Mareike von Müller und Matthias Wermeling

Geschichten ohne Ende

Präsentationsstrategien narrativierter Krankheitserfahrungen

Illness narratives feature different strategies of making narrative sense out of a contingent experience. Such strategies have a lineage that goes back to narrative patterns known in medieval literature, and which retain validity in describing recent narrative attempts to generate meaning. This article argues that narrative sense is the product of a process of construction which is formed not solely by the narrator him- or herself, but is rather the result of a cooperative practice between narrator and listener or interviewer respectively. In support of this perspective, we draw on medieval literature and aspects of historical narratology to examine interviews with people suffering from epilepsy and inflammatory bowel disease. The main focus lies on the narrative patterns deployed by the narrators to report on their experiences with illness, as well as on the strategies of presentation chosen by the interviewers and scientists who summarize those interviews and present them in so-called mystories on the homepage www.krankheitserfahrungen.de.

Einführung

Auch wenn das Individuum der Träger von Krankheit ist, sucht das Erzählen von Krankheit nach kulturell bewährten Schemata, in welche die Erfahrung von Kontingenz eingepasst werden kann. Krankheitsnarrative1 sind als Alltagserzählungen wahrscheinlich so alt wie ihr Gegenstand selbst. Sie zielen auf Sinnerzeugung und folgen unterschiedlichsten Erzählstrategien, deren Haupttypen sich trotz ihrer Abhängigkeit von soziokulturellen Kontexten als historisch relativ konstant erweisen. Arthur W. Frank (2013) unterscheidet restitution, chaos und quest narratives. Er konstatiert ein gegenwärtig gesteigertes Bedürfnis, kontingenten Ereignissen wie Krankheit einen Sinn zu verleihen, und führt dieses in erster Linie auf eine umfassende und spezifisch (post-)moderne Verunsicherung hinsichtlich großer Sinnfragen zurück (vgl. Frank 2013, 4-7; 68-73). Gerade restitution und quest narratives weisen jedoch eine wesentlich längere Geschichte auf und finden ihre Vorläufer bereits in Erzählmustern vormoderner Literatur, die aufgrund ihrer Validität für die Beschreibung gegenwärtiger Krankheitserfahrung eine genauere Untersuchung verdienen. Das Hinzuziehen ausgewählter mittelalterlicher Texte verspricht Aufschluss darüber zu geben, wie Krankheit als narratives und sinnhaftes Ereignis inszeniert werden kann, während ein Vergleich mit modernen, faktualen Texten die basalen Strukturelemente des Erzählens von Krankheit herauszustellen vermag. Im Folgenden soll gezeigt werden, auf welche Weise diese tradierten Erzählformen und die ihnen zugrundeliegenden Strategien der Sinnbildung auch in der Präsentation rezenter narrativierter Krankheitserfahrungen ihren Niederschlag finden, ob und wie diese modifiziert werden und nicht zuletzt welcher Akteur sie in den Narrativierungsprozess einflicht.

Erzählen wird aus psycholinguistischer Perspektive als eine „konstruktive Leistung“ verstanden, wobei für diese neben dem Erinnern und der konkreten Erzählsituation auch „die Interaktivität des Erzählprozesses“ (Lucius-Hoene / Deppermann 2004, 29) selbst eine entscheidende Rolle spielt. Daran anschließend lautet eine wesentliche Grundannahme des vorliegenden Beitrags, dass das spezifisch Narrative, die Geschichten der illness narratives, nicht schon im Akt des Erzählens selbst entstehen, sondern durch das Zuhören, Nachfragen und Wiedererzählen maßgeblich mitkonstruiert werden. In diesem Prozess scheinen wiederum Strukturen und Techniken der Sinnbildung Verwendung zu finden, welche über Jahrhunderte hinweg auf dem Feld der Dichtung eingeübt wurden. Narrativer Sinn ist das Ergebnis eines dynamischen Prozesses (vgl. Müller / Meister 2009, 34). Als solcher ist er nicht nur abhängig von textimmanenten Strukturen, sondern auch maßgeblich von hermeneutischen Operationen und Zuschreibungen auf der Ebene der Rezeption geprägt (vgl. Abel / Blödorn / Scheffel 2009, 5). Hiervon ausgehend wollen wir untersuchen, auf welche Weise die mit dem Narrativierungsprozess untrennbar verbundenen Sinnbildungsmechanismen im Erzählen oder Berichten von Krankheit sowie in der Rezeption und Wiedergabe von Krankheitserfahrungen wirksam werden.

Das Untersuchungscorpus setzt sich aus narrativen Interviews mit erkrankten Personen, geführt für die Informations-Website www.krankheitserfahrungen.de, zusammen.2 Die Homepage ist ein Kooperationsprojekt der Universitäten Freiburg, Göttingen und Berlin und wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Deutsche Rentenversicherung sowie die Verbände der gesetzlichen Krankenkassen und der privaten Krankenversicherung gefördert. Das Ziel der Website ist die Bereitstellung von unabhängigen Informationen zu verschiedenen Krankheiten und Erfahrungsberichten von unmittelbar betroffenen Personen. Dazu wurden offene, narrative Interviews mittels Videokamera oder Tonband aufgezeichnet und abschnittsweise auf der Website präsentiert. Neben themenbasierten Zugängen werden die individuellen Erfahrungen in sog. Mystories zusammengefasst. Dabei handelt es sich um vermittelte Selbstpräsentationen Erkrankter, d.h. um die Zusammenfassungen der Interviews, die dann entweder mit Videoausschnitten aus den Interviews oder mit textbasierten Ausschnitten der Transkripte (oder keinem von beidem) versehen werden. Die Präsentation der Mystories hängt natürlich auch von strukturellen Vorgaben ab, wie z.B. dem verfügbaren Platz auf der Website sowie der Entscheidung, eine möglichst allgemeinverständliche Sprache in der Darstellung zu verwenden. Wir möchten versuchen, den Narrativierungsprozess vom protonarrativen Interview3 zur narrativen Mystory auf der Homepage nachzuvollziehen und damit einhergehend die Interaktion von ErzählerIn und ZuhörerIn genauer beleuchten. Dabei wird den narrativen Strategien in den Mystories nachgegangen und geprüft, an welchen Punkten im Interview diese ansetzen und auf welche Weise sie im Akt des Resümierens durch eine weitere Person herausgebildet werden.

Erzählen und narrative Strategie

Es wurde bereits festgestellt, dass die zuhörende Person an der Narrativierung von Erfahrungen aktiv beteiligt ist (vgl. Hydén 1997, 52). Speziell auf die Situation des narrativen Interviews bezogen betonen Lucius-Hoene und Deppermann die „mächtige und einflussreiche Rolle“ (2004, 265) der interviewenden Person im narrativen Konstruktionsprozess. Ausgehend von Franks Trias der quest, restitution und chaos narratives wäre zu fragen, ob bestimmte Narrationstypen mit ihren jeweils spezifischen Sinnbildungsstrategien in diesem Prozess des Zusammenwirkens von interviewter und interviewender Person präferiert werden (vgl. Frank 2013, 77). Dazu werden wir basaler, nämlich an den Grundelementen des Narrativen ansetzen, denn nicht nur die von Frank herausgearbeiteten drei großen Krankheitsnarrative folgen Sinnbildungsmustern: Jedwede Narrativierung strebt nach einem hermeneutischen Sinn,4 der sich erst am Ende einer Erzählung erschließt (vgl. Stierle 1996, 579; Lotman 1993, 307). Dementsprechend lässt sich auch erst vom Ende her beurteilen, ob ein Text wirklich eine Geschichte erzählt und damit einen narrativen Sinn generiert oder ob er sich einer solchen Sinnerzeugung verweigert. Wurden illness narratives bisher überwiegend aus soziolinguistischer, medizinsoziologischer und psychologischer Perspektive betrachtet, soll das von uns ausgewählte Corpus nun unter im Folgenden noch genauer zu fassenden narratologischen Gesichtspunkten, mit besonderem Fokus auf der narrativen Konstruktion der Textschlüsse, untersucht werden.

Jedes Erzählen folgt notwendigerweise einer Strategie, um seine Geschichte zu konstituieren. So ist zu erwarten, dass auch die Auswahl des auf der Homepage gezeigten Materials Strategien der narrativen Sinnbildung5 folgt, sofern sie eine Zusammenstellung von Krankheitsgeschichten präsentieren möchte. Eine Strategie ist auf das Erreichen eines bestimmten Ziels ausgerichtet. Dieses Ziel wiederum liegt den Ordnungs- und Gestaltungsprozessen zugrunde, welche in der Erzähltheorie mit ganz unterschiedlichen Termini, etwa dem des Sujets (vgl. Tomaševskij 1985, 217), des discours (vgl. Todorov 1972, 264f.) oder dem des Plots (vgl. Forster 2000, 87), gefasst wurden. Valerij Tjupa schließt an die besonders im russischen Formalismus betonte Analogisierung von „Intrige“ und „Kampfführung“ (Tomaševskij 1985, 216) an, wenn er dafür plädiert, eine Strategie gemäß ihrer militärischen Etymologie auch in Bezug auf Erzählungen von „various tactical actions“ (Tjupa 2014, 3) zu unterscheiden. Eine narrative Strategie sei mehr als die Summe der narrativen Techniken, welche in einer Geschichte zum Einsatz kommen, um das Erzählziel zu erreichen, obgleich diese in einer „single utterance“ (Tjupa 2014, 5) zusammenfließen. Bei den Zusammenfassungen der Krankheitsberichte handelt es sich nun um Re-Narrationen, um Erzählungen von Erzählungen,6 das Erzählziel der Ersteren kann von demjenigen der Letzteren durchaus abweichen. Dies wird insbesondere anhand der Sinnbildungstechniken am Ende der jeweiligen Texte zu untersuchen sein, denn gerade am Schluss eines Textes kulminieren die zuvor eingesetzten Techniken der Sinnerzeugung in einem narrativen Ende – oder eben auch nicht.7

Obschon der Terminus der Strategie ein planvolles Vorgehen impliziert, kann davon ausgegangen werden, dass bestimmte narrative Verfahren der Sinnbildung in der westlichen Erzähltradition kulturell so tief verankert sind, dass sie – insbesondere im faktualen Erzählen – auch unbewusst zum Einsatz kommen können. Es soll demnach keine Aussage über das getroffen werden, was die Betroffenen oder die WissenschaftlerInnen, welche die Interviews durchführten und zusammenfassten, explizit zum Ausdruck bringen wollten. Stattdessen richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Struktur der Präsentation von Krankheitserfahrungen, die mit ganz unterschiedlichen, nicht immer bewusst forcierten Erzählstrategien in Verbindung gebracht werden kann.

Das Corpus umfasst Berichte zu Epilepsie und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, zwei hochdifferente Erkrankungen, von denen Erstgenannte auch medizinhistorisch eine lange Geschichte aufweist (vgl. Schmitt 1986, 2064f.) und dementsprechend eine breite Tradition an Sinnzuschreibungen zu verzeichnen hat. Dies wird nicht zuletzt an der antiken, allerdings nie unumstrittenen Bezeichnung als morbus sacer deutlich, welche den Gedanken einer göttlichen Erwählung zum Ausdruck bringt.8 Neben der Semantik der Erwählung prägte insbesondere im Mittelalter die Interpretation als göttliche Strafe die Bewertung von Krankheiten (vgl. Schipperges 1990, 20). Dennoch zeigt sich bereits in der mittelalterlichen Überlieferung die Koexistenz von „naturalistischen“, an der Humoralpathologie von Hippokrates und Galen orientierten Ansätzen und „christlich imprägnierten“ Erklärungsmodellen, die entsprechend unterschiedliche Therapiekonzepte vorschlagen (Matejowski 1996, 55-62).9 Wahrscheinlich gerade weil die Semantisierung von Erkrankungen insgesamt ein ambivalentes Bild zeigt, lassen sich schon früh unterschiedliche Sinnbildungsmuster ausmachen, die in literarischen Texten ausgestaltet wurden (vgl. Andermatt 2007, 106-112). Es handelt sich hierbei um einen gegenseitigen Austauschprozess, denn literarische Muster und Motive können wiederum die Art und Weise (vor)prägen, in welcher über Krankheit in außerliterarischen Kontexten gesprochen wird. Krankheit unterliegt in literarischen wie auch in nicht-literarischen Diskursen semantischen Zuschreibungsprozessen, die besonders prägnant in Metaphern zum Ausdruck kommen (vgl. Sontag 2003). Diese mit Krankheit assoziierten Metaphern können auf der diskursiven Ebene situiert sein, sie können aber auch die Ebene der Tiefenstruktur eines Textes tangieren und dort die narrative Dynamik in Gang setzen.

