Robert Baumgartner

Narrative Rezeptionsangebote

Markus Engelns’ Spielen und Erzählen

Markus Engelns: Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierungen. Heidelberg: Synchron 2014 (= DISKURSIVITÄTEN. Literatur. Kultur. Medien, Bd. 19). 412 S. EUR (D) 39,80. ISBN 978-3-939381-73-0

Obwohl das Computerspiel als solches erst seit wenigen Jahrzehnten existiert, ist die Geschichte narratologischer Zugänge zum Medium erstaunlich komplex und vielschichtig. Schon die ersten, inzwischen als klassische Gründungstexte der Computerspielforschung geltenden Forschungsarbeiten von Janet H. Murray (1997), Espen Aarseth (1997) oder im deutschsprachigen Bereich Britta Neitzel (2000) und Claus Pias (2000) erkennen einen Umstand, der im Zuge des Narratologen-Ludologen Konflikts in den frühen 2000ern noch weiter herausgearbeitet wird: Eine direkte Übersetzung etablierter narratologischer Herangehensweisen ist für ein multicodales und in erster Linie ludisch geprägtes Medienphänomen wie das Computerspiel kaum sinnvoll. Die dynamischen ‚simulativen‘ Prozesse im Zentrum des Mediums involvieren Rezipienten im Spielvollzug über eine psychomotorische Rücklaufschleife und eröffnen dem Medium so im Vollzug des ‚Sehenhandelns‘ (Günzel 2008, 300) affektive Potentiale, die sonst nur der Sphäre körperlichen Erlebens vorbehalten sind. Ein eng gehaltener Erzählbegriff scheint zur Aufarbeitung solcher Prozesse ungeeignet. Nichtsdestotrotz ist die narrative Rezipierbarkeit von Computerspielen – evident in der Diskussion von Spielern, den Rezensionen und Feuilleton-Artikeln eines erstarkenden Videospiel-Journalismus und der konstanten Präsenz narratologisch orientierter Computerspielforschung – nicht wegzudiskutieren.

Neuere ‚ludo-narrative‘ (vgl. Thon 2015, 111) Ansätze akzeptieren die beobachtete Inkompatibilität des Computerspiels mit traditionellen Erzähltheorien und passen ihre Herangehensweise an dessen spezifische Medialität an. Die Integration ludologischer Werkzeuge und Methoden sowie die Hinwendung an einen rezeptionsästhetisch geprägten und transmedial erweiterten Erzählbegriff (basierend auf z.B. Ansätzen von Iser, Wolf, oder Ryan) eröffnen ihnen neue Spielräume, das ‚Erzählen‘ des Computerspiels zu begreifen und adäquat zu beschreiben.

Markus Engelns fügt sich mit Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierungen in den aktuellen Prozess ‚ludo-narrativer‘ Theoriebildung ein. Das mit dem Dissertationspreis der Universität Duisburg-Essen ausgezeichnete Werk hat den ehrgeizigen Anspruch, die narrativen Aspekte des Computerspiels in einem umfassenden, das Primat des simulativen Medienvollzugs respektierenden Modell neu zu erklären. Der Umstand, dass es dabei viele bisherige Vorstellungen über die Narrativität des Computerspiels hinterfragt, dekonstruiert und neu interpretiert, betont den innovativen Anspruch der Arbeit. Die Vielschichtigkeit und Komplexität von Engelns’ Modell – welches über den Verlauf des gesamten, mehr als 400 Seiten umfassenden Buches hinweg entwickelt wird – macht allerdings eine genauere Rekonstruktion seines Aufbaus notwendig.

