Doren Wohlleben und Christian Schneider

Die Episode als Erzähl- und Lebensform

Tagungsbericht zur internationalen DFG-Tagung „Glück am Ende? Episodisches Erzählen in Mittelalter und Gegenwart“, Internationales Wissenschaftsforum Heidelberg, 3.-5.6.2016

Das Erzählen in Episoden als ein ästhetisches Kompositionsprinzip, das durch variierende Wiederholung im Sinne von Gleichheit, Ähnlichkeit und Differenz strukturell-thematische Grundmuster kenntlich macht und teleologische Erzählordnungen subvertiert, erfährt im Film und in der Literatur seit den 1990er Jahren eine neue Konjunktur. Obgleich es in der Moderne besonders prominent geworden ist, handelt es sich hierbei um kein genuin modernes Phänomen. Im Gegenteil: Richtet man den Blick auf die Erzählliteratur des Mittelalters, erweist sich die Episodizität als Grundsignatur mittelalterlichen Erzählens (Bloomfield 1970; Haidu 1983; Evans 1986). Der Begriff der Episode wird für den französischen Roman des 12. Jahrhunderts bestimmt als eine relativ selbständige syntaktische Einheit einer umfassenderen narrativen Sequenz; eine Einheit, die „modular in form and serial in content“ (Haidu 1983, 680) ist und deren Kohärenzverhältnis zum Erzählganzen nicht auf der Ebene der Referenzfunktion, sondern auf der semantischen Ebene zu finden ist.

Das Episodische lässt sich einerseits formal, andererseits funktional beschreiben: In formaler Hinsicht geht es um die interne Struktur der als Episode bezeichneten narrativen Einheit, in funktionaler oder syntaktischer Hinsicht um die Position der einzelnen Episode in der narrativen Gesamtstruktur und im Gesamtzusammenhang der Handlung (Martínez / Scheffel 2012, 113). Erzählen in Episoden oder episodisches Erzählen ist dann ein Erzählen, das sich der Episode als eigenes narratives Strukturprinzip bedient. Es ist ein Erzählen, bei dem die lineare Einzelgeschichte in eine ganze Reihe narrativer Einheiten aufgelöst erscheint, auf die folgende Kriterien zutreffen: mittlere Größe, interne Geschlossenheit, relative Selbständigkeit, Wiederholbarkeit (Evans 1986, 130) sowie eine irgendwie geartete Bindung an den Gesamtzusammenhang der Handlung, sei es kausal, chronologisch, semantisch-thematisch oder auch nur ästhetisch-kompositorisch. An der Episode lassen sich somit Prozesse narrativer Sinnbildung und Sinnverweigerung gleichermaßen reflektieren (vgl. Abel et al. 2009): Prozesse der narrativen Sinnbildung, wenn man die Episode als sub-plot begreift, oder solche der Sinnverweigerung, sofern man in ihr ein Mittel der „Entfabelung“ sieht, wie Jakob Wassermann, der 1926 das Herauslösen von Geschichten aus Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und ihre Anordnung als ein bloß flächenhaftes Neben- statt Ineinander bezeichnete. Glück kommt dabei in seiner Doppeldeutigkeit zum Tragen: als ordnungsdestabilisierendes, kontingentes Moment (fortuna), das (äußere) Zeit als Zäsur besonders stark erfahren lässt, sowie als ordnungssuchendes, kohärenzförderndes Moment (felicitas), das ein Gefühl des (inneren) Zeitkontinuums, wenn nicht gar von Zeitlosigkeit evoziert.

Zielsetzung der Tagung, die von Christian Schneider (St. Louis) und Doren Wohlleben (Heidelberg) organisiert wurde und die im Juni 2016 im Internationalen Wissenschaftsforum in Heidelberg stattfand, war es, die Episode als Bindeglied hermeneutischer und poststrukturalistischer Theoriediskussionen zu konturieren. Mit dieser Perspektivierung ließen sich auf der Tagung, die Alt- und Neugermanisten, Literaten, Literatur- und Medienwissenschaftler/innen sowie international renommierte Narratolog/innen und Nachwuchswissenschaftler/innen vereinte, Fragen sowohl erzählstruktureller als auch semantischer, sowohl narratologischer als auch existentiell hermeneutischer Natur verhandeln. Durch Analogiebildungen und Differenzziehungen zwischen Erzählmodellen des Mittelalters und der Gegenwart konnte ein schärferer Blick gewonnen werden für das eben nicht erst (post-)moderne Spiel mit der queste, der Suche nach dem Sinn und dem Glück am Ende.