Krankheit als Geschichte

Um den Voraussetzungen spezifisch narrativer Sinnbildungsmechanismen auf den Grund gehen und gegen andere, etwa pragmatische Sinnkonstitutionen abgrenzen zu können, bietet sich eine eng gefasste und basal ansetzende Terminologie von Narration, Geschichte und Ereignis an.10 Eine Geschichte in diesem engeren narratologischen Sinn ist immer das Resultat eines Reduktionsprozesses (vgl. Schmid 2008, 252; Stierle 1975, 51). Narrativer Sinn verlangt nach einer Auswahl an Geschehensmomenten, welche über die Basisstruktur von Anfang, Mitte, Ende angeordnet werden. Das Geschehen selbst ist amorph, unendlich und noch nicht mit einem konkreten Sinn versehen. Erst durch die Auswahl bestimmter Geschehensmomente, die Transformation von Geschehen in Geschichte (vgl. Stierle 1975, 49-55) und deren axiologische Besetzung kann narrativer Sinn erzeugt werden. Um eine sinnvolle Geschichte zu konstituieren, genügt also nicht allein die chronologische Abfolge eines zeitlichen Nacheinanders wie etwa in einem Zeitungsbericht. Kern und „kleinste Einheit, die ein Phänomen narrativ macht, ist […] ein Ereignis“ (Aumüller 2009, 17), das allerdings mehr sein muss als eine reine Zustandsveränderung (vgl. Schmid 2008, 11-26). Die narrativen Basiskomponenten müssen bestimmte Qualitäten aufweisen, um eine sinnhafte Geschichte zu konstituieren. Allerdings ist zu betonen, dass Narrativität und Ereignishaftigkeit in ihren Grundbedingungen graduell verstanden werden (vgl. Schmid 2008, 12-18), es also ein breites Spektrum an mehr oder weniger narrativen Texten gibt.

Jede narrative Dynamik entspringt einem Mangelzustand, der zum Anfangspunkt einer Geschichte werden kann. Dabei kann dieser Mangelzustand so mannigfaltig ausgestaltet sein wie das Erzählen selbst: Er kann entsprechend epischer Erzählstrukturen im Mangel einer adäquaten Ehefrau bestehen, die auf einer gefährlichen Werbungsreise erst erworben werden muss, oder in einer Provokation höfischer Werte, die im Artusroman erzählstrukturell die Separierung und Bewährung des Protagonisten als Held motiviert. Ein Mangel kann Gelegenheit zum Beweis heroischer Stärke und Vehikel einer Entwicklung sein, welche die Figur mit Qualitäten versieht, die sie am Anfang des Textes noch nicht aufweist. Er kann aber auch, wie in einigen Märchen und Schwänken, ein nur temporäres Defizit bilden, das – ohne eine innere Entwicklung der Protagonisten vorauszusetzen – am Ende wieder vollständig ausgeglichen wird. Vor allem aber manifestiert sich der Mangel nicht allein auf der Handlungsebene narrativer Texte, sondern setzt die Geschichte durch ein axiologisches Ungleichgewicht in Gang.

Als Beispiel für die Funktion von Krankheit als Mangelzustand wird der Arme Heinrich Hartmanns von Aue herangezogen, da er in paradigmatischer Weise den Zusammenhang von Krankheit, Läuterung und Sinn vorführt. Der mit höfischer Vorbildlichkeit ausgezeichnete Ritter Heinrich erkrankt an einem unheilbaren Leiden, das nicht so ohne Weiteres als Strafe Gottes interpretiert werden kann und doch einen Mangel zu bezeichnen scheint, der sich nicht in der Krankheit selbst erschöpft. Dem ansonsten tugendhaften und angesehenen Protagonisten fehlt offenbar die Rückbindung seiner Vortrefflichkeit an christliche Werte. Zwar wird Heinrichs scheinbar makellose Tugendhaftigkeit gleich in der Vorstellung des Protagonisten durch den Erzähler mit Nachdruck hervorgehoben, wie etwa in den folgenden Versen:

sîn herze hâte versworn
valsch und alle dörperheit,
und behielt ouch vaste den eit
stæte unz an sîn ende.
âne alle missewende
stuont sîn êre und sîn leben.
(Hartmann von Aue, 50-55)

Doch wird bald, ebenfalls noch vor Beginn der eigentlichen Handlung, deutlich, dass die Vortrefflichkeit Heinrichs vor allem im weltlichen Bereich situiert ist, der besonders dann wiederholt und explizit benannt wird, als der Erzähler in die Schilderung des plötzlichen Befalls mit Aussatz übergeht. Heinrich hat sich der werlte lop unde prîs“ (73) erworben, erfreut sich werltlîcher wünne“ (79) und werltlîcher süeze“ (87), doch genau auf diesem Höhepunkt seines weltlichen Ansehens wendet sich das Blatt. Hartmut Bleumer, der den Armen Heinrich einer narratologischen Neuinterpretation unterzogen hat, beschreibt das axiologische Defizit, das durch die plötzlich auftretende Krankheit markiert wird, wie folgt:

Diese gesellschaftliche Hochgestimmtheit ist indes hochmuot, d.h. superbia, wenn sie nicht auch über einen höheren Wertebereich legitimiert erscheint: den der geistlichen Werte. Denn die immanenten Werte des Besitzes und der nützlichen Tugenden, die das weltliche Ansehen vermehren, sind nicht durch transzendente Werte gedeckt. (Bleumer 2015, 256)

Interessant ist nun, wie der Protagonist mit dem Leid der Krankheit umgeht. Eben in dem Moment, da Heinrich bewusst wird, dass er der Welt der Gesunden ebenso abscheulich ist wie jeder gewöhnliche Aussätzige, versinkt er in Gram. Dieser unterscheidet ihn, so der Erzähler, von Hiobs „geduldikeit“ (138), die Heinrichs Verdruss kontrastiv gegenübergestellt wird. Was auch immer Hiob zu Leiden aufgetragen wurde, er habe es mit Freuden auf sich genommen (145) – ganz anders jedoch Heinrich:

do entete der arme Heinrich
leider niender alsô;
er was trûric und unvrô.
sîn swebendez herze daz verswanc,
sîn swimmendiu vreude ertranc,
sîn hôchvart muose vallen,
sîn honec wart ze gallen.
[…]
er sente sich vil sêre
daz er sô manige êre
hinder im müese lâzen.
vervluochet und verwâzen
wart vil dicke der tac
dâ sîn geburt ane lac.
(Hartmann von Aue, 146-162)

Seine einzige Hoffnung liegt in der Heilung, die allerdings nur durch das Blut eines Mädchens im heiratsfähigen Alter geschehen kann und daher so gut wie ausgeschlossen ist. Heinrich scheint seiner Krankheit zunächst keinen Sinn abringen zu können. Die Krankheit stellt schließlich auch den Sinn seines vormalig gesunden Lebens in Frage, wenn er – wie im obigen Textauszug – den Tag seiner Geburt verwünscht. Wenig später im Text weiß der Protagonist sein Leiden jedoch ganz sinnhaft zu deuten, nämlich als Rache (409), die Gott ihm aufgrund seiner Weltzugewandtheit, wegen seines „hôchmuotes“ (404) verdientermaßen (384) zuteilwerden lässt. Einen Sinneswandel im Sinne einer conversio erfährt er später beim Anblick des Mädchens, das drauf und dran ist, das für seine Gesundheit erforderliche Blutopfer zu leisten und bereits gefesselt auf dem Operationstisch liegt. Heinrich gewann „einen niuwen muot“ (1235) und er „verkêrete vil drâte / sîn altez gemüete / in eine niuwe güete“ (1238-1240). Nun endlich tut er es Hiob gleich und ergibt sich willentlich in das Leid, das Gott ihm zu Tragen auferlegt hat. Seine Selbstreflexion endet dementsprechend mit den Worten: „[…] swaz dir got hât beschert / daz lâ allez geschehn. / ich enwil des kindes tôt niht sehen“ (1254-1256). Letztlich erfährt Heinrich dann doch noch eine vollständige Genesung. Sowohl das opferungsbereite Mädchen als auch er selbst haben nämlich „bärmde und triuwe“ (1365) gezeigt, was von Gott honoriert wird (1365f.). Heinrich wird nicht nur vom Aussatz befreit, er bekommt auch noch das jugendliche Aussehen eines Zwanzigjährigen (1377), erlangt mehr Reichtum als jemals zuvor (1430f.) und heiratet das schöne Mädchen (1490-1513). Doch am Ende steht nicht nur ein quantitativer Mehrgewinn (vgl. Bleumer 2015, 262): Der Protagonist nun „warte sînem [Gottes, M.v.M.; M.W.] gebote / baz dan er ê tæte“ (1434f.) und erhält mit seiner Frau nach dem Tod Einzug in das Himmelreich (1516).11

Das Konversionsmotiv, das hier literarisch in Szene gesetzt wird, verdeutlicht einen Mechanismus, welcher strukturell auch der Sinnbildung von modernen Narrativen zugrunde liegt. Wenn Krankheit ein spezifisch narrativer Sinn verliehen werden soll, muss eine Geschichte konstruiert werden, die einen Unterschied macht. Der Held darf nicht derselbe sein wie am Anfang, im Idealfall geht er gebessert aus dem Leid hervor, so wie Heinrich es tut. In Hartmanns Text sind „Krankheit, Opfer und Heilung […] kompositorisch motiviert, mithin Motive“ (Bleumer 2015, 257). Krankheit wird nicht als eine kontingente Zustandsveränderung inszeniert, auf der Ebene des Erzählers ist sie von Beginn an mit göttlichem Sinn versehen, den auch Heinrich bald erfasst. Gesundheit wird als Akt der Gnade verstanden, die nicht eingefordert, wohl aber ausgesetzt oder einem zuteilwerden kann. Strukturell setzt der Befall mit Aussatz die Dynamik der Erzählung in Gang, er konkretisiert den zuvor kaum sichtbaren Mangel an Gottesfurcht und ist zugleich der Weg, der zur Beseitigung des Mangels beschritten werden muss. Die Krankheit macht Heinrich nicht nur einsichtig und gesund, sie rettet durch die Gelegenheit zur conversio auch das Seelenheil des Protagonisten sowie dasjenige des Mädchens. Während das Motiv von Krankheit als Strafe bereits seit der Antike bekannt ist, findet sich seine Verbindung mit Elementen „der läuternden Selbsterkenntnis“ (Matejowski 1996, 103) zunehmend in mittelalterlichen Texten und setzt sich von dort aus auch in nicht-fiktionalen Narrativen fort. Vergleichbare Mechanismen der Sinnzuschreibung sind auch in der Kommunikation von Krankheitserfahrungen der Gegenwart präsent, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Krankheit und narrative Sinnbildung

Den Betroffenen, die ihre Krankheitsgeschichte erzählen möchten, stehen ebenso wie jenen, welche diese rezipieren, verschiedene Narrationsschemata zur Verfügung, um aus dem Kontinuum des Krankheitsgeschehens eine Geschichte zu formen. Alle Erzählstrategien setzen sich mit der Frage nach dem Sinn auseinander, können dabei aber auf ganz unterschiedliche Antworten zielen. Der Arme Heinrich zeigt eine Möglichkeit der Sinnkonstitution auf, die Krankheit mit einem Zugewinn an Erkenntnis und Tugend verknüpft, was wiederum auch in modernen Krankheitsnarrativen aufgegriffen wird. Diesen Zusammenhang forcieren insbesondere die sog. quest narratives, die auf dem Grundgedanken basieren, „that something is to be gained through the experience“ (Frank 2013, 115). Aus diesem Gedanken speist sich wiederum eine gewisse Erwartungshaltung, die häufig an Erkrankte herangetragen wird, nämlich, dass sie in besonderer Weise „empfänglich sind für Eindrücke, Botschaften, Einsichten, Erfahrungen, die anderen verschlossen bleiben“ (Boothe 2009, 56). Der Mehrwert von Krankheit, die in ein solches Narrativ eingepflegt ist, bezieht sich auf das Individuum, das nicht nur einen Verlust erleidet, sondern etwas substantiell Wertvolles dazugewinnt. Krankheit kann auf diese Weise zum Instrument der Identitätskonstitution werden und stellt ein wesentliches Element in der Erzeugung einer „Automythology“ (Frank 2013, 123) dar, wobei auch hier betont werden muss, dass an dieser Mythologisierungsleistung nicht nur der oder die Erkrankte selbst, sondern eben auch das soziale und kulturelle Umfeld beteiligt ist. Die Mythologisierung basiert wiederum auf dem narrativen Paradox, dass der Held bzw. die Heldin eines solchen Narrativs ein anderer oder eine andere wird und gerade dadurch erst zu sich selbst kommt.12 Ob ein Text dem Typus der quest narratives zuzuordnen ist oder Elemente aus diesem integriert, lässt sich erst bei genauerer Betrachtung des Textschlusses bestimmen, da dieser – wie eingangs skizziert – der prominente Ort für Sinnbildung durch Evaluation der Krankheit und ihres eventuellen Mehrwertes ist.

