Jan Rüggemeier

Strategisches Erzählen und Strategiewechsel im Umfeld neutestamentlicher Erzähltexte

Das lukanische Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Anschauungsbeispiel

Modern biblical scholarship (of the post-war era) has shown that the narrative traditions that underlie the canonical gospels are very adaptive as they have been tailored to suit different communicative situations. In this context Luke’s The Good Samaritan represents an object case for study. Luke has clearly revised and strategically reworked the parable by inserting it into a narrative frame that features a dialogue between Jesus and a Jewish teacher of the law. While the parable (inserted narrative) questions Jewish resentments and prejudices against the Samaritans through confronting the Jewish scholar with the exemplary behaviour of the foreigner, the frame narrative serves to warn Christian recipients against being too hasty in looking down on Jewish authorities. This corresponds to Luke’s oeuvre as a whole (gospel and book of acts), which is characterized by a remarkably nuanced and realistic representation of the Jewish authorities of his time.

1. Neutestamentliche Erzähltexte als kontextuelle Sprachzeugnisse

Historisch und literaturgeschichtlich stellen die Erzähltexte des Neuen Testaments eine zufällige Momentaufnahme dar. Sie sind, so eine wesentliche Erkenntnis der modernen Bibelwissenschaft, Teil eines über sie selbst hinausverweisenden – teils mündlichen, teils schriftlichen – Erzählprozesses. Umgekehrt waren die neutestamentlichen Erzähltexte ihrerseits Vorlage für spätere urchristliche und frühkirchliche Fortschreibungen. Betrachtet man die neutestamentlichen Erzählungen im Kontext ebendieser literarischen Vor- und Nachgeschichte, so wird deutlich, dass sich die einzelnen Episoden und Traditionsstücke als überaus kontext- und kommunikationssensible Sprachzeugnisse darstellen. Bedingt durch die regionale Ausbreitung des frühen Christentums und den damit einhergehenden Wandel der Kommunikationssituationen wurden die Narrative immer wieder strategisch überarbeitet, wobei sich die Autoren gänzlich unterschiedlicher Überarbeitungstechniken bedienen konnten: Ereignisse, Szenen und Episoden wurden literarisch neu eingebettet, um andere Bezüge und Applikationsmöglichkeiten zu kreieren. Ethische Standpunkte und implizite Moralvorstellungen, die sich späteren Generationen nicht mehr erschlossen, wurden uminterpretiert und ersetzt. Stereotype und Feindbilder, die in ihrem ursprünglichen Kontext (selbst)verständlich waren, wurden abgeändert, ergänzt oder verdrängt. Neue Figuren und Perspektiventräger, die den Rezipienten eine Identifikation (wieder) ermöglichen sollten, wurden hinzugefügt. Und im Bereich der Raumdarstellung lässt sich beobachten, dass nicht nur die Genauigkeit der Ausgestaltung variiert, sondern dass Episoden in der erzählten Welt gänzlich neu verortet wurden, um die Ereignisse dem intendierten Rezipienten geografisch und damit auch in Bezug auf seine eigene Vorstellungswelt ‚näher‘ zu bringen.

Der vorliegende Beitrag will solche Prozesse des erzählerischen Strategiewechsels im Umfeld neutestamentlicher Erzähltexte beschreiben und zugleich die dahinter liegende Autorenmotivation darlegen. Methodisch geschieht dies auf der Grundlage einer kognitiven Narratologie, weil der erzählerische Strategiewechsel oftmals in einem engen Zusammenhang mit dem Plausibilitätsverlust textexterner Wissensbestände einhergeht. Darum gilt es nicht nur die sprachlichen und erzählerischen Veränderungen am Text in den Blick zu nehmen, sondern diese zugleich vor dem Hintergrund sich permanent wandelnder Kommunikationsvoraussetzungen zu analysieren. Im Mittelpunkt des ersten einführenden Analyseabschnitts stehen das Lukasevangelium und hierbei insbesondere die literarische Ausgestaltung der lukanischen Gleichnisse. Die erzählerische Einbettung und die typisch lukanischen Stilmerkmale dieser Gleichnisse erlauben erste Rückschlüsse auf die strategische Überarbeitung älterer Textvorlagen, die der Evangelist geleistet hat. Die sich anschließende Analyse und Interpretation von Lk 10,25-37 soll den Blick für die erzählerische Überzeugungsarbeit, die der Evangelist leistet, schärfen. Hierbei zeigt sich, dass Lukas die Parabel nicht nur bewusst inszeniert, indem er sie mit einem rahmenden Dialog verknüpft, sondern zugleich das kommunikative Spiel zwischen den beiden erzählinternen Gesprächspartnern aufgreift, um auch seine Rezipienten von der Unzulänglichkeit stereotyper Feindbilder zu überzeugen. Abschließend soll in einem dritten Analysedurchgang aufgezeigt werden, wie sich die positive Beurteilung und Entwicklung des Gesetzeslehrers in Lk 10,25-37 in eine differenzierte Gesamtcharakterisierung jüdischer Autoritäten im Corpus Lucanum einfügt.

2. Lukas als strategischer Gleichniserzähler

Der Jesus der neutestamentlichen Evangelien lehrt, überzeugt und irritiert Menschen durch seine Gleichnisse. Im Lukasevangelium ist dieses Bild eines Gleichniserzählers besonders stark ausgeprägt. Zwar überliefern auch die anderen Synoptiker sowie das Johannesevangelium zahlreiche Gleichnistexte (Mk: 6 / Mt: 24 / Joh: 18), doch in keiner anderen neutestamentlichen Erzählung sind diese so häufig (Lk: 30) und von einer solch hohen kommunikativen Relevanz (vgl. Merz 2007, 513).

Während Matthäus längere Gleichnisse und einzelne Gleichnisworte zu größeren Redeblöcken zusammenfasst, um Jesus als Lehrer und neuen Mose erscheinen zu lassen,1 und die Gleichnisse bei Markus und Johannes primär dazu dienen, die Verstockung und das Unverständnis der Menschen hervorzuheben (Mk 4,11f.; Joh 8,47 u.a., ordnet Lukas die Gleichnisse konkreten Konfliktsituationen zu. Ihre Funktion ist hier vor allem eine apologetische. So sollen gerade die Sondergut-Gleichnisse, also jene Gleichnisse, die ausschließlich Lukas überliefert, Jesu Verhalten und seine Überzeugungen vor den Menschen rechtfertigen. Sie legitimieren seine Tischgemeinschaft mit Sündern und Zöllnern (Lk 7,41-42a; 15,8-10.11-32; 18,9-14). Und sie kritisieren sein einseitiges Vertrauen auf das menschliche ‚Vermögen‘2 (14,28-32; 16,19-31; 17,7-10) oder auf etablierte Rangordnungen (14,7-11). Umgekehrt loben sie das Vertrauen auf Gott und seine Stärke (11,5-11; 18,1-14). Die enge Korrespondenz zwischen den zentralen Themen des Evangeliums und den thematischen Schwerpunkten der Gleichnisse gibt Anlass, von einer bewussten Auswahl des Erzählstoffs zu sprechen.

Auch die Anordnung und Platzierung der Gleichnisse lässt einen hohen Reflexionsgrad erkennen. Um das zentrale Gleichniskapitel in Lk 15, in dem Lukas die drei Gleichnisse vom Verlorenen gruppiert, stehen in chiastischer Anordnung vier Symposien bei zwei Zöllnern und zwei Pharisäern (5,29-32; 19,12-27; 7,36-50; 14,7-24) sowie zweimal zwei Gleichnisse zum Thema Gebet (11,5-8.9-11; 18,1-8.9-14). Auch an anderer Stelle werden Gleichnisse gebündelt, „die ein Thema in verschiedenen Erzählungen beleuchten und dadurch die Metaphorizität deutlicher signalisieren und Mehrdimensionalität produzieren“ (Merz 2007, 513f.).