Kapitel 1: Grundsätzliche Thesen

Beginnen wir bei der grundsätzlichen Einschätzung der narrativen Aspekte des Mediums selbst. Engelns’ Modell trennt sich von der Vorstellung des ‚erzählenden‘, also inhärent narrativen Computerspiels. Sein aus rezeptionstheoretischen Forschungsarbeiten begründeter Vorschlag lautet, Narrativität stattdessen „als vielfältig gestaltbare Form der Inszenierung zu verstehen“ (S. 20). Computerspiele nutzen ihr mediales Potential, „einzelne Elemente, Passagen oder Sequenzen so [zu] inszenieren, dass der Spieler sie als Teile der Geschichte rezipieren kann“ (S. 22). Das bedeutet: Narrativität ist dem Medium nur noch in sehr eingeschränkter Form inhärent, nämlich da, wo in einzelnen non-interaktiven Texten und Filmsequenzen konkret ‚erzählt‘ wird. Zum größten Teil wird sie dem einzelnen Spiel durch Spielende zugeschrieben, welche die fakultativen narrativen Rezeptionsangebote des Spiels als solche annehmen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn Spielende akzeptieren, dass die – im Spielverlauf selbst nicht stattfindenden – Ereignisse, die in einem intradiegetischen Buch beschrieben werden, trotzdem Teil der Spielrealität sind und deren Konsequenzen sogar in den Erwartungshorizont ihrer Spiel-Erfahrung aufnehmen.

Aus dieser Perspektive heraus entwickelt Engelns fünf zentrale Thesen. Kurz zusammengefasst lauten diese (vgl. S. 26f.):

  1. Computerspiele enthalten fakultativ realisierbare narrative Rezeptionsangebote; sie sind damit „‚suggestiv‘ narrativ“ (S. 26).
  2. Die fakultativen narrativen Rezeptionsangebote werden in der Praxis oft mit den obligatorischen mathematisch-spielprozessualen Elementen des Spielablaufs verkoppelt.
  3. Diese direkte Koppelung zunächst frei-schwebender narrativer Inszenierungen mit den obligatorischen Gameplay-Elementen macht es möglich, das Computerspiel als Ganzes ‚narrativ‘ zu rezipieren.
  4. Das Computerspiel besitzt zahlreiche kategorisierbare Möglichkeiten der narrativen Inszenierung.
  5. Die Kombination der narrativen mit den spielerisch-simulativen Elementen ist nicht immer unproblematisch. Es existiert ein Spannungspotential, das in der parallelen Existenz einer streng gegliederten empirischen Regelwelt sowie einer rezipientenbasierten und somit „unwägbaren“ (S. 27) narrativen Vorstellungswelt begründet liegt.

Kapitel 2: Forschungsperspektiven

Im folgenden Kapitel liefert Engelns einen Überblick über die bisherige Aufarbeitung narratologischer Fragestellungen im Computerspiel. Der erste Abschnitt widmet sich den klassischen ‚intratextuellen‘, d.h. primär textbasierten Erzähltheorien, worunter hier sowohl die strukturalistische Erzähltheorie als auch z.B. die Arbeiten von Booth, Hamburger, oder Iser verstanden werden. Der Herausarbeitung ihrer methodologischen Gemeinsamkeiten (das Ziel, „zeitliche Phänomene des Erzählens im engeren Sinn zu bestimmen, zu kategorisieren und sie zu definieren“, S. 39) folgt die Beschreibung der zwei zentralen Kritikpunkte, die eben jene Erzähltheorien aus Sicht der Computerspielforschung zu unzureichenden Beschreibungsmodellen des Mediums machen.

Diesen stark abstrakt gehaltenen Kritikpunkten folgt Engelns mit der konkreten Analyse bestehender narratologischer Forschungsarbeiten mit intratextueller Theoriegrundlage: Besonders die detaillierte Auseinandersetzung mit Britta Neitzels frühem Grundtext der deutschsprachigen Computerspiel-Narratologie, Gespielte Geschichten (2000), illustriert dabei die strukturellen Probleme konventioneller Beschreibungsmodelle, die selbst Neitzels kompetente Anwendung nicht lösen konnte. Die folgenden Abschnitte stellen sowohl das seit den 1970er Jahren rasant gewachsene Feld transmedial geprägter Erzähl- und Medientheorien als auch rezeptionsästhetische Forschungsansätze als Quelle möglicher Problemlösungen vor und legen dabei auch die Grundlage für den Erzählbegriff des restlichen Buches. Engelns arbeitet sich in komprimierter Form durch zentrale Thesen und Modelle: Neben Wayne C. Booths Arbeiten zum impliziten Autor bzw. zu Rezipientenhaltungen, Seymour Chatmans kulturwissenschaftlicher Erweiterung und Kritik derselben, Wolfgang Isers Leerstellenkonzept und Werner Wolfs Idee des narrativen Schemas, stellt Engelns Kendall L. Waltons Konzept von ‚props‘ und ‚prompters‘ als werkseitigen narrativen Rezeptionsangeboten, die von Marvin Minsky, Patrick J. Hayes u.a. entwickelte frame theory und schließlich Ansgar Nünnings Konzept der ‚Erzählillusion‘ als Werkzeug aktueller Narratologie vor. Dieser extrem komprimierte Überblick kann als produktive Einführung in relevante Forschungsbereiche verstanden werden und bringt Engelns zur Formulierung eines Analysemodells, das aus drei Institutionen besteht: „dem Computerspiel, das narrative Rezeptionsangebote eröffnet, dem Spieler, der als Rezipient die narrativen Angebote aufnimmt und selbst wieder auf das Computerspiel rückspiegelt sowie einem Schnittbereich zwischen Spieler und Computerspiel, in dem Narrativität realisiert ist.“ (S. 86)