Dem Muster der quest narratives diametral gegenüber stehen die sog. chaos narratives, die im Grunde kein wirkliches Narrativ bilden (vgl. Frank 2013, 97), da sie gerade keinen narrativen Vorgaben – als basale Elemente wären hier Anfang, Mitte und Ende sowie Ereignishaftigkeit zu nennen – folgen bzw. diese am ungeordneten Kontinuum des Geschehens scheitern lassen. Narratologisch ist dieser Mechanismus der Sinnverweigerung gut nachzuvollziehen und in seinem dezidierten Antreten gegen Narrativierungsmechanismen für das Verständnis eben jener Prozesse hochinteressant. Der Eindruck des Sinnlosen entsteht dadurch, dass die einzelnen Geschehensmomente nicht nach narrativen Prinzipien organisiert und mit einer Axiologie versehen werden und keine Transformation von Geschehen in Geschichte angestrebt wird: „The chaos narrative is the unassumable, nameless suffering. Chaos suffering is useless because the chaos story cannot be told, because it is an anti-narrative, a non-self-story“ (Frank 2013, 171). In ihrer Zwecklosigkeit bilden chaos narratives nicht nur einen Gegenpol zu den strategisch durchwirkten quest narratives, sie widersetzen sich ganz grundsätzlich einer Narrativierung.

Das restitution narrative bildet nun das dritte der drei großen Narrative. Wie der Name bereits andeutet, zielt eine restitution story auf die Überwindung der Krankheit und die Wiederherstellung des Normalzustands. Wenngleich Frank davon ausgeht, dass es sich hierbei um das „culturally preferred narrative“ (2013, 83) handelt, ist festzuhalten, dass eine einfache Restitution des Zustands vor der Krankheit die Narrativität einer Geschichte mindert und zugleich zur Diskussion stellt. Die Krankheit firmiert in diesem Modell als Unterbrechung eines Normalzustandes, die keine Werte konkretisiert und keinen Sinn für letzteren bereithält. Da der Normalzustand (Gesundheit) jedoch meist auch der angenommene oder explizierte Ausgangszustand ist, tendiert ein solches Erzählen zu einer Kreisfigur. Ist die Kreisfigur abgeschlossen, sind Anfang und Ende nicht mehr qualitativ voneinander zu unterscheiden, was auch Konsequenzen für die Bewertung von Krankheit als Ereignis hat. Denn wenn sich das Ende indifferent zum Anfang verhält, hat die Zustandsveränderung offenbar keine Konsequenzen für den Betroffenen nach sich gezogen, dementsprechend muss auch seine Relevanz in Bezug auf das, was die Krankheit unterbricht, in Zweifel gezogen werden. Krankheit wirft dann nicht etwa retrospektiv ein anderes Licht auf den Ausgangspunkt und führt auch nicht zu einer Uminterpretation desselben. Womöglich vermittelt der Typus der restitution narratives tatsächlich einen kulturell forcierten, praktischen Sinn (vgl. Hübner 2012, 175-206), nämlich „that breakdowns can be fixed“ (Frank 2013, 90). Ihr Sinn ist dann aber kein narrativer. Der so angesteuerte nicht-narrative Sinn besteht gerade darin, Krankheit als temporäre und folgenlose Zustandsveränderung zu interpretieren und aufgrund ihrer Ereignislosigkeit als Kern einer narrativen Sinnbildung auszuschließen. Ob einer Krankheit narrativer Sinn zugeschrieben werden kann, hängt ganz wesentlich mit der Frage zusammen, ob ihr Ereignischarakter zugesprochen wird. Geschieht letzteres, ist eine Rückkehr zum Zustand ‚davor‘, eine Restitution im engeren Sinne, nicht mehr möglich.

Wie bereits erwähnt, ist der Aspekt der Ereignishaftigkeit / Ereignislosigkeit von Krankheit oder Leid im Allgemeinen bedeutsam, da er entscheidet, ob Sinn durch oder trotz Krankheit erzeugt wird und damit einhergehend, ob dieser Sinn sich im Narrativen oder jenseits dessen konstituiert. Die Inszenierung von geradezu spektakulärer Ereignislosigkeit ist in den Heiligenlegenden des Mittelalters, insbesondere dem Typus der Märtyrerlegenden (vgl. Feistner 1995, 24; Hammer 2015, 11-18), immer wieder zu beobachten. Die ausgedehnten und additiv gestalteten Marterepisoden zeugen von Brutalität, von „Zerstörung und Horror“, die kontrastiv gegen den Gleichmut der gefolterten Heiligen gesetzt werden, denn diese „[erheben] sich leuchtend und unversehrt über alle Anfechtungen“ (Bachorski / Klinger 2002, 311). Die massiven körperlichen Versehrungen bleiben für die betroffene Figur selbst folgenlos, da sie weder zu einer Abkehr des Gläubigen von Gott führen noch den Leib desselben dauerhaft schädigen können. Die Folter wird (zum Zorn der Ungläubigen und der Folterknechte) nicht nur in ihrer Ereignishaftigkeit nivelliert, sie wird in extremen Fällen viel grundlegender sogar als Zustandsveränderung an sich in Frage gestellt. In nahezu grotesker Weise wird diese Unverwundbarkeit an der Figur des heiligen Georgs illustriert, der selbst nach der Pulverisierung seines Körpers wieder aufersteht, bis er sich irgendwann selbst dazu entschließt, endlich den Märtyrer-Tod zu sterben (vgl. Koch 2010, 110-130). Auch an der heiligen Jungfrau Agatha wird göttliche Restitutionsmacht offenbar, wenn ihr die zuvor grausam entfernten Brüste gemäß göttlichem Willen wieder nachwachsen. Agatha erträgt das ihr zugefügte Leid nicht einfach nur, sie fleht geradezu um die „corona patientiae“ (Jacobus Voragine, 174) und stirbt nach zahlreichen Martern zuletzt aufgrund ihres ausdrücklichen Wunsches. In der Metapher von der Krone der Ausdauer, der Geduld und des Leides konzentriert sich ein Sinn jenseits des Narrativen. Die narrative Ereignislosigkeit der Folter konkretisiert die Gehalt- und Sinnlosigkeit des Irdischen, das der oder die Heilige bestrebt ist zu überwinden. Das narrative Ereignis wird in der Legende jedoch nicht vollends suspendiert, sondern verschiebt sich, wie prominent auch im Silvester Konrads von Würzburg zu sehen ist, auf die inner- und außertextlichen Rezipienten, denen es obliegt, sich zum Besseren zu wandeln und so die Geschichte zu vollziehen (vgl. Bleumer 2010, 231-261). Die Ausdauer wiederum, welche sich auch unverkennbar in der Etymologie des Wortes ‚Patient‘ niederschlägt, scheint auch außerhalb hagiographischer Literatur eine der sozial besonders geschätzten Tugenden im Umgang mit leidvollen Erfahrungen im Allgemeinen und Krankheit im Besonderen zu sein (vgl. Hawkins 1984, 234).

Chronische Erkrankungen, so würde man nach der theoretischen Diskussion der Begrifflichkeiten annehmen, sperren sich durch die Unmöglichkeit einer vollständigen Heilung gegen gewisse narrative Muster. Das bedeutet jedoch nicht, dass narrative Elemente vollends suspendiert werden. Im Gegenteil: Die Herausforderung des chronischen Verlaufs scheint eine differenzierte Auseinandersetzung mit narrativen Sinnbildungsstrategien geradezu zu provozieren.

Präsentationen von Krankheitserfahrungen I: Epilepsie

Epilepsie ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die durch eine Übererregbarkeit der Gehirnzellen gekennzeichnet ist. Es kommt dadurch zu fokalen oder generalisierten Krampfanfällen, die das motorische, sensible, vegetative oder psychische Befinden betreffen können. Während epileptische Anfälle in einigen Fällen ein Symptom akuter oder chronischer Hirnerkrankungen sind, bleibt die Ursache der verstärkten Krampfneigung häufig unklar, so dass von idiopathischen bzw. genetischen Formen der Epilepsie gesprochen wird.

Nach einer ersten kursorischen Durchsicht der Mystories im Modul ‚Epilepsie‘ der Homepage fällt auf, dass diese meist mit einer Wunschformel oder einer ähnlich positiven Schlusswendung enden. So wünschen sich die Betroffenen etwa, in Zukunft anfallsfrei zu leben, bessere Aufklärung, transparentere Kommunikation mit dem medizinischen Personal und betonen Tugenden wie Ausdauer und positives Denken im Umgang mit der Krankheit. Nicht selten finden sich an der strategisch wichtigen Position des Schlusses auch Evaluationen der Krankheit, welche besonders aufschlussreich für die Suche nach narrativen Sinnbildungsmechanismen sind. Die Wunschformeln sowie die Evaluationen am Ende gehen auf die Positionierung der Fragen in den Interviews zurück, auf denen die Mystories basieren. Bereits der Aufbau der Interviews, ihre Strukturierung und Gestaltung durch die Fragen der jeweiligen InterviewerInnen am Ende könnten die Hervorhebung positiver Aspekte der Krankheitserfahrung und die damit einhergehende, für eine Narrativierung notwendige axiologische Besetzung derselben begünstigen.13 Exemplarisch seien hier drei Mystories und die ihnen zugrundeliegenden Interviews näher beleuchtet.

Bei Ia)14 wurde vor sechs Jahren Epilepsie diagnostiziert und seit einem halben Jahr lebt sie anfallsfrei, wie die Kurznotiz über der Zusammenfassung berichtet. Die Mystory selbst endet mit den folgenden beiden Absätzen:

[Ia)] wehrte sich zunächst dagegen, die Diagnose Epilepsie anzunehmen und sich mit den Anfällen auseinander zu setzen. Heute bemerkt sie, dass sie durch die Epilepsie ruhiger geworden ist und ihre Entscheidungen in Lebensfragen mehr abwägt als früher.
[Ia)] schildert, sie habe damit zu kämpfen, dass dadurch, dass ihre Anfälle nicht so stark sind und sie in ihrem Alltag wenig einschränken, die Menschen teilweise mit Unverständnis reagierten. Doch hat ihr der Rückhalt ihrer Familie und Freunde in allem immer Kraft gegeben. Sie wünscht sich, in der Zukunft anfallsfrei zu bleiben.