Die Frage, welchen inhaltlichen und sprachlichen Einfluss Lukas auf die Gleichnistexte genommen hat bzw. in welchem Maß Inhalt und Wortlaut durch die Verkündigung des historischen Jesus vorgezeichnet waren, lässt sich aus heutiger Sicht kaum mehr mit einiger Präzision rekonstruieren. Die Exegese ist im Hinblick auf eine entsprechende Beurteilung zu Recht weitaus vorsichtiger geworden als in vergangenen Jahrzehnten (vgl. Finnern / Rüggemeier 2016, 69-71). Nichtsdestotrotz lassen die Mehrfachüberlieferung zahlreicher Gleichnisse und die dabei in Augenschein tretenden Differenzen zwischen den Evangelisten erkennen, dass die einzelnen Autoren die Gleichnisse keineswegs treuhänderisch übernommen haben, sondern diese vor dem Hintergrund ihres eigenen theologischen Interesses überformt und umgeschrieben haben. Dies ist auch für Lukas geltend zu machen, obwohl sich dieser in der Vorrede seines Werkes (1,1-4) als Historiker vorstellt und hierbei betont, dass er die Lebensereignisse Jesu auf der Grundlage älterer Quellen sorgfältig rekonstruiert habe. Man ginge jedoch fehl, wenn man darum in Lukas einen Geschichtsschreiber erkennen wollte. Das primäre Interesse des Lukas bleibt ein theologisches. Er will das Leben Jesu und seine Verkündigung nicht dokumentarisch festhalten, sondern die heilsgeschichtliche Relevanz dieser Ereignisse und der Lehre Jesu herausstellen. Es geht Lukas um eine geistliche Deutung von Geschichte, nicht um deren adäquate oder gar objektive Wiedergabe (vgl. Klein 2005, 185; Müller 2012a, 4-8). Dass Lukas nicht nur die Auswahl und Platzierung seiner Gleichnisse reflektiert hat, sondern zugleich für deren sprachliche und inhaltliche Überarbeitung verantwortlich zu machen ist (vgl. Klein 2005, 41-84), wird an mehreren Gemeinsamkeiten bzw. Auffälligkeiten der lukanischen Gleichnistexte deutlich. Dies soll im Folgenden anhand der fünf Merkmale 1) typischer Anfangsformeln, 2) einer bewussten Emphatielenkung, 3) der Dramatisierung durch Kontrastierung, 4) der räumlichen Verortung im städtischen Milieu sowie 5) einer Vorliebe für ungewöhnliche Helden kurz skizziert werden.

Anfangsformeln: Obwohl Lukas im Unterschied zu den anderen Evangelisten kaum festgeprägte Formeln verwendet, werden seine Gleichnisse zumeist durch zwei relativ konstante Wendungen eingeleitet. Innerhalb des exegetischen Diskurses unterscheidet man deshalb klassischerweise zwischen sogenannten anthrōpos-tis-Gleichnissen („Ein Mensch…“) und tis-ex-hymōn-Gleichnissen („Wer unter euch…?“).

Bewusste Empathielenkung: Bis in den neueren Diskurs hinein werden die inneren Monologe immer wieder als typisches Element lukanischer Sondergutparabeln benannt (vgl. Heininger 1991, 32-83). Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht der Monolog des verlorenen Sohnes (Lk 15,17-19), der – am existenziellen3 Tiefpunkt seines Lebens angelangt – seine Rückkehr zum Vater und die (vermeintlich) notwendige Entschuldigung vorformuliert:

Da ging er in sich und sprach [zu sich selbst]: „Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot. Ich aber komme hier um vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich als dein Sohn gelte. Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ [meine Übersetzung, J.R.]

Allerdings weisen keineswegs alle lukanischen Sondergutgleichnisse solche inneren Monologe auf. Allen Texten gemeinsam ist jedoch, dass sie durch eine Vielzahl erzählerischer Mittel eine bewusste Empathielenkung vornehmen und im Rezeptionsprozess eine starke Identifikation mit dem jeweiligen Protagonisten ermöglichen.4 Dort, wo wir keinen inneren Monolog vorfinden, treffen wir deshalb nicht selten auf ausführliche Dialoge, die in ganz ähnlicher Weise die Gemütslage und den inneren Abwägungsprozess der Hauptfigur zu erkennen geben (vgl. 15,29-32; 16,24-32). Außerdem sind die Erzählungen häufig auf den Protagonisten fokalisiert (‚Perspektive auf die Figur‘) und dieser fungiert zugleich als vorrangiges Wahrnehmungszentrum bzw. Fokalisator (‚Perspektive durch die Figur‘). Im Vergleich zu anderen neutestamentlichen Charakteren zeichnen sich die Hauptfiguren der lukanischen Gleichnisse durch eine größere Komplexität und Offenheit aus. Die Figurenkommentare der Rahmenerzählung und die große Bedeutung, die den Figuren beim Handlungsfortschritt zukommt, lassen ohnehin die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf diesen ruhen. Durch ebensolche erzählerischen Mittel wirken die Figuren aus Sicht des Rezipienten interessant und laden zur Identifikation ein. Wie die Rahmenerzählung des großen Gleichniskapitels (Lk 15,1f.) oder auch die Rahmenerzählung in Lk 10,25-29.36f. erkennen lassen, antworten die Parabeln zugleich auf existentielle Fragen, die sich den Rezipienten auf analoge Weise in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit stellen (vgl. Plümacher 2006, 6f.). So kommt der Frage nach einer bedingungslosen Annahme der Sünder und Zöllner oder der Definition des Nächsten in einer hellenistisch geprägten und zugleich ethnisch gemischten Gemeinde zweifellos eine wichtige Funktion zu.

Dramatisierung durch Kontrastierung: Seit Sellin (1974/75) wird das ‚dramatische Dreieck‘ als weiteres Charakteristikum der lukanischen Gleichnisse angesehen. Demnach entfaltet sich in den lukanischen Gleichnissen jeweils ein Konflikt zwischen zwei Kontrastfiguren, die Handlungsalternativen verkörpern und zugleich auf eine Autoritätsperson bezogen bleiben (z.B. Vater, zwei Söhne). Tatsächlich lässt sich behaupten, dass Lukas eine gewisse Vorliebe für Dreieckskonstellationen und vor allem für Kontrastpaare hat: Wir stoßen im Verlauf des Evangeliums auf zwei Schuldner und einen Gläubiger (Lk 7,41-42), zwei Arten von Gästen und ihren Gastgeber (14,7-11.12-14.16-24), zwei Söhne und ihren Vater (15,11-32), einen Reichen und einen Armen bei Abraham (16,19-31), einen Knecht mit zwei unterschiedlichen Herren (17,7-10) und einen frommen Pharisäer und einen unfrommen Zöllner vor Gott (18,9-14). Allerdings darf man dieses Schema der Figurendarstellung nicht zu statisch anwenden (vgl. Theißen / Merz 2001, 298-300). Es lassen sich über den Erzählverlauf durchaus Dynamiken innerhalb der Figurenkonstellation erkennen und weitere Figuren können auftreten. Wichtig ist bei der Analyse zugleich, dass nach einem kognitiven Figurenverständnis nicht nur explizit genannte Figuren berücksichtigt werden, sondern auch solche, die vom Rezipienten aufgrund des Erzählten zwangsläufig vorauszusetzen sind (z.B. Gott in Lk 18,9-14). Außerdem fügt der Rezipient Figuren mit ähnlichen Merkmalen (z.B. Priester und Levit in Lk 10,25-37) zu Figurengruppen zusammen.

Städtisches Milieu und räumliche Verortung: Im Unterschied zu den anderen Evangelisten fällt bei Lukas auf, dass er seinen Erzählstoff an das städtische Milieu, das ihm und seinen Empfängern vor Augen steht, anpasst und entsprechend verortet: „Luke’s own world is the town“ (Goulder 1968, 53). So fügt Lukas gelegentlich die Vokabel polis (Stadt) in seine Quellen ein oder verlegt gleich die gesamte Handlung in einen städtischen Kontext (vgl. Lk 14,21 diff. Mt 22,10). Viermal werden Jesu Gleichnisse im Rahmen eines Symposions situiert (5,29; 7,36f.; 14,1; 19,5f.), wodurch bei den intendierten Rezipienten eine Form der städtischen Zusammenkunft wachgerufen wird. Vielfach interpretiert der dritte Evangelist seine Vorlage in einer Weise, die ihm als Städter angemessen erscheint. In Lk 6,47-49 beispielsweise wird das Gleichnis vom Hausbau verwendet, im Unterschied zur Parallelüberlieferung in Mt 7,24-27 verändert sich dabei jedoch die Bauweise und die Beschreibung des Unwetters. Während bei Matthäus das Haus jeweils nur auf unterschiedlichem Untergrund (Fels / Sand) gebaut wird, schildert Lukas die – aus einem städtischen Kontext bekannte – Grundlegung des Hauses. So ist bei ihm die Rede von einem Mann, „der ein Haus baute und grub tief und legte den Grund auf Fels.“ Und während Matthäus das Bedrohungsszenarium eines Wolkenbruchs vor Augen stellt, steigert Lukas die Bedrohung dadurch, dass er von einem aufkommenden Hochwasser spricht. Offensichtlich hielt er es auch hier für notwendig, das Bild an die Erwartungen und Ängste seines städtischen Rezipientenkreises anzupassen.

