Gabriele Lucius-Hoene

Die Krankheitserzählung auf dem Prüfstand der Praxis

Tagungsbericht zur internationalen Tagung „Illness Narratives in Practice“, Institut für Psychologie der Universität Freiburg im Breisgau, 26./27. Juni 2015

Krankheitserzählungen, die sprachlichen Darstellungen der subjektiven Seite des Erlebens und Lebens mit einer Krankheit, erfahren in der „narrativen“ oder „narrativ-basierten“ (Greenhalgh / Hurwitz [Hg.] 2005) Medizin mit ihrem „holistischen“ Anspruch eine zunehmende Aufmerksamkeit. Ihre Bedeutung als Forschungsdaten steigt ständig, wie die stetig wachsende Zahl an Studien mit offenen und narrativ orientierten Interviewtechniken und entsprechende methodischen und methodologischen Diskussionen aufzeigen (Ziebland 2013). Sehr viel weniger kritische Aufmerksamkeit ist hingegen den Fragen gewidmet worden, welche Bedeutung solche Erzählungen haben können und wie sie ‚funktionieren‘, wenn sie in der Praxis des medizinischen Alltags eingesetzt werden, wie zum Beispiel in Diagnostik und Behandlung, medizinischer Lehre, Beratungstätigkeit, Informationsvermittlung oder Mediendarstellung – alles Kontexte, die sich häufig gezielt oder unreflektiert der Krankheitsnarrative bedienen. Was meint in diesem Zusammen ‚Erzählung‘, und wann haben wir es mit Erzählungen zu tun? Um wessen Erzählung handelt es sich? Und was ist der Mehrwert des ‚Narrativen‘?

Ziel des Kongresses „Illness Narratives in Practice“ war es, internationale Experten zum Thema „Krankheitserzählungen“ aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zusammenzubringen, um über die Möglichkeiten und Grenzen, Risiken und erkenntnistheoretischen Herausforderungen zu reflektieren, die mit dem Gebrauch von Narrativen als spezieller Form der sprachlichen Gestaltung von Erfahrung im medizinischen Bereich einhergehen. Die Tagung mit ca. 130 Teilnehmern aus 13 Ländern wurde organisiert von Gabriele Lucius-Hoene (Universität Freiburg) und Thorsten Meyer (Medizinische Hochschule Hannover).

Im ersten Themenblock berichteten Experten über den Gebrauch von Narrativen in Anwendungskontexten der medizinischen Praxis. Alexander Kiss (Psychosomatisches Universitätsklinikum Basel) stellte in seinem Vortrag „Using Narratives in Medical Training“ ein eindrucksvolles Konzept des Einsatzes von klinischen und literarischen Narrativen in der Ausbildung von Medizinstudenten an der Universität Basel vor. Wie Bewältigungsprozesse und Neuverhandlungen von Identität erfolgreich stimuliert werden können, zeigte Sabine Corsten von der Katholischen Hochschule Mainz in ihrem Vortrag „Retelling One’s Life Story – Using Narratives to Improve Quality of Life in Case of Chronic Illness“ anhand von 27 Aphasiepatienten in einer biographisch-narrativ orientierten Interventionsstudie auf. Für den Bereich der Diagnostik konnte die Bielefelder Linguistin Elisabeth Gülich anhand der langjährigen „Epiling“-Studie in Kooperation mit Epileptologen nachweisen, wie mithilfe erzähltheoretisch definierbarer Charakteristika der Anfallsschilderungen von Patienten organische von psychogenen Anfällen differenziert werden können („Using Illness Narratives in Clinical Diagnosis: The Example of Narrative Reconstruction of Epileptic and Non-Epileptic Seizures and Panic Attacks“). Peter Frommelt, Neurologe und ehemaliger Leiter der Rehabilitationsklinik Schaufling, diskutierte in seinem Vortrag „Narratives – An Underestimated Instrument in the Rehabilitation of Patients with Neurotrauma“ für den Bereich der Neurorehabilitation, wie wichtig und fruchtbar der kontextsensitive Gebrauch von Narrativen in therapeutischen Interventionen, bei der Identitätsarbeit, im Umgang mit den Angehörigen und in der Aufrecherhaltung von Hoffnung als Ausdruck einer „Logic of Care“ ist. Wie eine narrativ orientierte Ethikberatung durch Ko-Konstruktion zwischen individuellen Erfahrungen und Werten einerseits und moralischen Normen andererseits vermitteln kann, wurde anhand praktischer Beispiele und theoretischer Überlegungen von der Medizinethikerin Hille Haker (Loyola University Chicago) demonstriert („The Role of Narrative in Ethical Counseling“).

Im zweiten Themenblock wurden die erkenntnistheoretischen, methodologischen und kommunikativen Besonderheiten von Narrativen hinterfragt. Narrative wurden hierbei als ambige, komplexe und wirkmächtige Instrumente in der Kommunikation erachtet. In ihrer Alltäglichkeit lassen sie oft vergessen, dass es sich bei ihnen um soziale Konstruktionen unter dem Einfluss politischer und therapeutischer Diskurse handelt und bei ihrem Gebrauch Interessen, Ideologien und Wertvorstellungen im Spiel sind. Dies gilt sowohl für die erzählten Erfahrungen der Patienten als Ausdruck ihrer Bewältigungsbemühungen als auch für die wissenschaftlich erarbeiteten, institutionellen oder instruktiven Geschichten, die Forscher, Therapeuten, Medien und Institutionen kreieren.

