Daniel Becker

Die narrative Bewältigung von Krisen

Paul A. Cohens Ausführungen zur narrativen Macht des kollektiven Gedächtnisses in historischen Krisensituationen

Paul A. Cohen: History and Popular Memory. The Power of Story in Moments of Crisis. New York: Columbia University Press 2014. 279 S. GBP 50.00. ISBN 978-0-231-53729-2

Erzählen in der Geschichtswissenschaft – ein Überblick

Unter allen Wissenschaftsdisziplinen, die durch den narrative turn eine disziplinäre Ausweitung hin zur Analyse der Formen und Funktionen narrativer Strukturen erfahren haben, stellte die Geschichtswissenschaft lange Zeit einen Sonderfall dar: Trotz der Omnipräsenz von Narration in gesellschaftlichen Deutungsprozessen, fungierte die Historiographie lange als Bollwerk gegen den vermeintlichen ‚Siegeszug‘ des Erzählens. Während Disziplinen wie die Politikwissenschaft oder die Psychologie die Analyse narrativer Prozesse in ihr jeweiliges Forschungsdesign integrierten, entbrannte unter Vertretern der Geschichtswissenschaft ein stark emotionsgeladener Streit um das Selbstverständnis der Disziplin. Geschichte ‚nur‘ als narrativ zusammengesetzten und von einer gegenwärtigen Deutungselite propagierten Plot zu verstehen, stünde, so das Argument der Narrations-Kritiker, der um Objektivität und kritische Distanz bemühten Empirie der Quellenkunde diametral entgegen (vgl. Misztal 2003). Die Form der Ergebnisdarbietung ergebe sich eher aus den aus Quellen gewonnenen Erkenntnissen und nicht etwa aus Erzählmustern, die einem Historiker zur Verfügung stünden. Besonders deutlich offenbarte sich diese Haltung in der emphatischen Abgrenzung einiger Historiker gegenüber den aufkommenden Memory Studies (vgl. Erll 2005): Geschichte und Gedächtnis seien zwei völlig unterschiedliche Perspektiven auf die Vergangenheit.

Erst im Laufe der letzten Jahrzehnte konnte dieser starke Gegensatz aufgrund von drei Faktoren allmählich aufgeweicht werden. Erstens forderten dezidiert erinnerungstheoretisch fundierte Publikationen von Historikern wie Reinhart Koselleck und Jörn Rüsen das konservative Geschichtsverständnis heraus (vgl. Koselleck 1989; Rüsen 1998). Zweitens wurde das neue Vergangenheitsverständnis durch literatur- und erzähltheoretisch ausgerichtete Ansätze unterstützt, die die Rolle narrativer Strukturen für die Vergangenheitsbewältigung und Sinnkonstitution hervorheben (vgl. z.B. Ricœur 1983). Mit anderen Worten: Was die Vergangenheit bedeutet, hängt davon ab, wie sie erzählt wird. Schließlich wurde dieses Credo durch den Aufstieg der Memory Studies und den gesamtgesellschaftlichen ‚Memory-Boom‘ vorangetrieben. Besonders kulturwissenschaftliche Ansätze, wie etwa Jan Assmanns und Harald Welzers Studien zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis (vgl. Assmann 1999; Welzer 2005), konnten überzeugend darlegen, dass jeder Zugriff auf die Vergangenheit durch politisch und kulturell motivierte Erzählmuster geprägt ist. Die ursprüngliche Distanz zwischen subjektiv praktizierter Erinnerung und objektiv begründeter Historiographie wurde so aufgelöst und in ein für beide Seiten fruchtbares Verhältnis überführt.

Erkenntnisinteresse und argumentative Grundlage der Studie

Die 2014 erschienene Monographie History and Popular Memory: The Power of Story in Moments of Crisis von Paul A. Cohen ist ein Produkt dieser ‚Versöhnung‘ zwischen Historiographie und Memory Studies. Wie bereits im Titel angedeutet, geht es Cohen um die Rolle kollektiver Erzählungen bei der Bewältigung gegenwärtiger Krisensituationen. Cohen geht von zwei Annahmen aus: Zum einen von der Differenz zwischen wissenschaftlicher Historiographie und kollektivem Gedächtnis, zum anderen von einer komplexen Interaktion zwischen historiographischen Erkenntnissen, emotionsgeladenen Narrativen und subjektiven Erinnerungseindrücken.