Ungewöhnliche Helden: Letztlich hat Lukas eine ausgeprägte Vorliebe für ungewöhnliche Helden: Der barmherzige Samariter (Lk 10,33-35), der Patriarch, der seinem Sohn entgegen antiker Konventionen entgegenläuft (15,20), die arme Frau, die ihren verlorenen Denar wiederfindet (15,9), der unmoralisch agierende Verwalter (16,1-8), die wehrhafte Witwe, die dem übermächtigen Richter Paroli bietet (18,1-8) oder der Zöllner im Tempel (18,9-14) – sie alle ziehen aufgrund ihres Verhaltens oder ihrer Identität die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich und wirken ungewöhnlich. Und diese Figuren der lukanischen Gleichniswelt finden ihre Entsprechung in den sozialen und religiösen Outsidern, denen sich der lukanische Jesus zuwendet. Es lässt sich eine Korrespondenz zwischen der positiven Beurteilung der ungewöhnlichen Gleichnishelden und Jesu bedingungsloser Annahme der Sünder erkennen. Die alttestamentliche Verheißung für Arme, Gefangene und Zerschlagene aus Jes 61,1 wird vom ‚Evangelisten der Armen‘ (vgl. Degenhardt 1964) programmatisch mit der Evangeliumsverkündigung Jesu identifiziert und zum zentralen Inhalt seiner Lehre und seines Wirkens erklärt (vgl. 4,14-30). Wie wir am Beispiel von Lk 10,25-37 sehen werden, besteht ein wesentliches Erzählinteresse darin, existierende Stereotypen, die der Ausgrenzung einzelner oder ganzer Bevölkerungsgruppen dienen, zu hinterfragen und die Rezipienten von der unerwarteten Vorbildlichkeit des Fremden und der bedingungslosen Annahme Gottes zu überzeugen. Es geht Lukas nicht allein darum, Gutes zu tun, in diesem Fall die Nächstenliebe, sondern zugleich um eine Ausweitung des Begriffs vom Nächsten und der Solidarität.

3. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

3.1 Die frühjüdische Samariterfeindschaft als textexternes Schema und Verstehensvoraussetzung von Lk 10,30-35

Die Parabel vom barmherzigen Samariter steht innerhalb des so genannten „lukanischen Reiseberichts“ (9,51-19,28), der mit Jesu Ablehnung in einem Dorf der Samariter einsetzt (9,51-56). Die hier bereits verhandelte Feindschaft zwischen Samaritern und Juden wird wenig später durch die Gleichniserzählung in 10,30-35 wiederaufgenommen und vertieft. Beide Textstellen sind zugleich durch die Vorstellung des Reisens, das Motiv des Beherbergens und die Erwähnung Jerusalems miteinander verknüpft, wenngleich die Reiserichtung entgegengesetzt verläuft (nach Jerusalem hin / von Jerusalem weg). Die tiefe gegenseitige Abneigung zwischen Juden und Samaritern kommt in 9,53 dadurch zum Ausdruck, dass Jesus und seinen Jüngern allein deshalb die Gastfreundschaft versagt wird, weil sie sich zum Passafest auf den Weg nach Jerusalem machen. Die hier von Lukas implizit vorausgesetzte Feindschaft zwischen Juden und Samaritern war in der Antike offensichtlich über die Grenzen Palästinas hinaus bekannt.5 Sie findet auch in außerbiblischen Quellen Erwähnung. Der in Rom lebende jüdische Historiker Flavius Josephus berichtet etwa von einem Ereignis, bei dem – seiner Ansicht nach – eine Gruppe von Galiläern nahe eines samaritanischen Dorfes grausam niedergemetzelt worden sei. Und da die Samariter angeblich die römische Obrigkeit bestochen hätten, um straffrei auszugehen, hätten sich die Juden daraufhin selbst rächen müssen (vgl. Jos. Ant. 20,6). Auch sonst ist Josephus keineswegs bemüht, ein ausgewogenes Bild der Samariter zu zeichnen, sondern unterstellt ihnen bei anderer Gelegenheit fehlende Bündnistreue (vgl. Jos. Ant. 11,34). Ähnliche Vorurteile gegenüber Samaritern finden sich schon im Alten Testament. Hier wird beispielsweise behauptet, die Samariter hätten in ihrem Tempel auf dem Garizim nicht nur dem einen Gott Israels, sondern zugleich anderen Göttern geopfert (vgl. 2Kön 7,13f.; Esr 4,3). Ein Vorwurf, der zumindest aus heutiger archäologischer Perspektive hinterfragt werden muss. Belege für einen ausgeprägten Polytheismus lassen sich nicht finden. Des Weiteren werden die Samariter bezichtigt, sie hätten sich in früheren Zeiten kriegerisch gegen den Bau des Jerusalemer Tempels gewehrt und zu diesem Zweck mit den Heidenvölkern verbündet (vgl. Neh 4,12). Nicht zuletzt deshalb können die Samariter im Neuen Testament, bei Josephus und im rabbinischen Schrifttum mit den Heiden gleichgesetzt werden (vgl. Mt 10,5f.; Jos. Ant. 9,278f.; 287-291; Jos. Ant. 11,297-347 [vgl. hierzu Hensel 2014, 483-486]; mGit 1,5).6 Und in der zwischentestamentarischen Zeit wird mit besonders großer Vorliebe die Erzählung von der Vergewaltigung Dinas (vgl. Gen 34) aufgegriffen und adaptiert, um vor Mischehen mit Samaritern zu warnen und sich polemisch von dieser Bevölkerungsgruppe abzugrenzen (vgl. Jub 30; TestLev 5-7; Jdt 9; vgl. ausführlich Pummer 1982, 224-242).7 Wenn Lukas in mehreren Episoden auf solche stereotypen Feindbilder anspielt, ohne diese ausführlich erläutern zu müssen, so ist zu vermuten, dass diese auch seinen Rezipienten bekannt waren und als festgeprägtes textexternes Schema anzusehen sind.

Außerhalb Palästinas kam es spätestens seit dem 1. Jh. v. Chr. zu Auseinandersetzungen zwischen Juden und Samaritern (vgl. Jos. Ant. 13,74-49). Für eine überregionale Bekanntheit des Konflikts spricht auch der neutestamentliche Befund, denn die Feindschaft wird nicht nur durch Lukas bezeugt, sondern auch durch die johanneische Tradition (vgl. Joh 4,9; 8,48). Zugleich muss jedoch betont werden, dass die hellenistisch geprägte Leserschaft8 des Lukas den Konflikt zwischen Juden und Samaritern lediglich von außen betrachtete, ohne die kolportierten Feindbilder zu teilen. In den lukanischen und johanneischen Erzählungen stoßen wir auf ein weitaus positiveres Samariterbild. In Apg 8,4-25 wird auf idealtypische Weise beschrieben, wie der neue Christusglaube in Samarien – und damit erstmals in nichtjüdischen Gebieten – Anhänger findet, was den schrittweisen Übergang zur Heidenmission einleitet und markiert (Eisen 2006, 165).9 In der Johannesforschung wurde mitunter sogar diskutiert, ob der Autor des vierten Evangeliums samaritanischer Herkunft sei oder sich zumindest dezidiert an Samariter wende. So weit wird man freilich gar nicht gehen müssen, um die deutliche Diskrepanz zwischen den innerjüdischen Ressentiments und dem Samariterbild der genannten neutestamentlichen Texttraditionen wahrzunehmen. Lk 9,51-56 spiegelt schon den Wandel in der Beurteilung der Samariter wider. Während die Jünger die in Samaria erfahrene Ablehnung damit quittieren, dass sie den dortigen Bewohnern Gottes Feuergericht wünschen (vgl. VitProph 21,10; 2Kön 1,10.12) und dessen Vollstreckung von Jesus einfordern, erbost sich ihr Herr über eine solch unversöhnliche Reaktion und weist die Forderung seiner Anhänger in aller Deutlichkeit zurück.10 Jesu Sendung zu den Sündern und Verlorenen (5,32; 19,10) schließt offensichtlich die Samariter mit ein. Entsprechend ist es in Lk 10,30-35 und 17,11-19 zweimal ein Samariter, d.h. ein „Fremder“ (17,18), der sich in den Augen Jesu vorbildlich verhält. Bei der Interpretation von Lk 10,30-35 gilt es darum, beides im Blick zu behalten: Die Bekanntheit des ethnischen Konflikts zwischen Juden und Samaritern und zugleich das Nichtinvolviertsein der hellenistisch geprägten Leser in diesen Konflikt (vgl. Böhm 1999, 309).