In beiden Absätzen werden negative Aspekte angesprochen, die jedoch durch den direkten Anschluss einer positiven Persönlichkeitsentwicklung aufgefangen werden. Insbesondere der erste Absatz spricht mit der Zunahme an Ruhe und Gelassenheit Werte an, welche direkt mit der Erkrankung in Verbindung gebracht werden. Nicht nur in der zusammenfassenden Mystory, sondern auch im Interview selbst wird dieser Punkt mehrfach betont. So vermutet die Betroffene einen kausalen Zusammenhang zwischen dem überraschenden Auftreten der Krankheit und den beruflichen Belastungen zur selben Zeit. Vor diesem Hintergrund bezeichnet sie die Epilepsie mit der Metapher der „Notfallbremse“, während der Körper in ihren Ausführungen eine gewisse Autonomisierung erfährt, indem er eine eigene Stimme erhält: „[I]rgendwo war es dann- der Körper hat nein gesagt, es ist Schluss“. Im Armen Heinrich konnte eine ganz ähnliche Form der Metaphorisierung von Krankheit als sinngenerierendem Prozess nachvollzogen werden. Dem Körper sowie der Krankheit werden im vorliegenden Beispiel neben der Bedeutungsträchtigkeit der Metapher eine als positiv bewertete Eigenständigkeit und eine besondere Klugheit zugesprochen. Autonomie und Klugheit entwickeln wiederum ein spezifisch narratives Potential, da der Leib durch diese Eigenschaften handlungswirksam in das Leben der Betroffenen eingreifen kann. Die zunächst noch als überraschend und kontingent wahrgenommene Erfahrung von Krankheit wird zum narrativen Ereignis, indem qualitative Veränderungen und Konsequenzen an sie geknüpft werden, welche die betroffene Person wiederum mit Sinn besetzt. So hat Ia) nach der Diagnose ihre Leitungsposition aufgegeben und arbeitet seitdem (nach eigenen Aussagen zufriedener) in einem Bereich, in dem sie sich weniger beruflichem Druck ausgesetzt sieht. Dabei betont sie gemäß der Tendenz der restitution narratives die Normalität, die zu leben ihr weiterhin möglich sei sowie – und hier wird ein wesentliches Element der quest narratives integriert – den positiven Anreiz zur Selbstreflexion, der ihr durch die Krankheit gegeben wurde:

[Ia)]: Ich kann weiter machen, dort wo ich bin. Und trotzdem trete ich- muss ich einen kleinen Schritt zurücktreten, weniger Stress, einfach mein Leben überdenken. Also das war auch, denke ich, manchmal vielleicht auch irgendwo gewollt, dass das jetzt ausbricht, weil sonst wäre ich vielleicht im Burnout gelandet oder irgendwo, wenn man zu viel arbeitet.

Die positive Sinnbesetzung der Krankheitserfahrung als Schutz oder Rettung vor als gravierender bewerteten Zustandsveränderungen wird in diesem Zitat noch einmal untermalt, indem retrospektiv die Gefahr eines Burnouts als (nicht präferierte) Alternative imaginiert wird. Der Ausbruch der Krankheit erscheint nicht als ausschließlich kontingente Zustandsveränderung, sondern es wird die Möglichkeit eingeräumt, ihn als ‚gewollt‘ und damit als sinnbesetztes Ereignis mit einer intentionalen Ausrichtung zu verstehen. Allerdings verdeutlichen die abschwächenden Wörter ‚manchmal‘, ‚vielleicht auch‘ und ‚irgendwo‘, dass auch dies nur eine Deutungsmöglichkeit darstellt. Das Narrativ, das sich aus der Metapher der Notfallbremse entfaltet, ist hingegen so wirksam, dass es nicht nur von Außenstehenden aufgegriffen, sondern, wie das folgende Zitat mit der Suggestion eines zeitlichen Nacheinanders nahelegt, von diesen sogar initial vorgeschlagen wird:

[Ia)]: Weil es kam auch von anderen Personen oft so eine Haltung: ja du hast einfach zu viel gemacht, du musst jetzt einfach mal kürzer treten. Also was ich dann selber auch wahrgenommen habe, dass es sehr stressig war auf Arbeit, aber so ein bisschen noch Vorwürfe wurden mir gemacht, dass ich jetzt halt daran schuld wäre, dass ich jetzt so krank wäre (lacht).

In der beschriebenen Haltung der Außenstehenden erhält die Erkrankung einen schlichten Sinn, indem sie als evident (das legen Formulierungen wie ‚einfach‘, ‚jetzt einfach‘ und ‚halt‘ nahe) kausallogisch mit einem Fehlverhalten der Betroffenen verknüpft wird. Das Leiden wird mit Schuld in Verbindung gebracht und, ähnlich wie oben von Ia) selbst, als eine Form der negativen Resonanz sowie zugleich – und hier klingt das Motiv der conversio an – als Chance für einen Lebens- und Sinneswandel gesehen, die dann auch ergriffen wird.

Sowohl im Interviewtext als auch in der Mystory lassen sich Elemente des quest narrative finden. Dass sich diese Elemente zu einem Narrativ, einer Geschichte schließen, wird insbesondere durch die letzten Fragen des Interviews erreicht, da die strukturelle Anordnung der Fragen gezielt auf einen narrativen Abschluss hinsteuern. So lautet eine Auswahl der letzten Fragen, die so oder in leicht abgewandelter Form in allen anderen Epilepsie-Interviews am Ende formuliert werden: „Können Sie sich vorstellen, ob Ihr Leben ohne Anfälle anders verlaufen wäre?“; „Was hat Ihnen denn am meisten geholfen, mit der Erkrankung fertig zu werden?“; „Was wünschen Sie sich für die Zukunft?“; „Wenn Sie eine Botschaft für Menschen, die jetzt neu erkrankt sind mit der Epilepsie sagen könnten, was würden Sie ihnen sagen?“. Die durch die erzählgenerierenden Fragen und die sich daran anschließende Haupterzählung erzeugte dialogische Struktur des Interviews hilft bei der Erzeugung eines bestimmten Narrativs, das im Interviewtext protonarrativ durchaus bereits angelegt ist, aber erst in der Mystory zu einem – narratologisch betrachtet – adäquaten15 Ende kommt. Die erste Frage zielt auf die qualitativen und quantitativen Veränderungen ab, die für die Konstruktion einer Geschichte notwendig sind. Als Antwort fällt bezeichnenderweise an dieser Stelle auch die zentrale Metapher der Notbremse. Bereits die zweite, oben zitierte Frage impliziert sowohl, dass es Hilfe gab, ‚mit der Krankheit fertig zu werden‘, als auch, dass die betroffene Person mit dieser tatsächlich fertig wurde, während die letzten Fragen mit der Ausrichtung auf Wünsche einen positiven Ausblick in die Zukunft geben können.

Der Interviewtext von IIa), die seit zwei Jahren erkrankt ist, zeigt bereits im ersten Teil ein hohes Maß an Narrativität, was durch IIb) auf eine Weise honoriert wird, die auch eine qualitative Bewertung des Erzählten erkennen lässt:

[IIb)]: Das ist eine wunderschöne Geschichte, [Name IIa)], es ist also wirklich tief beeindruckend. (lacht) Also ich hatte so die Phantasie, das müsste man aufschreiben und müsste jedem Patienten in der Situation das geben und sagen: ‚Guck mal, so geht es‘.

IIa) selbst beendet ihre Geschichte mit einer äußerst positiven Bewertung der Krankheit: Sie sei der „Startschuss“ für eine grundlegende Veränderung gewesen. Der Mehrwert, welchen die Betroffene der Krankheitserfahrung zuspricht, wird deutlich formuliert: „Die [Krankheit, M.v.M.; M.W.] hat ganz viele Möglichkeiten für mich eröffnet. Und ich glaube, ich stände [sic] heute nicht da, wo ich stehe, wenn nicht diese Anfälle gewesen wären und für mich dieses Signal gegeben hätten. So sieht es aus (lacht)“. In der konkreten Sinnzuschreibung lassen sich Parallelen zum Krankheitsbericht von Ia) ausmachen. Auch IIa) sieht den Krankheitsausbruch in einem Übermaß an beruflichem Stress begründet. Und auch in ihrem Fall setzten Freunde bzw. Bekannte den Impuls für diese Form der Sinnzuschreibung. Dem voran stellt IIa) eine kurze Zusammenfassung ihrer Schwierigkeiten, die sie mit der Akzeptanz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zunächst hatte:

[IIa)]: Ich hatte immer die Vorstellung von mir als einem gesunden Menschen, als einem leistungsfähigen Menschen. Und jetzt war ich- also ich bin krank, ich bin Epileptikerin. Und das verändert natürlich meine- meine Identität. Und ich glaube, daran habe ich ganz schwer gearbeitet. Damit kam ich am Anfang gar nicht zurecht.
Bekannte, meine Familie, meine Freunde haben gesagt, das war kein Wunder, dass mal so etwas passiert, angesichts der Belastung, die ich habe. Das war mir aber gar nicht bewusst in der Situation. Also das war für mich normal, im Stress zu sein und viel zu arbeiten und belastet zu sein. Aber viele haben wirklich mir die Rückmeldung gegeben da: das war abzusehen, dass mal irgendetwas vorfällt.
Und dann habe ich begonnen zu überlegen, was nicht richtig läuft in meinem Leben.

War die erste Zeit nach der Diagnose offenbar von existenziellen Selbstzweifeln geprägt, die als Bedrohung für die eigene Identität wahrgenommen wurden, fand das nähere Umfeld eine als naheliegend (‚kein Wunder‘, ‚abzusehen‘) kommunizierte Begründung für den Ausbruch der Krankheit. Auch der Bericht von IIa) suggeriert durch das zeitliche Nacheinander (das auch mittels Temporaladverbien wie ‚dann‘ markiert wird) eine kausale Verbindung zwischen der Sinnzuschreibung durch das Umfeld und dem Beginn der eigenen Reflexion über das, ‚was nicht richtig läuft‘.

In der Mystory von IIIa) welche zum Zeitpunkt des Interviews seit zehn Jahren Epileptikerin ist, wird die Krankheit ebenfalls ursächlich mit einer beruflichen Überbelastung verknüpft, wiewohl hier nicht die Epilepsie im Besonderen Zeichencharakter für die Betroffene zu haben scheint, sondern das Prinzip ‚Krankheit‘ im Allgemeinen als Antwort auf ein Zuwenig an Ruhe interpretiert wird. Wie die anderen Mystories beginnt auch dieser Text mit den ersten wahrgenommenen Anzeichen der Krankheit und der Diagnose. Danach folgen negative Erfahrungen, wie die Trennung von ihrem ersten Ehemann und die bis heute anhaltende Distanzierung von der Tochter, welche im Interview noch konkreter als in der Mystory als direkte Folgen der Epilepsieerkrankung gewertet werden. Den Abschluss bilden zwei Absätze, die ebenfalls ähnlich der übrigen Mystories mit Wünschen für die Zukunft sowie der Hervorhebung eines positiven Aspektes, hier der Unterstützung durch den zweiten Ehemann von IIIa), das Berichtete zu einem Narrativ abrunden. Interessant sind mit Blick auf das Interview die letzten Fragen und im Vergleich dazu die Konstruktion des Endes in der Mystory. Zunächst sei ein Ausschnitt aus dem letzten Frageblock präsentiert:16

[IIIb)]: Haben Sie den Eindruck, dass Sie sich als Person, als Mensch verändert haben durch die Erkrankung?
[IIIa)]: Durch die Erkrankung. Es hat sich mein Leben verändert. Also, durch das, dass mein Exmann mich verlassen hat und meine Tochter, ich musste mir ein neues Leben aufbauen. Und die Krankheit war ja der Grund. Davor war nichts da, also das-
[IIIb)]: Aber die Krankheit hat Ihr Leben verändert, aber nicht Sie als Mensch, oder?
[IIIa)]: Nein.
[IIIb)]: Habe ich das richtig so verstanden?
[IIIa)]: Ja. Ich musste meinem Leben andere Form geben, aber ich als Mensch, ich bin immer noch die Gleiche. Ich kann immer noch gut backen (lacht).

