Malte Dreyer

Erzählungen als Handlungsbeschreibungen

Narrative Erklärungen politischer Ordnungen am Beispiel der Vertragstheorie

This article discusses narrative explanations in philosophy, and turns on the central thesis that narrative explanation in philosophy works primarily by describing human action. The question of how description of this kind succeeds leads us to that of how discrete elements can be integrated to form an understandable and convincing whole story. In accordance with my main thesis, I draw on the theory of narrative research as well as on the theory of action. The latter points to three ways of describing human action: causal, teleological and holistic descriptions. From this typology I deduce a list of narrative explanations and suggest some reasons for why we should prefer the holistic approach. In the final paragraph I illustrate my argument with the example of social contract theory, which shows how the different types of narrative explanation work.

Einleitung

In den letzten Jahren ist das Erzählen wieder vermehrt als Gegenstand philosophischer Reflexion in Erscheinung getreten.1 Dabei wird das Erzählen oder dessen Produkt, die Erzählung, von der einen Seite mit zahlreichen Erwartungen befrachtet, während von anderer Seite Gründe für die Annahme vorgebracht werden, dass Erzählungen die in sie gesetzten Erwartungen nicht oder nur mangelhaft erfüllen können. Im Vordergrund stehen dabei meist die epistemischen Effekte und Funktionen narrativen Sprechens, kurz, die epistemische Valenz des Erzählens.2 Epistemisch valent ist eine Erzählung bzw. ein Erzählvollzug, wenn sie oder er uns etwas zu wissen gibt.3 Nun ist diese Annahme im Alltag selten strittig. Wir erzählen ständig, vor Gericht, im Geschichtsbuch oder beim Arzt, ohne die Geltungsbedingungen zu hinterfragen, die der Annahme zugrunde liegen, dass diese Erzählungen verlässlich sind. Zahlreiche Philosophinnen und Philosophen gehen aber noch einen Schritt weiter und versuchen die These zu plausibilisieren, dass es bestimmte Inhalte gibt, auf die wir uns nicht anders als in Erzählungen beziehen können. Von dieser Position unterschieden werden kann die ebenfalls prominente These, dass Erzählungen dasjenige, was sie erzählen, erst hervorbringen.4 Philosophisch interessant sind Erzählungen aber auch in methodischer Hinsicht. Hier wird vor allem die These vertreten, dass Erzählungen aufgrund ihrer Struktur oder ihrer Eignung, sich auf bestimmte Gegenstände zu beziehen, ein nicht substituierbares Mittel darstellen, Erkenntnisse vor allem im Bereich der Praktischen Philosophie zu gewinnen.5 Im Folgenden soll es um diesen letzten Aspekt einer Philosophie der Erzählung gehen.

Im Einzelnen wird in diesem Aufsatz untersucht, wie Erzählungen in der Philosophie etwas explizieren d.h. erklären. Dabei werde ich in einem ersten Schritt reflektieren, inwiefern sie diese Leistung vor allem dadurch erzielen, dass sie Handlungen nachvollziehbar beschreiben und eine bestimmte Form des Zusammenhangs etablieren. Die Beschreibung der logischen Form dieses Zusammenhangs entlehne ich der Handlungstheorie. Hier werden drei Rationalisierungstypen unterschieden: Kausalismus, Finalismus und Holismus. Ich schlage vor, aus diesen Rationalisierungsstrategien eine Typologie narrativer Erklärungen abzuleiten. Diese Erklärungstypen stellen sozusagen drei verschiedene Wege dar, etwas durch eine Erzählung zu erklären. Der Schlussteil des vorliegenden Aufsatzes ist einer exemplarischen Anwendung der bis dahin erzielten Ergebnisse vorbehalten. Hier wird am Beispiel von Vertragstheorien gezeigt, dass das, was wir (narrativ) erklären, davon abhängt, wie wir die Geschichte erzählen bzw. lesen.

Erklärende Erzählungen

Philosophische Narrationen unterscheiden sich formal von literarischen oder historischen Narrativen. Mit philosophischen Erzählungen wird bezweckt, etwas zu erklären oder anschaulich zu machen. Weder stellen sie einen Sachverhalt nur dar, noch erzeugen sie ihn, sondern sie machen ihn einsichtig und verstehbar.

Dies tun sie auf eine bestimmte Weise. Der diachrone Charakter von Narrativen macht sie zum am besten geeigneten Medium für die Darstellung der Genese philosophisch interessanter Gegenstände ganz unterschiedlicher Art. Philosophisch interessante Gegenstände können beispielsweise die Menschenrechte, die kulturelle oder personale Identität, Lebensformen und die Liebe sein. Erzählungen haben in diesen Zusammenhängen oft eine illustrierende Funktion.6 Dabei referieren Erzählungen im Allgemeinen und philosophische Erzählungen im Besonderen immer (auch) auf intentional handelnde Subjekte.7 Anders formuliert: Sie stellen die Genese derjenigen Sache dar, die philosophisch untersucht werden soll, sofern auch Handlungen ein Teil der Geschichte sind. In besonderem Maße ist die Praktische Philosophie auf die sprachliche Darstellbarkeit menschlicher Handlungen angewiesen. Hier finden wir daher besonders oft narrative Formen zur Darstellung eines Sachverhaltes.

Mit der Feststellung, dass philosophische Erzählungen Darstellungen der Entwicklung beispielsweise der Menschenrechte, einer Staatsform oder einer kollektiv geteilten Überzeugung bieten, ist zunächst noch nichts über die Geltung philosophischer Erzählungen gesagt. Die Frage nach der Genese eines Gegenstandes wird von der Frage nach dessen Geltung kategorial unterschieden.8 Ein Seitenblick auf andere Wissenschaften – etwa die Mathematik – zeigt die Bedeutung dieser Unterscheidung. Würde von der Genese ihrer Gegenstände auf deren Geltung geschlossen werden können, wären wir in der Lage, aus der Erforschung der Geschichte eines mathematischen Beweises Hinweise über dessen Geltung zu erhalten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die narrative Darstellung der Genese lässt in diesem Fall keinerlei Rückschlüsse darauf zu, was oder warum uns ein Beweis etwas zu wissen gibt. Die Geltung eines syllogistischen Schlussverfahrens steht auf einem anderen Blatt als die Geschichte seiner Entdeckung.

Es gibt aber Bereiche (vornehmlich der Praktischen Philosophie), in denen die Genese einer philosophischen Theorie eng mit ihrer Geltung verzahnt ist. In diesen Bereichen haben philosophische Narrative folglich eine explanatorische und / oder plausibilisierende Funktion. Die Rechts- und Moralphilosophie ist einer dieser Bereiche. Wenn wir jemandem zu verstehen geben möchten, warum es in den Grenzen des deutschen Staatsgebietes gesetzlich verboten ist, die Shoa zu leugnen, ist die Geschichte der Genese dieses Gesetzes hilfreich. Darüber, inwieweit ein Schluss von der Genese von Gesetzen, Werten und Normen auf deren Geltung nicht nur möglich, sondern auch zwingend ist, existieren aber widerstreitende Ansichten. Hans Joas zählt Narrationen zum methodischen Kernbestand einer Philosophie der Werte und insbesondere der Menschenrechte, deren Geltung er durch die Beschreibung ihrer Genese nachvollziehbar zu machen versucht. In seiner Darstellung besitzen Narrative eine plausibilisierende Funktion, weil sie unsere Bindung an bestimmte Werte erst verständlich machen.9 Joas spricht daher von einer „notwendigen Narration“ (Joas 2012, 204f.). Er wendet sich damit dezidiert gegen die in Folge von Nietzsche vertretene These, unsere Bindung an Werte und Normen werde dadurch, dass Erzählungen die historische Kontingenz von Überzeugungen akzentuieren, geschwächt,10 und geht im Gegenteil davon aus, dass das Erzählen einer Geschichte über die Entstehung eines spezifischen Wertes als nachvollziehbarer Grund dafür anerkannt werden kann, dass jemandem dieser Wert wichtig und schützenswert erscheint. Ungeachtet der Frage, ob die These der Verschränkung von Genese und Geltung in Bezug auf Werte aufrecht zu halten ist, lässt sich doch behaupten, dass Erzählungen uns zumindest in jenen Bereichen etwas zu wissen geben können, in denen Genese und Geltung verschränkt sind.

