Sonja Arnold

Transformationen von Geschichte

Interdisziplinärer Sammelband untersucht produktive Variationen von Geschichte in unterschiedlichen Medien, Epochen und kulturellen Kontexten

Sonja Georgi / Julia Ilgner / Isabell Lammel / Cathleen Sarti / Christine Waldschmidt (Hg.): Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption. Bielefeld: Transcript 2015 (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften, Bd. 24). 542 S. EUR 49,99. ISBN 978-3-8376-2815-9

Konzeption des Bandes

„Ein Text-Äußeres gibt es nicht“ (Derrida 1974, 274). Diese programmatische Aussage Jacques Derridas, die auf die mangelnde Referentialität sowohl kollektiv-historischer als auch individueller Erfahrung abzielt, wurde einer ganzen Forschergeneration zum Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und bestimmte ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die Diskussionen des Poststrukturalismus und der Postmoderne. Obgleich sich die grundlegenden Denkmuster dieser Bewegungen im neuen Jahrtausend eher geringer Beliebtheit erfreuen, sieht sich eine Vielzahl von Disziplinen nach wie vor mit den Aporien der Postmoderne um mangelnde Referentialität, Rückführbarkeit und intersubjektive Vermittlung konfrontiert. So unternahm einerseits die Geschichtswissenschaft nach dem linguistic turn und den Theorien Hayden Whites von der narrativen Geformtheit einer jeden Geschichts(re)konstruktion immer wieder neue Versuche, Geschichte nach der Postmoderne zu schreiben (vgl. Braun 2009 und Conrad 1994). Andererseits sieht sich auch die Literaturwissenschaft mit einer Vielzahl von Texten konfrontiert, die zwischen Faktizität und Fiktionalität changieren (vgl. die in jüngerer Zeit entwickelten narratologischen Konzepte um Fluderniks [1996] experientiality oder Kleins / Martínez‘ [2009] Wirklichkeitserzählungen). Sonja Georgi, Julia Ilgner, Isabell Lammel, Cathleen Sarti und Christine Waldschmidt verabschieden sich in ihrem Sammelband schon durch die titelgebende Terminologie und die Zusammenführung unterschiedlicher Ansätze und Methoden von essentialistischen Geschichtsvorstellungen. Ein weiteres Ziel des Bandes ist zudem eine diachrone Sichtweise, die sowohl die historisch-soziale als auch die kulturelle Geformtheit der in Frage stehenden Konzepte berücksichtigt und Geschichtstransformationen somit in einem mehrfach variierenden Rahmen verortet, der in Anlehnung an die Cultural Studies stets an mehrere Kontexte rückgebunden werden muss, um in seiner Bedeutungspluralität ausreichend wahrgenommen zu werden.