Engelns will alle drei Institutionen analysieren, den umfassendsten Teil der Arbeit jedoch der konkreten Interpretation von Computerspielen widmen. Dies ist methodologisch nur konsequent, da es aus Sicht des Modells genau der rezipientenbasierte Interpretationsvorgang ist, der das Computerspiel als erzählendes Medium konstituiert. Strukturell gesehen ist dies eine schwerwiegende Entscheidung, denn der große Umfang des Interpretationsteils (S. 169-320) kommt auf Kosten des zentralen Theorieteils zustande, welcher durch eine starke Raffung zahlreicher komplexer Überlegungen in dieser Form selbst geneigte Fach-Leser durch die hohe Dichte sehr strapaziert. Zum anderen bleibt die Aussagekraft der Interpretationen z.T. auch aufgrund einer nur grob skizzierten theoretischen Rahmung der kognitiven sowie besonders sozio-kulturellen Grundlagen der involvierten Medienrezeption (‚Kultur‘ bleibt im Text ein extrem unklarer Begriff) beschränkt. Eine stärkere theoretische Auseinandersetzung mit rahmenden mediensemiotischen und kulturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen wäre an dieser Stelle wünschenswert gewesen.

Kapitel 3: Die Institution des ‚Spielers‘ und Kapitel 4: Datenmodulbasierte vs. empiriebasierte Spiele

Kapitel 3 und 4 haben ebenfalls eine vorbereitende Funktion: In ihnen (re)konstruiert Engelns Konzeptionen des Spielers (Kap. 3) und des digitalen Datensystems im Kern des Mediums (Kap. 4). Obwohl beide Kapitel oberflächlich gesehen leicht als Wieder-Aufarbeitung basaler Grundlagen abgetan werden könnten, täuscht dieser Eindruck: Sowohl primär aus der Literatur- oder Filmwissenschaft stammende Narratologen als auch Forscher aus den Game Studies profitieren von Engelns’ innovativer Aufarbeitung sonst ignorierter Strukturaspekte des Mediums. Kapitel 3 rekonzeptualisiert die unterschiedlichen Funktionen innerhalb der Institution des ‚Spielers‘. Dieser erscheint als Oberkategorie, die die Funktion des Rezipienten (wahrnehmend, auswertend, narrativ interpretierend) und die des Users (aktiv, systematisch und strategisch entscheidend) miteinander vereint. Das Zusammenwirken beider (emotional-narrativer vs. strategisch-ökonomischer) Involvierungsebenen im Computerspiel (S. 92f.) liefert so mögliche Erklärungen für das Zustandekommen der in zeitgenössischen Computerspielen immer häufiger auftretenden moralischen Dilemmata (vgl. Paidia 2016).

Im folgenden vierten Kapitel widmet sich Engelns dann den informatischen Grundlagen des Mediums. Die Erklärung von Datenmodul und engine wird zur Ausgangsbasis einer produktiven und in dieser Form erstmaligen Trennung zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Formen von Computerspielen, die aufgrund ihrer strukturellen Eigenheiten auch jeweils individuell analysiert werden müssen: Der Typus des ‚datenmodulbasierten Spiels‘ lokalisiert sich vor allem im klassischen Adventure-Genre und beschreibt Titel, „die nur rudimentär ausgeprägte mathematische Operationen haben, um den Spielprozess zu steuern“ (S. 405). Stattdessen verbinden diese ihre verschiedenen, in Datenmodulen strukturierten Zeichenstrukturen (Bild, Text, Ton etc.) primär durch ‚scripts‘, also strikt codierte Handlungsanweisungen. Stark script-basierte Spiele erscheinen durch die enge Beschränkung möglicher Weltzustände sowohl räumlich als auch spielmechanisch und schließlich narrativ vergleichsweise linear und statisch. Dieser Mangel an im heutigen Sinn medienspezifischen Eigenschaften des Computerspiels erklärt auch, warum gerade Adventures als digitale ergodische (vgl. Aarseth 1997) Texte noch vergleichsweise gut mit konventionellen narratologischen Theorien analysierbar sind. Damit stehen sie im direkten Gegensatz zu ‚empiriebasierten Spielen‘, die den Großteil der zeitgenössischen Computerspiele ausmachen:

Hier werden nicht nur Datenmodule arrangiert, sondern darüber hinaus auch mathematisch verwaltet. Jedem Objekt der Spielwelt kommen so zahlreiche Eigenschaften wie Größe […], die [...] über die Raumkoordinaten manifestierte Raumposition, wie auch physikalische Eigenschaften zu. [Kausalbeziehungen zwischen Objekten] ergeben sich aus der Empirie der Weltregeln, die durch mathematische Vorgänge im Spiel realisiert werden. Die dreidimensionalen Gegenstände der Spielwelt wie auch die dort stattfindenden Ereignisse weisen somit eine Wirklichkeitsdimension auf, die in anderen Systemen und Medien nur schwer etabliert werden kann. Sie sind nicht Abbilder oder Repräsentationen von Gegenständen; sie sind Gegenstände. (S. 108f.)

Die zitierte Beobachtung ist für jede weitere Überlegung zur Weltkonstruktion in Computerspielen in höchstem Maße relevant, verweist sie doch auf das medienspezifische Wirkungspotential empiriebasierter Titel.

5. Kapitel: Während des Spiels: Primäre, sekundäre und tertiäre Realisierungsebenen

Gleichzeitig ist die im vorherigen Kapitel herausgearbeitete Vermittlungsmethode eine, die konventionelle Kategorien von Faktualität und Fiktionalität infrage stellt: Alles, was in der simulativen Spielwelt passiert, besitzt einen gewissen, erfahrungsgestützten Faktizitätsanspruch. „Deshalb“, so Engelns’ Überlegung, „ist fraglich, ob Computerspiele eines der wichtigsten Kriterien intratextueller Erzähltheorien erfüllen: Transformieren Computerspiele Nicht-Sprachliches in Sprachliches?“ (S. 120) Hier kommen die ‚narrativen Rezeptionsangebote‘ ins Spiel. Der Text widmet sich zunächst intradiegetischen Texten im engeren Sinn und trennt diese in zwei Kategorien. Die erste Kategorie bilden ‚empirische Texte‘ (vgl. S. 125), die erkennbar auf Ereignisse, Figuren, Orte, etc. mit ‚empirischem‘ Realitätsgehalt – also präsente Spielfiguren, bereisbare Orte, oder nutzbare Items – referieren. Daneben stehen ‚rein narrative Texte‘ (vgl. S. 126), die Orte, Figuren, oder Gegenstände beschreiben, welche nicht konkret Teil der ‚überprüfbaren‘ Spielwirklichkeit sind. Beispiele wären Texte über historische Figuren oder ferne Kontinente. Da ihre Inhalte nicht durch die erfahrbare virtuelle Wirklichkeit falsifiziert werden können, sind diese Texte auf die Unterstützung weiterer Inszenierungen sowie die produktive Rezeptionshaltung der Spielenden angewiesen, um in einem Referenz-Verhältnis zur Spielwelt zu erscheinen.

Diese Untersuchung von Referenzverhältnis und Funktionalisierung narrativer Rezeptionsangebote wiederholt sich in Bezug auf die Untersuchungsobjekte Film und Musik. Die dabei erarbeitete Liste möglicher Text-, Film- und Musiksorten im Computerspiel (S. 118-133) erscheint trotz der nur groben Skizzierung in sich schlüssig und für die Nutzung in der Computerspielanalyse geeignet.