Im Bereich des kollektiven Gedächtnisses zeige sich, so Cohen, „the mysterious power that people in the present draw from stories“ (S. xiii). Denn nur hier, in der Wechselwirkung zwischen individuellen Erinnerungseindrücken und kollektivem Geschichtswissen, zeige sich die Bedeutung von Erzählungen zur Etablierung eines kohärenten Selbstkonzepts. Die ,mysterious power‘ bestehe darin, dass kollektive Erinnerungen die historiographische ‚Faktenlage‘ verbiegen oder ignorieren könnten. Eine emotional ansprechende und kohärente Erzählung würde einer historiographischen Ursachenforschung vorgezogen, da sich Individuen eher mit einem Bild der Vergangenheit identifizierten, welches ihren gegenwärtigen Bedürfnissen entspreche („that fits their preconceptions – a past they feel comfortable and identify with“), als mit einer persönlich weniger relevanten Version der Vergangenheit, die auf historiographischer Objektivität beruhe („a past that is ‘true’ in some more objective sense“, S. xiii-xiv). Die Kraft des Erzählens für unser tatsächliches Vergangenheitsbild fernab der historischen Fakten solle daher nicht unterschätzt werden. Umso erstaunlicher, so Cohen, dass diesem Phänomen in der bisherigen Geschichtswissenschaft nicht genügend Raum zugestanden worden sei (vgl. S. xiii).

Um seinem Argument der besonderen Bedeutung des Erzählens für das kollektive Gedächtnis zusätzliche Überzeugungskraft zu verleihen, beschäftigt er sich in den folgenden Analysen ausschließlich mit der narrativen Aufarbeitung von Krisenmomenten. Denn in Extremsituationen zeige sich, so Cohen, die Signifikanz von Erzählungen besonders deutlich: Erzählungen über vergangene Krisen dienten als Handlungsanweisungen für ähnliche Krisen in der Gegenwart und würden so dazu beitragen, die problematische Gegenwartssituation erfolgreich zu bewältigen.

Aufbau und methodisches Vorgehen der Studie:
Innovativer Methodenpluralismus

Dem so gestalteten Hauptargument Cohens folgen, im Hauptteil von History and Popular Memory, die breit aufgestellten, transkulturell und diachron orientierten Beispielanalysen verschiedenster Krisenmomente. Den Mittelpunkt und die thematische Klammer bilden hierbei jeweils die verwendeten Erzählmuster bzw. die jeweiligen Einzelerzählungen, die zur narrativen Aufarbeitung einer gegenwärtigen Krise verwendet werden. In fünf Fallstudien beschäftigt sich Cohen mit den folgenden thematischen Schwerpunkten: In Kapitel 1 beschreibt er die narrative Renaissance und politische Instrumentalisierung der Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 (,battle of Kosovo‘) im Rahmen des aufkommenden serbischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Das 2. Kapitel widmet sich der allegorischen Interpretation des Verlustes von Masada an die römischen Legionen im Jahr 74 n.Chr. als Sinnbild eines krisengeschüttelten „modern Jewish memory“ (S. 33), bevor in Kapitel 3 die politische Orientierung der chinesischen Nationalpartei unter Chiang Kai-Shek (1925-1975) an Erzählungen über Taten des vorchristlichen Yue-Königs Goujian (496-465 v. Chr.) analysiert wird. Kapitel 4 stellt die vielseitigen narrativen Modellierungen der historischen Schlüsselfigur Jeanne d’Arc (1412-1431) zur Unterstützung Frankreichs in Kriegszeiten dar. Kapitel 5 schließlich untersucht die spezifische Verwendung zweier filmischer Erzählungen, Sergei Eisensteins Alexander Newski (1938) und Laurence Oliviers Filmadaption von Shakespeares Henry V (1944), als politisches Propagandamaterial in England zur Zeit des zweiten Weltkrieges (Kapitel 5).

Cohens Studie zeichnet sich durch eine innovative Verbindung unterschiedlicher Methoden, von der historiographischen Quellenkritik bis zum literatur- und kulturwissenschaftlichen close reading, aus. So präsentiert Cohen etwa einerseits rein historiographisch die Jahrhunderte überdauernde historisch-politische Entwicklung des Kosovos (S. 6-9) oder die Quellenlage zur Masada-Festung (S. 34-39), andererseits lässt er aber auch spannende Einblicke in die Genese, Tradierung und Funktionalisierung von Geschichten zu. Beispiele für solche literaturwissenschaftlichen Perspektiven sind die Analyse von de Gaulles spezifischer Verwendung des Jeanne-d’Arc-Mythos oder Yitzhak Lamdans innovative Deutung der historischen Quellen in seinem einflussreichen Gedicht „Masada“ (vgl. S. 45-52). Cohen verwendet regelmäßig auch narratologisch-strukturalistische Konzepte zur Analyse der jeweils vorliegenden Erzählungen. So ist er etwa besonders an Plotstrukturen und wiederkehrenden Handlungsmotiven interessiert: Am Beispiel verschiedener Aktualisierungen der Geschichte von König Goujian arbeitet er detailliert Topoi wie Erniedrigung, Rache oder Nachsicht heraus (vgl. S. 83) und verfolgt die Entwicklung dieser Motive in den einzelnen Erzählfassungen.