Neben ihrem diachronen Charakter eignen sich Erzählungen zur Explikation oder Plausibilisierung von philosophischen Sachverhalten auch durch die spezifische Form der Kohärenz, die sie erzeugen. Michael Hampe sieht in der Fähigkeit, Zusammenhänge dieser Art herzustellen, eine unterschätzte argumentative Tugend, die wieder Einzug in den philosophischen Diskurs erhalten müsse (Hampe 2014, 326f.). Diese These ist Teil einer Kritik an der heutigen akademischen Philosophie, die ihm zufolge ihre lebensweltliche Relevanz nur zurückerlangen kann, wenn sich pluralistische Weisen des Philosophierens gegen den vorherrschenden Modus des Behauptens von Allgemeinheiten durchsetzen. Erzählungen haben in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Sie sollen nicht nur philosophische Reflexionen mit illustrierenden Beispielen schmücken, sondern stehen gleichberechtigt neben philosophischen Methoden der Verallgemeinerung. Die Logik narrativen Sprechens hat seiner Ansicht nach einen Eigenwert, der vergleichbar mit dem des deduktiven Schließens sei. Hampe verdeutlicht diese Überzeugung mit einem Vergleich zu Descartes:

In seiner dritten Regel gibt Descartes eine Metapher für die Deduktion, in der, anders als bei der Intuition, etwas Erkanntes ‚als Glied einer langen Kette [longae alicujus catenae]‘ in einer zusammenhängende[n] und nirgendwo unterbrochene[n] Tätigkeit des Denkens […] erscheine. Auch wenn sich die Kette nicht als ganze überblicken lasse, so können wir uns beim Durchmustern des Gebildes doch ‚erinnern, daß die einzelnen Glieder mit ihren Nachbargliedern vom ersten bis zum letzten zusammenhängen‘. Die Evidenz eines solchen Zusammenhanges ist also nicht die der unmittelbaren Intuition, sondern ‚gewissermaßen von dem Gedächtnis [memoria] erborgt‘. Da Descartes die Regel nicht angibt, nach der die einzelnen Sätze wie Glieder in einer Kette miteinander verbunden werden, gilt seine Beschreibung für eine mathematische Ableitung ebenso wie für eine Erzählung. Denn auch eine Erzählung kann plausibel oder unplausibel sein. (Hampe 2014, 320)

Hampes Vergleich soll zeigen, dass Narrative ihren Ort in der Philosophie nicht nur aufgrund dessen erhalten, was erzählt wird, sondern auch dadurch, dass sie eine bestimmte Art des Zusammenhangs stiften. Die Regeln, nach denen wir auf diese Weise Sinngebilde erzeugen, sind sozusagen das kognitive Gerüst, in dem wir unter anderem unser Selbstbild errichten. Dabei ist nicht der faktisch ausgeführte Erzählvollzug entscheidend, sondern vielmehr, dass wir die oben erwähnte Logik des Übergangs kennen und einordnen können:

So wie die Schaffung eines neuen mathematischen Beweises die Schaffung eines Paradigmas für rationale Übergänge liefert, ebenso schaffen Erzählungen Paradigmen für die Übergänge in erinnerbaren Lebenserfahrungen. […] Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist [aber] nicht darauf angewiesen, daß ich selbst die sprachliche Kompetenz oder gar das erzählerische Talent besitze, mich an Lebenserfahrung paradigmatisch zu erinnern. Auch die Fähigkeit zum rationalen Argumentieren hängt nicht davon ab, daß ich selbst einen neuen mathematischen Beweis finde. Ich muss ihn nur in der Schule nachvollziehen können. (Hampe 2014, 321)

Narratives Schließen wird erlernt, ohne dass diese Praxis expliziert werden muss. Die nähere Beschreibung der logischen Form narrativen Schließens, ihres Unterschieds zum deduktiven Schließen und daraus resultierende Folgerungen für die Art des Zusammenhangs sind aber wichtig, um herauszufinden, was philosophische Erzählungen uns zu wissen geben. Zwischen der oben beschriebenen deduktiven Logik und der epistemischen Valenz von Narrativen besteht ein wesentlicher Zusammenhang.11 Hampes Beschreibung narrativen Schließens darf meines Erachtens aber nicht getrennt von der weithin akzeptierten Feststellung betrachtet werden, dass Narrative in der Praktischen Philosophie sowohl auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes als auch auf einer methodischen Ebene Handlungen beschreiben. Handlungen sind, so ließe sich formulieren, das Gewebe, aus denen Erzählungen bestehen, oder – um es mit einem narratologisch geläufigen Begriff auszudrücken – ihre Minimaleinheit.

Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass diese Merkmale nicht nur semantischer Natur sind, sondern zugleich ein bedeutendes formales Kriterium narrativen Sprechens darstellen. Anders ausgedrückt: Die Beobachtung, dass Erzählungen von Handlungen handeln, die sie als Teile eines übergreifenden Zusammenhangs darstellen, unterscheidet sich grundsätzlich von der Behauptung, dass Erzählungen von der Liebe oder dem Kampf gegen das Böse handeln. Und dies nicht nur, weil „Handlung“ ein allgemeinerer Begriff als „kämpfen“ oder „lieben“ ist. Dass Erzählungen nicht ohne Handlungsbeschreibungen auskommen können, verrät uns vielmehr etwas über ihre logische Form, weil damit implizit Behauptungen über den spezifischen Typ der Verknüpfung gemacht werden, den Hampe oben als deduktiv bezeichnet.

Woraus Erzählungen bestehen: vom Ereignis zur Handlung

Bevor ich diese These ausführe, möchte ich zunächst die Rede von der Handlung als narrativer Minimaleinheit vertiefen. Welchen Gewinn kann ein handlungstheoretischer Exkurs im Zusammenhang einer Untersuchung erzielen, in der es vorrangig um das Erzählen in der Philosophie geht? In der Regel wird doch allgemeiner das Ereignis und nicht die Handlung als kleinste Einheit narrativer Rede bestimmt.12

Die Verwendung des Ereignisbegriffes zieht meines Erachtens ein Problem nach sich: Über Form und Ursprung des verbindenden Elementes, das Einzelereignisse zu einem kohärenten Narrativ vernäht, besteht nämlich kein Konsens. Doch wie die Darstellung narrativen Schließens im letzten Zitat Hampes nahelegt, ist das spezifische Verhältnis zwischen den Minimaleinheiten einer Erzählung sozusagen das Herz der Erzählung.13 Dementsprechend zahlreich sind die Versuche, dieses im Folgenden „Konnektiv“ genannte Bindeglied genauer zu beschreiben. So wird sein Ursprung etwa in einem bestimmten Leseerlebnis14 oder in unserer kognitiven Disposition gesucht, einen höheren Grad der Verknüpfung von Ereignissen in der Welt zu vermuten, als empirisch nachweisbar ist.15 Auch über die logische Form des Konnektivs sind widerstreitende Vermutungen in der Diskussion. Auf der einen Seite wird mit Hinweis auf die Tatsache, dass in Narrativen ein Ereignis dem anderen notwendig und in chronologischer Reihung folgt, die These vertreten, die gesuchte Verknüpfungsfunktion sei als „kausal“ zu bezeichnen.16 Diese Feststellung macht allerdings eine Definition narrativer Kausalität notwendig.17 Dabei muss die zugrunde gelegte Kausallogik so bestimmt werden, dass sie von einem Kausalitätsbegriff unterscheidbar ist, demzufolge ein vorhergehendes Ereignis das ihm folgende Ereignis vollständig determiniert. Würde dieser feine Unterschied nicht getroffen werden, könnten Beschreibungen mechanischer Kausalprozesse nicht mehr von Narrativen unterschieden werden.18 Auf der anderen Seite darf ein zeitlich früher eintretendes Ereignis ein darauffolgendes nicht unterdeterminieren. Wird nämlich von Ereignissen gesprochen, zwischen denen kein oder nur ein zufälliger Zusammenhang besteht, ist das so entstehende Sprachartefakt kein vollwertiges Narrativ, sondern bestenfalls eine Aufzählung oder Chronik. In der aktuellen Forschungsdiskussion sind daher Versuche unternommen worden, für die Beschreibung des Konnektivs einen schwachen Kausalitätsbegriff zu bestimmen, der den oben beschriebenen Anforderungen genügt.19 Ein prinzipielles Problem dieser Versuche scheint mir aber darin zu liegen, dass die Rede von Kausalität im Zusammenhang mit Erzählungen explikationsbedürftig bleibt, weil unter Kausalität in der Regel eine physische Wirkursache im Sinne der klassischen aristotelischen causa efficiens verstanden wird. Soll dieser Begriff in narratologischen Zusammenhängen verwendet werden, so ist er im Sinne eines schwächeren Kausalitätsbegriffs zu konzipieren, der auch Fälle zu umfassen vermag, in denen Ereignisfolgen von Kontingenzen geprägt sind und gleichsam „ein bisschen kausal“ zu sein scheinen. Aber selbst wenn wir den Kausalitätsbegriff solange präzise eichen, bis er einen zur Beschreibung von Narrativen adäquaten Grad an Determination erreicht, wird er nach wie vor unter dem Rechtfertigungsdruck stehen, den ein Vergleich mit der physischen Wirkursache erzeugt. Grundsätzlich besteht für die Verwendung des Kausalitätsbegriffs in erzähltheoretischen Zusammenhängen aber keine sachliche Notwendigkeit. Schließlich besteht die Alternative nicht allein darin, entweder von kausaler Verursachung oder von keiner Art der Verknüpfung außer einer rein temporalen zu sprechen. Currie bemerkt diesbezüglich sehr treffend, dass die Integration von Einzelereignissen in eine kohärent erzählbare Geschichte auch dort gelingt, wo kausale Ereigniszusammenhänge durch den Erzähler einer Geschichte explizit in Abrede gestellt werden – beispielsweise dort, wo paranormale Phänomene erzählt werden (Currie 2006, 312). Er schlägt daher vor, den Kausalitätsbegriff narratologisch abzuwerten und argumentiert, als alternativen Verknüpfungstyp diejenige Form von Kohärenz in Betracht zu ziehen, die von Gründen gestiftet wird:

We need to say something more definite about relation R [oben Konnektiv genannt] and generally about R-like relations capable of contributing to narrative. I shall argue that such relations are relations of reason. (Currie 2006, 313)

Die Ereignisfolge in Narrativen ist demnach durch dieselbe Logik gegliedert, von der wir Gebrauch machen, wenn wir auf eine Warum-Frage antworten, die sich auf unser oder eines anderen Menschen Handeln bezieht. Konsequenter Weise sollte Currie die Handlung auf der Liste möglicher Kandidaten für die narrative Minimaleinheit auf den ersten Platz setzen. Damit würde zugleich der Tatsache Rechnung getragen, dass es zum Definiens der Erzählung gehört, Wesen darzustellen, die Absichten verfolgen, Gründe haben, Zwecke realisieren, Verantwortung übernehmen, ihre Mittel wählen und dergleichen mehr. Diesen Gedanken möchte ich im Folgenden aufnehmen und weiterführen. Die argumentative Anschlussstelle bildet hierbei Curries These, dass die Einheit in Erzählungen durch dieselbe Logik gestiftet wird, mit der wir die Einheit von Handlung denken. Die oben beschriebenen Probleme im Versuch, das Konnektiv zu qualifizieren, lassen sich damit um Überlegungen aus der Handlungstheorie ergänzen. Denn hier finden wir die geeigneten begrifflichen Mittel zur Analyse des Zusammenhangs zwischen aufeinander bezogenen Einzelhandlungen.

Eine Typologie narrativen Erklärens

Wie Currie selbst bemerkt, ist die komplizierte und aus genannten Gründen fragliche Rede von Kausalität mit einem terminologischen Ebenenwechsel vom Ereignis zur Handlung noch nicht gänzlich verabschiedet. Denn auch Gründe werden in der Handlungstheorie als kausale Ursachen nachfolgender Ereignisse angesehen.

The idea of events related to one another as reasons itself needs some explanation, since we naturally think of reasons as relations between the motives and the actions of agents, and hence – on some views – as necessarily causal. (Currie 2006, 313)20

Currie hat mit der Einführung des Terminus „reason“ kein überzeugendes Argument auf der Hand, das einen Verzicht auf die Kausalkategorie ermöglichen würde. Alternativen zur kontraintuitiven Kausalkategorie, die uns die Logik narrativen Schlussfolgerns aufzeigen könnten, sind jedoch in der analytischen Handlungstheorie auffindbar. Horn und Löhrer (2010) unterteilen sie in drei Hauptströmungen: Kausalismus und Finalismus sowie einen neoaristotelischen Holismus. Aus den ihnen zugehörigen Typen von Handlungserklärungen können drei Formen narrativer Erklärungen abgeleitet werden, von denen ich die kausalistische aus oben genannten Gründen für problematisch halte. Der Vollständigkeit halber soll sie hier aber dennoch erwähnt werden. Der Kausalismus besagt im Wesentlichen, dass die kausalen Ursachen von Handlungen Willensregungen oder vergleichbare Arten von Pro-Einstellungen sind.21 Diese motivationale Einstellung geht der eigentlichen Handlung zeitlich voraus, ist aber dennoch auf sie bezogen. Typisch für Rationalisierungen dieser Art ist der Gebrauch des Konnektives „weil“ in Verbindung mit einer intentionalen Erklärung. Antigone geht vor die Tore Thebens, weil sie Polyneikes bestatten möchte / will.22 Handlungstheoretisch wird sodann versucht, zu erklären, wie die Annahme einer der Handlung vorausgehenden kausalen Ursache mit unserem Begriff absichtlichen und freien Handelns vereinbar gemacht werden kann. Wie in Bezug auf die Erzählung scheint die Kausalkategorie auch handlungstheoretische Anschlussprobleme nach sich zu ziehen. Doch wie würde nun eine narrative Erklärung aussehen, die einem kausalistischen Schema zu folgen versucht? Kausalisten würden die in Erzählungen beschriebenen Handlungen wesentlich als Effekt einer initialen Wirkung zu lesen versuchen. Ein derartiges Erstereignis enthielte sozusagen im Keim bereits das aus ihm entwickelte Geschehen. Wie gesagt erfordert diese Position eine sehr präzise Bestimmung des Determinationsgrades. Mit einem zunehmenden Grad an Determination zwischen den Ereignissen kann nämlich in Frage gestellt werden, ob hier noch eine Geschichte erzählt wird. Kausalistisch gestrickte Geschichten drohen zu reinen Beschreibungen zu werden. Beispiele derartiger Grenzfälle sind etwa expositorische Erzählungen wie moderne Kosmogonien, aber auch evolutionsbiologische Narrative, die die Anmutung einer Geschichte oft nur dadurch erhalten, dass in ihnen „die Natur“ oder andere nicht menschliche „Wesen“ personifiziert werden.23

Von kausalistischen Handlungserklärungen zu unterscheiden sind teleologische Handlungserklärungen, die eine Handlung durch die Angabe ihres Ziels zu erklären versuchen. Grund einer Handlung ist demnach nicht etwas, was ihr zeitlich vorausgeht und von ihr getrennt ist, sondern derjenige nachfolgende Zustand oder Vollzug, auf den sich diese Handlung richtet.24 Auf die Frage, warum jemand etwas getan hat, wird dementsprechend mit dem Gebrauch des Konnektives „um-zu“ gearbeitet. Explanans ist hier das Telos, das auch eine auf die Handlung bezogene Anschlusshandlung sein kann. Antigone geht vor die Tore Thebens, um Polyneikes zu beerdigen.

Teleologische Erklärungen sind grundlegende Modi des Erklärens von Handlungen. Weil auch Erzählungen eine teleologische Struktur aufweisen, hat man deren Finalisierungsbedingungen mit anderslautenden Worten, aber ähnlichen begrifflichen Mitteln untersucht.25 Velleman bezeichnet sie zusammenfassend als „outcome oriented concepts“, deren Kerngedanke darin zu liegen scheint,

that the organizing principle of a story is the ‚promised although‘ unpredictable outcome – that is, the ending. A narrative must move forward not only in the sense of telling one event after another but also in the sense of approaching or at least seeming to approach some conclusion to those events, some terminus, finish, or closure. (Velleman 2003, 9)26

Das innere Organisationsprinzip von Geschichten, so würden die Vertreter der „outcome oriented concepts“ behaupten, besteht wesentlich in ihrer teleologischen Struktur. Sofern Geschichten erklären, ließe sich ergänzend hinzufügen, geschieht dies durch den Bezug eines zeitlich nachfolgenden Ereignisses auf ein Initialereignis.27 Danto sieht in dieser Art narrativer Erklärung einen Prototyp für Erklärungen in den Geschichtswissenschaften.28

Bisher haben wir uns der kausalistischen und finalistischen Form von Handlungserklärungen gewidmet. Kommen wir nun zum besagten dritten Erklärungstyp, dem Holismus. Er beansprucht, eine Alternative zu kausalistischen Erklärungen zu geben und stellt eine Unterart teleologischer Erklärungen dar. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte neoaristotelische Position, deren Programm Douglas Lavin so beschreibt:

Der entscheidende Punkt ist nun, dass sie [neoaristotelische Handlungserklärungen] zusammengenommen offenbar genau das leisten, was das Verständnis absichtlichen Handelns als einer bestimmten Form von Ereignis leisten muss. Sie charakterisieren eine bestimmte Art der Einheit von Teilen oder Phasen in einem Ganzen, die das Prinzip ist, welches unser Verstehen von Prozessen als Handlungen leitet. Erstens identifizieren sie eine bestimmte Art explanatorischer Struktur, welche die unterscheidbaren Teile oder Phasen einer absichtlichen Handlung vereint. Denn diese sind charakteristischer Weise teleologisch so verknüpft, dass ein sich entfaltendes übergreifendes Ereignis die ihm untergeordneten Teile erklärt. (Lavin 2013, 370)

In dem hier zitierten Aufsatz versucht Lavin zu zeigen, dass jenes übergreifende Ganze die unter es gefassten Teile als Handlungsteile erklärt. Nach Lavin werden die Phasen einer Handlung also dadurch als solche kenntlich, dass sie in einer spezifischen Form des Zusammenhanges stehen. Erst dadurch, wie sie aufeinander bezogen sind, erkennen wir, dass sie sich von bloßen Körperbewegungen unterscheiden. Isoliert betrachtet, also ohne diesen Kontext aus vorhergehenden oder nachfolgenden Vollzügen zu berücksichtigen, ist die Frage nach dem Unterschied zwischen einer bloßen Körperbewegung und einer Handlung nicht zu beantworten.