Ausgangspunkt

Die Ergebnisse des deutsch- und englischsprachigen Sammelbands gehen auf die transdisziplinäre internationale Konferenz Geschichtstransformationen – Transformations of History (2013) der gleichnamigen Nachwuchsforschergruppe Geschichtstransformationen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zurück, an deren diverse Veranstaltungsreihen und Vorarbeiten der Band in überzeugender Weise anknüpft. Nach einem Vorwort Moritz Baßlers, in dem insbesondere nochmals auf die diskursive Bedingtheit jeglicher Form von Faktizität hingewiesen wird (vgl. S. 13), umreißen die Herausgeberinnen in der Einleitung das Forschungsfeld und klären methodische Ansätze, zentrale Konzepte sowie mediale Verfahren. Dabei wird zunächst hauptsächlich die transhistorische und transkulturelle Dimension des Begriffs Geschichtstransformationen hervorgehoben, der in der Forschung bisher vornehmlich aus synchroner Perspektive untersucht worden ist. Im Gegensatz dazu ist es dem Sammelband ein Anliegen, gerade die historische, soziale und kommunikative Bedingtheit der jeweiligen Konkretisationen der Geschichtsvariationen zu akzentuieren. Aus diesem Anspruch ergibt sich eine Vielzahl von methodischen Zugängen, die sich aus der Kulturtransfertheorie (Espagne, Werner), dem New Historicism (Baßler) sowie Rezeptions- und Erzähltheorien (Fludernik, Klein / Martínez, Wolf) speisen und von einem erweiterten Textbegriff ausgehen, der auch historisch-kulturelle Texturen (vgl. S. 18) einschließt. Dementsprechend werden narratologische, mythentheoretische und postkoloniale Ansätze verwendet. Als zentrales Konzept dient den Herausgeberinnen der Begriff der Allelopoiese, der „eine[ ] gegenseitige[ ] Bedingtheit und Einflussnahme von Referenz- und Aufnahmebereich“ (S. 18) benennt, auf die Arbeiten des Berliner SFB 644 Transformationen der Antike zurückgeht, sich in seiner Verwendungsweise durch die Herausgeberinnen aber auf konkrete Subjekte und Ergebnisse der Transformationen anstatt auf die Prozessualität fokussiert. Diese Form der „transformatorisch-bedeutungsverändernden Remodulation“ (S. 21), die über den Begriff der bloßen Rezeption hinausgeht und auch Phänomene wie Geschichtsrevisionen, Geschichtsfälschungen und Geschichtslügen einschließt, muss neben Ausgangs- und Zielarchiv (vgl. S. 14) stets die diskursive Tradierung und Aktualisierung im eigenen Werte- und Referenzsystem berücksichtigen und lässt sich medial über das traditionelle Feld der Historiographie hinaus auch in Literatur, Kunst, Film, digitalen Medien und performativen Akten verorten. Zudem behalten die Herausgeberinnen im Blick, dass solche Formen von Geschichtstransformation stets adressatenbezogen sind und damit auch ideologisch instrumentalisiert werden und setzen es sich zum Ziel, in den einzelnen Beiträgen auch solche Funktionalisierungen, die oftmals mehrfach kodiert und polysem sein können, herauszuarbeiten. Zeitlich reichen die einzelnen Beiträge, ihrem diachronen Anspruch entsprechend, von der Vormoderne in die Gegenwart, wobei Schwerpunkte in den Bereichen der Frühen Neuzeit, Vormärz und Historismus sowie der Klassischen Moderne gesetzt werden.

Narrative Transformationen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

Im ersten Teil „Bedingungen, Modi und Funktionalisierungen von Geschichtstransformationen“ werden vor allem theoretische Voraussetzungen geklärt und Konzepte diskutiert, die über die Einsichten des linguistic turn und die Krise der Geschichtswissenschaft hinausgehen und nicht selten neue Wege markieren, die mit den traditionellen Methoden der Historiographie kollidieren. Epochenschwerpunkte bilden das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit; mit gelegentlichen Bezügen bis zur Gegenwart. Die einzelnen Beiträge stellen das Konzept der Allelopoiese ins Zentrum und untersuchen mithilfe narratologischer Konzepte die literarischen und performativen Dimensionen (z.B. Themenparks) alternativer Sinngebungsprozesse in der Deutung historischer Transformationen.

Geschichtsrepräsentationen sind seit jeher an den Akt des Erzählens und damit an eine narrative Struktur gebunden. So rekurriert der Beitrag von Anu Korhonen zunächst auf die Einsichten des linguistic turn, insbesondere die Theorien Hayden Whites, die in Bezug auf die Idee des emplotment, der Verleihung einer Plotstruktur, jedoch sehr festgelegten narrativen Strukturen folgen. Als Alternative zu den teilweise sehr chronologisch orientierten Narrativen schlägt sie ein contextual framing vor, innerhalb dessen verschiedene Sinngebungsprozesse anhand ihrer Signifikantenketten rekonstruierbar werden. Damit vollzieht sich eine Abkehr von der Forderung des Historismus, zu wissen, wie es gewesen ist, hin zum Anspruch [to] „write a history of the accounts, narratives, stories built around“ (S. 40). Diese stark von der Gegenwart ausgehende Form der Geschichtsschreibung birgt freilich ihre Schwierigkeiten, da sie mit diversen historiographischen Konventionen bricht und sich von der Idee eines intersubjektiven Wissenshorizonts zu verabschieden scheint. Sie bietet jedoch durch ihr gesteigertes Maß an Selbstreflexivität und die Integration performativer und theatralischer Elemente ein narratives Verfahren, um verschiedene Sinngebungsprozesse offenzulegen und Geschichte auch jenseits der Einsicht mangelnder Referentialität weiterzuschreiben.