3.2 Lk 10,25-37: Übersetzung, Analyse und Erklärung

25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, stellte ihn [Jesus] auf die Probe und sprach: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“
26 Er aber sprach zu ihm: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“
27 Er antwortete und sprach: „Liebe den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzer Seele, mit allen deinen Kräften und mit deinem ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
28 Er aber sprach zu ihm: „Recht hast Du geantwortet. Tu dies, so wirst du leben.“
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: „Aber wer ist denn mein Nächster?“
30 Da antwortete Jesus und erzählte [eine Geschichte]: „Irgendein Mensch ging hinab von Jerusalem nach Jericho und fiel unter die Räuber. Diese [die Räuber] zogen ihm die Kleider aus, schlugen ihn, gingen weg und ließen ihn liegen halb tot.
31 Zufällig ging aber auch ein Priester jenen Weg hinab und als er ihn sah, ging er vorüber.
32 Ebenso kam auch ein Levit, der zu der Stelle gelangte und als er ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm und als er [ihn] sah, wurde er innerlich berührt.
34 Und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine [gewerbliche] Herberge und pflegte ihn.
35 Und am nächsten Morgen zog er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sprach: „Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“
36 „Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem der Nächste geworden, der unter die Räuber gefallen war?“
37 Er [der Gelehrte] sprach: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Da sprach Jesus zu ihm: „Geh hin und tue Du das gleiche!“

Der engere Kontext ordnet das Gleichnis vom barmherzigen Samariter dem Lehrgespräch zwischen einem jüdischen Gesetzeslehrer und Jesus zu (10,25-30a.36f.). Zu Beginn dieses Dialogs wird durch einen Erzählerkommentar explizit betont, dass der Gelehrte Jesus durch seine Anfangsfrage ‚auf die Probe stellen‘ wolle (V. 25: ekpeirazōn).11 Die im Folgenden als wörtliche Rede wiedergegebene Frage des Gesprächspartners stimmt bis in den Wortlaut hinein mit der Frage des reichen Jünglings in Mk 10,17 überein. Der weitere Dialog, insbesondere die Zitation der alttestamentlichen Liebesgebote, ähnelt dann jedoch dem in Mk 12,28-34 überlieferten Lehrgespräch zwischen Jesus und einem Jerusalemer Schriftgelehrten. Welche überlieferungsgeschichtliche Abhängigkeit es zwischen dem Lukastext und diesen beiden Markusepisoden gibt, ist in der Forschung umstritten und muss hier nicht ausführlich erörtert werden (vgl. hierzu etwa Wolter 2008, 391f.).

Auch ohne einen solch detaillierten Vergleich lässt sich das spezifische Erzählinteresse des Lukas erkennen. Während sich das markinische Gespräch zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten auf das Gebot der Gottesliebe konzentriert und beide Gesprächspartner letztlich in der Frage der Alleinverehrung Gottes ein Einvernehmen erzielen können, wird die Aufmerksamkeit in der lukanischen Erzählung auf das Gebot der Nächstenliebe und die Frage nach dem Nächsten gelenkt. Im Unterschied zu Mk 12 ist es nicht Jesus, der das Doppelgebot der Liebe zum höchsten Gebot erklärt, sondern der jüdische Gesetzeslehrer, der hierin den Weg zum ewigen Leben erkennt.12 Zudem konzentriert sich der Dialog bei Lukas auf das Tun und damit die konkrete Umsetzung des Gesetzes.13 So stimmt Jesus dem Gesetzesgelehrten in seiner Hochschätzung des Doppelgebotes durchaus zu, fordert ihn im Fortgang des Gesprächs aber auf, dieses auch zu halten. Durch diese Forderung kippt das Machtverhältnis zwischen beiden Gesprächspartnern. Nachdem der Gelehrte anfänglich prüfen will, inwieweit Jesu Lehre mit der Tora übereinstimmt, wird er von Jesus nun darauf hingewiesen, dass es nicht reicht, die Gesetze bloß zu kennen. Es gilt, sie auch aktiv zu befolgen. Aufgrund dieser Forderung sieht sich der Gelehrte seinerseits unter einem Rechtfertigungsdruck. Seine Anfangsfrage hat sich im Dialog als Scheinfrage erwiesen (mit Wolter 2008, 394). Ausweichend bittet er Jesus nun, den Begriff des Nächsten genauer zu definieren („Aber wer ist mein Nächster?“) und provoziert damit die nachfolgende Beispielerzählung Jesu.

Der Leser des dritten Evangeliums, der aufgrund des bisherigen Erzählverlaufs weiß, dass Jesus durch seine Tischgemeinschaft selbst erwiesene Sünder voraussetzungslos und ohne erkennbare Reue und Besserung annimmt, muss an dieser Stelle mit einer deutlichen Umdeutung des innerjüdischen Begriffsverständnisses rechnen. Während der Nächste im Frühjudentum zuerst der Volks- und Bundesgenosse bzw. jüdische Nachbar war (Lev 19.18f.; Ex 11,1f.; vgl. Mathys 1986, 29ff.; Böhm 1999, 243; für eine konträre Interpretation siehe Wolter 2008, 394), stellt Jesu Gleichnis tatsächlich eine provokative Ausweitung dar. Bereits beim Auftakt der Parabel wird gänzlich unspezifisch von „irgendeinem Menschen“ (Vers 30) gesprochen, der auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fällt. Indem die Räuber ihm sein Hab und Gut sowie seine Kleidung nehmen, wird er sinnbildlich jeder kulturellen und sozialen Identität beraubt (vgl. Sir 6,20-31; 19,30; Lk 15,22; 16,19f.; Apg 12,21).14 Angesichts der konkret erfahrenen Not und des spezifischen Einzelschicksals tritt die Frage nach der Ethnie und Herkunft in den Hintergrund.

Mit dem Priester und Leviten, die in der zweiten Szene des Gleichnisses auftreten, werden zwei Figuren präsentiert, mit denen sich der Schriftgelehrte identifizieren muss. Wie er gehören beide der religiösen Elite des Landes an. Zweimal wird kurz vermerkt, dass sie den daliegenden Mann gesehen hätten, aber ohne Hilfe zu leisten, auf die andere Seite des Weges hinübergewechselt und weitergezogen seien. Dieses schockierende, weil mitleidslose, Verhalten wird vom Erzähler nicht begründet, was von jeher Interpretationsspielräume eröffnet hat.15 In der protestantischen Exegese wollte man in dieser Kurzcharakterisierung nicht selten eine implizite Kritik am alttestamentlichen Reinheitsgesetz erkennen (dazu kritisch Leutzsch 2003, 77-95). Priester und Levit, so die These, hätten dem Verwundeten nicht geholfen, weil ihnen dies gemäß der Tora bzw. ihres Toraverständnisses gar nicht gestattet gewesen sei. Sie hätten sich durch die Berührung eines Halbtoten bzw. möglicherweise bereits Verstorbenen verunreinigt. Ihren Dienst im Tempel hätten sie danach nicht mehr antreten dürfen (vgl. v.a. Lev 21,1-3).16 Allerdings heißt es in Vers 31 explizit, dass der Priester des „gleichen Weges hinabzog“, sich also wie der Überfallene auf dem Weg von Jerusalem in Richtung Jericho und damit bergab in Richtung Jordansenke befand. Auf ihrem Heimweg hätten die religiösen Autoritäten aber keineswegs die eigene Reinheit über die gebotene Hilfe stellen müssen (ähnlich bereits Bovon 1996, 89; Ostmeyer 2008, 133). Ohnehin stellt die Behauptung eines derart kasuistischen Gesetzesverständnisses ein Zerrbild des zeitgenössischen Judentums dar. Bereits textintern wird durch den vorangehenden Dialog verdeutlicht, dass der Schriftgelehrte vom einzelnen Gebot zu abstrahieren weiß und das Doppelgebot der Liebe zum Kern des gesamten Gesetzes erklärt (10,27 diff. Mk 12,29f.).

Eine solche Tendenz zur Systematisierung, Hierarchisierung und Abstraktion einzelner Gebote ist auch sonst innerhalb des Frühjudentums anzutreffen (vgl. z.B. Phil. spec. 2,63).17 In ähnlicher Weise verrät die abschließende Antwort des Schriftgelehrten (Lk 10,37), dass dieser das Verhalten des Samariters positiv beurteilt. Er erkennt die Tat des Samariters als Barmherzigkeit an und bringt damit zum Ausdruck, dass er der von Jesus implizit gesetzten Norm („in der Not ist jedem Menschen Hilfe zu leisten“) zustimmt.18 Zugleich lässt Jesu Formulierung, dass der Samariter geholfen habe, weil ihn der Anblick des Verletzten „innerlich berührt“ habe, erkennen, dass es hier nicht um eine Heroisierung des Samariters geht. Nicht die vorbildliche Tat oder gar die eigene Entschlusskraft des Samariters rücken durch die Erzählung in den Fokus. Die gewährte Innensicht in den Protagonisten lässt vielmehr erkennen, dass dessen Tat v.a. emotional motiviert ist (V. 33: „als er (ihn) sah, wurde er innerlich berührt“). Seine Hilfe wird als eine empathische Reaktion, nicht als voluntativer Akt beschrieben. Der Samariter handelt aus Betroffenheit und tut so lediglich das, was angesichts der beschriebenen Notlage selbstverständlich ist und darum auch von beiden vorausgehenden Figuren zu erwarten gewesen wäre.