Die grundlegendste Form der Rationalisierung von Handlungen ist der neoaristotelischen Handlungstheorie zufolge die teleologische Erklärung einer Handlung durch eine andere (Warum wird A getan? Weil B getan wird. Warum wird B getan? Weil C getan wird). Wenn wir übereinstimmen, dass Erzählungen selbst Handlungen so aufeinander beziehen, dass diese plausibel aufeinander überleiten, sind Rationalisierungen der von Lavin angegebenen Art bereits narrative Formen der Erklärung. Dennoch lohnt es sich, ausführlich darzustellen, wie eine narrative Rationalisierung unter den Vorzeichen des Neoaristotelismus aus erzähltheoretischer Perspektive aussehen könnte. Hierzu ist ein deutungsfreudiger Blick auf die Poetik des Aristoteles hilfreich. Dabei wird es vor allem darum gehen, wie das erzählend erzeugte Ganze geartet ist und was es erklärt.

Exkurs: der erzähltheoretische Holismus in der Aristotelischen Poetik

Wie Meuter (2004) anmerkt, gehört die aristotelische Poetik zu den Gründungsdokumenten einer Philosophie der Erzählung. Dennoch wirft die Beschäftigung mit der Poetik im Rahmen einer philosophischen Theorie der Erzählung Fragen auf, denn die Terminologie, die Aristoteles verwendet, unterscheidet sich erheblich vom narratologischen Vokabular in der gegenwärtigen Debatte. Von „Erzählungen“ ist weder im griechischen Originaltext, noch in einer der einschlägigen Übersetzungen die Rede. Doch lassen sich eine Vielzahl anderer Begriffe aus dem semantischen Feld literarischer Gattungsbezeichnungen finden, die mit dem der „Erzählung“ im heute gebräuchlichen Sinne partielle Übereinstimmungen aufweisen. Insbesondere das Drama wird von Aristoteles vornehmlich in seiner narrativen Form gedacht: temporal, ereignishaft und sequenziell. Der Einfachheit halber wird im Folgenden dort, wo Aristoteles mit einer gattungspoetologischen Bezeichnung auf diese Merkmale referiert, von Erzählungen statt von der „Tragödie, sofern sie etwas erzählt“ bzw. dem „Drama, sofern es etwas erzählt“ gesprochen. Eine erzähltheoretische Rekonstruktion der Überlegungen von Aristoteles ist vor allem dort möglich, wo die sprachliche Repräsentation einer Handlung, der diachrone Charakter und der innere Zusammenhang der „Dichtung“ im Fokus der aristotelischen Überlegungen stehen. In dieser Lesart vereint die Poetik Überlegungen zur epistemischen Valenz von Erzählungen mit Thesen über ihre innere Einheit als Handlungsbeschreibung.29 Der „Plot“, bzw. der aristotelische „Mythos“, wird in der kommentierten Neuübertragung von Arbogast Schmitt demgemäß passender mit „Handlungseinheit“ übersetzt.30 Erzähltheoretisch ist insbesondere das Drama von Bedeutung. Es ist vornehmlich dadurch charakterisiert, dass in ihm Handlungen nachgeahmt und als Teile einer übergreifenden Einheit dargestellt werden. Bezüglich seiner Teil-Ganzes-Dialektik scheint das Drama mit der von Lavin dargestellten Handlungsbeschreibung identisch zu sein.31 Vor diesem Hintergrund möchte ich versuchen, die handlungstheoretischen Überlegungen des Neoaristotelismus mit Aristoteles‘ erzähltheoretischen Überlegungen zusammenzubinden. „Drama“ wird unter diesen Vorzeichen nicht nur gattungspoetologisch gelesen und die aristotelischen Überlegungen werden nicht nur als frühe Beiträge zu einer Texttypologie verstanden. Denn die Einheit des Dramas liefert uns nach Aristoteles einen entscheidenden geltungslogischen Maßstab, auf den im Folgenden das Hauptaugenmerk liegt. Darüber, ob eine Nachahmung von Handlungen uns etwas zu wissen gibt oder nicht, entscheidet letztlich der Grad des inneren Zusammenhangs, den die auseinander hervorgehenden Handlungen zu stiften in der Lage sind. Aristoteles definiert im nachstehenden Zitat zunächst diese Einheit und schlussfolgert daraufhin auf den epistemischen Status der Dichtung.

Wie also auch in den anderen nachahmenden Künsten die Einheit der Nachahmung auf der Einheitlichkeit ihres Gegenstandes beruht, so muss auch der Mythos, da er ja Nachahmung einer Handlung ist, Nachahmung einer solchen Handlung sein, die Einheit und Ganzheit hat, und die Anordnung der Handlungsteile muss so sein, dass das Ganze sich ändert und in Bewegung gerät, wenn auch nur ein Teil umgestellt oder entfernt wird. Das nämlich, was da sein oder nicht da sein kann ohne erkennbaren Unterschied, ist kein [konstitutiver] Teil des Ganzen.
Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit [einfach] wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so [darzustellen], wie es gemäß [innerer] Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h., was [als eine Handlung eines bestimmten Charakters] möglich ist. (1451a30-1451b1, Hinzufügungen in den eckigen Klammern hier und in allen anderen Zitaten in diesem Abschnitt im Original)32

Handlungsnachahmungen sind laut Aristoteles kennzeichnend für das Drama.33 Sein Versuch, die explanatorische Struktur von Handlungsbeschreibungen zu denken, unterscheidet sich von kausalistischen Konzeptionen insbesondere durch die Art des Zusammenhanges der einzelnen Phasen einer Handlung und / oder Geschichte. Sie folgen nach „innerer Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit“ aufeinander. Geschichten, die nur ein geringes Maß des inneren Zusammenhanges aufweisen, bezeichnet Aristoteles dagegen abwertend als episodisch.

Aus all dem ist also klar, dass der Dichter mehr Dichter von Mythen [d.h. von Handlungseinheiten] als von Versen sein muss, sofern das, was ihn zum Dichter macht, in der Nachahmung besteht, Gegenstand der Nachahmung aber Handlungen sind. […]
Daher sind grundsätzlich von den Mythen und Handlungen diejenigen die schlechtesten, die episodisch sind. Episodisch nenne ich einen Mythos, in dem das Nacheinander der Szenen weder wahrscheinlich noch notwendig ist. (1451b25-35)

Nach „Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit“ ist eine in diesem Zusammenhang zentrale Wendung, die genauer betrachtet werden muss, weil sie entscheidend für das hier zugrundeliegende Verständnis der Handlungsnachahmung ist. Obwohl Aristoteles den Akzent auf die Kontinuität eines Handlungsverlaufes legt, betont er ausdrücklich, dass unter die absichtsvollen Ereignisse eines Mythos auch solche fallen, die wider Erwarten eintreten. Sie erzeugen einen Bruch in der narrativen Kontinuität, ohne dass dadurch der Mythos, die Handlungseinheit als solche, essenziell bedroht würde. Bedingung dafür, dass der Mythos trotz dieses Bruches in seiner narrativen Kontinuität nicht erodiert, ist, dass die Einheit der Handlung nicht aufgehoben, sondern höchstens destabilisiert wird. Mit anderen Worten: Die unerhörte Begebenheit einer Geschichte darf nicht so gewichtig sein, dass sie nicht mehr in den bestehenden Handlungszusammenhang integrierbar ist. Der entscheidende Maßstab zur Bewertung einer Handlung in Hinblick auf ihre Eignung, in einer Reihe von nachfolgenden Handlungen als Element desselben Mythos angesehen werden zu können, ist also – so ließe sich mit Aristoteles behaupten – das Maß, in dem diese Handlung in eine teleologische Struktur aufeinanderfolgender Handlungen eingebunden werden kann. Wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, bedeutet dies, dass man sie als Grund für eine nachfolgende Handlung ansehen können muss.34 Das wiederum bedeutet, dass sie auch als hinreichende Antwort auf Warum-Fragen zu verstehen sein muss („Warum geht Antigone vor die Tore Thebens? Weil sie Polyneikes begräbt.“). Ein Narrativ ist u.a. dann geschlossen, kohärent und als Erzählung bedeutsam, wenn sich die in ihm dargestellten Handlungen in derartigen Rationalisierungen so miteinander verbinden lassen, dass ihre Teile einander wechselseitig erklären.35 Die Faktizität des dargestellten Geschehens spielt sodann eine untergeordnete Rolle für ein Urteil darüber, ob eine derartige Rationalisierung gelungen ist, sprich, den erforderlichen Zusammenhang erzeugen kann. Denn die Art von Zusammenhang, den gelungene Dichtung erzeugt, kann sowohl in erfundenen als auch nicht erfundenen Geschichten etabliert werden.