Mag dieses Verfahren zunächst experimentell und vor allem noch sehr theoretisch anmuten, so zeigen doch die folgenden Beiträge, wie Praxen der Verschriftlichung und Narrativisierung in der Frühen Neuzeit von den heute gängigen Verfahren abweichen. Susanne Rau stellt dabei die Praxis des Ab- und Umschreibens in den Vordergrund, die als poetologische Praxis in der Frühen Neuzeit galt und zwischen den Konzepten der imitatio (Nachahmung der Vorbilder) und der aemulatio (Übertreffen der Vorbilder) (S. 56) angesiedelt war. In der Neuschöpfung durch Kopisten, die sie in produktive und fortschreitende Kopisten unterteilt, liegt damit ein kreativer Akt, der Geschichte in einem Verschriftlichungsverfahren transformiert und produktiv rezipiert. Albert Schirrmeister zeigt im nachfolgenden Beitrag am Beispiel der Gelehrtenkultur im Deutschland des 16. Jahrhunderts den allelopoietischen Charakter kulturellen Wandels (vgl. S. 70). In der Untersuchung der universitären Praktiken wird dabei eine Veränderung der Deutung der Antike deutlich, bei der die Ausgangskultur mit der Aufnahmekultur verschmilzt.

Zwei dezidiert nicht-historiographische Ansätze runden diesen ersten Teil ab, indem bei Andrea Jäger zunächst anhand der Entwicklungen des Historischen Romans seit Walter Scott gezeigt wird, welche Funktionen dieser in verschiedenen Zeiten einnimmt. Der Rückübersetzung von Geschichte in konkreten Sinn in den historischen Romanen des 19. Jahrhunderts stehen dabei die Entwicklungen zum Ende des 19. Jahrhunderts und der Nachkriegszeit entgegen, in denen Geschichte primär als Gesellschaftskritik lesbar wird. Gerade in der jüngeren deutschsprachigen Literatur scheint indes wieder eine Tendenz zu bestehen, die Forderungen des Historismus nach Teleologie und exakten Sinnkonstruktionen aufzunehmen. So zeigt Jäger anhand von Uwe Tellkamps Der Turm (2008) und Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011), wie fiktionale Geschichtstransformationen mit den aktuellen historiographischen Diskursen brechen und einen kontrastiven Gegendiskurs etablieren. Die Sektion schließt mit der einem erweiterten Textbegriff entsprechenden Analyse von Geschichtstransformationen in Themenparks, die ausgehend von einem affective turn geschichtliche Modelle rekonstruieren, die von der Vergangenheit inspiriert und Teil einer aktuellen leisure history sind. Multisensorische, transmediale und immersive Tendenzen (beispielsweise durch Musik, Gerüche oder weitere mediale Elemente wie Kino) lassen Vergangenheit in den Freizeitparks direkt erlebbar machen und verleihen ihr eine sensorische Dimension, die stark mit dem gegenwärtigen Erlebnischarakter verbunden ist. Dabei wird deutlich, dass das Erzählen von Vergangenheit auch an außersprachliche Texturen gebunden ist und es werden durch die Aufhebung der Grenze zwischen high und low culture geschichtliche Transformationsprozesse offengelegt, die weniger die Geschichtsschreibung als vielmehr die Geschichtswahrnehmung breiter Bevölkerungsschichten betreffen.