Nicht das positive Verhalten des Samariters soll beim Schriftgelehrten ein Erstaunen auslösen, sondern die Identität des Helfers. Ausgerechnet der unter Juden verhasste Samariter ist es, der sich in der Situation angemessen verhält und Mitleid empfindet. Während sich Priester und Levit aufgrund ihres klerikalen Standes besonders als Helfer empfohlen hätten, ist das Auftreten des Samariters – aus Sicht des Gelehrten – erstaunlich.19 Gemäß einer gängigen Reihung (vgl. Gourgues 1998, 710f.) hätte der Gelehrte als intradiegetischer Erzähladressat wohl mit dem Auftreten eines einfachen Israeliten rechnen können, aber gewiss nicht mit dem Auftreten dieses ungewöhnlichen Helden. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten innerjüdischen Ressentiments stellt dessen Auftritt eine starke Irritation dar. Der Samariter des lukanischen Gleichnisses ist nicht, wie von Josephus und anderen kolportiert wurde, geldgierig, sondern er erweist sich durch sein Handeln im Gegenteil als großzügig. Über die unmittelbare Ersthilfe hinaus betreut er den Verletzten über Nacht und kommt auch noch für die weitere Pflege des Verwundeten auf. Und während die Pilger auf ihrem Weg von oder nach Jerusalem Angst vor samaritanischen Übergriffen hatten und dies durch entsprechende Berichte geschürt wurde, wird der lukanische Samariter umgekehrt als vorbildlicher Helfer in der Not vorgestellt. Seine hingebungsvolle Hilfe, die der Erzähler bis ins Detail beschreibt, dürfte mitursächlich dafür sein, dass die spätere Rezeptionsgeschichte zu einer allegorischen Auslegung tendierte und die Person des Samariters mit der Person Jesu Christi identifizierte (vgl. etwa Clemens von Alexandrien, Quis dives salvatur 29, vgl. auch Bovon 1996, 93-98). Aus der kommunikativen Einbettung des Gleichnisses und dem textextern vorgegebenen Samariterbild leitet sich hingegen die ursprüngliche Intention des Gleichnisses ab. Durch Jesu Parabel soll ein stereotypes Feindbild aufgelöst werden. Der Schriftgelehrte soll aufgrund des Erzählten anerkennen, dass es gerade der Fremde ist, von dem er wahre Nächstenliebe lernen kann, insofern sich dieser vom Leid des Überfallenen emotional ansprechen lässt und hilft. Der Samariter wird dem Gesetzesgelehrten durch seine Rolle in der Geschichte als unerwarteter Helfer sympathisch.

Damit durchbricht die Erzählung die starre Definition des Nächsten als Bundesgenossen, ohne dies explizit im anschließenden Dialog thematisieren zu müssen. Dass die Gleichnisgeschichte nicht nur die konkrete Tat der Nächstenliebe, sondern zugleich die Aufhebung existierender Stereotypen in den Fokus rückt, wird auch durch die kurze – und für den Abschluss des Sujets verzichtbare – Wirtshausszene am Ende unterstrichen. So hält der Schluss aus Sicht des Schriftgelehrten eine zweite Zumutung bereit (mit Zimmermann / Zimmermann 2003, 44-57). Nach Jesu Darstellung sorgt der Samariter dafür, dass der Verwundete ausgerechnet in einer gewerblichen Herberge (V. 34b: pandocheion; V. 35: pandocheus) aufgenommen wird. Damit erhält die weitere Pflege einen primär geschäftlichen Charakter.

Wenn bereits die Vorbildhaftigkeit des Samariters für jüdische Ohren eine Zumutung darstellte, so muss die Übertragung der Pflege an den Wirt gänzlich als Provokation gelten. Ausgerechnet der gewerblich arbeitende Wirt, wahrscheinlich sogar ein Nichtjude, wird in die vorbildliche Erfüllung des Toragebots der Nächstenliebe einbezogen. (Zimmermann 2007, 552)

Aufgrund der doppelten Infragestellung existierender Stereotypen ginge man fehl, wenn man die Gleichniserzählung allein auf den abschließenden Imperativ (V. 37: „Tue desgleichen“) reduzieren und damit losgelöst von der vorherigen Figurenkonstellation auf ein abstraktes universales Hilfsethos reduzieren wollte. Gewiss wird aufgrund der anfänglichen Charakterisierung des Opfers vorausgesetzt, dass die Nächstenliebe nicht nur Israeliten, sondern alle Notleidenden einschließt. Aber das Gleichnis stellt uns als Beispielerzählung, die in einen spezifischen Kommunikationskontext eingebettet wurde, zugleich vor Augen, dass Hilfe keineswegs neutral erfolgt, sondern oftmals die Überwindung ethnisch-religiöser, kultureller und sozialer Grenzen bedeutet. Die doppelte Zumutung, die der jüdische Gelehrte in der erzählerischen Konfrontation mit dem Samariter und dem Wirt erfährt, lässt erkennen, dass Lukas das kommunikative Spiel zwischen Rahmenerzählung und Parabel offensichtlich bestens reflektiert und vermutlich selber ausgestaltet hat. Gerade das doppelgipflige Ende dürfte auf ihn zurückzuführen sein (vgl. Lk 15,25-32). Es ist für das Erzählte also keineswegs unerheblich, wem Jesus als intradiegetischer Erzähler sein Gleichnis vorträgt, sondern Rahmenerzählung und Parabel sind bewusst aufeinander abgestimmt.

In einem zweiten Schritt drängt sich angesichts dieses Reflexionsgrades die Frage auf, welche Funktion die Erzählung in der Kommunikation zwischen Lukas und seinen Adressaten übernehmen soll. Sicherlich können die Rezipienten aufgrund ihres textexternen Wissens die Provokationen der Erzählung erkennen. Sie würden dadurch jedoch höchstens auf eine sehr indirekte Weise angeregt, ihr eigenes Handeln und ihren persönlichen Umgang mit dem Nächsten zu bedenken. Von einer intendierten Wirkung, etwa in der Hinsicht, dass auch der Rezipient seine Feindbilder hinterfragen und seine Hilfsbereitschaft auf bestimmte Personengruppen ausweiten solle, lässt sich dann hingegen kaum sprechen.

An dieser Stelle lohnt es sich, beide Erzählebenen miteinander zu vergleichen und auf die Parallelitäten zwischen der Charakterisierung des Gesetzesgelehrten und der des Samariters zu achten. Beide Figuren werden im Erzählverlauf als Kontrastfiguren eingeführt. Der Gelehrte steht in deutlichem Kontrast zur vorher genannten Gruppe der Jünger (10,23f.), deren Erkenntnis von Jesus gelobt wird. Der Samariter tritt hingegen als Kontrastfigur zu den beiden Geistlichen in Erscheinung. Zugleich ist dem Samariter aus Jesu Gleichnis und dem Schriftgelehrten der Rahmenerzählung gemeinsam, dass sie aus Sicht der jeweiligen Rezipienten als Vorbild ausscheiden. Entsprechend wird der Schriftgelehrte anfänglich durch explizite Erzählerkommentare negativ charakterisiert, und der Rezipient eher in seinem bisherigen Leseeindruck (5,21; 5,30; 6,2; 7,29-35; 7,49) bestätigt. Ausdrücklich hebt der Erzähler hervor, dass die jüdische Autoritätsfigur Jesus auf die Probe stellen wolle und seine Frage nach dem Verständnis des Nächsten der eigenen Rechtfertigung diene (vgl. zur negativen Konnotation: 16,15; 18,9-14). Im Verlauf der Gleichniserzählung vollzieht sich jedoch ein deutlicher Wandel. Der Gelehrte erfährt am Ende eine positive Beurteilung:

[E]r lässt sich auf eine Beziehung mit Jesus ein (V[ers] 37a), nachdem er zuerst polemisch (V[ers] 25), dann reserviert (V[ers] 29) war. Seine verbale Antwort enthält das Wagnis, sie in die Praxis umzusetzen (V[ers] 37b). (Bovon 1996, 92)

Obwohl die Episode mit einem offenen Ende schließt und nicht berichtet wird, ob der Gelehrte Jesu Rat tatsächlich befolgt habe,20 erweist sich die jüdische Autoritätsperson innerhalb des abschließenden Dialogs als verständig. Indem er vom Samariter sagen kann, dass dieser dem Verwundeten in seiner Barmherzigkeit zum Nächsten geworden sei, demonstriert er, dass er Jesu Begriffsdefinition verstanden hat und anerkennt. Jesus und er bejahen dieselbe Norm, nämlich, dass einem jedem Menschen in der beschriebenen Notsituation Hilfe zu leisten ist. Die Sympathie des Schriftgelehrten gilt damit zweifelsfrei dem barmherzigen Samariter,21 d.h. er hat sich von Jesu Erzählung überzeugen lassen und erkennt den Fremden als Vorbild an.