Glück am Ende: narratologische und existenziell-hermeneutische Perspektiven

Die einleitende Begriffsarbeit zur ,Episode‘ (Christian Schneider) und zum ,Glück‘ (Doren Wohlleben) setzte Michael Scheffel (Wuppertal) in seinem Eröffnungsvortrag „Episodisches Erzählen vom ,Frauenglück‘ in Romanen zwischen Barock und Moderne oder: Von Grimmelshausen Trutz Simplex zu Arthur Schnitzlers Therese. Chronik eines Frauenlebens“ fort, in dem er sich ausführlich dem – dort zunächst wertneutralen – altgriechischen Episoden-Begriff bei Aristoteles widmete. In dessen Poetik findet sich sowohl der deskriptive Begriff der Episode (ein bestimmter Abschnitt einer Handlung) als auch der deskriptive und normative Begriff des Episodischen (die Art und Weise der Verknüpfung). Aristoteles verwendet den Begriff erstens im ursprünglichen, technischen Sinn zur Bezeichnung des Auftritts eines Schauspielers, vergleichbar mit dem lateinischen actus; ,Episode‘ (he epeísodos, wörtlich ,ein Dazwischen-treten‘) bezeichnet hier die von Chorliedern umschlossene dialogische Partie in der Tragödie (Poet. 4, 1449 a, 28/ 12, 1452 b, 16/ 18, 1456 a, 31). Zweitens meint der Begriff des Episodischen (tò epeisódion) den verselbständigten, „ohne Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit“ (Poet. 9, 1451 b, 33) in das Handlungsgefüge integrierten Teil der Fabel: Die episodische und somit rein temporale Verknüpfung wird vor dem Horizont, dass alles Seiende immer nur unter dem Aspekt seiner Form zu betrachten sei, von Aristoteles als unvollkommen gegenüber der kausalen Verknüpfung gewertet. In einem zweiten Schritt ging Scheffel auf die Traditionen des Nacheinander- und Nebeneinander-Erzählens (paradigmatisches Erzählen) ein und untersuchte unter der Leitfrage, wie sich die Form des episodischen Erzählens für die Geschichte eines Lebens in Gestalt einer „Synthese des Heterogenen“ (Ricoeur 1996, 174), nutzen lasse, zwei in der Tradition des Pikaro-Romans stehende literarische Modelle, Grimmelshausen Trutz Simplex sowie Arthur Schnitzlers Therese. Chronik eines Frauenlebens.

Ludger Lieb (Heidelberg) kritisierte in seinem Vortrag „Serialität als Bedrohung und Ermächtigung oder: Wie Brautwerbungserzählungen zu einem ,glücklichen‘ Ende kommen“ anhand von Beispielen aus der mittelalterlichen Literatur wie Gottfrieds von Straßburg Tristan oder Hartmanns von Aue Erec die herkömmliche Explikation des paradigmatisch-metonymischen Erzählens als Sonderfall des für die Vormoderne typischen episodischen Erzählens insofern, als sie die Logik des Wiederholens übersehe: Während das Metonymische lediglich meine, dass ein Teilaspekt erzählt wird, der auf die Gesamtheit verweist, könne ein Thema erst durch Rekurrenz, durch Wiederholungsmuster und Ähnlichkeitsstrukturen, paradigmatisiert werden. Die Logik der Wiederholung auf der Handlungsebene sei daher weder syntagmatisch-kausal noch paradigmatisch-metonymisch. Das Glück der Serie parallelisierte Lieb mit dem Glück der Wiederholbarkeit und betonte die Handlungsmacht konzeptioneller Nebenfiguren durch die mitunter identitätskonstituierende Wiederholung.