Auch wenn es sich also ergibt, dass er Geschehenes dichterisch behandelt, ist er trotzdem ein Dichter. Denn es gibt keinen Grund, warum nicht auch wirkliches Geschehen manchmal so sein kann, wie es wahrscheinlich geschehen würde und wie es [dem bestimmten Charakter eines Handelnden nach] möglich ist, dass es geschieht, und das ist es, was das Dichterische an seiner Behandlung dieses Geschehens ausmacht. (1451b30-35)

Dichtung in diesem Sinne repräsentiert nicht, sondern macht eine Reihe von Gründen intelligibel und stellt damit einen Handlungszusammenhang dar, für dessen Beurteilung als Handlungsfolge es zunächst irrelevant ist, ob sie wirklichen Ereignissen in der Welt entspricht oder nicht. Dennoch spricht Aristoteles im letzten Zitat von der Möglichkeit eines Geschehens. Dieses Kriterium darf aber nicht im Sinne eines Hinweises auf die physikalisch gesetzten Grenzen unseres Handelns verstanden werden (Schmitt 2008, 373). Möglich in dem hier gemeinten Sinne ist eine Handlung nur dann, wenn sie den Erwartungen entspricht, die wir auf Basis der zuvor erzählten Geschichte gegenüber der handelnden Figur oder Person bilden. Schmitt bezeichnet dieses Maß zur Beurteilung des Handlungsmöglichen in seinem Kommentar als „Charakter eines Menschen“.

Im Unterschied zu dem, was man gewöhnlich für Nachahmung hält, scheint Aristoteles zu verlangen, dass man beim Nachahmen gerade nicht wiedergibt, was man ‚in der Wirklichkeit‘ vor sich hat, sondern dass der Dichter ‚seine‘ Wirklichkeit, die er in seiner Dichtung schafft, nicht durch das Hinblicken auf die äußere Realität gestaltet und formt, sondern indem er Maß nimmt an etwas, wonach sich auch eine in wirklichem Vollzug vorgeführte Handlung richten müsste oder könnte. Dieses Maß ist nach der Erklärung, die Aristoteles im Folgenden gibt, der Charakter eines Menschen. (Schmitt 2008, 377)

Insofern ist der Ritt mit einem Käfer in den Himmel (Schmitt 2008, 373) wahrscheinlich, notwendig und möglich, wenn Abenteuerlust und Mut den Charakter kennzeichnen. Über den Charakter wissen wir wiederum durch die Beschreibung vergleichbarer, waghalsiger Handlungen. Die Bemerkung, dass der Charakter ein Maß für das Urteil über die Handlungsbeschreibung stellt, ist daher in unproblematischer Weise redundant. Einerseits treffen wir unser Urteil über die Möglichkeit einer Handlung auf der Grundlage der Kenntnis über den Charakter eines Menschen. Der Charakter wiederum wird durch die Beschreibung der Handlungen eines Menschen dargestellt. Der Zusammenhang einer Handlung mit vorhergehenden und zeitlich nachfolgenden Handlungen bleibt also letztlich das Maß zur Beurteilung der Möglichkeit des Erzählten. Eine Handlungsbeschreibung muss in geeigneter Weise zu dem passen, was zuvor an Handlungen desselben Urhebers beschrieben worden ist.

Die zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen poetischen Darstellungen und solchen, die erzählen, ohne der Dichtkunst anzugehören, dürfen aber nicht zu der voreiligen Schlussfolgerung verleiten, Aristoteles würde die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung nivellieren. Letztere unterscheidet sich von historischen Darstellungen durch einen größeren Grad an Freiheit, durch den es möglich wird, prototypische Charaktere besonders effektiv zu evozieren. Darin erlangt die Dichtung einen höheren Grad an Allgemeinheit:

Denn ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben (man könnte die Bücher Herodots in Verse bringen, und sie blieben um nichts weniger eine Form der Geschichtsschreibung, in Versen wie ohne Verse), der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist, der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. (1451b1-10)

Im Unterschied zur heute geläufigen Auffassung wird die Differenz zwischen historischen und dichterischen Erzählungen hier nicht nur mit der ontologischen Differenz zwischen nicht-fiktionalen und fiktionalen „Versen“ identifiziert. Im Sinne von Aristoteles ist es durchaus möglich, dass eine dichterische Darstellung nicht-fiktionale Begebenheiten repräsentiert und dabei dennoch dichterisch bleibt, sofern sie den an sie gestellten normativen Anspruch erfüllt und einen hinreichenden Grad an „Allgemeinheit“ erlangt. Diese Allgemeinheit bildet die differencia specifica zur historischen Erzählung, die im letzten Zitat als Darstellung von etwas „Einzelnem“ in konträrem Gegensatz zur Dichtung erscheint. Der Unterschied zwischen Einzelnem und Allgemeinen ist sozusagen der Schlüssel zum Verständnis des Unterschiedes zwischen den beiden Formen sprachlicher Repräsentation. Die heute gebräuchliche Differenzierung zwischen Fakten und Fiktionen ist aber nur schwerlich mit der aristotelischen Opposition zwischen Allgemeinen und Besonderem in Deckung zu bringen. Näher liegt es hingegen, „Darstellung von etwas Allgemeinen“ und „Darstellung von etwas Besonderem“ als Modi der Handlungsbeschreibung anzusehen. Aristoteles scheint mit dieser Wendung auf Unterschiede in der Art und Weise hinzuweisen, in der historische und dichterische Darstellungen Handlungen beschreiben. Während erstere durch den Anspruch, möglichst genau das widerzugeben, was geschehen ist, auch unzusammenhängende, nicht erklärbare oder anschlusslose Handlungen in ihre Beschreibung aufzunehmen gezwungen sind, wird die Dichtung (auch dort, wo sie wahre Begebenheiten erzählt) aus der Menge darstellbarer Handlungen nur diejenigen erzählen, die sich in die Gesamtkomposition fügen und repräsentativ in Bezug auf den darzustellenden Charakter wirken. Schmitt bemerkt in diesem Sinne:

Das ‚Mögliche‘, das er der geschichtlichen Wirklichkeit entgegensetzt, ist im Sinn des 8. Kapitels eindeutig die ‚sýstasis‘, die ‚Komposition‘ einer ganzen und einheitlichen Handlung. Eine Handlung in diesem Sinn ist vom Gesamt dessen, was eine Person tut und leidet, verschieden, weil sie sich auf ein bestimmtes Ziel […] beschränkt und […] alle möglichen anderen Handlungen dieser Person als nicht zu dieser einen Handlung gehörend weglässt. (Schmitt 2008, 380)

Doch können auch Darstellungen historischer Begebenheiten besagte dichterische Kohärenz aufweisen, sofern sie gleichsam zufällig als Ausdruck eines bestimmten Charakters kenntlich werden. Nur sind solche historischen Darstellungen in der Regel recht selten. Für gewöhnlich enthalten sie auch Handlungsbeschreibungen, die nicht dem Zweck der Darstellung eines geordneten Ganzen unterzuordnen sind:

Geschichte und Dichtung unterscheiden sich also nicht einfach dadurch, dass die eine nur Einzelnes (im modernen Sinn des Wortes), die andere nur Allgemeines darstellt, sondern dadurch, dass die eine Einzelnes und Allgemeines in unbestimmter Mischung enthält, während die andere sich ganz und ausschließlich auf solche einzelnen Handlungen konzentrieren kann, die Verwirklichungsformen allgemeiner charakterlicher Möglichkeiten sind. Sie beschränkt sich auf das, wie ein bestimmter Charakter sich in Worten und Taten in einer einzelnen geschichtlichen Handlung verwirklichen würde. (Schmitt 2008, 388)

Das spezifische Wissen der Dichtung entsteht nun durch den Zusammenhang von Episoden einer Handlung, die so aufeinander bezogen werden können, dass sie einander gegenseitig hinreichend stützen, um als „Verwirklichungsformen allgemeiner charakterlicher Möglichkeiten“ erkennbar zu werden. Historische Geschichten sind ebenfalls – wenn auch in geringerem Maße – von der internen Logik dieser Handlungsbeschreibungen geprägt, doch wird hier offen gelassen, was an die Stelle des „Charakters“ tritt, der Handlungen in Bezug auf ihre Eignung unterscheidet, Teil einer Geschichte zu werden. Wie im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes ersichtlich, teilen sich philosophische Narrative mit denen der Dichtung die Eigenschaft, nicht der Darstellung dessen verpflichtet zu sein, was wirklich geschehen ist. Philosophische Erzähler haben in vielen Fällen ebenfalls die Freiheit, nur in Bezug auf den darzustellenden Zusammenhang geeignete Handlungen zu beschreiben. Dass im philosophischen Narrativ die systematische Position des übergreifenden Ganzen nicht vom „Charakter eines einzelnen Menschen“ bekleidet wird, wird im abschließenden Beispielteil deutlich.

Kommen wir aber zuvor resümierend auf den Vergleich zwischen Kausalismus, Finalismus und Holismus zurück und fassen zusammen, welche Schlussfolgerungen sich in Bezug auf die narrative Erklärungsstrategie des Holismus ziehen lassen. Kausalisten würden eine Geschichte als Effekt eines Initialereignisses begreifen, während eine finalistische Perspektive eine Folge von Ereignissen oder Handlungen in den Horizont einer Zielerwartung stellt und damit erklärt. Neoaristotelische Erzähltheoretiker würden die Frage, welche typischen Merkmale eine einzige narrative Einheit besitzt, dagegen als sinnlos empfinden, da es zu den definierenden Eigenschaften aller Einheiten einer Erzählung gehört, in bestimmter Weise auf andere Einheiten desselben Narrativs bezogen zu sein. Die einzelnen Teile einer Geschichte sind erkennbar nur und ausschließlich als Teile dieser Geschichte.