Damit besteht aber eine Korrespondenz zwischen der sich wandelnden Beurteilung des Samariters (Erzählebene 2: Fremder / Nächster) und dem offensichtlich intendierten Beurteilungswandel des Schriftgelehrten (Erzählebene 1: Gegner / Sympathisant). Dem christlichen Leser (E1) wird ebenso wie dem Schriftgelehrten (E2) eine Irritation zugemutet. Auch das von ihm zu erwartende anfängliche Figurenschema wird in Frage gestellt. Die Erzählung in Lk 10,25-37 trägt auf zwei Erzählebenen zu einem differenzierten Bild des Anderen bzw. Fremden bei.

4. Der Gesetzesgelehrte und das differenzierte Judenbild im lukanischen Doppelwerk

Jetzt aber ist das Urteil über das ganze unbussfertige Judentum endgültig. Alle Juden überall in der Welt haben das Evangelium gehört. Jetzt gilt es Rom und dem Westen, und damit ist das Schicksal des ganzen Weltjudentums besiegelt. (Jervell 1998, 628)

Mit diesen Worten fasst Jacob Jervell jenes Urteil über das lukanische Judenbild zusammen, das für den wissenschaftlichen Diskurs des vergangenen Jahrhunderts charakteristisch war. So bestand bis in die achtziger Jahre hinein ein kaum hinterfragter Konsens darüber, dass das lukanische Doppelwerk seine Leser nicht nur geografisch von Jerusalem (Lk 1) nach Rom (Apg 28) leiten solle, sondern damit einhergehend die Verstockung und Verwerfung Israels vor Augen gestellt werden solle (vgl. u.a. Gnilka 1961, 130-154; Conzelmann 1964, 135-138; Haenchen 1968, 338-374). Eine solch negative Charakterisierung der Juden stünde nun freilich in einem kaum verkennbaren Widerspruch zu dem bisher analysierten kommunikativen Spiel in Lk 10,25-37 und der durchaus positiven – wenngleich lediglich impliziten – Beurteilung des Gesetzeslehrers am Ende der Episode. Mithin ließen sich die Entwicklung des Gelehrten und die benannte Analogie zwischen beiden Erzählebenen kaum als bewusste Strategie bezeichnen. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten der einstige Konsens längst verflüchtigt und geradezu ins Gegenteil verkehrt. Seit Mitte der achtziger Jahre wird Lukas zunehmend ein judenfreundlicher Grundton attestiert (vgl. u.a. Juel 1983; Tannehill 1985). Auch diese Sichtweise scheint jedoch kaum der differenzierten und auf Anhieb gar widersprüchlich erscheinenden Figurendarstellung des lukanischen Doppelwerks gerecht zu werden. „Das Werk des Lukas bietet uns kein einheitliches Bild vom Judentum, sondern zwei diametral entgegengesetzte Seiten“ (Marguerat 1994, 246). Teils treffen negative Charakterisierungen unmittelbar auf positive Figurenporträts.

Diese innere Spannung lässt sich zunächst eindrücklich an der Gruppe der Pharisäer darstellen. Zum einen greift der Evangelist Jesu Weherufe über die Pharisäer und Gelehrten aus der älteren Tradition (11,37-52 par Mt 23,25-13)22 auf und verstärkt den beschriebenen Konflikt (12,1-3).23 Zum anderen rückt der lukanische Jesus primär die Lieblosigkeit in den Mittelpunkt seiner Kritik (11,42) und beklagt, dass sich die Pharisäer und Schriftgelehrten durch ihre väterlichen Überlieferungen, ihre Heuchelei, ihre Geltungssucht und die Überforderung anderer letztlich vor allem den Zugang zum Heil verschlössen (11,52). Jesus kritisiert die Pharisäer damit nicht qua Pharisäer. Vielmehr ist seiner Kritik – wie in Lk 5,32 und 15,1ff. – ein apologetisches und werbendes Moment zu eigen (vgl. auch 18,9-1424). Wenn die Gegner Jesu gerecht wären, wie sie behaupten,25 würden sie sich mit Gott über die Umkehr der Verlorenen und die Einbeziehung der Sünder freuen. „Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden“ (15,32). Aufgrund dieser Intention ist es auch keineswegs widersprüchlich, wenn Jesus im Lukasevangelium mehrfach im Haus eines Pharisäers zu Gast ist und wiederholt das Gespräch mit den Gelehrten sucht (7,36; 11,37; 14,1). Ihrerseits warnen die Pharisäer Jesus vor den Tötungsabsichten des Herodes (Lk 13,31).26 Im Vergleich zur literarischen Vorlage tritt demgegenüber ihre eigene Mordabsicht zurück (6,7; 20,20 diff. Mk 12,13). Von einer Unschuld der Pharisäer, des jüdischen Volkes oder gar der jüdischen Autoritäten kann man bei Lukas darum nicht sprechen. Die Verantwortung für Jesu Tod liegt nach Auffassung des Lukas eindeutig bei den römischen und jüdischen Autoritäten gleichermaßen (vgl. 23,12). Und auch dem Volk schreibt er eine Mitschuld am Tode Jesu zu (23,4f.; 13.18; vgl. Apg 4,27; 7,51-53). Genauso beschönigen die Märtyrerberichte in der Apostelgeschichte (Apg 3-5; 7; 8; 12; 13-26) keineswegs etwas an der Brutalität und Unbarmherzigkeit, mit der die Urgemeinde verfolgt wurde. Zugleich betont der dritte Evangelist aber Jesu uneingeschränkte und selbst im Angesicht seines Todes weiterhin gültige Vergebungsbereitschaft (23,34). Dieser Feindesliebe fühlen sich auch Jesu Nachfolger verpflichtet (Apg 7,60). Auch durch die sogenannte Kontrastformel, die Lukas als traditionell vorgeprägtes Bekenntnis auffällig oft einstreut (vgl. Apg 2,23; 3,14f.; 4,10; 5,30; 7,52 u.a.), findet Gottes heilvolles Eingreifen inmitten des menschlich verursachten Unheils Betonung.

Durch diesen Perspektivenwechsel soll keineswegs die Schuld der jüdischen Autoritäten und des Volkes relativiert werden. Vielmehr wird der endzeitlichen Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Israel vom Heilswirken Gottes eingeschlossen bleibt und einst erkennen wird, dass die Erlösung der Völker zugleich die Erlösung des ersterwählten Volkes bedeutet (Lk 2,29-32; vgl. Jes 42,6; 49,6). Als prototypisches Vorbild lässt sich vor diesem Hintergrund die Berufung des Paulus in der Apostelgeschichte bezeichnen, der sich vom leidenschaftlichen Verfolger der Gemeinde (Apg 7,58; 8,1.3; 9,1f.; 22,4f.; 19f.; 26,9-11) zum Heidenapostel wandelt. Dass hierbei explizit und implizit auf die Zugehörigkeit des Paulus zur Gruppe der Pharisäer hingewiesen wird (22,3; 23,6; 26,5), ist alles andere als zufällig. „Paulus wird von Lukas geradezu als Ideal dessen dargestellt, wie man sich entwickeln kann, wenn man Jude ist“ (Kurth 2000, 238). So wie Paulus vor Damaskus den auferstandenen Christus erkennt, so soll in der Gemeinde die Hoffnung bestehen bleiben, dass durch die Verkündigung des Evangeliums auch andere Volksgenossen zum Glauben gerufen werden (vgl. Apg 15,5).

Von einem eindeutigen Bruch mit Israel ist auch am Ende der Apostelgeschichte nicht zu reden. Selbst das abschließende Verstockungswort in 28,27 muss „als Form innerjüdischer Polemik und prophetischer Selbstkritik Israels“ (Lehnert 2005, 14, Hervorhebung im Original) verstanden werden (vgl. Jes 6,9.10). Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn Paulus ebenfalls am Ende explizit betont, dass er „um der Hoffnung Israels willen“ (28,20) in Gefangenschaft sei und seine Botschaft unter den römischen Juden gleichermaßen auf Zustimmung und Ablehnung stößt (28,24). Gegenstand des abschließenden Gerichtsworts sind – in deutlicher Analogie zur Kritik des lukanischen Jesus – primär die Lieblosigkeit und der Heilspartikularismus der jüdischen Gegner. So wie sich Jesus im Evangelium den Sündern und Zöllner zuwendet, weitet sich in der Zeit der Apostel die Heilsgemeinschaft über die Samariter27 zu den Heidenvölkern aus (Apg 1,8). Auch in dieser Missionszeit bewirkt die Botschaft des Evangeliums unter den jüdischen Volksgenossen und Autoritäten noch keine Mitfreude, sondern führt zu immer neuer Ablehnung und Feindschaft. Trotz allem hält Paulus aber unbeirrt am heilsgeschichtlichen Primat der Juden fest und bleibt mit seiner Missionstätigkeit ganz im Umfeld jüdischer Synagogen (vgl. Apg 9,20; 13,5.14; 14,1; 16,13; 17,1f.; 10.17; 28,17).

