobachtungsprotokoll der Auswertung des ersten Erzählsalons in Plessa durch das Projektteam

Beobachtungsprotokoll 4.4.2016: Beobachtungsprotokoll der Präsentation der dritten Erzählbroschüren und des Lausitzer Erzählsalons zum Thema „Was der Erzählsalon mir und meinem Ort brachten“ am 04.04.2016 in Großräschen.

Beobachtungsprotokoll 26.5.2016: Beobachtungsprotokoll der Preisverleihung und des Lausitzer Erzählsalons am 26.05.2016 in Großräschen.

ES2: Transkribierte Aufzeichnung des zweiten Erzählsalons in Plessa (22.10.2015).

Interview 8.7.2015: Leitfadengestütztes Interview mit Katrin Rohnstock am 8. Juli 2015.

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Sekundärliteratur

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Singer, Jefferson A. (2004): „Narrative Identity and meaning making across the adult lifespan: An introduction“. In: Journal of Personality 72(3), S. 437-460.



Dr. Ralph Richter
Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdynamiken im Raum“
Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS)
Flakenstraße 29-31
15537 Erkner
E-Mail:
ralph.richter@leibniz-irs.de

Nepomuk Rohnstock
Rohnstock Biografien
Schönhauser Allee 12
10119 Berlin
E-Mail:
nepomuk.rohnstock@rohnstock-biografien.de

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1 Auch wenn dieser Rolle per se keine geschlechtliche Konnotation innewohnt, sind es doch vor allem Frauen, die Salons moderieren. Auch den Literarischen Salons des 18. Jahrhunderts standen überwiegend Frauen vor.

2 Lausitz an einen Tisch wird in Form einer Begleitforschung durch das Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS), Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdynamiken im Raum“, beobachtet. Der vorliegende Beitrag ist ein Ergebnis dieser Forschung. Wir danken Rohnstock Biografien sowie den Erzählerinnen und Erzählern in der Lausitz, dass sie die wissenschaftliche Begleitung der Erzählsalons ermöglicht haben.

3 Mit der Initiierung von Vertrauens- und Identitätsbildungsprozessen reagiert das Projekt auf Entfremdungstendenzen, die insbesondere Landgemeinden in Ostdeutschland zugeschrieben werden. Beobachtet wird die Abnahme des sozialen Zusammenhalts und Engagements in Landgemeinden im Zusammenhang mit dem Auflösen der Kongruenz von Lebens- und Arbeitsort sowie aufgrund des Verlustes von Orten des Zusammenkommens (des Dorfladens, der Dorfkneipe, der sonntäglichen Messe).

4 Dass es sich bei diesem Nutzungskonzept um die Einrichtung eines Asylbewerberheimes in den Wirtschaftsgebäuden des Kraftwerks handelt, verleiht dem Geschehen eine zusätzliche Dramatik und zeitgeschichtliche Bedeutung.

5 Neben verschiedenen anderen Medien widmete besonders die in Cottbus erscheinende Lausitzer Rundschau dem Projekt zahlreiche Beiträge. Eine Sammlung dieser Veröffentlichungen, darunter auch zur Prämierung der besten Geschichten, findet sich unter http://www.lr-online.de/erz%E4hlsalon./ (17.06.2016).

6 Die im Erzählsalon hegemonial erscheinenden Orientierungen werden freilich in Hintergrundgesprächen durch ehemalige Plessaer gebrochen. So scheint es, als bräuchte es den Abstand der Weggegangen, um sowohl in einer resonanten Situation zuzustimmen, als auch danach das Erlebte einer kritischen persönlichen Bewertung unterziehen und artikulieren zu können.