Thorsten Meyer (Medizinische Hochschule Hannover) diskutierte in seinem Vortrag „Issues of Sampling and Generalizability in Research on Narratives“ den wichtigen Zusammenhang zwischen Samplingstrategien und Ansprüchen auf Generalisierbarkeit. Er warnte davor, sich bevorzugt auf solche Narrative zu stützen, die den praktischen Zielen zuträglich sind, wie es oft in politischen Diskussionen oder im Journalismus geschieht. Wie man auf der Basis von tausenden von Interviews des Oxford „Health Experiences Institute“ die Bedürfnisse von Patienten besser verstehen kann, um diese Daten für die Gestaltung einer patientenorientierten Versorgung zu nutzen und gesundheitspolitische Entscheidungen zu beeinflussen, wurde von Sue Ziebland (Universität Oxford) dargestellt („Understanding and Using Patients’ Experiences to Improve Healthcare“). Christine Holmberg von der Berlin School of Health (Charité Berlin) diskutierte in ihrem Vortrag “Narratives and Medical Decision-Making” auf der Basis anthropologischer Betrachtungsweisen von Narrativen ihre Stärken und Schwächen in Instrumenten zur Entscheidungshilfe für Patienten und plädierte für eine intensivere Reflexion ihrer epistemologischen und sozialen Grundlagen bei einem solchen Einsatz. Über die Rolle narrativer Normen, deren Einhaltung darüber entscheidet, ob Erfahrungsgeschichten als kohärent und glaubwürdig erlebt werden, referierte Lars-Christer Hyden von der Universität Linköping („Stories, Illness and Narrative Norms“); er wies auf die Überforderung, die dies oft für kognitiv eingeschränkte Patienten als Erzähler bedeutet, und die daraus resultierenden Konflikte der Glaubwürdigkeit hin. Janka Koschack und Wolfgang Himmel (Universität Göttingen) beleuchteten in ihrem Vortrag „Some Critical Comments on Illness Narratives in Use“ einige der wenig bewiesenen Vorannahmen zum Nutzen von Narrativen. Sie zeigten auf, wie sich die Interviews durch die Bearbeitung für eine Website-Präsentation (www.krankheitserfahrungen.de, nach der Methodologie von DIPExInternational) verändern und welche Auswirkungen dies auf die Rezeption von Nutzern der Website haben könnte. Gabriele Lucius-Hoene (Universität Freiburg) und Cornelia Helfferich (Evangelische Hochschule Freiburg) präsentierten einen Überblick über die verschiedenen Facetten und Einsatzmöglichkeiten von Narrativen in unterschiedlichen medizinischen Kontexten. Sie plädierten dafür, Kontexte, Ziele und Herstellungsbedingungen der Narrative gründlich und kritisch zu reflektieren, wenn sie für praktische Zwecke eingesetzt werden.

Der dritte Block der Tagung, der auf einem offenen Call for Papers basierte, bot in 8 parallelen Sessionen mit 25 Veranstaltungen ein breites thematisches und methodisches Spektrum. Hier wurden aus den verschiedensten internationalen und nationalen Forschungskontexten sowohl Datensitzungen und Projektvorstellungen als auch Vorträge, Diskussionen mit Erfahrungsaustausch und Workshops präsentiert. Sie zeigten die beeindruckende Bandbreite, in der Narrative als Forschungsdaten und auch als Basis für Interventionen, politische Entscheidungen und Willensbildungen, Objekte der Medien oder koproduzierte Mittel der Selbstverständigung und Gruppenbildung genutzt werden. Hier überraschte auch die Originalität vieler Ansätze bezüglich des Gebrauchs und der Konzeption von Narrativen.

Kennzeichnend für die Tagung war, dass sie nicht nur die hohe Bedeutung, die Allgegenwärtigkeit und den Nutzen von Krankheitserzählungen in vielen Facetten aufzeigen konnte, sondern dass sie mit einer ganzen Fülle von Fragen und Problematisierungen eindringlich vermittelte, wie wichtig beim Gebrauch von Erzählungen eine gründliche Analyse ihrer Herstellungskontexte, ihrer persönlichen und politischen Verwendungsziele und ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen sind. Somit konnte die Tagung ein Forschungsfeld eröffnen und differenzieren, dass umso dringlicher eine weitere Bearbeitung braucht, als in der Praxis der Umgang mit Narrativen nicht nur in der Medizin eher unkritisch verläuft und an einem Mangel an Problembewusstsein leidet.

Literaturverzeichnis

Greenhalgh, Trisha / Hurwitz, Brian (2005) (Hg.): Narrative-based Medicine – sprechende Medizin: Dialog und Diskurs im klinischen Alltag. Bern.

Ziebland, Sue (2013): „Narrative interviewing“. In: Sue Ziebland et al. (Hg.), Understanding and Using Health Experiences: Improving patient care. Oxford, S. 38-48.



Prof. Dr. Gabriele Lucius-Hoene
Abt. für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie
Institut für Psychologie
Universität Freiburg
79085 Freiburg
E-Mail: lucius@psychologie.uni-freiburg.de

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