Insgesamt kann Cohen die verschiedenen theoretischen Ansätze (Narratologie, Kultur- bzw. Literaturwissenschaft und Historiographie) in den einzelnen Kapiteln gewinnbringend miteinander verknüpfen. Sein spezifisches Vorgehen ermöglicht darüber hinaus den Vergleich von individuellen und kollektiv geteilten Erinnerungserzählungen. Besonders in diesen Gegenüberstellungen funktioniert der Methodenpluralismus Cohens außerordentlich gut und es gelingt ihm, den Einfluss kollektiv geteilter Erinnerungserzählungen auf die individuelle Erinnerung darzustellen.

Kritische Einschätzung und Fazit zur Studie

Wo andere Studien zur Erinnerung als sozialem und narrativem Phänomen enge kulturelle und zeitliche Grenzen setzen, blickt Cohen über den ‚westlichen‘ Tellerrand hinaus und untermauert so sein Argument der universellen Bedeutung des Erzählens für das kollektive Gedächtnis. Die transkulturelle Perspektive führt aber nicht zu unzulässigen Verallgemeinerungen; vielmehr trägt die multiperspektivische Konzeption der Studie der Komplexität der diskutierten kulturellen Konstellationen Rechnung. Zudem werden die in den einzelnen Kapiteln dargelegten Gegenstände sehr detailliert und umfassend beschrieben, was Cohens unbestreitbare Expertise in den analysierten kulturellen Kontexten deutlich zu Tage treten lässt. Dennoch gelingt es ihm, sein Expertenwissen in einer klaren und auch für die mit fernöstlichen oder arabischen Kulturen nicht vertrauten Leserinnen und Leser stets verständlichen Sprache darzubieten.

Neben den vielen Vorzügen und spannenden Analysen weist History and Popular Memory aber auch eine Schwäche auf: Die von Cohen verwendeten Begrifflichkeiten erfahren nur eine minimale Definition und eine geringe Einbettung in aktuelle Theoriedebatten innerhalb der Erzähltheorie und der Gedächtnisforschung. Der Kernbegriff der story wird nicht definiert, und auch eine Abgrenzung von kollektivem Gedächtnis einerseits und popular memory anderseits (beide Begriffe werden synonym verwendet) oder eine Auseinandersetzung mit erinnerungstheoretischen Konzepten sucht man vergeblich. Ist das kollektive Gedächtnis als ein zusammenhängender Paralleldiskurs zum offiziellen (staatlichen) Gedächtnis zu sehen, oder besteht es nicht selbst immer schon aus verschiedenen Narrativen, die in Konflikt miteinander stehen? Zu guter Letzt tritt auch die Identität der „ordinary folks“ (S. xiii), also der Träger des kollektiven Gedächtnisses, nicht deutlich hervor: Die Grenze zwischen history und memory verschwimmt daher leider an einigen Stellen der Analyse. So ist es fraglich, ob Charles de Gaulle oder die Chinesische Nationalpartei als ‚Erzähler‘ noch zu den ‚ordinary folks‘ gehören oder nicht doch eher zur staatlich propagierten Geschichtspolitik, für die die Historiographie eine wichtige Leitfunktion einnimmt.

Insgesamt ist History and Popular Memory dennoch uneingeschränkt zu empfehlen, denn es handelt sich um eine äußerst spannende kulturwissenschaftliche Studie und ein starkes Plädoyer für die transkulturelle Relevanz des Erzählens. Der Fokus liegt deutlich auf den Fallbeispielen, nicht auf dem Vorantreiben theoretischer Diskussionen. Die Analyse der Evolution und Transformation einzelner Erzählungen gelingt hingegen ausgesprochen gut. Was die Studie an theoretischer Fundierung und Diskussion vermissen lässt, wiegt sie durch kulturhistorische und literaturwissenschaftliche Detailanalysen wieder auf – hier beweist Cohen sein Talent im Ergründen narrativer Strukturen und ihrer Wechselwirkung mit dem jeweiligen kulturellen Kontext.

Literaturverzeichnis

Assmann, Jan (2013): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München.

Erll, Astrid (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart.

Koselleck, Reinhart (1989): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.

Misztal, Barbara (2003): Theories of Social Remembering. Maidenhead.

Ricoeur, Paul (1984): Time and Narrative, Bd. 1. Chicago [engl. Übersetzung der frz. Ausgabe Paris 1983 v. Kathleen McLaughlin und David Pellauer].

Rüsen, Jörn et al. (1998) (Hg): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein. Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 2. Stuttgart.

Welzer, Harald (2008): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München.



Daniel Becker
Bergische Universität Wuppertalk
Anglistik / Amerikanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail:
daniel.becker@uni-wuppertal.de

Bitte zitieren Sie nicht die HTML-Version, sondern ausschließlich die PDF-Datei / Please do not cite the HTML version but only the PDF file:

URN: urn:nbn:de:hbz:468-20161121-165505-5

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.