Gunter Martens (Gent) erörterte in seinem Beitrag „Happyend oder Schrecken ohne Ende? Eine stilometrische Analyse von (Un-)Glücksepisoden in Märchen“ doppelperspektivisch die Bezugnahmen der Kritischen Theorie auf das stereotypische Märchenglück am Beispiel von Alexander Kluge: Erstens galt es, Kluges Utopismus vor dem Hintergrund der anarchischen Praxis des Stummfilms zu profilieren, die das glückliche bzw. unglückliche Ende für kontextbedingt austauschbar hielt. Vor diesem (auch theoretisch bei Kracauer und Benjamin reflektierten bzw. präfigurierten) Hintergrund konnte die Beharrlichkeit sichtbar gemacht werden, mit der Kluge für Katastrophenerzählungen der Weltgeschichte Happyends oder zumindest ,andere Ausgänge‘ fingiert. Zweitens wurde anhand des Prinzips der Variation und der statistischen Annäherung Alexander Kluges Erzählen als eine Erzählpraxis im Zeichen der Episodizität, der Reihung und der variierenden Wiederholung vorgestellt: Für diese Kürzestform der Erzählung sei einerseits der Begriff der Hypotypose relevant. Andererseits entspreche die Kurzgeschichten auf mikronarrativer Ebene der Anekdote, was eine intertextuelle Bezugnahme auf hagiographische Darstellungsformen älterer, verstärkt mündlicher Erzähltraditionen ermögliche. Zum Schluss konnten das Wechselvolle und die zur Schau gestellte Kontingenz der permanenten Katastrophenerzählungen auf Zuspitzungen des Melodramatischen zurückgeführt werden, die das Material für einen stilometrischen Zugriff im Sinne von Matthew Jockers’ experimentellem Syuzhet-Verfahren (sentiment mining) zugänglich machen.

Tom Kindts (Fribourg) Vortrag „Von der Selbstentfaltung zur Selbstwahl. Erzählweise, Selbstkonzepte und Glücksmodelle im Bildungsroman der Moderne“ ging am Beispiel von Goethes Wilhelm Meister und Ernst Weiss’ Ich-Romanen der Zwischenkriegszeit dem Zusammenhang von Motivations- und Plotgestaltung, Existenzmodellen und Glückskonzepten im deutschsprachigen Bildungsroman seit der Sattelzeit nach. Das Augenmerk der Analyse der Texte galt einerseits der Frage, ob die jeweils dargestellten Ereignisse nur kausal oder auch teleologisch miteinander verknüpft sind, und andererseits derjenigen, ob die erzählten Abfolgen von Episoden eine rekursive oder konsekutive Struktur aufweisen. Narratologisch veranschaulichte der Vortrag, dass das Vorliegen bestimmter Motivationsstrukturen in einer erzählten Welt nicht notwendig die Nutzung bestimmter Sequenzierungsformen in ihrer erzählerischen Darbietung nach sich ziehen müsse. Auf diese Weise sollte zugleich dafür geworben werden, den Begriff der ‚Episode‘ und den des ‚episodischen Erzählens‘ unabhängig voneinander zu klären.

Episodisches Erzählen im Mittelalter

In einer zweiten Sektion standen mediävistische Beispielanalysen auf dem Programm: Ricarda Wagner (Heidelberg) fokussierte unter dem Titel „Heil am Ende. Episodisches Erzählen in der mittelalterlichen Hagiographie“ zwei Modelle für Heilige seit der Spätantike, den Märtyrer und den Einsiedler, deren leidensvolle Tötung beide Male mit dem Happyend zusammenfalle und durch Erzählerstimmen präsent gemacht werde. Die Episode bestimmte Wagner in Anlehnung an Aristoteles als eine kürzere narrative Einheit mit in sich abgeschlossener Handlung, die ohne Notwendigkeit auftrete. Sodann führte sie anhand dreier hagiographischer Texte, des ahd. Georgslieds, Adomnans lat. Vita Columbae und Ælfrics ae. Life of St Oswald, eine Systematik der Funktionen der Heilsepisoden am Ende ein: Das Georgslied bestimmte Wagner als ein rhapsodisches Erzählen, das Georgs Heiligwerdung sequentialisiert und ekstatisch steigert. In der Vita Columbae dagegen zeige sich ein exemplarisches Erzählen, mit dem Episodizität als der angebrachte Modus für die Offenbarung göttlicher Wahrheiten vorgestellt werde. Das supplementarische Erzählen in Episoden in Ælfrics Oswald-Vita schließlich ermögliche gleichzeitig eine notwendige Ergänzung als auch eine subversive Umdeutung des Textthemas. Hagiograpisches Erzählen zeichne sich also durch eine zugleich offene und geschlossene Form aus, die einerseits formal-erschöpfend, andererseits lückenhaft-anreichernd dafür sorge, die Faszination an der Heiligkeit der Helden episodisch zu rhythmisieren.