Zwischen Faktualität und Fiktionalität

Im zweiten Teil „Narrative und Narrativisierungen von Geschichtstransformationen zwischen Fakt und Fiktion“ werden, ausgehend von den Diskussionen der Postmoderne und der vermeintlichen Deckungsgleichheit faktualer und fiktionaler Weltentwürfe, historiographische, literarische und mediale Bearbeitungen in einer Engführung nebeneinandergestellt und zum einen auf Differenzen untersucht, zum anderen in ihren jeweiligen Kontexten (sozio-politisch oder kulturell) verortet. Dabei werden in einigen Beiträgen bestimmte ästhetische Verfahren wie Metaisierung oder Selbstreflexivität offengelegt, die die Aporien der postmodernen Diskussionen zu überwinden vermögen.

Die in der ersten Sektion bereits angedeutete Verschmelzung von Literatur und Historiographie, die sich keinesfalls in deren Gleichsetzung erschöpft, sondern gerade danach fragt, wie beide voneinander profitieren können, wird in dieser Sektion in einer Fokussierung auf faktuales und fiktionales Erzählen gebündelt und an konkreten Beispielen erörtert. Daniel Defoes Schriften über den Großen Sturm von 1703, den er sowohl in faktualen als auch in fiktionalen Schriften bearbeitet, bilden den Ausgangspunkt für Aino Mäkikallis Beitrag, während sich Verónica Abrego mit der argentinischen Militärdiktatur, insbesondere mit der Rolle der desaparecidos und den damit einhergehenden Diskriminierungsprozessen gegen Frauen, beschäftigt und aufzeigt, wie fiktionale Texte als „Gegendiskurs“ (S. 210) zur offiziellen Geschichtsschreibung fungieren können. Eine dezidiert narratologische Herangehensweise weist der Beitrag von Sabrina Geilert und Juliane Voorgang auf, in dem es um Quentin Tarantinos Inglourious Basterds (2009) geht. Im Film werden bestimmte historische Referenzpunkte, wie etwa die Zeit des Nationalsozialismus, transformiert, metahistoriographisch kommentiert und mit einer selbstreflexiven Sprache des Kinos verbunden, sodass alternative Deutungsweisen lesbar werden. Ständige Überblendungen, mehrfach kodierte Bilder und Anachronismen zerstören das historische Signifikat und legen zwischen einzelnen Signifikantenketten eine Form der Geschichtskonstitution zu Grunde, die stets von ihrem diskursiven Kontext abhängt und erst in Relation zu diesem lesbar wird. Diese Vielsprachigkeit wird auch im einzigen ausschließlich theoretischen Artikel dieser Sektion aufgegriffen, Christian Sternads Beitrag über Jean-François Lyotard, der in diesem Kontext von Paralogie spricht. Dem Ende der großen Metaerzählungen, das Lyotard in La condition postmoderne (1979) zu Grunde legt, und dem daraus resultierenden Legitimationsverlust sieht er in Lyotards weiterführendem Werk Le différend (1983) die Schaffung neuer Repräsentationsmodi in der Variation von Empfänger, Sender, Bedeutungen und Referenten entgegengestellt. Dabei wird die Geschichtswissenschaft als dezidiert narrative Wissenschaft selbstreflexiv thematisiert und damit eine Form von Geschichte als „von den Spuren der Vergangenheit gefurchtes Palimpsest“ (S. 189) betrieben.

Der letzte Beitrag dieser Sektion leitet thematisch bereits in den nächsten Teil über, der sich als längste Sektion mit den gesellschaftlichen und erinnerungspolitischen Komponenten einzelner Realisationen von Geschichtstransformationen beschäftigt. Isabella Ferrons Beitrag zeigt am Beispiel von Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011), wie in der Literatur jenseits eines postmodernen Modus auf Geschichte Bezug genommen werden kann und wie diese das Ineinandergreifen autobiographischer und kollektiver Prozesse im Erinnerungsprozess beleuchtet.