In den folgenden Abschnitten beginnt der Aufbau eines komplexen theoretischen Modells, das Schritt für Schritt um neue Konzepte und tiefergehende Details erweitert wird. Der Umstand, dass diese Konzepte nach einer kurzen Etablierung sogleich wieder essentieller Teil weiterer nicht minder komplexer Überlegungen werden, resultiert in der zunehmenden Akkumulation von Termini und Neologismen, welche durch die immer wieder auftauchenden Strukturdiagramme nur geringfügig vereinfacht werden. Eine kurze und bündige Rekapitulation der einzelnen Begriffe und Konzepte, wie sie im Glossar am Ende des Buches gefunden werden kann, wäre aus diesen Gründen schon in den einzelnen Kapiteln wünschenswert gewesen.

Im nächsten Schritt versucht Engelns, die bisherigen Erkenntnisse zu empirischen Spielwelten, narrativen Assoziationswelten und der Vermittlung zwischen beiden in ein ganzheitliches Modell des Computerspiels zusammenzufügen. Das Ergebnis ist die Etablierung von drei Realisierungsebenen:

Die primäre Realisierungsebene umfasst die ausschließlich mathematisch-empirische Reglementierung, die dann auf der sekundären Ebene – einem Schnittbereich zwischen primärer und tertiärer Ebene – durch die Datenmodule ergänzt wird. […] Indem die Texte, filmische Sequenzen und Musik narrative und empirische Weltsysteme referenzialisieren und um Angebote erweitern, die sich nicht den empirischen Regeln unterwerfen müssen, findet eine Vermittlung statt, die die empirische Spielwelt um eine zugleich diffusere, patchworkhafte und über die Datenmodule nur in Ausschnitten präsentierte, dann aber rezeptiv verknüpfte narrative Welt ergänzt. (S. 132)

Das Narrative des Computerspiels verbirgt sich, so Engelns, im Zusammenwirken aller drei Ebenen.

Bei der Suche nach den einzelnen Vermittlungsinstrumenten entscheidet sich Engelns dafür, etablierte Begriffe der Narratologie in veränderter Form weiterzuverwenden. Die Begriffe ‚Handlung‘, ‚Setting‘, ‚Thema‘ und ‚Welt‘ werden so im Kontext des drei-Ebenen-Modells teilweise radikal rekontextualisiert. Vor allem für Narratologen, die die Termini schon in ihrer konventionellen Bedeutung internalisiert haben, kann diese Neuverwendung ein mögliches Hindernis im Umgang mit dem Text darstellen.

Daraufhin wendet sich Engelns den rahmenden räumlichen und zeitlichen Strukturen des Computerspiels zu, die er jeweils als primäre, sekundäre und tertiäre Inszenierungen kontextualisiert. Dabei gewinnt er vor allem in Bezug auf die Zeit-Ebene faszinierende Ergebnisse: Am Beispiel eines Kirchturms, den Spielende in der Spielwelt zerstört auffinden und durch Rückgriff auf kulturelles Wissen und inszenatorische Hinweise (Brandspuren etc.) narrativ ‚rekonstruieren‘ (also eine Vergangenheit annehmen, in der der Turm nicht zerstört war), gelingt es ihm, das intensive Zusammenwirken spielinhärenter Hinweise und rezipientenbasierter Assoziation treffend zu beschreiben. Dieses zentrale Prinzip fasst Engelns unter Rekurs auf Marie-Laure Ryans Prinzip der ‚hidden story‘ (vgl. Ryan 2001, S. 253) zusammen:

Die »Hidden Story« zeichnet sich dadurch aus, dass der Spieler Hinweise in der Spielwelt findet, die die Rekonstruktion der Historisierung zulassen. Sie ist ein Konstrukt des Zusammenspiels der tertiären Realisierungsebene und dem Umgang des Spielers mit diesen Realisierungen. (S. 146)

Dies bedeutet: Nicht das Spiel selbst ist narrativ – die Geschichte ergibt sich erst aus den assoziativ-interpretatorischen Aktivitäten der Spielenden auf der tertiären Realisierungsebene.

Werkzeug narrativer Inszenierung

Nach der Erarbeitung einer medialen Rahmenstruktur macht sich Engelns nun an die Konstruktion eines konkreten Analysemodells. Dabei dienen die vergleichsweise ungeläufigen Termini ‚Figurisierungen des narrativen Ursprungs‘, ‚Achse der Handlung‘ und ‚Achse der Topoi‘ als Überbegriffe für die Vermittlungs- und Inszenierungswerkzeuge, die Spiele zur Unterbreitung ihrer narrativen Rezeptionsangebote für Spielende bereitstellen.