Christine Putzo (Lausanne) untersuchte in ihrem Vortrag „Alexanders Ende – von Anfang an erzählt? Episodische Serialität in deutschsprachigen Alexanderromanen des Mittelalters“ anhand deutschsprachiger mittelalterlicher Alexanderromane das Verhältnis der Episode zum Handlungsganzen, insbesondere zum stoffbedingt unglücklichen Handlungsausgang, indem sie eine handlungsgleiche Episode in verschiedenen Alexanderromanen verglich. Der Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Alexanderromane in doppelter Hinsicht Ausdruck episodischer Serialität sind: Zum einen handelt es sich – für jeden einzelnen Roman gesprochen – um Episodenfolgen, also um Abfolgen unterschiedlicher Episoden, zum anderen – für das Gesamtcorpus – um Romanfolgen aus identischem oder ähnlichem episodischen Material. Jede Episode lasse sich so nicht nur auf die im jeweiligen Text vorangehenden oder nachfolgenden beziehen, sondern folge seriell immer auch auf andere Gestaltungen der gleichen Episode in den übrigen Alexanderromanen des lateinischen, französischen oder deutschen Mittelalters. Aus dieser Konstellation ergebe sich eine besondere Qualität der Episode, die im vergleichenden Zugriff deutlich wurde: Episoden mit ein- und derselben Handlung konnten in verschiedenen Romanen entweder teleologische Qualität besitzen, also auf das Ende der Handlung hinarbeiten, oder im Gegenteil sogar in Spannung zum Ende der Gesamthandlung stehen.

Regina Toepfer (Braunschweig) erklärte unter dem Titel „Unglück in Serie. Der trostlose Held der ,historischen‘ Dietrichepik“ die große Beliebtheit des glücklosen Berner Helden Dietrich damit, dass er, obgleich seine bevorzugte Redeform die Klage ist und sein engagierter Einsatz nie zu einem richtigen Ende gelangt, sich und anderen Trost durch unermüdliches Handeln spende. Glück am Ende findet Dietrich von Bern zwar nicht, im Gegenteil: Er bekämpft immer wieder höchst erfolgreich seinen Gegner, bis eine negative Wende seinen vorigen Sieg zunichtemacht. Dass sein Tun dennoch trostspendend wirke, führt Toepfer auf die Serialität der ,historischen‘ Dietrichsepik zurück: Das episodische Erzählschema wirke sich sowohl auf die Heldenkonzeption als auch auf die Rezeptionsmotivation aus. Hieraus entwickelte Toepfer die These eines seriellen Rezeptionsvergnügens, einer narrativen Lust an der Serialität, resultiere doch gerade aus dem Unglück des Protagonisten das Glück des Lesers. Aus mediävistischer Perspektive erscheine Dietrich damit als Prototyp moderner Superhelden, die sich bis heute gegen das Böse auflehnten. Obwohl die Handlung gattungskonform kontinuierlich weiterlaufe, dominiere das Paradigma über das Syntagma. Das Ende des Kampfes zwischen Onkel und Neffen bleibe in der ,historischen‘ Dietrichepik offen, so dass das intrikate Wechselspiel gut gegen böse ad infinitum weitergehen und sich der Leser auf eine Fortsetzung der Geschichte, auf ein (Un-)Glück ohne Ende freuen könne.

Felix Stang (Heidelberg) analysierte in seinem Beitrag „Serien gegen die Ordnung. Episoden, Serien und Doppelgänger im Kriminal-Märe Der Dieb von Brügge“ anhand einer strukturalistischen Lektüre der mittelalterlichen Kurzerzählung des frühen 15. Jahrhunderts analog gebildete Episoden in vier ähnlichen Handlungssequenzen, die er als serielles Erzählen bestimmte. Stang machte dabei drei Ebenen dieser Thematisierung aus: Erstens die episodische Struktur, welche die Rezipierenden zu einem metonymisch-paradigmatischen Verstehensprozess auffordert. Zweitens die Ebene der Figuren: Der Dieb von Brügge geht gegen das französische Königshaus vor und ersetzt auf diesem Wege zuerst seinen unterlegenen Doppelgänger und Freund, den Dieb von Paris, und anschließend den französischen König selbst. Letzteres gelingt ihm offenbar, weil am Königshof selbst ein weiterer Doppelgänger, der als scheinbarer Gegenspieler des Diebs inszeniert wird, ein falsches Spiel treibt. Und drittens die Ebene der Handlung: Der Dieb wird durch eine List des Königshauses mit einem Zeichen markiert, doch ihm gelingt es, das Zeichen so zu vervielfachen, dass es seine Einmaligkeit verliert. Mit Rückgriff auf den mittelalterlichen Freundschaftsdiskurs, die mittelalterliche Zeichentheorie und das neu ansetzende Nachdenken über Markenproduktion im Spätmittelalter wurde die Serialisierung des Zeichens in den Blick genommen. Das Glück am Ende bestimmte Stang als ein Ende der Unterschiede, als eine Auflösung der Differenz.