Erinnerungskulturen

Der dritte Teil „Geschichtstransformationen im Kontext von Gesellschaftskritik und Erinnerungskultur“ belebt die Debatte um faktuales und fiktionales Erzählen aus historischer Sicht und zeigt anhand der Konzepte Geschichtsfälschung, Zeugenschaft sowie der poetischen Transformation von Ereignissen und historischen Persönlichkeiten nicht nur die historische Bedingtheit dieser Dichotomie, sondern vor allem das Funktionspotential fiktionaler Geschichtsentwürfe und -transformationen in ihrer transtemporalen Verortung in der jeweiligen Ausgangs- und relevanten Zielerinnerungskultur.

Jacqueline Hylkemas Beitrag über den 1704 publizierten Traktat Eine historische und geographische Beschreibung von Formosa von George Psalmanazar, der erfundene Vergangenheitsbeschreibungen enthält, schließt an den vorhergehenden Teil an, belebt die Faktualitäts- / Fiktionalitätsdebatte aus historischer Sicht und zeigt, dass auch in Grauzonen Geschichtstransformationen stattfinden bzw. sich aus (halb)fiktionalen Werken oder in Lügengeschichten wichtige Rückschlüsse für den Historiker ziehen lassen.

In den beiden folgenden Beiträgen von Eva Wiegmann-Schubert und Martin Modlinger, die sich vordergründig mit ganz unterschiedlichen Themenkomplexen beschäftigen, nämlich der Antikerezeption bei Stefan George und Alfred Schuler und der Auseinandersetzung mit der Schoah bei H.G. Adler, wird insbesondere die gegenwartsabhängige Komponente einer jeden Geschichtstransformation deutlich, wenn zum einen von einem „grundlegenden Unbehagen in der zivilisatorischen Moderne“ (S. 297), auf das sich die Antikerezeption als Mittel der Distanzgewinnung bezieht, die Rede ist, zum anderen sowohl in historiographischen als auch fiktionalen Werken Strategien herausgearbeitet werden, um Erfahrung lesbar zu machen.

Die gegenwartsgebundene Realisierung geschichtlicher Referenzpunkte als „transtemporales Konzept“ (S. 362), das einerseits in jeder Zeit vorkommen kann, andererseits auch verschiedene Epochen miteinander verbindet, steht in den Beiträgen von Fiona Suslak und Kerstin Maria Pahl im Vordergrund. Anhand zweier Realisierungen des Tristan-Stoffs (Folie Tristan de Berne und Folie Tristan d’Oxford), die Fakt und Fiktion mischen, illustriert Suslak die Inszenierung eines auf Fakten basierenden make believe (S. 337), das wiederum an das spezifische Fiktionalitätsverständnis des Mittelalters rückgebunden wird. Pahls Beitrag untersucht schließlich sechs (künstlerische) Auseinandersetzungen mit Milton zwischen 1694 und 1796, vergleicht diese, verortet sie in den relevanten Diskursen mit ihren jeweiligen Intentionen und ihrer spezifischen Transformation von Geschichte und berücksichtigt dabei nicht nur die gegenwärtige Kultur, sondern ermöglicht vor allem auch einen Vergleich zwischen verschiedenen Einbettungen in die jeweiligen Erinnerungskulturen. Ähnlich geht auch Julia Brühne vor, die in ihrem Beitrag die Selbststilisierung des Franco-Regimes als legitimer Nachfolger des spanischen Goldenen Zeitalters anhand des spanischen Kinos der 1950er Jahre untersucht. Sie zeigt mithilfe des Konzepts der imagined community, wie künstlerische Realisierungen von Geschichte in einer doppelten Funktion reale und intendierte Geschichtstransformationen unterlaufen können.