Das Konzept des ‚narrativen Ursprungs‘ beschäftigt sich mit der Rolle bzw. Inszenierung von Erzähler-, Ursprungs-, Urheber- sowie Kausalfiguren im Computerspiel – jedoch immer unter dem Vorzeichen des zuvor etablierten Modells. Die Analyse von ‚Erzählfiguren‘ in den Titeln Agatha Christie: Das Böse unter der Sonne (2007), Call of Juarez (2006) und Fahrenheit (2005) demonstriert, dass die Erzählfiguren des Computerspiels vielfältigere Funktionen übernehmen als ihre Pendants in Film und Literatur: Ihre tatsächliche erzählerische Funktion tritt gegenüber der strukturellen Aufgabe, den Spielenden eine narrative Deutung des Spielgeschehens anzubieten, stark in den Hintergrund (vgl. S. 202). Hier lassen sich Berührungslinien zur ebenfalls ‚ludo-narrativ‘ ausgerichteten aktuellen Forschung von Jan-Noël Thon lokalisieren, dessen Modell dieses Phänomen unter dem Begriff der „narratorialen Darstellung“ (Thon 2015, 142; 2016) beschreibt und zu ähnlichen Schlüssen über seine Funktion gelangt (vgl. Thon 2015, 148).

Des Weiteren widmet sich Engelns der sogenannten Achse der Handlung: Während der narrative Ursprung die anfängliche Wahrnehmung des Spiels als narratives Rezeptionsphänomen sicherstellt, dient die Achse der Handlung zur Aufrechterhaltung dieses Eindrucks während des Spielablaufs. Ludische Einzelereignisse und ‚freie‘ Text- oder Filmsequenzen werden in einem kausalen und chronologischen Zusammenhang angeboten, der eine vor dem Spielbeginn lokalisierte Vergangenheit, eine im Spielverlauf fortschreitende Zeit- und Ereignisanordnung sowie ein abschließendes Finale umfasst. Die Annahme dieses Angebots verspricht Spielenden „sinnhafte Konsequenzen, einen ‚würdigen‘ Abschluss für die Mission oder das Spiel, eine Belohnung, oftmals mächtige Spielgegenstände, aber durchaus auch opulente filmische Sequenzen oder dramatische Ereignisse“ (S. 209) – narrative Rezeption zahlt sich aus. Dies wird in umfangreichen Analysen der Titel Mass Effect (2007), Oblivion (2006), Batman: Arkham Asylum (2009), sowie Overclocked (2007) illustriert.

Die Achse der Topoi „realisiert thematische Zusammenhänge, die über spielimmanente Elemente hinausgehen“ (S. 245). Sie beschäftigt sich mit der Verknüpfung und Bündelung ‚thematischer‘ (d.h. in irgendeiner Weise narrativ auswertbarer) Elemente in ‚Isotopien‘ (vgl. S. 275), also mit anderen Worten mit der Entwicklung spielumfassender Themen und Diskurse. Die folgende Untersuchung der Titel The Whispered World (2010), Prey (2010) und The Elder Scrolls IV: The Shivering Isles (2007) liefert eine produktive Grundlage zur weiteren Vertiefung dieses Konzepts und bietet gleichzeitig eine kompetente narratologische Betrachtung dieser bislang kaum analysierten Spiele.

Der Analyseteil schließt mit einer Betrachtung der Spannungen zwischen primärer und tertiärer Realisierungsebene in den Titeln Gravity Bone (2008), Myst (1993), und Fallout 3 (2008). Alle drei Titel stellen, so Engelns, „die Konstruktion narrativer Rezeptionsangebote aus und weisen somit auf die manipulierende und steuernde Funktion narrativer Elemente hin“ (S. 280). Gerade dadurch, dass sie die sonst widerstandslos hingenommene Akzeptanz narrativer Handlungsanweisungen hinterfragen, verwirklichen diese Titel ein medieninhärentes subversives Potential, das bislang nur unzureichend untersucht wurde.