Erklärungsformen philosophischer Erzählungen am Beispiel des Kontraktualismus

Abschließend möchte ich die angesprochenen drei narrativen Rationalisierungsstrategien am Beispiel einer prominenten rechtsphilosophischen Theorietradition aufzeigen. Kontraktualistische Theorien sind eine Gruppe philosophischer Argumente mit dem inhaltlichen Merkmal, dass sie eine staatliche Verfassung oder ein bestehendes System moralischer Einstellungen entweder durch die Beschreibung ihrer historischen Genese oder dadurch legitimieren, dass sie ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit aufzeigen. Im Folgenden soll es um die Struktur dieses Argumentes gehen und nicht um die Unterschiede in den Texten seiner klassischen Vertreter. Wie Wolfgang Kersting in seiner einschlägigen Studie Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages ausführlich darstellt, ist jedes kontraktualistische Argument in drei Teile gegliedert: Die Präsuppositionen werden in der Darstellung des sogenannten „Naturzustandes“ formuliert. Mit dem Begriff „Naturzustand“ ist ein vorstaatlicher Zustand bezeichnet, in dem keine staatliche Gewalt oder andere öffentliche Sanktions- und Regulierungsinstitutionen wirksam sind. Je nachdem, welche natürlichen, anthropologischen und psychologischen Voraussetzungen wir in die Beschreibung dieses Zustandes eintragen, erweist er sich als mehr oder weniger defizitär hinsichtlich der Interessen und Bedürfnisse aller in ihm lebenden Individuen. Hobbes beschreibt den Naturzustand als hochgradig mangelhaft. Die Abwesenheit staatlicher Organe führt zu einem dauerhaften Kriegszustand, der von gewaltsamen Verteilungskämpfen geprägt ist, in denen Individuen primär ihre Eigeninteressen mit rationalem Kalkül durchzusetzen versuchen (Hobbes 1994, 82). Locke geht dagegen von einer naturrechtlichen Grundausstattung im vorstaatlichen Zustand aus, wobei diese aber unter der anhaltenden Bedrohung gewaltsamer Übergriffe steht (Locke 1977, §82). Der Zustand vor aller Staatsgründung ist in seiner Konzeption zwar nicht in demselben Maße wie bei Hobbes durch permanente Gewaltausübung geprägt, wird aber als latent konfliktanfällig geschildert. Ganz anders konzipiert Rousseau den vorstaatlichen Zustand. Im Unterschied zu Hobbes schließt Rousseau nicht von einer pessimistischen anthropologischen Präsupposition auf den Zwang zum Verlassen des Naturzustandes, sondern macht im „Gesellschaftsvertrag“ das schwächere Argument geltend, dass der individuelle Aufwand zur Subsistenzsicherung durch einen kooperativen Zusammenschluss erheblich gesenkt werden kann (Rousseau 2010, 16). Hobbes, Locke und Rousseau entwerfen also drei ganz unterschiedliche Szenarien, machen aber bei allen Unterschieden im Detail von derselben argumentativen Methode Gebrauch. Ihre Begründung des Staatszustandes hebt mit einem Gedankenexperiment an, das hauptsächlich in der kontrafaktischen Beschreibung menschlichen Lebens in einem staats-, rechts- und politikfreien Raum besteht. Auch literarische Utopien wie die Erzählungen von Thomas Morus oder George Orwell machen von dieser Methode der Kontrastbildung Gebrauch um auf die Bedingungen unseres Zusammenlebens aufmerksam zu machen. Sie unterscheiden sich aber von vertragstheoretischen Erzählungen dadurch, dass letztere die Bedingungen, die den Prozess der Verstaatlichung notwendig erscheinen lassen, begrifflich erarbeiten. In der Theorietradition des Kontraktualismus treten uns diese Bedingungen lediglich in seltenen Ausnahmenfällen in der personifizierten Gestalt handelnder Figuren entgegen.36

Die Grundlage des kontraktualistischen Argumentes bildet die gedankliche Figur eines „was wäre, wenn“, in der vom Zustand der gegebenen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung abgesehen wird, um die Konsequenzen menschlichen Verhaltens in radikaler Deregulation zu analysieren. Was sich zeigt, ist die existentielle Notwendigkeit des Eintritts in einen Staatszustand. Dieser Eintritt bildet die zweite Phase des kontraktualistischen Argumentes. Sie besteht in einem Vertrag, den die im Naturzustand lebenden Individuen schließen, um der bedrohlichen Situation gegenseitigen Misstrauens und knapper Ressourcen zu entgehen. Die Annahme konkurrierender Bedürfnisse und daraus resultierender Konflikte ist bei Hobbes so tief in seine Beschreibung des Naturzustandes eingesenkt, dass jeder wechselseitig bindende Vertrag der Realisierung eines Eigeninteresses geopfert zu werden droht. Daher muss der staatskonstituierende Akt eine Kontrollinstanz hervorbringen, die über die Einhaltung des Staatspaktes wacht, indem es dem „Recht Aller auf Alles“ künstliche Grenzen setzt (Kersting 1994, 81). Wie Hobbes leitet auch Locke aus seiner Beschreibung des Naturzustands die Notwendigkeit eines „letztinstanzlichen Entscheidungsverfahrens“ (Kersting 1994, 125) ab. Anders bei Rousseau. Hier lässt eine ungleich optimistischere Beschreibung des Naturzustandes eine Konstitutionsfigur zu, die ohne eine autoritäre Kontrollinstanz auskommt. Der Gemeinwille entsteht in einem radikal demokratischen Vertragsakt, in dem der Gemeinschaft jedes einzelne Mitglied mit all seinen Rechten übereignet wird.

Kersting formuliert das Kernargument des Kontraktualismus wie folgt:

Als legitimiert, begründet, gerechtfertigt kann X – und X kann sein: die Etablierung staatlicher Herrschaft, eine Rechtsordnung oder eine Verfassung, gesellschaftliche Institutionen oder Wirtschaftsformen […] – immer dann gelten, wenn X auf argumentativ einsichtige Weise als Ergebnis eines Vertrages entwickelt werden kann, auf den sich die Betroffenen unter bestimmten wohldefinierten und allgemein akzeptierten Bedingungen einigen können. (Kersting 1994, 17)

Der Vertragsbegriff enthält praktische Vorgaben für künftige Konstitutionsakte, bezieht sich deutend oder erläuternd auf bestehende staatliche Gebilde und hat auf einer theoretischen Ebene die Form einer Erklärung. Kennzeichnend für den Kontraktualismus ist der Dreischritt des Vertragsargumentes, dessen Phasen oder Ereignisse in diachroner Folge aufeinander bezogen sind, sich auf ein einheitliches, handelndes (Kollektiv  )Subjekt beziehen und die darüber hinaus einen spezifischen logischen Zusammenhang aufweisen. Sie erfüllen damit die formalen Kriterien für Narrativität. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir den Plot des vertragstheoretischen Argumentes auch in historischen Schilderungen finden. Doch die Philosophie des Gesellschaftsvertrages weist im Gegensatz zu historischen Schilderungen die allgemeinen Bedingungen aus, unter denen die Staatskonstitution steht und kann daher auf die Beschreibung historischer Persönlichkeiten verzichten. Was diesen philosophischen Theorietyp aber historischen Beschreibungen annähert, ist zum einen die Tatsache, dass er sich durch einen hohen deskriptiven Anteil auszeichnet. Die Beschreibung des Naturzustandes ist die Voraussetzung der Konstitutionsfigur. Zum anderen müssen die Glieder im kontraktualistischen Dreischritt als durch Gründe vermittelte Phasen eines praktischen Prozesses vorgestellt werden. Sie sind Erzählungen ohne Figuren.

Fraglich bleibt, welchen Status der Vertragsschluss hat. Kersting weist zurecht darauf hin, dass dieser, wenn er hypothetischen Charakter besitzt, faktisch so viel normative Kraft besitzen dürfte, wie 100 hypothetische Euro Kaufkraft (Kersting 1994, 32). Kersting weist mit dieser überspitzten Formulierung darauf hin, dass der Gesellschaftsvertrag als bloße Annahme keine bindende Wirkung entfalten dürfte. Dass jemand diesen Vertrag anerkennt, ist dieser Analogie zufolge so unwahrscheinlich wie ein erfolgreicher Geschäftsabschluss nach einer Bezahlung mit „hypothetischem“, also lediglich erdachtem Geld.

Ein weiteres Problem betrifft die Logik des Übergangs vom Naturzustand zur konstituierenden Versammlung. Schließlich ist schwer einsehbar, warum aus der Einsicht in die Notwendigkeit, den Naturzustand per Vertragsschluss zu beenden, schließlich auch eine Staatskonstitution folgt. Kollektives Handeln wider bessere Einsicht ist uns zu Genüge bekannt. Das latente und allgegenwärtige Misstrauen der Individuen im Naturzustand dürfte einen Vertragsabschluss darüber hinaus zusätzlich erschweren. An die Narration des Vertragsabschlusses lassen sich also zahlreiche Fragen adressieren, die vorrangig ihren Geltungsstatus und den Zusammenhang der einzelnen Phasen des Konstitutionsprozesses betreffen.