Die zitierten Fragen beziehen sich auf eine mögliche qualitative Veränderung durch die Krankheit, die offenbar von beiden Dialogpartnern negativ bewertet wird, wobei IIIb) durch die pointierenden Nachfragen den Anreiz für diese Bewertung gibt. Die hierarchisierende Unterscheidung zwischen dem Leben, das hier als Konglomerat äußerer Umstände verstanden wird, und dem Menschen, der die Identität der Person samt seinen Fähigkeiten impliziert, wird durch IIIb) präzisierend ins Spiel gebracht und von IIIa) aufgenommen. In der Vorstellung von Krankheit als Zustandsveränderung, die äußerlich bleibt und keinen Zugriff auf das Innere der Betroffenen hat, wird sie gleichsam als Ereignis mit narrativen Qualitäten devaluiert. Die Erkrankung wird, anders als in den oben untersuchten Beispielen, weder in einer Metapher gefasst noch wird ihr ein anderweitiger Sinn zugeschrieben.

Doch gerade in ihrer Reduktion auf etwas rein Äußerliches, das mit der Person der Erkrankten selbst nicht sinnhaft in Verbindung steht, kann eine potente Bewältigungsstrategie liegen. Diese ist nur eben nicht narrativ, sondern pragmatisch. Interessant ist, dass ganz zum Schluss des Interviews IIIa) noch einmal auf ihre erste Ehe zu sprechen kommt, die aufgrund der Erkrankung scheiterte. Sie berichtet, dass sie in ihrem näheren Umfeld, insbesondere durch ihren damaligen Mann und ihre Tochter, starke Zurückweisung erlebte. Ganz am Ende, auf die offene Frage hin, ob noch etwas zu ergänzen sei, bezieht sich IIIa) noch einmal von selbst auf diesen Punkt. Das Interview schließt mit den Ausführungen über die schmerzvolle Erfahrung der Distanzierung der Tochter ab:

[IIIb)]: Das heißt, Sie riskieren auch dadurch, dass Sie das [von der Krankheit, M.v.M.; M.W.] erzählen, dass jemand dann sich zurückzieht.
[IIIa)]: Soll sich zurückziehen. Ich kann- also, wie gesagt, solange sich mein Mann nicht zurück zieht [sic] und ich- er hat mich in meiner schwersten Phase kennengelernt und da bin ich sehr sicher bei meinem Mann. Und dieses Gefühl gibt mir alles zu vergessen. Ich kann auch ohne die anderen Menschen leben. Ich habe meinen Mann, bin sehr glücklich und das reicht mir.
[IIIb)]: Ja. Gut.
[IIIa)]: Das tut schon weh, manchmal.
[IIIb)]: Das tut weh, natürlich, natürlich. Ja.
[IIIa)]: Aber, wie gesagt, man kann auch sehr große Schmerzen überwinden.
[IIIb)]: Ja, gerade, denk ich auch mit dem eigenen Kind. Ganz bitter.
[IIIa)]: Also, es sagen mir sehr viele das, ja, sie ist noch ein kleines Kind, aber mit dreizehn, vierzehn Jahren muss man schon verstehen, dass die Mutter krank ist. So klein ist man da nicht. Und das tut weh. Aber, wie gesagt, ich kann damit leben.
[IIIb)]: Ja, dann mach ich mal hier aus.

Die Betonung liegt hier zwar auch auf der Möglichkeit der Überwindung des Kummers oder einer Form des pragmatischen Arrangements mit den Gegebenheiten. Doch bis auf den zuvor noch einmal hervorgehobenen positiven Aspekt, dass IIIa) ihren zweiten Mann nicht ohne Verlust des ersten kennengelernt hätte, endet das Interview mit einer negativen und, wie es scheint, permanenten Folge der Krankheit, die auch retrospektiv nicht mit einem Sinn konnotiert wird. In der Mystory der Homepage hingegen verschwinden zwar die negativen Aspekte der Krankheitserfahrung von IIIa) nicht vollständig, sie werden jedoch zusammen mit den positiven auf eine Weise angeordnet, die ein Narrativ zuallererst entstehen lässt. Am Ende steht nämlich im Gegensatz zum Interview nicht die Distanzierung von Mutter und Tochter, sondern die Betonung der Hilfestellung, welche die Betroffene von ihrem nächsten Umfeld erhalte: „Viel Kraft und Halt erfährt [IIIa)] von ihrem zweiten Mann, den sie während einer schweren Phase ihrer Krankheit kennenlernte und ihren Eltern, die ihr immer zur Seite stehen.“ Und auch der letzte Videoausschnitt aus dem Interview gibt eine Passage wieder, die sich zwar am relativen Ende des Interviews befindet, aber eben noch vor der erneuten Erwähnung der problematischen Beziehung zu ihrer Tochter. Interessant ist auch, dass für die Überschrift des letzten Videoausschnitts die oben besprochene Frage der interviewenden Person IIIb) ausgewählt wurde: „Für [IIIa)] hat sich ihr Leben durch die Epilepsie verändert, aber nicht ihre Person“, deren positiv-resümierender Charakter in der exponierten Position am Ende noch deutlich verstärkt wird.

Damit stehen sich zwei gänzlich unterschiedliche Sinnstrategien am Ende gegenüber. Die in der Mystory gewählte Struktur von Anfang, Mitte, Ende und deren axiologische Besetzung, insbesondere die am Ende hervorgehobenen positiven Aspekte, geben der Krankheitserfahrung eine narrative Form bzw., um den dynamischen und prozesshaften Charakter der Narrativierung noch deutlicher zu machen: Die Mystory strebt nach einer Narrativierung. In der oben zitierten letzten Überschrift wird dagegen gerade ein nicht-narratives Element für die Sinnbildung stark gemacht, nämlich die Unversehrtheit der Person, welche den Zugriff der Krankheit – und damit ihre Narrativität und Ereignishaftigkeit – beschränkt.

Präsentationen von Krankheitserfahrungen II: Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen

Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen bezeichnen rezidivierende oder permanente Entzündungen des Darms. Die beiden häufigsten Formen sind Morbus Crohn, der den gesamten Gastrointestinaltrakt befallen kann, und Colitis ulcerosa, die nur im Dickdarm auftritt. Ähnlich wie bei den Epilepsien sind die Ursachen der Erkrankung nicht geklärt. Auch können diese Darmerkrankungen ganz unterschiedliche Verläufe nehmen, jedoch zeichnet sich bei der Durchsicht der Mystories bereits ab, dass es im Gegensatz zur Epilepsie kaum symptom- oder beschwerdefreie Verläufe gibt und die Betroffenen sich teilweise mit massiven Einschränkungen im Alltag konfrontiert sehen. Obschon auch in diesem Modul einige Mystories mit positiven Formulierungen, etwa Wünschen für die Zukunft, enden, finden sich vermehrt Textschlüsse, welche die Belastungen der Erkrankungen thematisieren. Auch in diesem Abschnitt werden wir uns drei exemplarisch ausgewählte Mystories und die dazugehörigen Interviews genauer ansehen.

Bei IVa) wurde im Jahre 2005 Colitis ulcerosa diagnostiziert. In der Mystory wird ein Aspekt aus dem Interview aufgegriffen, der auch in den Beispielen oben häufiger zu lesen war und für die Frage nach den Beteiligten am Narrativierungsprozess sehr aufschlussreich ist. Wie in den Interviews von Ia) und IIa) ebenfalls deutlich wird, sind an der Sinnzuschreibung einer Krankheit viele verschiedene Akteure beteiligt, die unterschiedlich großen Einfluss auf das Erzählen des bzw. der Betroffenen haben. Während die oben häufiger betonte Eigenverantwortung für den Ausbruch der Krankheit durch das nähere Umfeld von einzelnen Betroffenen in das eigene Narrativ integriert und fortgesetzt wurde, hebt IVa) im Interview negative Aspekte solcher Sinnzuschreibungen von außen hervor:

[IVb)]: Fällt Ihnen sonst noch irgendwas ein vielleicht, was wir noch nich a- was Sie noch nich angesprochen haben?
[IVa)]: Mmh <atmet aus, zieht die Nase hoch> ja so ähm, was halt, auffällig is’ dass jeder immer einen schlauen Rat hat, ne <[IVb)]: Hmhm> ähm entspann dich und das is doch nur ne Kopfsache äh du musst jetzt nich auf Toilette und ähm <zieht Luft ein> wenn man sagt oh ich glaub’ ne m- jedes Mal wenn man irgendwie was im Bauch spürt, weiß man nich muss ich jetzt auf Toilette oder is das nur n’bisschen Luft oder ähm <2sec> m- was is das jetzt und meistens is’s doch so dass ich da n’richtiges Gefühl habe […] <holt Luft> ähm <schluckt> ja und alle sagen halt ach äh stell dich nich so an oder versuch doch mal ähm, ja versuch doch mal diese Pille=versuch doch mal diese Pille=versuch doch mal diesen Saft oder kein Wunder wenn du so’n Stress hast oder, zieh um zieh auf’s Land also jeder hat so’n schlauen Rat […].

IVa) wird dem Zitat zufolge öfter („jeder hat so’n schlauen Rat“ [Hervorhebung M.v.M.; M.W.]) mit Einschätzungen seiner Krankheit und seiner selbst konfrontiert. Indem die Erkrankung als reine „Kopfsache“ interpretiert wird, die mit Willenskraft und der richtigen Entspannungstechnik zu bewältigen wäre, wird sie implizit als korrektes wie folgerichtiges („kein Wunder“) Signal des Körpers verstanden, der scheinbar auch gleich eine adäquate Therapie kommuniziert. So stellt der Umzug aufs Land einen sehr konkreten Vorschlag dar, mit der als ursächlich angenommenen Stressbelastung umzugehen. Zugleich wird die Erkrankung in ihrer Relevanz und noch grundlegender in ihrem Status als faktisches Ereignis nivelliert. Die Symptome der Krankheit seien Einbildung („du musst jetzt nich auf Toilette“), die Erkrankung selbst „nur eine Kopfsache“ (Hervorhebung M.v.M.; M.W.), wegen der man sich ‚nicht so anstellen‘ solle. Dieses Konglomerat an Fremdzuschreibungen bildet seinerseits natürlich keine homogene Interpretation und Bewertung der Krankheit. Stattdessen werden in den verschiedenen Aussagen Sinnelemente aktiviert, die in der Zusammenstellung das paradoxe Bild einer Krankheit erzeugen, die den Sinn hat, den Betroffenen wieder auf den richtigen Pfad (der Entspannung) zu lenken, auf dem die Krankheit selbst dann wiederum als bloß imaginäre Bedrohung erkannt werden könne.

Im vorletzten Absatz der Mystory wird die Interpretation als ‚Kopfsache‘ stellvertretend für die negativen Sinnzuschreibungen kontrastiv gegen die positiven Erfahrungen während eines Reha-Aufenthaltes gesetzt. Verständnis für seine Erkrankung, so IVa) im letzten Absatz, bekomme er von Freunden und Familie sowie in einer Selbsthilfegruppe, die er gelegentlich besuche. Der letzte Satz des Absatzes lautet: „[IVa)] hofft, dass die Besserung seines Zustandes der letzten Wochen lange anhält, da er sich nicht vorstellen kann, die nächsten dreißig Jahre mit starken Beschwerden zu arbeiten.“ Die Formulierung des Satzes bringt durch den Wunsch zwar durchaus ein positives Element zum Ausdruck, welches das Erzählte abrundet, sie integriert aber zugleich auch einen sorgenvollen Aspekt, der auf eine möglicherweise beschwerdenreiche Zukunft verweist und für den keine potentielle Lösung imaginiert wird. Auf diese Weise wird das Chronische als ein Charakteristikum der Krankheit, die einen nicht absehbaren Verlauf von Schub- und Remissionsphasen nimmt, am Ende des Textes noch einmal hervorgehoben, anstatt es in einem Narrativ aufzuheben. Die letzte Frage im Interview verdient außerdem nähere Betrachtung, da sie in allen untersuchten Interviews des Moduls ‚chronisch-entzündliche Darmerkrankungen‘ am Ende des Gesprächs gestellt wird und dafür prädestiniert ist, fruchtbares Material für eine Narrativierung der Krankheitserfahrung zu erzeugen:

[IVb)]: Hmhm gut und dann äh die letzte Frage is n’bisschen eigenartich vielleicht im ersten Augenblick, ich möcht Sie g- bitten so ne Sekunde drüber nachzudenken und zwar möcht ich Sie gerne, fragen ob ä es ein besonders oder besonders oder überhaupt ein ein so’n schönes ein nettes Erlebnis gab mit der Erkrankung irgendwas was so nich passiert wäre zum Beispiel also irgendwas
[IVa)]: <3sec> ein nettes Erlebnis, <[IVb)]: genau> <lacht>
[IVb)]: an das Sie sich einfach gerne erinnern was aber mit der Erkrankung ähm (in) Zusammenhang steht
[IVa)]: <3sec> Ich mein man man entwickelt natürlich dann irgendwann so’n Hobby, Toiletten Toiletten fotografieren ich war auf der Toilettenausstellung in Oberhausen, äh ich kuck mir Toiletten ganz anders an ich s- <[IVb)]: lacht> sammel Bücher ne der kleine Kloprinz oder ähm </lächelt> welcher Po passt auf dieses Klo <[IVb)]: lacht> und ä jeder bringt mir denn Postkarten mit Toilettenmotiven dri- ä mit ä <[IVb)]: lacht> / einige finden das dann ganz witzich=andere sagen boah tu das ja weg du beschäftigst dich n’ ganzen Tach mit so was <[IVb)]: ja> ähm das is so’n=so’n=so’n lustiges Element so ähm <[IVb)]: ok> was man dann so eben entwickelt Popokärtchen und wie sie alle heißen, <holt Luft> ja sonst, <pustet, atmet lange aus> so richtich positiv also, <lacht> <[IVb)]: lacht> nich wirklich also, <zieht die Nase hoch> ja vielleicht ähm, vielleicht dass man dass man sich doch so’n bisschen mehr um sich kümmert um sein, seine Gesundheit dass man n’bisschen achtsamer damit umgeht […]

Auch wenn IVa) nicht unmittelbar mit einem positiven Erlebnis im Zusammenhang mit der Krankheit aufwarten kann und sowohl die drei Sekunden des Wartens als auch das Lachen und die erneute, leicht reformulierte Nachfrage auf gewisse Schwierigkeiten bei der Beantwortung hindeuten, kann er schließlich verschiedene als lustig oder positiv verstandene Elemente aufzählen. Diese folgen allerdings ganz unterschiedlichen Sinnbildungsprinzipien. Zunächst hebt IVa) seinen humorvollen Umgang mit der Krankheit hervor, indem er die intensive Beschäftigung mit Aborten zum ‚Hobby‘ erklärt, aus dem sich eine Sammlertätigkeit entwickelt habe, die von Anderen mit Amüsement goutiert wird. Ein selbstironischer und humorvoller Umgang hebt ausdrücklich nicht auf eine narrative Sinnzuschreibung der Krankheit ab, stellt aber zweifelsohne eine patente Copingstrategie dar. IVa) fällt es nicht leicht, die Krankheit direkt mit positiven Aspekten in Verbindung zu bringen („<holt Luft> ja sonst, <pustet, atmet lange aus> so richtich positiv also, <lacht> <[IVb)]: lacht> nich wirklich also, <zieht die Nase hoch>“). Trotz einer fehlenden Narrativierung der Krankheit geht er schließlich auf einen Bereich ein, der zwar nicht der Krankheit an sich einen Sinn zuschreibt, aber dem Verhalten, das ihre Symptome erfordern (mehr Achtsamkeit, weniger Stress, positive Lebensausrichtung), etwas Sinnvolles abgewinnt.

Va) ist seit den späten 1990er Jahren an Morbus Crohn erkrankt. Insgesamt gesehen leidet Va) unter einem schweren Krankheitsverlauf, der ihm bisweilen, wie die Mystory zusammenfasst, nahezu vollständig den Lebensmut nahm. Die Krankheit führte und führt immer wieder zu massiven Einschränkungen im Alltagsleben. Im Interview selbst betont Va) die Schwierigkeiten, die ihm durch diese entstehen und beschließt seinen ersten Redeblock mit den folgenden Einschätzungen:

die Einschränkung wird immer größer, sobald ich mich körperlich angestrengt habe, sei es laufen, 100 Meter, 150 Meter, sei es Rasenmähen oder ’n bisschen Haken oder sonst was, ich bekomm’ sofort die Quittung, indem ich starke Schmerzen bekomme, äh, einfach kaputt und <2sec> erledigt bin, sach ich mal, <1sec> das ist so meine Lebensgeschichte, <[Vb)]: hmhm> oder meine Krankheitsgeschichte, meine Lebensgeschichte steht ja auf’m andern Blatt, <holt Luft>, aber das ist so, was ich zu meiner Krankheit <1sec> erzählen kann <3sec>

Im ersten Redeblock, der ersten knappen halben Stunde des Interviews, lässt sich keine narrative Struktur ausmachen. Es wird durchaus detailliert von prägenden Erfahrungen im Zusammenhang mit der Krankheit und insbesondere von den schwierigen Phasen der Schübe berichtet. Es wird jedoch nicht versucht, den chronischen Verlauf der Krankheit in ein narratives Muster, etwa das einer Entwicklung, einzupassen. In dem Interview geht es, wie Va) am Ende des Zitats oben selbst betont, um die Krankheits- und nicht um seine Lebensgeschichte. Die Beschreibung konzentriert sich auf die physischen und psychischen Belastungen, welche der Morbus Crohn für ihn mit sich bringt und die durchaus aber auch weitreichende Folgen für sein Leben haben. Dementsprechend beantwortet Va) die letzte Frage nach etwas Positivem, das er mit der Krankheit in Verbindung bringen könnte, negativ:

[Vb)]: Ok, ja, wir sind auch schon fast am Ende […], ich würd’ gerne nach einem, ähm, nach einem besonderen Erlebnis fragen, ähm, nach einem schönen, netten Erlebnis, was mit der Erkrankung zu tun hat, was aber, ähm, so nicht passiert wäre, wenn Du die Erkrankung nicht hättest, so irgendwas, was Dir vielleicht spontan einfällt, das wäre dann (die letzte Frage)
[Va)]: <nachdenklich> ’n schönes Erlebnis, <[Vb)]: oder irgendwas Nettes>, mit der Krankheit zusammen, <4sec>, ja da fällt mir jetzt absolut nichts ein <[Vb)]: ohhh, ok>, kann ich wirklich nichts zu sagen, an und für sich, <3sec>, nee, <lacht> da kann ich nichts zu sagen, tut mir leid
[Vb)]: Ja, nee, macht ja nichts, dann mach ich jetzt aus, (und dann sind wir fertig)

Sowohl das Interview als auch die Mystory der Homepage sperren sich gegen eine Narrativierung und eine damit einhergehende Sinnzuschreibung und lassen sich tendenziell den sog. chaos narratives, den eigentlichen Anti-Narrativen unter den Krankheitsnarrativen zuordnen. Zwar schließt auch die Mystory von Va) mit einer positiven Formulierung ab, welche die Motivation durch seine Kinder erwähnt, doch bildet dieser Aspekt kein narratives Ende für eine zuvor konstruierte Krankheitsgeschichte, sondern er bleibt ein – zweifellos wesentliches – Element im Geschehensfluss der Krankheit. Das Geschehen wird dadurch jedoch nicht in eine Geschichte transformiert, sondern vielmehr in seiner Fortdauer ausgestellt.

Bei VIa) wurde in früher Jugend Morbus Crohn diagnostiziert, sie hat mehrere Darm-Operationen hinter sich und lebt vorübergehend mit einem Stoma. Leidet VIa) bereits seit ihrer Kindheit unter wiederkehrenden Darmbeschwerden, nimmt dieser jüngste operative Schritt in ihren Beschreibungen zunächst besonderen Ereignischarakter an. Die Zeit, in der ihr von ärztlicher Seite mitgeteilt wurde, dass kaum mehr eine Alternative zu einem wenigstens temporären, womöglich aber auch permanenten künstlichen Darmausgang besteht, beschreibt sie als „ganz enorme[n] Tiefpunkt“, der in seiner Konsequenz auch eine Depression nach sich zog: „[I]m ersten Moment war’s für mich (nur ’n) Schock also ich hab’ mich einfach nur schlecht gefühlt ich dachte damit könnte ich nicht leben […].“ Das ärztliche und therapeutische Personal und insbesondere eine dreiwöchige Kur direkt im Anschluss an den Eingriff halfen der Betroffenen im Umgang mit der neuen Situation. Deren Bewältigung wird im Verlauf des Interviews auch dadurch markiert, dass die weitreichenden Veränderungen, die der Einsatz des Stomas prospektiv mit sich brachte, nun retrospektiv, nach dem Verlegen desselben, in ihrer Potenz wieder schrittweise reduziert werden. So berichtet VIa):

[VIa)]: meine Freunde die wissen das auch also meine engsten Freunde die wissen das mit’m Beutel auch ähm die Kollegen und mein Chef also die engsten Kollegen auch nicht alle <[VIb)]: Ja> und das ist nicht weil ich mich schäme dass ich das hab’ sondern im Gegenteil ich bin eher stolz darauf dass ich ähm trotz des Beutels irgendwie noch Ich geblieben bin dass ich noch weg geh’ und Spaß habe also das lass’ ich mir nicht nehmen <[VIb)]: Hmhm> aber ich hab’ gemerkt ähm viele haben dann eher Mitleid und das ist ’ne Sache die möchte ich nicht […] also ich also jetzt wo ich’s habe empfinde ich’s nicht mehr als so schlimm schlimm find’ ich eher wenn die Leute halt mit einem dann so Mitleid haben weil Mitleid brauch’ ich nicht will ich nicht

Das Mitleid, das VIa) so entschieden ablehnt, steht im Kontrast zu ihrer Selbsteinschätzung, für die gerade die Integrität des Selbst („dass ich […] noch Ich geblieben bin“) zusammen mit einem hohen Maß an Handlungssouveränität („das lass’ ich mir nicht nehmen“) von besonderer Wichtigkeit sind. Die vormals als bedrohlich wahrgenommenen Veränderungen durch die Verlegung des Stomas weichen im Folgenden zunehmend Beschreibungen, welche die Veränderungen als weniger weitreichend beschreiben und sukzessive in ihrer Ereignishaftigkeit dämpfen. Der oben zitierte Aspekt der persönlichen Integrität wird dagegen im Verlauf des Gesprächs auf Nachfrage noch einmal präzisiert:

[VIb)]: Hmhm noch eine Frage dazu und dann gehen wir auch über weil wir reiten jetzt die ganze Zeit in diesem Stoma ’rum ähm Sie haben das war da hab’ ich einmal den Satz aufgeschrieben weil ich den so interessant fand trotz des Beutels bin ich Ich geblieben haben Sie gesagt und das versteh’ ich irgendwie nicht ganz also wieso sollte dieser Beutel Sie als Person verändern
[VIa)]: Zum einen hatte ich Angst also wo ich noch nicht wusste wie das abläuft mit dem Stoma hatte ich erst mal Angst dass ich keine Ahnung fünf Mal am Tag dieses Ding wechseln muss dass ich mich den ganzen Tag damit beschäftigen muss dass ich nicht mehr in die Disco gehen kann äh dass ich nicht mehr mit meinen Freunden weg gehen kann also ich dachte ich müsste halt mein ganzes Leben einschränken […] aber also es hat sich einfach nichts verändert […] ich bin noch die alte ich geh’ trotzdem mitten in die /Tanzfläche <lacht> und so was und mach’ dann da meine Show und alles mögliche also/ das hat mich nicht verändert in dem Sinne

Die vormaligen Sorgen haben sich für die Betroffene nicht bestätigt. Dementsprechend betont sie, dass mit dem Stoma sehr viel weniger Einschränkungen verbunden sind, als ursprünglich befürchtet. Das Erzählen konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf den Aspekt der Wiederherstellung von Normalität nach einer besorgniserregenden Zustandsveränderung und greift damit Kernelemente des restitution narrative auf. Es geht an dieser Stelle nicht um den Mehrwert einer Krankheit oder der Veränderungen, welche diese mit sich bringt, sondern um die Bewältigung dieser Veränderungen, indem ihr Einfluss auf das Leben der Betroffenen auf ein Minimum reduziert wird. Ziel ist nicht das Erreichen eines neuen, gar besseren Zustandes, sondern die Wiederherstellung des status quo ante. Wie oben bereits diskutiert wurde, handelt es sich auch bei den restitution narratives um Formen des Erzählens, die kontinuierlich gegen ihre eigene Narrativität anarbeiten, da sie danach streben, die Krankheit und die an sie geknüpften Veränderungen in ihrer Ereignishaftigkeit zu minimieren. Hier wird abermals deutlich, dass gerade in der Ent-Narrativierung eines Ereignisses, in seiner Degradierung zu einer reinen, womöglich sogar nur temporären Zustandsveränderung, die keinen (v.a. keinen negativen) Einfluss auf die entsprechende Person hat, eine effiziente Verteidigungsstrategie gegen die Bedrohungen einer Krankheit liegen kann. Dass VIa) trotz des Stoma Lebensfreude nicht nur empfinden, sondern auch weitervermitteln kann, erlebt sie als zentrale positive Erfahrung. Dieser Aspekt wird am Ende des Interviews sowie am Ende der Mystory noch einmal betont:

[VIb)]: […] und zwar würde ich gerne Sie bitten mir von einem schönen Erlebnis zu erzählen was unmittelbar mit dieser Erkrankung zu tun hat irgend’ne Situation was Ihnen spontan einfällt mit Morbus Crohn aber ’n schönes Erlebnis vielleicht
[VIa)]: Also was ich zum Beispiel erzählt hab’ mit diesem Mädchen dass ich diesem Mädchen Mut /<lacht> machen konnte also/ dass sie erstaunt war oder auch in der Kur als die Leute ähm also da haben wirklich mehrere zu mir gesagt so boa du strahlst so ’ne Lebensfreude aus oder ich weiß nicht warum aber es sind ’n paar Leute zu mir gekommen und haben mich um Rat wegen dem Stoma gefragt äh also was ich meine weil die haben das und das Problem was die tun sollen oder so wo ich denke so die waren älter als ich und wo ich dachte also vielleicht muss wahrscheinlich irgendwie da so was /<lacht leicht> ausstrahlen oder so/ <[VIb)]: Hmhm> also das sind die Erlebnisse oder ähm in der Kur meinte auch ’ne Frau ich sollte einfach nur was hat sie gesagt von Beruf ähm /<lacht> Vorbild werden dass ich so von Kurklinik zu Kurklinik toure <[VIb)] lacht> oder so/ und den Leuten so zeige so <[VIb)]: Sprich’ mich an> genau es geht weiter alles ist gut also das sind halt die Erlebnisse wenn man die diese Bestätigung von den Leuten bekommt
[VIb)]: Hmhm okay
[VIa)]: Dass man so normal /<lacht> geblieben ist halt/
[VIb)]: Okay ja herzlichen Dank <[VIa)]: Hmhm> ähm ich mach’ die Kamera jetzt aus

Insbesondere am Schluss beider Texte werden also Elemente der restitution narratives stark gemacht. Die Unveränderlichkeit persönlicher Werte angesichts der Krankheit gewinnt gegenüber den narrativen Tendenzen, die das Interview zwischenzeitlich ebenfalls aufweist, am Ende einen höheren Stellenwert. Das Interview integriert durchaus auch einige Elemente des quest narrative. So verknüpft VIa) ihre Krankheit zwar nicht ursächlich mit einem narrativen Sinn, schreibt aber den damit verbundenen Herausforderungen eine wichtige Rolle im Prozess ihrer Persönlichkeitsbildung zu, was anhand eines letzten Auszugs aus dem Interview verdeutlicht werden soll:

[VIa)]: [I]ch hab’ versucht einfach intensiver über die Dinge nachzudenken tiefgründiger und zu denken Moment es es geht trotzdem weiter oder was ist das Positive jetzt in diesen negativen Geschichten <[VIb)]: Hmhm> und das ist glaub’ ich ’ne ganz große Stärke für mich geworden dass ich immer aus allem Negativen immer irgendwie doch schaffe und wenn’s noch so klein ist irgendwas Positives zu sehen
[VIb)]: Was ist denn das Positive an Ihrer Erkrankung
[VIa)]: Dass ich jetzt so ein starker Mensch bin <lacht> doch
[VIb)]: Ja glauben Sie dass das dadurch kommt
[VIa)]: Ja also es ich würd’ sagen die Krankheit hat sehr meinen Charakter geprägt also ich wär nicht der dieser Mensch wenn ich nicht die Krankheit hätte […]

Trotz der deutlich positiven Evaluation der Krankheit in Bezug auf die Identitätskonstruktion der Betroffenen ist anhand der Struktur des Interviews und der Mystory eine deutliche Priorisierung des restitution narrative gegenüber diesen Merkmalen des quest narrative abzulesen. Wieder ist die Betrachtung der Zusammensetzung der jeweiligen Textenden in besonderem Maße aufschlussreich. Der Gedanke der Wiederherstellung bzw. Verteidigung eines Zustandes, der sich durch große Autonomie gegenüber den krankheitsbedingten somatischen Veränderungen auszeichnet, gewinnt im Interview zusätzlich an Bedeutung durch seine Position am Ende. Diese Positionierung und die damit einhergehende hohe Wertigkeit werden in der Mystory aufgegriffen, indem auch hier am Ende die Entlastung betont wird, die VIa) dadurch erlebt, dass die Verlegung des Stomas nicht das Ereignis bedeutet, als das es zuvor imaginiert und gefürchtet wurde.

Fazit

Obgleich Krankheit, wie Tomas Tomasek anmerkt, „zu den ältesten Themen in der Geschichte der deutschen Literatur“ (2002, 97) gehört, wird gerade in der Vormoderne weniger die Krankheit selbst als vielmehr ihre Heilung in den Vordergrund der Beschreibung und Darstellung gestellt. Eine Heilung stellt nicht nur das Ende der Krankheit dar, sondern schließt auch die Erzählung von Krankheit mit einem Ende ab. Wenn Heilung aber nun keine Option darstellt, wie es bei chronischen Krankheiten oft der Fall ist, müssen andere Sinnbildungsstrategien gefunden werden. Weder die an Epilepsie noch die an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa Erkrankten gehen unversehrt aus den Schädigungen ihrer Krankheiten hervor, sie tragen die corona patientiae nicht aus freien Stücken und sind durch die chronischen Verläufe ihrer Erkrankung gezwungen, dieser mit Ausdauer zu begegnen. In einigen Interviews (IIIa], VIa]) ließen sich Erzählstrategien ausmachen, welche eben diesen Aspekt der Ausdauer und der persönlichen Integrität betonen und damit ein wesentliches Element legendarischen Erzählens aufgreifen. Indem an strukturell prominenter Stelle, also besonders am Ende, Tugenden wie Durchhaltevermögen und Stärke, die Unversehrtheit der Person und die Möglichkeit betont werden, ein hohes Maß an Normalität zu leben, wird in narratologischer Hinsicht die Ereignishaftigkeit der Krankheit zwar nicht aufgehoben, wohl aber reduziert. Damit werden natürlich keine Aussagen über das tatsächlich erfahrene Leid getroffen, das sich der hier angesetzten strukturalen Analyse entziehen muss.

Bemerkenswert ist, dass die Präsentation von Krankheitserfahrungen in den Interviews und in den Mystories narrativen und zugleich nicht-narrativen Prinzipien folgt, dass sie durch die gezielte Kombination von narrativierenden und entnarrativierenden Mechanismen jeweils einen ganz bestimmten Sinn konstruiert, der dem, was Frank restitution, chaos oder quest narratives nennt, sehr nahe kommt, sich einer solchen Sinnbildung aber auch aktiv verweigern kann. Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Sinnebenen unterscheiden: Die analysierten Texte streben zu einem Teil nach narrativer, zu einem anderen Teil nach pragmatischer Sinnerzeugung. Offenbar ist es möglich, Krankheit auch auf nicht-narrative Weise zu domestizieren, und zwar vornehmlich, indem sie im Prozess des Erzählens, Fragens und Wiedererzählens als narratives Ereignis nivelliert wird. Ereignishaft und narrativ wirksam kann nur sein, was Konsequenzen nach sich zieht, was relevant, nicht iterativ und v.a. resultativ ist (vgl. Schmid 2008, 12-18). Wiewohl sich chronische Erkrankungen durch ihre Dauer naturgemäß gerade letzterer Bedingung verweigern, werden von einigen Betroffenen, ihrem Umfeld und ihren InterviewerInnen einzelne Aspekte der Krankheit, wie etwa ihr erstmaliges Auftreten und Bewusstwerden, mit den Qualitäten eines Ereignisses versehen. Dies wiederum ist ein wesentlicher Schritt für die Narrativierung einer Krankheitserfahrung.

Die Analyse zeigte, dass eben jene Personen, welche dem Ausbruch der Erkrankung Ereignischarakter zuschreiben, dieselbe auch mit einem narrativen Sinn ausstatten, der tendenziell dem der quest narratives zuzuordnen ist (Ia], IIa], VIa]). Konkret umgesetzt wird dieser Sinn etwa in narrativ hochwirksamen Metaphern oder im Prinzip der persönlichen Läuterung (Ia], IIa]); beide stellen bereits in mittelhochdeutscher Literatur häufig erprobte Mittel zur Sinngenese dar. Geht es bei der Krankheitserfahrung im Armen Heinrich um eine Rückbesinnung auf christliche Werte, die durch das Frönen irdischer Freuden vom Protagonisten vernachlässigt worden waren, wird in einigen Interviews der intensive Einsatz für den Beruf als Auslöser für die Krankheit gewertet und von einer Rückbesinnung auf Tugenden wie (Selbst-)Achtsamkeit erzählt (Ia], IIa], IIIa], IVa]). Das literarisch tradierte Konversionsmotiv wird damit in säkularisierter Form für die Sinnbildung eingesetzt. Durch die Aktivierung eines solchen Sinnpotentials kann zum einen Handlungssouveränität zurückgewonnen werden, zum anderen kann die Krankheit als ein notwendiges Element in den Prozess der Identitätskonstitution mit einbezogen werden. Allerdings ist die Grenze zwischen Eigenverantwortung und Schuld stets eine fragile und wird zuweilen, wie in den Interviews mit Ia) und IVa) deutlich wurde, selbst bei Krankheiten mit unklarer Ätiologie von Außenstehenden zugunsten simplifizierender Sinnzuschreibungen überschritten.

Wird Krankheit in ihrer Ereignishaftigkeit nivelliert, ist sie für solche narrativen Sinnzuschreibungen nicht mehr empfänglich. Die konkrete Nivellierung von Narrativität kann auf verschiedene Weisen und mit jeweils ganz unterschiedlichen Konsequenzen für die Sinnbildung erfolgen. Zum einen kann der chronische Verlauf der Krankheit hervorgehoben werden, indem sie selbst im Status des Geschehens belassen wird, das durch seine Ungeordnetheit und potentielle Unendlichkeit noch keinen narrativen Sinn hervorbringt. Die Erfahrung von Krankheit wird dann nicht als Geschichte erzählt, sondern als ein Kontinuum an mal mehr, mal weniger leidvollen Phasen beschrieben, welche der bzw. die Betroffene nur begrenzt (IVa) oder überhaupt nicht kontrollieren kann (Va). Die fehlende Handlungsmacht wirkt sich auch auf den Status des Subjekts in einem solchen chaos narrative aus, das schwerlich die für eine Geschichte notwendige Protagonistenrolle einnehmen kann, wenn sein Einfluss auf die Krankheit und deren Verlauf so gering ist, dass es nur auf sie reagieren kann und sich dem Geschehensfluss der Erkrankung hingeben muss.