Episodisches Erzählen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart

In der nächsten Sektion standen neugermanistische Beiträge zu Texten vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart im Zentrum. Eröffnet wurde sie mit Stephan Krafts (Würzburg) Vortrag zu „Zirkularität und Komik in Gerhart Hauptmanns Biberpelz“. Kraft betonte, dass Hauptmanns Komödie bei ihrer Uraufführung im Jahr 1893 vor allem wegen ihres vermeintlich fehlenden Finales für Diskussionen gesorgt habe. Er griff aus den zahlreichen Rezensionen die Besprechung von Franz Mehring heraus, der hierin jedoch keinen Mangel sah, sondern die zweifache Wiederholung der Handlungssequenz um einen Diebstahl und dessen nicht gelingende Aufklärung vielmehr mit dem dominant episodischen Prinzip der alten attischen Komödie in Verbindung brachte. Ausgehend hiervon und angelehnt an Komik- und Komödienkonzepte von Henri Bergson und Rainer Warning zeigte Kraft, dass Serialität als ein komikermöglichendes und -erzeugendes Mittel immer schon Bestandteil von Komödienkonzepten war. Bei Hauptmann komme nun hinzu, dass die Wiederholung nicht mehr nur ein Element innerhalb der Episode darstelle, sondern sich auf die Stückstruktur insgesamt ausweite. Der Komödienplot sei somit nicht mehr nur der Träger dieses komischen Elements, sondern werde durch seine inhärente Zirkularität selbst komisch.

Anna-Rebecca Nowickis (St. Louis) Beitrag „Leserglück? Episodisches Erzählen in Wilhelm Raabes Krähenfelder Geschichten“ stellte die Frage nach den Auswirkungen des episodischen Erzählstils Raabes auf das mögliche Erleben von Leserglück. Durch die Untersuchung von zeitgenössischen Rezensionen konnte festgestellt werden, dass die häufige Verwendung von Erzählerkommentaren, Abschweifungen und Binnenerzählungen, die Raabes episodisches Erzählen charakterisieren, eine wichtige Rolle dabei spielt, Lesererwartungen zu enttäuschen und Leserglück zu unterminieren. Diese Erzählweise wird bei Raabe zu einem bewusst gewählten Stilmittel, durch das die Geschichten mit einer feinen Ironie durchzogen werden, die sich gegen die etablierten Beziehungen zwischen Autor und Leser wendet. Raabe will es seinen Lesern gerade nicht Recht machen und gaukelt ihnen mögliches Leserglück mit Hilfe seines episodischen Erzählens lediglich vor.

Doren Wohlleben (Heidelberg) leitete mit ihrem Beitrag „Zu Ende erzählt? Spielformen des Wiederholens und Weitererzählens bei Felicitas Hoppe und Christoph Ransmayr“ zu der Abendsektion, der Lesung und dem Gespräch mit der Schriftstellerin Felicitas Hoppe über. Am Beispiel der jüngsten episodischen Prosawerke von Hoppe (Hoppe, 2012) und Ransmayr (Atlas eines ängstlichen Mannes, 2012) zeigte Wohlleben eine Verlagerung auf von einem Nacheinander, einer Chronologie der Erinnerung, hin zu einem Nebeneinander, einer Kartographie der Erinnerung: Die performative Logik der Wiederholung als ein musikalisch-kompositorisches Strukturelement – Wohlleben verglich die Notation im Paradigma mit einer Partitur – sei dabei wichtiger als die Zielorientierung auf ein Happyend. Dennoch bleibe letzteres als regulative Idee von entscheidender Bedeutung: Denn der Traum von der glücklichen Rückkehr, so auch in Ransmayrs Ballade von der glücklichen Rückkehr (2000), diene überhaupt erst als Impuls des (Weiter-)Erzählens.