Kersting macht in Bezug auf Hobbes eine Bemerkung, die meines Erachtens auch auf alle anderen nach dem oben dargestellten Muster konzipierten Theorien zutrifft und eine Lösung für die soeben beschriebenen Probleme andeutet:

Hobbes […] entwickelt ein Argument, das notgedrungen eine narrative Form besitzt, das aber keine Episoden stimmig aneinanderreiht, sondern eine bedingungslogische Analyse bezweckt, die die Voraussetzungen staatlicher und gesellschaftlicher Existenz […] ausfindig machen und in ihrem internen logischen Zusammenhang ausweisen will. (Kersting 1994, 82)

Ich möchte diese wichtige Bemerkung aufgreifen und zum Anlass einer weiterführenden Überlegung zum Geltungsstatus des vertragstheoretischen Argumentes machen. Als Erzählung erklärt es den Übergang von einem vorstaatlichen in einen staatlichen Zustand als Folge von Handlungen, die über ihre Gründe rationalisierbar sind und dadurch eine bindende Kraft und innere Plausibilität erhalten. So stellt es eine Sequenz von drei aufeinander bezogenen Phasen dar, die, mit den Worten von Aristoteles, mit „innerer Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit“ aufeinander folgen, aber als Handlungen nicht auf dieselbe Art und Weise zwingend auseinander hervorgehen wie Schlüsse in der formalen Logik aus ihren Prämissen oder mechanische Kausalprozesse aus ihren Ursachen. Als Erzählungen müssen sie mit einem hinreichenden Maß an Kontingenz ausgestattet sein. Welche explanatorische Leistung diese Narrative schultern, hängt freilich davon ab, welchen der oben erarbeiteten Rationalisierungsformen wir zuneigen. Einem kausalistischen Schema folgend gehen Vertragsabschluss und Staatszustand aus dem Naturzustand gleichsam zwingend hervor. Das hier verwendete Konnektiv „weil“ führt vom Anfang der vertragstheoretischen Erzählung – einer allgemeinen Feststellung über den Naturzustand – zu einem Staatszustand und entwickelt die Beschreibung dieser Staatsform mit Akzent auf dem Moment der Notwendigkeit. Es macht damit auch die Notwendigkeit der jeweiligen Form des organisierten Zusammenlebens sichtbar: Weil in einem Zustand ungesicherter Rechte bestimmte menschliche Neigungen, Verhaltensweisen und Einstellungen vorherrschen, benötigen wir einen Vertrag. Weil dieser Vertrag notwendig und wahrscheinlich ist, existiert diese und jene Staatsform. Mit der streitbaren kausalistischen Rekonstruktion des vertragstheoretischen Narrativs laden wir uns allerdings eine beträchtliche Begründungslast auf, da – wie oben bereits angemerkt – nicht plausibel wird, wie genau aus einem defizitären Naturzustand eine Einsicht, und aus der Einsicht schließlich auch ein freiwilliger Vertragsabschluss folgt. Die Narration des Vertragsabschlusses nähert sich in dieser Lesart außerdem der Beschreibung eines technischen Prozesses an, in dem aus der Naturzustandsbestimmung mit ihren anthropologischen Setzungen eine spezifische Staatsform gleichsam zwingend folgt.

Alternativ lässt das kontraktualistische Argument ebenso eine teleologische Lesart zu. So rekonstruiert sind vertragstheoretische Narrative an einem bestehenden Zustand staatlicher Ordnungen orientiert und leiten sowohl die Art des Konstitutionsprozesses als auch die Beschreibung des Naturzustand aus den jeweiligen Zielvorstellungen ab: Erzählen wir die Gründungsgeschichte mit der Zielvorstellung einer absolutistischen Monarchie, wird diese sich von der Gründungsgeschichte einer Republik in der Beschreibung der Konstitutionsfigur unterscheiden: Um eine bestimmte Staatsform zu erhalten, benötigen wir eine spezifische Vertragsform, die wiederum unter den spezifischen Bedingungen des Zusammenlebens im Naturzustand steht. Vertragstheoretische Narrative machen auf diese Art die Voraussetzungen der jeweiligen Form des organisierten Zusammenlebens sichtbar.

Holistisch betrachtet ist das kontraktualistische Narrativ weder eine kausalistische Evolutionsgeschichte, die einen gleichsam natürlichen Entwicklungsprozess zu einer bestimmten politischen Staatsform nachzeichnet und damit eine staatspolitische Vorstellung in den Horizont allgemeiner Feststellungen über den Naturzustand stellt, noch leitet es Aussagen über Bedingungen bestimmter Staatsformen aus derselben ab. Die vertragstheoretische Erzählung in einer holistischen Lesart bezieht die Beschreibung des Naturzustandes, den Konstitutionsakt und den Gesellschaftszustand so aufeinander, dass sie einander wechselseitig erklären. In dieser Perspektive betrachten wir das kontraktualistische Narrativ unter dem Kriterium seiner Kohärenz. Sein modellhafter und hypothetischer Status wird dabei nicht verlassen. Wir schließen also weder nur von der Beschreibung des Naturzustandes über eine Konstitutionsfigur auf die adäquate Staatsform, ebensowenig schließen wir nur von einer bestehenden Staatsform über eine spezifische Vertragsform auf einen bestimmten Naturzustand. Im Zentrum steht nunmehr die Frage, ob Beginn und Ende der Erzählung richtig und nachvollziehbar durch eine Kette von Gründen miteinander vermittelt sind. Diese Geschichte muss also zugleich in beide Richtungen erzählbar sein: Unter dem Vorzeichen bestimmter Annahmen über die Natur eines rechtsfreien Raumes haben wir gute Gründe, uns in bestimmten politischen, sozialen und staatlichen Formen zu organisieren, wie auch umgekehrt diese einen bestimmten Naturzustand erfordern.

Der Vorteil dieser holistischen Konzeption besteht darin, dass sie die gegenseitige Abhängigkeit von Anfang und Ende in einer Geschichte nachvollziehbar aufeinander folgender Gründe deutlich macht, die nach dem Gesetz der inneren Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit aufeinander bezogen sind. Dieser „Denkweg“ stellt eine eigene Lesart des kontraktualistischen Argumentes dar, in der deutlich wird, dass das, was das Argument erklärt, allein davon abhängt, in welche Richtung wir die Geschichte erzählen.

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M.A. Malte Dreyer
Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg
Wilhelm Röpke Straße 6c
35032 Marburg
E-Mail:
dreyer@uni-marburg.de
URL:
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1 Gasser et al. 2013 nehmen in ihrem Sammelband den Zusammenhang zwischen Narration und personaler Identität aus einer analytischen Perspektive in den Blick. Hierzu vgl. auch Henning 2009, der als einer der wenigen Autoren den Begriff der Erzählung analytisch präzise bestimmt. An der Grenze von der Kulturwissenschaft zur Philosophie dürfte auch die viel beachtete Publikation von Koschorke 2012 anzusiedeln sein. Über Narrationen in der Ethik und die gegenwärtige Debattenlage gibt der Sammelband von Joisten 2007 einen umfassenden Überblick und weitere Literaturhinweise.

2 Die Verschränkung von Überlegungen über die spezifische Form und die epistemische Valenz von Narrativen ist ein Erbe der aristotelischen Poetik und von Augustinus bis Ricœur leitthematisch. Bruner 1991 liefert einen guten Überblick wichtiger Positionen des 20. Jh. und leitet dabei aus dem Begriff der Erzählung eine eigene, offene Liste verschiedener epistemischer Eigenschaften ab. Für unsere Belange ist insbesondere seine These von Interesse, dass Erzählungen intentionale Zustände voraussetzen, also auf Absichten bezogen zu sein scheinen.

3 Es soll nicht verschwiegen werden, dass diese drei Positionen auch zahlreichen kritischen Einwänden ausgesetzt sind, auf die hier aber nicht in aller Ausführlichkeit eingegangen werden kann. In Bezug auf die These, Narrative würden wichtig für unsere personale Identität sein, vgl. Strawson 2004. Eine ähnliche Kritik auf Grundlage einer narratologisch informierten Definition von Erzählung findet sich bei Teichert 2013. Lamarque 2004 bezeichnet alle hier vorgestellten Positionen als antirealistisch und bringt wie Livingston 2009 Argumente dafür an, dass allein aus der Form des Narrativs keine Schlüsse auf seine epistemische Valenz gezogen werden können. Inwiefern das unten ausgeführte holistische Deutungsmodell diesen Einwänden begegnet, kann hier leider nicht näher ausgeführt werden. Eine differenzierte Analyse historischer Referentialität vor allem in Beschäftigung mit Hayden White 1996 liefert Goertz 2001.