Die Sektion schließt mit zwei Beiträgen, welche die Frage nach ästhetischen Transformationen und deren Funktionen systematisch in den Blick nehmen. Nikolas Immer arbeitet an Adolf Schottmüllers Lyrikanthologie Klio (1840) drei zentrale Ziele heraus, die er als Darstellungsziel (historische Entwicklungsprozesse werden durch Dichtung lesbar), Bildungsziel (Geschichtskenntnisse der Leser werden gefestigt) und Affektziel (Leser werden für die historischen Persönlichkeiten begeistert) bestimmt (vgl. S. 411). Christopher Meid zeigt schließlich anhand von Dramen der Weimarer Republik (Ernst Toller, Emil Ludwig, Ernst Paquet), wie diese auf unterschiedliche Weise eine Epoche der politischen und sozialen Umwälzungsprozesse poetisch abbilden und transformieren.

Interkulturelle und postkoloniale Ansätze

Eine postkolonial konditionierte Sichtweise auf die übergeordnete Thematik verspricht schließlich der vierte Teil „Interkulturelle und postkoloniale Geschichtstransformationen“, in dem am Beispiel der Bezugssysteme Iberische Halbinsel-Lateinamerika sowie Frankreich-Überseedepartements transkulturelle Dimensionen von Geschichtstransformationen in ihrer historischen Entwicklung beleuchtet und anhand der Konzepte Alterität, Hybridität und Mythosaktualisierung in ihrer kulturellen Spezifität untersucht werden. Die Parallelführung der Diskurse der ehemaligen Kolonialmacht mit denjenigen eines meist oralen kollektiven Gedächtnisses der Kolonien zeigt auf exemplarische Weise, wie in einer doppelten Geschichtstransformation (zunächst die Aufnahme dominanter Diskurse der Kolonialmacht, anschließend deren Modifizierung hin zu einer spezifisch kolonialen Identität) identitätsstiftende Konzepte erdichtet werden können. Als Zentrum-Peripherie-Achsen werden Lateinamerika und die Iberische Halbinsel, Frankreich und seine Überseedepartements sowie der Hybridraum Konstantinopel ins Zentrum gestellt.

Cornelia Siebers Beitrag zeigt am Beispiel der Malinche in Mexiko, wie diese lange als Verräterin gesehen wurde und erst in jüngster Zeit in Historiographie und vor allem Literatur (u.a. bei Octavio Paz) rehabilitiert wurde. Dieses Beispiel wird auf den lusophonen Sprachraum ausgeweitet, indem Sieber am Beispiel der degredados und lançados, die von der portugiesischen Krone verurteilt wurden, zeigt, wie Figuren kultureller Vermittlung und Übersetzung zunächst von der Geschichtswissenschaft entweder ausgespart oder negativ besetzt wurden und erst in jüngerer Zeit mithilfe postkolonialer Ansätze eine Umwertung erfuhren. Somit wird Geschichtstransformation am Beispiel Lateinamerikas als Zusammenspiel von Historiographie (Anreicherung mit neuen Fakten) und Kulturwissenschaft (Hybriditätskonzepte, Grenzgängerthematiken, Rehabilitierung) begriffen, bei dem stets ein postkolonialer und interkultureller Fokus benötigt wird und auch eine diachrone Dimension enthalten ist. Diesen Ansatz teilen auch die Beiträge Isabell Lammels und Sarah Grönings, in denen historische Figuren des karibischen Archipels und ihre jeweils aus dem kolonialen Mutterland entlehnten Kontrastfolien im Zentrum stehen. Der Schwerpunkt liegt dabei zunächst auf der Rekonstruktion der historiographischen und literarischen Zeugnisse des Unabhängigkeitshelden Toussaint Louverture in der Literatur der französischen Romantik. An diesem Beispiel zeigt Lammel mit Rekurs auf Levi-Strauss‘ Theorie der Mytheme, die bei jeder Mythosaktualisierung neu ausgewählt und angeordnet werden, welche Transformationen sich hier vollziehen und wie Napoleon bei den Historiographen zum Gegenspielers Louvertures wird. Schließlich werden die Funktionalisierungen dieser Transformationsprozesse deutlich, indem auf die Idee einer Kontrastfolie zur Darstellung eines anderen Stoffes eingegangen wird. Eine von den hegemonialen Diskursen des Mutterlands losgelöstere Form der Geschichtstransformation zeigt Sarah Gröning am Beispiel des Jeanne d’Arc-Mythos in seiner karibischen Aktualisierung durch die Parallelsetzung zu Marie-Philomène Roptus alias Lumina Sophie, der Anführerin der Bauernaufstände in Martinique 1870/71. Es handelt sich hierbei um eine zweifache Mythenaktualisierung, indem der wohlbekannte Mythos der Jungfrau von Orléans zunächst in den karibischen Archipel verlagert und sodann vor dem neuen Hintergrund, beispielsweise durch die Verwendung metahistoriographischer Elemente, dekonstruiert wird, um sich gegen die Dominanz des Europäischen zur Wehr zu setzen (vgl. S. 521). Während die Rückwirkungsprozesse im ersten Beitrag vorwiegend unidirektional zu werten sind, lässt sich am Beispiel der Lumina Sophie eine Reziprozität der Austauschprozesse verzeichnen, die in einer mehrfachen geschichtlichen Transformation unter Berücksichtigung postkolonialer und hybrider Konzeptionen ihren Sinn entfaltet.