Es gehört zum Schicksal des Propheten – zum Schicksal Jesu wie zum Schicksal des Paulus –, von den Seinen verworfen zu werden. Doch es steht dem Propheten – weder Jesus noch Paulus – nicht zu, dieses Volk zu verwerfen. […] Gott hat sein Volk nicht verlassen und eben deshalb kämpft der Prophet darum, daß es sein Verhalten ändert. (Marguerat 2011, 222f.)

Hat man einmal dieses werbende und apologetische Moment in der Evangeliumsverkündigung Jesu und in der Missionstätigkeit des lukanischen Paulus erkannt, so lässt sich das in Lk 10,25-37 beschriebene kommunikative Spiel problemlos deuten und als bewusste erzählerische Strategie verstehen. In der Entwicklung, die der Schriftgelehrte in der Begegnung mit Jesus erlebt, artikuliert sich die Hoffnung des Lukas, dass sich seine jüdischen Volksgenossen von einem auf Abgrenzung bedachten Heilspartikularismus lösen und von den damit korrespondierenden Feindbildern distanzieren. Die überwiegend heidenchristliche Gemeinde, für die Lukas sein Doppelwerk (Lk 1,1; Apg 1,1) schreibt, muss einerseits nach wie vor von der Legitimität der Völkermission überzeugt werden, die durch Jesu Zuwendung zu Sündern und Zöllnern sowie die Samaritermission präjudiziert wird. Umgekehrt wird der heidenchristliche Rezipient ermahnt, sich aufgrund der erfahrenen Ablehnung, die unmittelbar aus der Missionstätigkeit resultiert, nicht in eigene Ressentiments und antijudaistische Feindbilder zu fliehen.

5. Strategisches Erzählen in Anlehnung an Lk 10,25-37

Wer die evangelische Stadtkirche St. Wenzel in Naumburg betritt, stößt auf eine zunächst eigenwillig erscheinende Darstellung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Es ist das Gemälde eines anonymen Künstlers aus dem 16. Jh. Abgebildet ist auf dem Kunstwerk eine helfende Gestalt, die – ganz in Analogie zur biblischen Erzählung – dem am Wegesrand liegenden und entkleideten Reisenden den Kopf stützt und dessen Wunden mit Öl und Wein versorgt. Dem äußeren Erscheinungsbild nach ist die Figur jedoch nicht als Samariter, sondern als zeitgenössischer Türke dargestellt. Offensichtlich hat der Künstler die gesellschaftliche Beunruhigung und die im Klima der Bedrohung kolportierten Feindbilder gegenüber Türken zum Anlass genommen, um Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter einer provokativen Aktualisierung zu unterziehen. Ähnlich wie der Evangelist Lukas setzt er den Betrachter ‚ins Bild‘, indem er die positive Alteritätserfahrung des Schriftgelehrten auf das gesellschaftliche Hier und Jetzt überträgt und ausdehnt. Hierbei wird nicht abstrakt und logisch argumentativ zur Feindesliebe bzw. Hinterfragung geltender Ressentiments aufgerufen, sondern durch eine bildliche Erzählung.

Das Naumburger Gemälde und das lukanische Gleichnis vom barmherzigen Samariter lassen den besonderen Wert einer narrativ vermittelten Ethik erkennen. Gleichniserzählungen entfalten keine ēthikē theōria („ethische Theorie“). Sie fußen nicht auf einem umfassenden System der Norm- und Handlungsbegründung. Trotzdem entfaltet das Gleichnis gerade im Akt des Erzählens oder auch im Zuge einer strategischen Fortschreibung eine ethische Überzeugungskraft. Aufgrund seiner Anschaulichkeit und seiner emotionalen Komponenten nötigt es den Leser zu einer Parteinahme, ohne einer imperativischen Ermahnung zu bedürfen oder auf eine ebensolche reduziert werden zu können. Vielleicht ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gerade deshalb in unserem kulturellen Bewusstsein stark verankert geblieben und selbst in der jüngeren Generation weithin bekannt (vgl. Theis 2005). Zugleich bleibt bei der Vermittlung des Gleichnisses zu beachten, dass dieses nicht allzu vorschnell auf abstrakte Gebote reduziert wird (mit Roose 2014, bes. 75). Angemessener erscheint es – dem Beispiel des lukanischen Strategiewechsels folgend – die Erzählung immer wieder neu zu aktualisieren und für heutige Alteritätsdiskurse zu öffnen.

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Jan Rüggemeier
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1 Gleichnisse und Gleichnisworte tauchen im ersten Evangelium v.a. a) in der Bergpredigt (Mt 5,13; 5,14; 5,15; 5,25f.; 6,22f.; 6,24; 6,26.28-30; 7,2; 7,3-5; 7,6; 7,7-11; 7,16-20; 7,24-27); b) in der Gleichnisrede (Mt 13,3-9.18-23; 13,31f.; 13,33; 13,44.45f.; 13,47-50; 13,52); c) in der Gemeinderede (Mt 18,3f.; 18,12-14; 18,23-25); und d) in der Pharisäer- und Endzeitrede (Mt 24,28; 24,32f.; 24,40f.; 24,43f.; 24,45-51; 25,1-13; 25,14-30; 25,32f.) auf. Vgl. daneben freilich Mt 20,1-16; 21,33-46; 22,1-14. Zur Parallelisierung zwischen Jesus und Mose vgl. Allison 1994.

2 Kein anderer Evangelist hat so ein großes Interesse an Armut und Reichtum wie Lukas. Dass es Lukas dabei jedoch nicht um eine einfache Wohlstandskritik geht, lässt sich der teilweise positiven Charakterisierung reicher Personen entnehmen (z.B. Lk 8,1-3; 19,1-10; vgl. auch Apg 16,14f.). Maßgeblich ist für Lukas, ob der Reichtum des Menschen einer Selbstbezogenheit Vorschub leistet oder ob sich der Umgang mit dem Reichtum am Wohl des Nächsten und der Gemeinschaft orientiert.

3 Die Beurteilung und Deutung dieses Schuldbekenntnisses fällt in der Forschungsdiskussion äußerst unterschiedlich aus (vgl. dazu Landmesser 2002, 249ff.). Ich verstehe die Rückkehr des Sohnes gerade nicht als Wende im Leben des Sohnes, sondern vielmehr als Höhepunkt der Verlorenheit und der Katastrophe. Der Sohn kehrt ja nicht um des Vaters willen heim, sondern um seiner Selbsterhaltung willen und hierfür instrumentalisiert er letztlich sogar Gott.

4 Innerhalb des exegetischen Forschungsdiskurses wird der Begriff der Identifikation bisweilen inflationär gebraucht. Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, klare Kriterien für die Bestimmung des Identifikationspotenzials vorzulegen. Vgl. hierzu die Differenzierung verschiedener Faktoren für emphatische Nähe bei Finnern / Rüggemeier 2016, 241-264.

5 Als judenchristlicher Autor (Wolter 2008, 9f.) kannte Lukas zweifelsohne derartige Ressentiments und Feindbilder. Es ist aber ebenso plausibel zu machen, dass Lukas von seinen intendierten Rezipienten eine entsprechende Kenntnis erwartete. Hierfür lassen sich sowohl die Anzahl (Kriterium der Hörbarkeit) und die Prominenz (Kriterium der Lautstärke) entsprechender Quellen geltend machen als auch die Häufigkeit, mit der Lukas indirekt auf diese Feindschaft rekurriert. Da Lukas seinen Reisebericht mit der beschriebenen Konfliktkonstellation einleitet, ist zudem von einem bewussten Priming zu sprechen. Zu den hier verwendeten Kriterien vgl. ausführlich Finnern / Rüggemeier 2016, 154-161. Umgekehrt muss eingeräumt werden, dass wir erst in offiziellen römischen Dokumenten des 4. und 5. Jahrhunderts auf einen explizite Differenzierung zwischen Juden und Samaritern stoßen (vgl. Linder 2006, 136-162).

6 Seine historische Begründung findet dieser Konflikt sowohl in der nachexilischen Errichtung eines samaritischen Heiligtums auf dem Garizim als auch in der alleinigen Anerkennung des Pentateuchs als Heiliger Schrift. Die vollkommene Zerstörung des Garizim-Tempels durch Johannes Hyrkan und die Stationierung hasmonäischer Truppen auf dem Berg dürfte den endgültigen Bruch zwischen beiden Bevölkerungsgruppen markiert haben (vgl. Zangenberg 1994). Auch wenn sich im späteren talmudischen Schrifttum gelegentlich inklusivistische Töne vernehmen lassen (vgl. Lavee 2010, 147-173), ändert dies nichts daran, dass die Samariter über mehrere Jahrhunderte hinweg sehr häufig als Feindbild herhalten mussten.