Diese Überlegungen griff die Büchner-Preis-Trägerin Felicitas Hoppe nach der Lektüre der Schlüsse ihrer episodischen Erzählungen Picknick der Friseure (1996), Pigafetta (1999), Paradiese. Übersee (2003) und Johanna (2006) auf, die fast allesamt mit dem Motiv der Heimkehr enden: Eine Reise, so könne man annehmen, finde überhaupt nur deshalb statt, damit es eines Tages zu einer glücklichen Rückkehr kommen könne. Doch das Glück am Ende findet sich Hoppe zufolge nicht am Ende einer Erzählung, sondern nach dem Ende des Erzählens überhaupt: Ein glückliches Ende sei dann erreicht, so ihre in der Diskussion entwickelte These, wenn gar nicht mehr erzählt werden müsse. Auf die Publikumsfrage, wann die Autorin wisse, wann eine Geschichte zu Ende erzählt sei, antwortete Hoppe, dass jede Beendigung eines Buches mit dem Anfang eines neuen Buches einhergehe, sie also auch produktionsästhetisch eine Zirkularität anstrebe und den Traum eines da Capo-Buches hege. Ob ein Text an sein Ende gekommen sei, werde bei ihr weniger durch den Plot bestimmt als durch das musikalische Konzept der Motivsättigung: „Wandermotive“ würden sooft wiederaufgegriffen, bis sich die Logik der Wiederholung, die auch Hoppe als eine erzählerische und existentielle Notwendigkeit bestimmte, selbst erschöpft habe und einen neuen Schöpfungsprozess initiiere.

Episodisches Erzählen – Erzählen in Episoden: intermediale Perspektiven

Die letzte Sektion begann mit Lektüren einer Heidelberger studentischen Projektgruppe (Umut Arslantürk, Miriam Fehmann, Dorina Heller, Katharina Müller, Andrea-Christine Reich, Lena Reinhardt, Elisa Risi, Juliane Schmidt) zu dem Grimmschen Märchen Hans im Glück sowie zu Alexander Kluges Blechernes Glück (2003). Vier Thesen zu Hans im Glück wurden präsentiert, eine narratologische (I), eine existenzphilosophische (II), eine etymologische (III) sowie eine psychologische (IV): Die einzelnen, über die Leitfigur Hans verbundenen Episoden des Märchens, Teilsequenzen der Gesamthandlung, scheinen zunächst kausal (für jeden Tauschhandel gibt es einen Grund), am Ende jedoch final motiviert (alles zielt, wie dies der Titel suggeriert, auf das innere Glück von Hans) (I). Retrospektiv sei die motivische Rahmenhandlung dem felicitas-Glückskonzept zuzuordnen: Hans erfährt zunächst Glücksfälle, die prozessual als fortuna gesehen werden können, entwickelt dann das Bedürfnis einer kohärenten Sinnstiftung und empfindet am Ende sein „Glück“ als Ausdruck von Gottes „Gnade“ (II). ,Glück‘ meine die jeweils vorübergehend gefüllte ,Lücke‘ (vgl. Hörisch, 2011, 13f.): Aus dem Gefühl einer Mangelerfahrung heraus lässt sich Hans auf die jeweiligen Tauschgeschäfte ein, die diese Lücke für ihn temporär ausfüllen, das Unglück in Glück umschlagen lassen und Glück somit als ein – episodisch strukturiertes – Kontrastphänomen erfahrbar machen (III). Die Tauschgeschäfte könnte man als Antiklimax deuten: Hinsichtlich des materiellen Werts findet eine Abwärtsspirale statt. Allerdings sieht Hans den jeweiligen Tauschhandel als Aufwertung des vorherigen und damit steigert sich sein subjektives Glücksempfinden mit jedem Mal (IV). In Alexander Kluges Erzählung Blechernes Glück wird das typische Happyend als Handlungsmotivierung hingegen problematisiert: Es ist zwar von „Glück“ die Rede, das der felicitas entsprechen soll und aus der fortuna, dem glücklichen Zufall, hervorgegangen ist. Der Leser werde jedoch durch ambivalente Textsignale irritiert und hinterfragt, ob der Glücksbegriff hier plausibel ist. Die postmoderne Erzählung wolle die Kontingenzerfahrung nicht mehr bewältigen oder reduzieren, sondern exponiere sie vielmehr und mache sie gerade dadurch erträglich.