Zu Beginn des zehnten Kapitels resümiert Engelns:

Es ist [nun] möglich, all jene Elemente, Eindrücke und Voraussetzungen zu identifizieren, die narrative Elemente realisieren, um diese entweder zu analysieren und die Spezifika narrativer Rezeptionsangebote in verschiedenen Computerspielen herauszuarbeiten. (S. 325)

Gerade angesichts des massiven Umfangs, den das zuvor errichtete Theoriegebäude im Verlauf der vorangegangenen 300 Seiten erreicht hat, stellt sich die Frage, wie dieses Projekt sinnvoll in die Praxis umgesetzt werden kann. Engelns unternimmt den Versuch, das extrem vielfältige Inventar des Buches mithilfe von Tabellen und Diagrammen in einen umfassenden Katalog für den Alltagseinsatz zu bändigen. Es bleibt fraglich, ob der resultierende sechsseitige Fragenkatalog an zu untersuchende Spiele (S. 326-331) wirklich praktisch umsetzbar ist, dennoch ist der Mut, nach der Etablierung einer komplexen Theorie auch konkrete Anwendungsanleitungen zu liefern, positiv hervorzuheben. Engelns beschließt die Monographie mit einem Forschungsausblick, der die mögliche Weiterverwendung seiner Erkenntnisse im Bereich der Mediennutzungsforschung, der allgemeinen Computerspielforschung wie auch speziell im Bereich rezeptionsästhetischer Überlegungen skizziert. Positiv zu würdigen sind des Weiteren die darauffolgenden Beispielkataloge, in denen die Titel Tetris (1984), New Super Mario Brothers Wii (2009) und The Witcher (2007) durch Engelns’ Analyseschema gehen, sowie ein gut gegliedertes und ausführliches Glossar.

Fazit

Es ist Markus Engelns mit Spielen und Erzählen gelungen, der deutschsprachigen Forschung mit einem detailliert ausgearbeiteten Forschungsmodell des Erzählens im Computerspiel neue Impulse zu geben. Dabei sind sowohl die Unterscheidung zwischen empiriebasierten und datenmodulbasierten Spielen als auch die Herausarbeitung des Zusammenwirkens zwischen angelegten Spielelementen und Rezipienten in der Entwicklung einer historisierten virtuellen Welt höchst innovativ. Sie versprechen sowohl interessierten Narratologen aus Literatur- und Filmwissenschaft wie auch Computerspielforschern einen erweiterten Blick auf die Wirkungsästhetik des Mediums. Das Theoriegebäude als Ganzes trägt jedoch schwer an seinem Umfang und seiner Komplexität; die individuelle Umsetzbarkeit seiner zum Teil sehr abstrakten Einzelelemente wird sich vermutlich (wie im Fall von H. J. Backes ähnlich umfangreichem Dissertationsprojekt Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel, 2008) erst mittelfristig im Verlauf seiner Aufarbeitung durch die Forschungsgemeinde prüfen lassen. Obwohl diese Prüfung einen nicht unerheblichen Arbeitsaufwand bedeuten wird, rechtfertigt der innovative Inhalt von Spielen und Erzählen diese Anstrengungen ohne Zweifel.

Literaturverzeichnis

Aarseth, Espen (1997): Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore / London.

Backe, Hans-Joachim (2008): Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg.

Günzel, Stefan (2008): „Böse Bilder? Sehenhandeln im Computerspiel“. In: Werner Faulstich (Hg.), Das Böse heute. Formen und Funktionen. München, S. 295-305.

Murray, Janet H. (1997): Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge / London.

Neitzel, Britta (2000): „Videospiele – zwischen Fernsehen und Holodeck“. In: Ulrike Bergermann et al. (Hg.), TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate. Marburg, S. 107-122.

Paidia (2016): I’ll remember this“ – Inszenierung und Bedeutung von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt [In Vorbereitung].

Pias, Claus (2000): „Es mag wohl Labor intus sein: Adventures erzählen Graphen“. In: Ulrike Bergermann, et al. (Hg.), TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate. Marburg, S. 85-106.

Ryan, Marie-Laure (2001): Narrative as Virtual Reality: Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore.

Thon, Jan-Noël (2015): „Game Studies und Narratologie“. In: Klaus Sachs-Hombach et al. (Hg.), Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln, S. 104-164.

Thon, Jan-Noël (2016): Transmediale Narratologie. Eine Einführung. Berlin, Münster, u.a. [In Vorbereitung].



Robert Baumgartner, M.A.
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3 RG
D-80799 München
E-Mail: robert.baumgartner@paidia.de
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