7 Umstritten ist hingegen, inwieweit auch in Hinblick auf AscJes 2,12-3,3 von einer antisamarischen Polemik zu sprechen ist. Wenngleich Belkira als Gegenspieler Jesajas aus Samaria stammt und als Gehilfe des Satans in Erscheinung tritt, wird damit nicht zwangsläufig eine pauschalisierende Kritik an den Samaritern geübt (vgl. hierzu ausführlich Zsengellér 2010).

8 In der neutestamentlichen Wissenschaft kursieren unterschiedliche Vorschläge zum Abfassungsort des dritten Evangeliums. Eindeutig ist, dass sich Lukas im europäischen Mittelmeerraum besser auskennt als die anderen Evangelisten und aus einem griechisch-römischen Umfeld schreibt. Ob wir eher von einer Abfassung in Rom oder Makedonien ausgehen müssen, bleibt jedoch rein spekulativ.

9 Historisch lässt sich die Attraktivität des neuen Glaubens gerade dadurch begründen, dass die Gottesverehrung des Christentums nicht mehr lokal gebunden war, sondern durch eine personale Glaubensbeziehung ersetzt wurde (vgl. Lk 17,11-19).

10 Löning 2006, 22-24, stellt zu Recht heraus, dass diese Reaktion der Jünger zugleich dem hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnis widerspricht und somit verdeutlicht, dass die Nachfolger Jesu weder ein rechtes Schriftverständnis noch ein adäquates Verständnis Jesu haben.

11 Dieser explizite Kommentar dient der negativen Charakterisierung des Schriftgelehrten, der sich allerdings im Verlauf der Episode als „dynamische Figur“ (Finnern 2010, 157) erweist. Dass sich beide Gesprächspartner von Anfang an freundschaftlich gegenüberstehen und Jesu Frageweise den Leser an die sokratische Methode der Mäeutik erinnere (so Löning 1993, 60), vermag ich nicht zu erkennen. Der Erzähler hätte diesbezüglich deutlichere Anspielungen bieten müssen.

12 Dies ist umso erstaunlicher, als sich außerhalb des Neuen Testaments kein eindeutiger Beleg dafür finden lässt, dass das Doppelgebot der Liebe innerhalb des Frühjudentums tatsächlich eine vergleichbare, summarische Funktion erhalten hätte. Entweder ist sich Lukas dieser Differenz nicht (mehr) bewusst oder es soll in diesem Wertekonsens bereits eine Annäherung zwischen beiden Gesprächspartnern angedeutet werden, die am Ende der Erzählung eine weitere Betonung erhält (s.u.).

13 Nach Heininger 1991, 81, ist die Frage des Schriftgelehrten „gegen Mk 12,28 aus Lk 18,18 par Mk 10,17 eingetragen.“ Durch Jesu Antwort erhält das Tun des Gesetzes aber auch auf synchroner Ebene eine Betonung (durch Wiederholung).

14 Vgl. zur Relevanz der Kleidung im lukanischen Doppelwerk ausführlich Müller 2012b). Dass der Verwundete eine Jude ist (so z.B. Wiefel 1988, 210), lässt sich gerade nicht zweifelsfrei aussagen (mit Schottroff 2007, 172).

15 Zutreffend hält demgegenüber Wolter 2008, 396 fest: „Warum Priester und Levit am Verletzten vorübergehen, interessiert die Erzählung nicht, und das sollte auch respektiert werden.“

16 Priester konnten in Israel nur Familienangehörige werden, die dem Stamm Levi zugerechnet wurden. Der Begriff „Levit“ bezeichnete in der Zeit des zweiten Tempels jedoch noch eine speziellere Gruppe des Kultpersonals. Dieser wurden niedere Dienste am Tempel übertragen (Num 1,48ff.; 8,5ff.). Priester und Leviten verrichteten ihren Dienst am Tempel wochenweise, wobei sie Psalmen sangen, an den Tempeltoren Wache hielten (mMid 1,1; 2,5) oder lehrten (2Chr 17,7-9; Neh 8,7-9). Da die Leviten vermutlich keinen Opferdienst zu verrichten hatten, ist fraglich, ob sie überhaupt denselben Reinheitsvorschriften folgen mussten wie die Priester.

17 Wenngleich sich nicht zweifelsfrei belegen lässt, dass das Doppelgebot der Liebe bereits im Frühjudentum zur Mitte des Gesetzes erklärt wurde, weil sich die engsten Parallelen als spätere christliche Interpolationen deuten lassen (TestIss 5,2; TestDan 5,3; TestJos 11,1; TestBen 3,3f.), findet sich hier doch eine breite Diskussion um eine abgestufte Wichtigkeit einzelner Gebote (vgl. bShab 31a; Jub 36,7).

18 Dass man im Frühjudentum und Rabbinertum die Nothilfe über die Einhaltung des einzelnen Gebotes stellte, lässt sich vor allem an der regen Diskussion um das Sabbatgebot ablesen. Während die Essener eine Hilfe für Tiere am Sabbat strikt ablehnten (CD 11,13f.), wurde eine Nothilfe für Tier und Mensch von anderen Gruppen befürwortet (bSchab 128b; bJoma 84b; Mekh Ex 31,13; vgl. Bill I,633).

19 Die beiden Kleriker und der Samariter lassen sich eindeutig als „Kontrastfiguren“ (vgl. Finnern 2010, 145f.) ansprechen. Vergleichspunkt ist aber nicht die „unterschiedliche Beziehung zum Kult“ oder die jeweilige „Auslegung der Tora“ (Böhm 1999, 247). Beides findet hier keine Erwähnung, und das Bild, das vom Samariter gezeichnet wird, entspricht eher dem eines wohlhabenden Handelsreisenden: Er besitzt ein Lasttier, hat teure Güter bei sich (Wein, Öl), vermag den Wirt im Voraus zu bezahlen und ist mit den Gepflogenheiten einer gewerblichen Herberge vertraut. Der Kontrast ergibt sich aus dem Ort, der Situation, der sozialen und religiösen Herkunft, den Emotionen und dem jeweiligen Verhalten der Charaktere.

20 Auch sonst greift Lukas häufiger zum Mittel eines offenen Endes, wenn er von konfliktreichen Begegnungen zwischen Jesus und (religiösen) Autoritäten berichtet. Anders als im Markus- und Matthäusevangelium verlässt der reiche Jüngling nicht unmittelbar den Schauplatz und geht traurig davon, sondern bleibt auch noch während Jesu abschließender Erläuterung anwesend (Lk 18,24-17).

21 Mit Wolter 2008, 398, ist festzuhalten, dass die Nichterwähnung des Samariters in der Antwort des Gelehrten (Vers 37: „Der die Barmherzigkeit tat“) kein Ausdruck der Ablehnung ist, sondern gerade umgekehrt anzeigt, dass der Fremde ganz mit seinem Verhalten identifiziert wird.

22 Dass der Lukas- und Matthäustext auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen sind, ist aufgrund der engen Parallelitäten und trotz einer abweichenden Reihenfolge der Weherufe kaum zu bestreiten (vgl. dazu Kosch 1989, 73f.).

23 Obwohl sich der Pharisäer im Gesprächsverlauf über Jesu Position lediglich überrascht zeigt (Vers 38), nimmt Jesus dies unmittelbar zum Anlass für eine grundsätzliche Kritik.

24 Mit Eckstein 1997, 353f., ist zu betonen, dass sich Jesus mit diesem Gleichnis gerade argumentativ und werbend an die religiösen Autoritäten wendet (vgl. Lk 18,9).

25 Lukas kann die Bezeichnung „Gerechte“ im Anschluss an die Septuaginta durchaus positiv gebrauchen (1,6; 2,25; 23,50; Apg 10,22). Für die vermeintlich Gerechten wird er in Lk 16,15; 18,19 und 20,20 verwendet.

26 Diese Warnung verrät umgekehrt jedoch auch das Unverständnis der Pharisäer. Sie verkennen mit ihrem Ratschlag, dass Jesus nicht die Flucht und sein eigenes Heil sucht, sondern seine Zuwendung die eigene Lebenshingabe einschließt.

27 Das positive Samariterbild aus Lk 10,25-37 wird im dritten Evangelium (17,11-19) und in der Apostelgeschichte (vgl. Apg 1,8; 8,1ff.) bestätigt. Die Samariter stellen dabei als Nicht-Juden eine Übergangsgruppe auf dem Weg zur weltweiten Heidenmission dar.