Miriam Wray (Boston) widmete sich in ihrem Vortrag „Episodisches Erzählen und Erinnern bei W.G. Sebald“ dem Motiv des Schlafwandelns bei Hermann Broch und Sebald, das sie mit der episodischen Erzählstruktur analogisierte und auf den beiden Autoren gemeinsamen Schwebezustand temporären Glücks zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht bezog. Im Rückgriff auf die Metapher des episodischen Erzählens als ein „Geflecht von narrativen Abwegen“ (Treber 2005, 10) parallelisierte Wray die Gangart des Schlafwandlers mit der Methodik des kommentarfreudigen modernen Romanciers Hermann Broch sowie mit den Erzähl- und Erinnerungsstrukturen des Gegenwartsautors W.G. Sebald, der sich vielfach in dessen Tradition stellte. Bereits hier spielte die Frage nach der Funktion der Bilder für das episodische Erzählen eine Rolle, die einen Übergang schuf zu dem filmwissenschaftlichen Beitrag von Florian Mundhenke (Leipzig): „Zufall und Glück im Ensemblefilm – Beitrag zur Geschichte und Theorie des Multiplotfilms“. Mundhenke betrachtete mit Bezug auf die historische Entwicklung und Vorläufer des sogenannten Multiplotfilms den Sonderfall des Ensemblespielfilms. Unter Berücksichtigung der Vorläufer in der commedia dell’arte und im modernen Theater, z.B. in Arthur Schnitzlers Reigen (1896/97), wurden die seit 1970 entstandenen Ensemblefilme von Robert Altman (A Wedding, 1978; Short Cuts, 1993) sowie Alejandro Gonzalez Iñárritus Babel (2000) dreifach beleuchtet: Erstens im Hinblick auf die Konstanten der relativen Offenheit auf der Figurenebene, die durch die Präsenz einer hervorgehobenen Erzählerfigur gebündelt wurde, zweitens auf die latente oder offene Gesellschaftskritik und drittens auf die Frage nach dem (objektiven) Zufall und dem (subjektiven) Glück.

Florian Kragl (Erlangen) systematisierte und strukturierte mit seinem mediävistischen Abschlussvortrag „Episodisches Erzählen – Erzählen in Episoden“ viele der teilfachübergreifenden Thesen zum Erzählen im „Zeichen der Episodizität“ (Warning 2003, 179): Er plädierte für eine Unterscheidung verschiedener Spielarten des episodischen Erzählens nach dem Grad der narrativen Verflechtung der episodischen Einheiten. Das episodische Erzählen im engeren Sinne beschrieb er als Balanceakt zwischen episodischer Autonomie und narrativer Geschlossenheit, zwischen Paradigmatik und Syntagmatik. Daneben stellte Kragl ein Erzählen in Episoden, das stärker die Einheit der Episode fokussiere. Den Zweck bestimmte er als einen heuristischen, um historisch spezifische Erzählsituationen zu unterscheiden und zog Analogien zwischen dem Artusroman um 1200, am Beispiel von Ulrich von Zatzikhovens Lanzelet und einer Sitcom der 1990er Jahre, der Serie Friends.