Fazit

Der umfangreiche interdisziplinäre Band, der auf das gleichnamige Netzwerk Geschichtstransformationen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zurückgeht, untersucht Phänomene der Geschichtsvariation nach der Postmoderne und ist in einer kulturwissenschaftlichen Germanistik bzw. in den historischen Kulturwissenschaften zu verorten. Dementsprechend verwenden die einzelnen Beiträge kulturwissenschaftliche, narratologische sowie historische Ansätze. Neben Qualität und Quantität der zwar einerseits sehr heterogenen Beiträge, die sich aber in der Gesamtschau zu einem höchst schlüssigen Panorama komplementieren lassen, bilden vor allem die diachrone Perspektive einer historischen Narratologie sowie die innovative Fokussierung auf die transkulturelle Dimension von Geschichtstransformationen die Vorzüge des Sammelbandes. Innerhalb der einzelnen Beiträge wären interne Querverweise zwischen den einzelnen Beiträgen hilfreich gewesen (beispielsweise zwischen den Beiträgen von Andrea Jäger und Isabella Ferron), insbesondere da sich die Logik ihrer Anordnung dem Leser nicht immer sofort erschließt. In Bezug auf die Debatte um Faktualität und Fiktionalität wäre zudem eine noch detailliertere Einbindung neuerer narratologischer Forschung im Einzelfall ertragreich gewesen. Insgesamt bildet der Band den großangelegten und durchaus als gelungen zu bewertenden Versuch, die Vermittlung historischer Ereignisse in ihrer historischen, narrativen und kulturellen Varianz zu untersuchen. Dabei gelingt ihm, trotz der Vielzahl der an diesem interdisziplinären Projekt beteiligten Fächer eine thematische Kontinuitätslinie deutlich erkennbar zu machen und neue Antworten auf das vielfach propagierte Ende der Geschichte und der Geschichtswissenschaft zu geben.

Literaturverzeichnis

Braun, Manuel (2009): „Geschichte schreiben nach der Postmoderne. Historiographie im internationalen Vergleich [Tagung an der Universität Stuttgart 18.-20.06.2009]“. In: H-Soz-Kult. URL: http://www.hsozkult.de/event/id/termine-11544 (19.06.2015).

Conrad, Christoph (1994) (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Stuttgart.

Derrida, Jacques (1974): Grammatologie. Frankfurt a.M.

Fludernik, Monika (1996): Towards a ‚Natural‘ Narratology. London.

Klein, Christian / Martínez, Matías (2009) (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart / Weimar.



Dr. Sonja Arnold
Bergische Universität Wuppertal
Germanistik: Neuere deutsche Literaturgeschichte
Gaußstr. 20
D-42119 Wuppertal
E-Mail: sarnold@uni-wuppertal.de

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