Die Entnarrativierung und Interpretation der Krankheit als punktueller Aussetzer, ihre narrative Devaluierung kann allerdings auch eine hochpotente Sinnbildungsstrategie nicht nur für die Betroffenen, sondern ebenso für die Rezipienten eines Krankheitsberichts darstellen. Die konstruktive Zusammenarbeit an einem restitution narrative, das ja – wie bereits diskutiert – nur marginal narrativ ist, konnte in den Interviews mit IIIa) und VIa) nachvollzogen werden, in denen sowohl von den interviewenden als auch der interviewten Personen der nur begrenzte Zugriff der Krankheit auf die Identität und die persönliche Integrität der Betroffenen hervorgehoben wurde. Es entscheiden nicht nur die Erkrankten selbst darüber, welche Elemente aus den drei Narrativen an welchen Stellen der Krankheitsgeschichte oder des Krankheitsberichtes eingesetzt werden, sondern auch die jeweiligen ZuhörerInnen wirken an der Konstruktion des Gesamtnarrativs mit. Dieser prozessuale und dynamische Charakter der Narrativierung ließ sich besonders eindrücklich anhand des Vergleichs zwischen Interview und Mystory von IIIa) nachvollziehen. Ihre Krankheitserfahrung erlangt im Interview selbst noch keinen narrativen Status, da sie nicht mit Sinn besetzt wird. Die eigentliche Narrativierung, die Transformation des Krankheitsberichts im Interview in die Geschichte der Mystory erfolgt erst im zweiten Schritt der Zusammenfassung und Neuordnung der Geschehenselemente.

Zu Anfang dieses Beitrags wurde bereits betont, dass an der Konstruktion einer Geschichte immer auch der Rezipient beteiligt ist. Die Frequenz sowie die strukturelle Anordnung der Fragen zielen strategisch bereits auf das Erzeugen einer Geschichte im narrativen Sinne. Anhand der Interviews mit Ia) und IIa) konnte nachvollzogen werden, dass an dem Narrativierungsprozess außerdem das nähere Umfeld der Betroffenen teilhat, das durch den Versuch, Ursachen der Erkrankung zu identifizieren, Sinnmöglichkeiten anbietet, die von ersteren teilweise übernommen, bisweilen aber auch abgelehnt werden. Dieses Zusammenwirken verschiedener Deutungsinstanzen beschreibt Arthur Kleinman als anthropologische Grundanlage des Geschichtenerzählens:

The point I am making is that the meanings of chronic illness are created by the sick person and his or her circle to make over a wild, disordered natural occurrence into a more or less domesticated, mythologized, ritually controlled, therefore cultural experience (Kleinman 1988, 48).

Die Narrativierung von Krankheitserfahrung ist ein kollektiver Mechanismus, der kontingenten Zustandsveränderungen eine sinnhafte Ereignishaftigkeit zu verleihen imstande ist, und daher von hohem kulturellem Wert. Er wurde, das zeigt nicht zuletzt die Wirkmächtigkeit historisch tradierter Erzählmuster, ganz wesentlich auf dem Feld der Literatur eingeübt, während die spezifisch narrative Form der Sinnkonstitution Eingang in faktuale Texte findet. Der Vergleich mit mittelalterlichen Texten über Versehrung und Krankheit half dabei, die wesentlichen Konstituenten einer solchen Sinnbildung herauszustellen, welche in den rezenten, faktualen Interviews und Mystories explizit und implizit wirksam werden. Dabei konnten auch Entwicklungsmöglichkeiten bestimmter Motive aufgezeigt werden. So werden etwa, wie oben bereits angerissen, die Erzählelemente von Schuld und Läuterung, die in den mittelalterlichen Texten vor einem christlichen Sinnhorizont aufgespannt sind, im untersuchten Material säkularisiert, büßen dadurch jedoch keineswegs an Argumentationskraft ein.

Es sollte nicht unterschätzt werden, welche Kraft Metaphern und Erzählmuster als Ausgangs- und Kulminationspunkte des Narrativen entfalten können. Sie haben das Potential, sich auch gegen die persönliche Erfahrung des oder der jeweils Betroffenen zu verselbstständigen. Es ist anzunehmen, dass sich chronische Erkrankungen häufiger noch als akute, reversible Beeinträchtigungen der Gesundheit, gegen eine widerstandslose Einpassung in ein narratives Sinnmuster sperren. Gerade in der Verweigerung, der Krankheit Ereignischarakter oder sogar einen Geschichtsstatus zuzusprechen, kann jedoch eine Strategie der Selbstverwahrung gegen ihre – im chronischen Verlauf wiederholten – Angriffe auf die eigene Integrität liegen. Das Erkennen und die Akzeptanz dieser anti-narrativen Strategien der Selbstbehauptung scheinen aufgrund ihres hermeneutischen Sinndefizits für die Rezipienten von Krankheitserfahrungen nichtsdestotrotz stets eine immense Herausforderung darzustellen.

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Mareike von Müller M.A.
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Abteilung Germanistische Mediävistik
Käte-Hamburger-Weg 3
37073 Göttingen
E-Mail:
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Homepage:
https://www.uni-goettingen.de/de/125761.html

Matthias Wermeling M.A.
Georg-August-Universität Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin
Universitätsmedizin Göttingen
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1 Illness narratives sind grundsätzlich von clinical case histories zu unterscheiden. Vgl. den Überblick bei Goyal (2013).

2 Das Corpus umfasst insgesamt 43 Mystories und Interviews von EpileptikerInnen und 40 von Erkrankten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Die für die hier angestellte Analyse exemplarisch ausgewählten Interviews und Mystories wurden von den Betroffenen für die wissenschaftliche Bearbeitung freigegeben. Für die freundliche Überlassung der Interviewtranskripte danken wir sehr herzlich Wolfgang Himmel, Gabriele Lucius-Hoene, Martina Breuning und Alexander Palant.

3 William Labov spricht in Bezug auf oral narratives von „archetypical narratives in everyday life“ (2013, 9).

4 Auch wenn sich die soziologische und linguistische Terminologie von ‚Geschichte‘ und ‚Narrativ‘ nicht vollständig mit den engeren narratologischen Begrifflichkeiten der Literaturwissenschaft deckt, gibt es doch markante Überschneidungen, was die Vorstellung von den Grundelementen einer narrativen Struktur angeht. So führt etwa Labov aus: „A fully developed narrative begins with an abstract, an orientation with information on persons, places, times and behavior involved; the complicating action; an evaluation section, which identifies the point of the narrative; the resolution; and a coda, which returns the listener to the present time“ (2013, 5). Allerdings ist diese Struktur bereits sehr voraussetzungsreich, wenn sie allein schon die Narrativität des Gesprochenen verbürgen soll. Um das Prozesshafte der Narrativierung sichtbar und nachvollziehbar zu machen, ist es sinnvoll, literaturwissenschaftliche Konzepte heranzuziehen, die sich dezidiert mit den Fragen auseinandersetzen, wodurch genau ein berichtetes Geschehen in eine Geschichte transformiert wird und ab wann eine Zustandsveränderung die Qualitäten eines narrativen Ereignisses aufweist. Auf die theoretischen Grundlagen dieses Beitrags gehen wir weiter unten noch ausführlich ein.

5 Für die vorliegende Fragestellung ist es unwesentlich, ob diese Strategien von den jeweiligen Akteuren bewusst reflektiert werden.

6 Ob es sich bei dem vorliegenden Material tatsächlich um narrative Erzählungen oder um Berichte handelt, wird im Folgenden noch zu untersuchen sein. Vorstellbar ist neben der Möglichkeit, dass sowohl die Interviews als auch die Mystories Geschichten im narratologischen Sinne erzählen, dass die narrativen Interviews eher Berichten ähneln, welche erst in der Zusammenfassung durch die GestalterInnen der Homepage narrativiert werden. In keinem Falle, das sei an dieser Stelle betont, ist mit der Beschreibung von Narrativität oder Nicht-Narrativität ein Qualitäts- oder Werturteil impliziert.

7 Aus der eminent wichtigen Rolle, welche das Ende für die Konstruktion des Textsinns spielt, ergeben sich vielfältige poetische Möglichkeiten. Wird das Ende als prominenter Ort der narrativen Sinnbildung angenommen, ergibt sich, dass Erzählungen, welche auf Sinnverdunkelung abzielen, insbesondere auch das Ende in seiner narrativen Funktion zu irritieren bestrebt sind. Zum ästhetischen Effekt der Sinnirritation, welche vornehmlich durch eine bewusste Störung am Textschluss erzeugt werden kann, finden sich erste Vorüberlegungen bei Mareike von Müller (2013).

8 Bereits in den hippokratischen Schriften wird die Bezeichnung als ‚heilige Krankheit‘ entschieden kritisiert und eine Profanisierung von Krankheit insgesamt favorisiert. Vgl. Pseudo-Hippokrates (1962, 34-149, bes. 134f.).

9 Matejowski gibt eine konzise Übersicht der im Mittelalter vorherrschenden Ansichten und Therapien für das bereits zu dieser Zeit als komplex eingeschätzte Krankheitsbild der Epilepsie. So werde Epilepsie zwar häufig „als Ausdruck der Besessenheit, als Ergebnis einer dämonischen Inbesitznahme [verstanden]. Gleichzeitig aber erfolgt eine Auseinandersetzung mit den naturalistischen Modellen der antiken Medizin“ (1996, 57).

10 Es gibt durchaus narratologische Konzepte, welche sehr viel breitere Begriffe von Narrativität und Ereignishaftigkeit ansetzen als etwa Schmid und Stierle es tun. In der Folge fällt allerdings auch die Abgrenzung von Termini wie Ereignis und Zustandsveränderung, Geschehen und Geschichte, narrativem und pragmatischen Sinn schwerer. Eine enger gefasste Terminologie bietet sich schon deshalb an, weil mit ihr die alles andere als klaren Übergangsbereiche vom Narrativen zum Nicht-Narrativen besser zu erfassen sind.

11 Insbesondere in der Schlussgebung weichen die zwei überlieferten Fassungen des Armen Heinrich voneinander ab. Während in Fassung A, die der hier verwendeten Edition zugrunde liegt, die Narration sowohl mit dem weltlichen Glück der Heirat als auch mit der Aussicht auf die göttliche Gnade des ewigen Lebens abschließt, verzichtet das Paar in B nach der Heirat auf den Vollzug der Ehe. Diese Fassung endet mit dem Rückzug Heinrichs ins Kloster. Der narrative Sinn des conversio-Motivs ist indes in beiden Fassungen enthalten, wiewohl es in B durch den Rückzug aus der Welt noch konsequenter umgesetzt erscheint. Vgl. für einen kurzen Überblick zur Überlieferung Gärtner (2010, XXII-XXVIII) und Wolf (2007, 108; 117).

12 Frank präsentiert unter verschiedenen Beispielen, welche Realisationsmöglichkeiten dieses Paradox in der konkreten Bewertung von Krankheit illustrieren, das folgende Resümee, das sich auf eine Krebskranke nach einer Brustamputation bezieht: „She had to lose a breast to become the full version of what she was before, but only incompletely“ (2013, 135). Dieser Satz veranschaulicht einerseits die Neigung zum Pathos, welche diesem Narrationstypus eignet, und lässt andererseits die Gefahr des Zynismus erahnen, die dieser gleichzeitig birgt. So merkt auch Frank an, dass insbesondere „quest stories risk romanticizing illness“ (2013, 135).

13 Auch Labov beschreibt, dass sich selbst in Narrationen über ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Ereignis immer wieder „sentences with negatives, modals, and futures, all of which refer to events that did not in fact occur“, finden lassen. Diese Elemente hätten die wichtige Funktion „to evaluate the narrative, or to establish its ‚point‘“ (2013, 30).

14 Um die Zuordnung von öffentlicher Mystory zu nicht öffentlichem Interview zu erschweren, verzichten wir jeweils auf die Angabe der präzisen Adresse auf www.krankheitserfahrungen.de und darauf, die auf der Homepage verwendeten Pseudonyme der Betroffenen wiederzugeben. Stattdessen beziffern wir die ausgewählten Beispiele der hier gewählten Reihenfolge nach mit den römischen Zahlen I-VI. Betroffene Person und InterviewerIn unterscheiden wir mit den Kleinbuchstaben a) und b). Zudem werden die Interpunktion und die z.T. voneinander abweichenden Notationen aus den Transkripten übernommen und nur kleinere typographische Angleichungen vorgenommen.

15 Formulierungen wie ‚adäquat‘, ‚defizitär‘, ‚Nivellierung‘ etc. beziehen sich im vorliegenden Beitrag grundsätzlich und ausschließlich auf die narrative Struktur der Texte und sind nicht als ästhetische oder moralische Werturteile zu verstehen.

16 In den zitierten dialogischen Passagen werden der besseren Übersicht halber jeweils die SprecherInnen mit ihrem kursivierten Kürzel angegeben.