Desiderate und Diskussionen

Der in der Erzähl-, anders als in der Dramen-Forschung bislang wenig beachtete Begriff der Episode erwies sich epochenübergreifend als überaus ergiebig: Die Episode, eine hermeneutische Miniatur, ist zunächst einmal das, was einem am nächsten liegt, wenn man vom menschlichen Leben erzählt. Denn vom Leben erzählen lässt sich – so eine im Tagungsverlauf kritisch ausdifferenzierte Anfangshypothese – überhaupt nur in Episoden. Die prekäre Nähe zum autobiografischen, zum novellistischen sowie zum anekdotischen Erzählen wurde dabei immer wieder betont. Was all diesen Erzählformen gemeinsam ist, ist, dass sie oft aus Krisensituationen entstehen und die Sinnbildung sowie Kohärenzstiftung an die Wahrnehmung eines Subjekts sowie dessen Vorstellungen von einem Glück am Ende gebunden bleiben. Die „Synthese des Heterogenen“ (Ricœur 1996, 174) stellte sich beim Rückgriff auf verschiedene narrative Glücksmodelle als Chance, aber auch als Problem dar: Wie kann etwas in eine kohärente Form überführt werden, was sich dieser eigentlich widersetzt? Neben der Dialektik von Paradigmatik und Syntagmatik, von Offenheit und Geschlossenheit spielten dabei die Logik der Wiederholung sowie die Ästhetik der Analogiebildung eine zentrale Rolle. Alle plädierten – gerade auch mit Seitenblick auf den inflationär gebrauchten Begriff der Episode als Synonym für eine Serienfolge im angelsächsischen Sprachraum – für eine noch schärfere Trennziehung zwischen dem episodischen Erzählen und dem Erzählen in Episoden. Kontrovers diskutiert worden ist der historische Systematisierungsversuch einer medialen, an produktionsästhetische Umstände gebundenen Differenzierung: das episodische Erzählen als ein alter, auch mündlicher Erzählmodus – das Erzählen in Episoden hingegen als ein tendenziell eher junges, an Schriftlichkeit gebundenes Phänomen. Lediglich kurz angerissen wurde die Frage, wie sich das episodische Erzählen im intermedialen Wechselspiel verändert und welche narrative Funktion Bilder, beispielsweise in Gegenwartromanen, hierbei übernehmen. Im Film, aber auch im Drama, die sich des Textes, der Musik und des Bildes gleichzeitig bedienen, ist dies besonders virulent, da sich hier die einzelnen Wahrnehmungskanäle gegenläufig zueinander verhalten können: Wo der Text z. B. ein Ende markiert, greift die Musik Wiederholungsstrukturen auf oder werden Anfänge visualisiert. Im Austausch mit Musikwissenschaftlern wurde nach Äquivalenzen zum episodischen Erzählen in nicht-narrativen Medien gesucht. Wie letztere wiederum Einfluss auf neue Erzählformen in der Gegenwartsliteratur nehmen, die sich immer dann musikalischer Prinzipien bedient, wenn sie sich von der seit Aristoteles idealisierten teleologischen Fabel frei zu machen versucht, wurde im Gespräch mit Felicitas Hoppe besonders deutlich. Denn die Episode als Erzähl- und Lebensform erweist sich gerade dort als besonders produktiv, wo Sinnbildungs- und Sinnverweigerungsmechanismen miteinander in Widerstreit treten.

Literaturverzeichnis

Abel, Julia / Blödorn, Andreas / Scheffel, Michael (2009) (Hg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier.

Bloomfield, Morton W. (1970): „Episodic Motivation and Marvels in Epic and Romance“. In: Ders., Essays and Explorations. Studies in Ideas, Language, and Literature. Cambridge / Massachusetts, S. 97-128.

Evans, Jonathan D. (1986): „Episodes in Analysis of Medieval Narrative“. In: Style 20, S. 126-141.

Haidu, Peter (1983): „The Episode as Semiotic Module in Twelfth-Century Romance“. In: Poetics Today 4, S. 655-681.

Hörisch, Jochen (2011): „Glück im Deutschen“. In: Dieter Thomä / Christoph Henning / Olivia Mitscherlich-Schönherr (Hg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart / Weimar, S. 13-14.

Martínez, Matías / Scheffel, Michael (2012): Einführung in die Erzähltheorie. München.

Nickau, Klaus (1966): „Epeisodion und Episode. Zu einem Begriff der aristotelischen Poetik“. In: Museum Helveticum 23, S. 155-171.

Ricœur, Paul (1996): Das Selbst als ein Anderer. München.

Treber, Karsten (2005): Auf Abwegen. Episodisches Erzählen im Film. Remscheid.

Warning, Rainer (2001): „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“. In: Romanistisches Jahrbuch 52, S. 176-209.



PD Dr. Doren Wohlleben
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Germanistisches Seminar
Hauptstr. 207-209
D-69117 Heidelberg
E-Mail: doren.wohlleben@gs.uni-heidelberg.de
Homepage:
http://www.gs.uni-heidelberg.de/personen/wohlleben.html

AssProf. Dr. Christian Schneider
Department of Germanic Languages and Literatures
Washington University in St. Louis
One Brookings Drive, CB 1104
St. Louis, MO 63130
United States
E-Mail: christianschneider@wustl.edu
Homepage:
https://german.wustl.edu/people/christian-schneider-0

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