4 Diese Systematik ist an eine Typologie antirealistischer Überzeugungen angelehnt, die Lamarque 2004 in kritischer Absicht formuliert. Er kritisiert die Überzeugungen, Erzählungen würden das, worauf sie sich beziehen, notwendig entweder verzerren oder erst erzeugen. Die Modifikation seiner Unterscheidung scheint mir nötig, weil der Unterschied zwischen „verzerren“ und „erzeugen“ einen großen Graubereich indifferenter Fälle produziert. Zu den Gegenständen, von denen behauptet wird, dass sie ausschließlich erzählend entweder repräsentiert oder konstituiert werden, gehören die Historiographie, aber auch so komplexe wie lebensweltlich basale Konzepte wie die personale Identität (zu letzterem vgl. u.a. die Taylor 1996).

5 Eine Zusammenfassung liefert Joisten 2007.

6 In Bezug auf die Liebe hat jüngst Angelika Krebs eine philosophische Untersuchung vorgelegt, in der sie verschiedene Wege, die Liebe zu denken, in einer Lektüre der Romane von Henry James erprobt (vgl. Krebs 2015, 253ff.).

7 Henning 2009, 193 beschreibt dies mit einer sogenannten „Intentionalitätsbedingung“, legt sich mit dem Begriff der Intention aber schon auf einen spezifischen Begriff von Handeln und bestimmte narrative Rationalisierungsformen fest, wie weiter unten ausgeführt werden wird.

8 Die Unterscheidung zwischen Genese und Geltung wird in bestimmten Bereichen – etwa der Ästhetik – in Frage gestellt. Diskutiert wird hierbei, ob das Konzept einer strikten Trennung partiell durch dynamischere Beschreibungen des Genese-Geltung-Verhältnisses abgelöst werden müsse. Vgl. Schildknecht 2008, 8f.

9 Diese Ansicht wird besonders in seiner Annahme deutlich, sogenannte affirmative Genealogien würden unsere Wertebindung stärken können (vgl. Joas 2012, 190). Zum Konzept der notwendigen Narration und zur Verschränkung von Genese und Geltung vgl. auch Dreyer und Zitterbarth 2014 sowie Joas 2012, 204f.

10 Vgl. Dreyer und Zitterbarth 2014.

11 Vellemann 2003, 1 etwa bemerkt: As I have suggested, the question how storytelling conveys understanding is inseparable from the question what makes for a good story. [...] But what makes a story good specifically as a story – what makes it a good example of storytelling, or narrative – is its excellence at a particular way of organizing events into an intelligible whole.

12 Vgl. Hühn 2009; Schmid 2003.

13For fundamental to our identification of a given novel or history as narrative is its possession of narrative connections“ (Carroll 2003, 119). Die logische Form dieses Konnektivs ist nahezu ein klassisches Thema der Narratologie. Vgl. Prince 1973 und Herman 2002.

14 Peter Brooks und David Velleman 2003 vermuten, eine Art emotional affizierte Rezeptionshaltung sorge dafür, dass wir Einzelereignisse als Teile einer Geschichte wahrzunehmen fähig sind.

15 Gregory Currie et al. 2004, 409 nennen diese Tendenz „over-coherent thinking“. Interessant für das im Folgenden zur Rede stehende Verhältnis zwischen Handlungsbeschreibungen und Erzählungen ist Curries Bestimmung des „over-coherent thinking“ als Neigung, das Maß zu überschätzen, in dem Handlungen („agency“, ebd.) unsere Wirklichkeit strukturieren. Currie et al. setzen mit dieser Bestimmung stillschweigend die im Folgenden genauer untersuchte Prämisse voraus, dass zwischen der logischen Form des Konnektivs und der Tatsache, dass Erzählungen Handlungen beschreiben, ein Zusammenhang besteht.

16 Vgl. Dray 1993, 93f.

17 Vgl. Carroll 2003.

18 Vgl. Caroll 2003, 122.

19 Noel Caroll schlägt vor, narrative Kausalität in Anlehnung an die von Mackie 1976 erstmalig beschriebene INUS-Bedingung als „at least causally necessary conditions or contributions thereto, for the occurence of later events in the relevance of stories“ zu fassen (Carroll 2003, 133). In diesem Sinne von Kausalität ist das vorhergehende Ereignis zwar in einigen Fällen kausal notwendig, in anderen aber lediglich Teil eines Sets verschiedener Bedingungen, die erst in Verbund mit besagtem Ereignis eine kausale Verursachung für das Eintreten eines Folgeereignisses bewirken. Dem hier zitierten Aufsatz sind weiterführende Literaturhinweise zur Diskussion über Kausalität in Narrativen zu entnehmen.

20 Die Bemerkung Curries spielt hier auf die in der analytischen Philosophie prominente Debatte infolge des Ansatzes von Donald Davidson 1985 an, der Gründe als Ursachen von Handlungen zu rekonstruieren versucht und damit die lange unbestrittene, kategoriale Differenz von causa efficiens und causa finalis nachhaltig in Zweifel zieht.

21 Davidson spricht von Gründen als kausale Ursache. „Motivationale Einstellung“ ist ein gängiger Topos der kausalistischen Debatte.

22 Vgl. Horn et al. 2010, 17f.

23 Dies geschieht oft kaum merklich. Ein schönes Beispiel ist Ditfurths Evolutionsgeschichte. In der folgenden Passage beschreibt er eine Frühform des Lebens: „Sie sind zu nichts, zu buchstäblich nichts anderem fähig als dazu, sich zu vermehren. Jedoch sind sie auf dieses einzige und letzte Erfordernis so radikal reduziert, daß sie, körperlos wie sie sind, nicht einmal über eigene Organe zu diesem Zweck verfügen. Die einzige, allenfalls einem Organ analoge Struktur, die an ihnen mit einem Elektronenmikroskop noch zu entdecken ist, sind eigenartig technisch anmutende hakenförmige Gebilde auf ihrer Eiweißhülle. Diese geben einem Virus die Möglichkeit, sich an eine lebende Zelle anzuheften und deren Wand zu durchbohren.“ (Ditfurth 1975, 137, Hervorhebungen M.D.)

24 Vgl. Horn et al. 2010, 11.

25 Klassisch Mink 1987; Gallie 1964, zuletzt Haferland 2014.

26 Zu Vertretern dieser „outcoming concepts“ können beispielsweise Mink 1987 oder Gallie 1964 gezählt werden.

27 „Ihr [der narrativen Sätze] allgemeinstes Merkmal besteht darin, dass sie sich auf mindestens zwei zeitlich voneinander getrennte Ereignisse beziehen, obwohl sie nur das frühere der beiden beschreiben (oder Aussagen darüber machen), auf die sie sich beziehen“ (Danto 2009, 232), so Dantos Definition des narrativen Satzes in den Geschichtswissenschaften.

28 Den Hintergrund der Untersuchung Dantos bildet die Frage, ob es möglich ist, eine wahre Aussage über Dinge in der Vergangenheit zu machen. Diese leitmotivisch wiederkehrende Frage bezieht sich auf die logische Möglichkeit einer derartigen wahren Aussage ungeachtet etwaiger Fortschritte in der Entwicklung der Methoden historischer Quellenforschung. Danto beantwortet diese Frage durch die Analyse einer narrativen Satzform, die kennzeichnend für die Geschichtswissenschaften ist (vgl. Danto 2009, 53).

29 Eine Gleichsetzung der Handlungsdarstellung im Drama mit der in der Erzählung setzt voraus, dass das Kriterium der Mittelbarkeit des Erzählens unterschlagen wird. Eine Zusammenfassung hierzu findet sich z.B. in dem Aufsatz von Matthias Brütsch (2013). Dank für diesen Hinweis gebührt Michael Scheffel.

30 Z.B. im folgenden Zitat, explizit auch in der Übersetzung der Passage 1449b35-1450a10: „Nachahmung einer Handlung aber ist der Mythos, denn Mythos nenne ich die Komposition einer einheitlichen Handlung.“

31 Lavins oben zitierte Charakterisierung der neoaristotelischen Handlungserklärung, derzufolge die Teile „charakteristischer Weise teleologisch so verknüpft [sind], dass ein sich entfaltendes übergreifendes Ereignis die ihm untergeordneten Teile erklärt“ (Lavin 2013, 370), ist strukturidentisch mit der Aristotelischen Bestimmung des Dramas.

32 Wie üblich werden alle Zitate aus der Poetik nach der Bekker Zählung nachgewiesen.

33 Demnach sind Handlungsbeschreibungen auch kennzeichnend für die Tragödie: „Das wichtigste von diesen aber ist die Komposition einer einheitlichen Handlung. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und von einer Lebensweise.“ (1450a10-20).

34 Vgl. Schmitt 2008, 375.

35 Selbstverständlich können Narrative auch inkohärent, widersprüchlich sowie offen sein und auf diese Weise Irritationen erzeugen. Doch dieser ästhetische Effekt ist nur möglich, wenn der Normalfall eines geschlossenen Narrativs vorausgesetzt wird, im Vergleich zu dem von der Kohärenzerwartung abgewichen werden kann. Vgl hierzu Abel et al. 2009.

36 Mandevilles Parabel The Fable oft the Bees zählt zu den staatsphilosophischen Klassikern, bildet aber eine Ausnahme an der Grenze von Philosophie und Literatur.