Maximilian Stier

Wie Nachrichten (Geschichten) erzählen

Christoph Bietz’ Analyse telemedialer ‚Wirklichkeitskonstruktion‘

Christoph Bietz: Die Geschichten der Nachrichten. Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2013 (= WVT-Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft Bd. 8). 412 S. EUR 46,50. ISBN 978-3-86821-434-5

Gegenstand und Ziel

In Romanen und Filmen werden Geschichten erzählt. Das ist eine Aussage, die niemanden aufhorchen lässt. Wer jedoch behauptet, auch (Fernseh-)Nachrichten erzählten Geschichten, wird zunächst wohl verwunderte Blicke ernten. Schließlich sollen sie, so der allgemeine Konsens, die Realität authentisch abbilden, und das passt nicht mit der Erzeugung von Geschichten zusammen, denen zumindest im alltagssprachlichen Verständnis noch immer der Ruch des Ausgedachten und Erfundenen anhängt. Der Medienkulturwissenschaftler Christoph Bietz jedoch behauptet in seiner 2013 erschienenen Dissertation Die Geschichten der Nachrichten. Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion, dass Nachrichten überhaupt nicht anders könnten, als Geschichten zu erzählen. Warum spreche sonst selbst ZDF-Nachrichtenmoderator Claus Kleber in einem Beitrag von einer „drolligen Geschichte“ (S. 202)? Und warum werbe der Nachrichtensender ntv mit der ‚Wirklichkeit‘ als bestem Regisseur (S. 1)?

Bietz versucht aufzuzeigen, wieso es Nachrichten nicht möglich sei, die Realität objektiv abzubilden, und zugleich, wieso Anspruch auf Faktizität und Narration trotzdem keine Gegensätze darstellen müssen. Anders als viele andere Medienwissenschaftler beansprucht Bietz an keiner Stelle, eine Bewertung der inhaltlichen Qualität von Nachrichten vorzunehmen. Stattdessen könne die einzige wissenschaftliche Absicht der Arbeit sein, „ein Beschreibungsmuster zu finden, das den medialen Gegebenheiten von Nachrichten Rechnung trägt“ (S. 10). Bietz kündigt an, seine Arbeit biete „erstmals eine Narratologie der Nachrichten“ (S. 2), der Klappentext verheißt sogar noch anspruchsvoller, dass die gängige Nachrichtenforschung auf den Kopf gestellt werde.

Aufbau

Bietz’ Dissertation gliedert sich neben Einleitung und Schlusspart in vier Teile. Zuerst beschäftigt er sich mit der bisherigen Nachrichtenforschung und gibt einen historischen Überblick über die Geschichte und Entwicklung der Nachrichten (Kapitel II.1.), die in einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation mündet. Ein weiteres Unterkapitel widmet Bietz den Selektionstheorien, da er die Entscheidung, was in den Nachrichten berücksichtigt wird, als erstes narratives Element ansieht (S. 26f.). Besondere Bedeutung misst er hierbei aufgrund ihrer Bekanntheit in Fachkreisen der Nachrichtenwert-Theorie bei. Wichtig ist es ihm gleich von Beginn an, die verwendeten (Fach-)Termini zu erläutern. Selbst Alltagsbegriffe wie ‚Ereignis‘ definiert er (S. 44), um sicherzustellen, dass seine Leser darunter dasselbe verstehen wie er.

Der zweite große Abschnitt der Geschichten der Nachrichten stellt mit rund 150 von 400 Seiten den quantitativen Hauptteil der Arbeit dar. Bietz geht mitunter sehr ausführlich auf eine Vielzahl verschiedener narratologischer Theorien und Konzepte ein, mit dem Ziel, auf dieser Grundlage eine interdisziplinäre und intermediale Erzähltheorie zu entwickeln, „die als essentielle Voraussetzung für die hier angestrebte Begründung einer Narratologie der Fernsehnachrichten gelten kann“ (S. 56). Der Autor berücksichtigt beispielsweise die Roman- und Erzähltheorie, Überlegungen russischer Formalisten sowie französischer Strukturalisten, und erörtert ausführlich die Forschung zu durch Mittelbarkeit hervorgerufenen Effekten und Ereignissen, die das ‚Substrat‘ jeder Erzählung seien.

Daraufhin bereitet Bietz seine Leser in einem nächsten großen Kapitel auf den inhaltlichen Kern der Dissertation vor: Er legt die von ihm gewählte Methodik, Analysegesichtspunkte und weitere Forschungsbedingungen dar, die eine Narratologie telemedialer Nachrichten ermöglichen sollen. Die darauffolgende eigentliche Analyse der Fernsehnachrichten gliedert sich dann noch einmal in fünf Unterkapitel. Bietz beleuchtet nämlich ebenso viele verschiedene Themenblöcke eingehend, um aufzudecken, wie Nachrichten Geschichten konstruieren. Weil die Arbeit nicht ohne eine Menge Fachvokabular aus der Medienwelt auskommt, ist ihr ein Glossar mit knapp 30 Begriffen beigefügt.

Vorbereitung auf die Einzelanalysen

Im Folgenden werden die zentralen Thesen und Ergebnisse der Arbeit vorgestellt. Bietz beschränkt sich in seiner Untersuchung auf das Fernsehen, weil dort aufgrund der Mehrschichtigkeit (Text und Bild) „die wohl komplexeste Form narrativer Nachrichtenvermittlung“ (S. 197) vorliege. Selbstverständlich müsse auch innerhalb der Fernsehnachrichtenwelt eine Beschränkung der Analysegrundlage vorgenommen werden: Zwischen dem 17.11.2010 und dem 17.05.2011 wurden die Hauptausgaben der tagesschau und die tagesthemen (beide ARD), die heute-Sendung um 19 Uhr und das heute journal (beide ZDF) sowie RTL aktuell aufgezeichnet und ausgewertet. Fünf bestimmende Themen während dieser sechs Monate erhielten Eingang in die Arbeit: Die sogenannten ‚Arabischen Revolutionen‘ in Ägypten und Libyen, die Affäre um die von Plagiaten durchzogene Doktorarbeit des ehemaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, die Natur- und Umweltkatastrophe in Japan sowie die Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr 2011. Die Themenauswahl schenke verschiedenen Nachrichtentypen wie Naturkatastrophen und innen- und außenpolitischen Themen Beachtung (S. 199).

Daraufhin beleuchtet der Autor in seiner Arbeit erstmals konkrete Nachrichtenbeiträge unter narratologischen Gesichtspunkten. Zunächst stellt er den Moderator als Erzählerfigur heraus (S. 202). Außerdem beobachtet Bietz unter anderem unterschiedliche Temporaverwendungen in verschiedenen Beiträgen zu demselben Thema (S. 218), eine bestimmte Metaphorik (z.B. ‚Staatsfeind Nummer 1‘ statt ‚Osama bin Laden‘) (S. 244) und klare Positionierungen seitens der Nachrichten hinsichtlich Gut und Böse (z.B. im Falle bin Ladens) (S. 245). Wären die Nachrichten keine konstruierten Geschichten, dürfte es solche Auffälligkeiten, so Bietz, nicht geben.

Einzelanalysen

Die sich anschließenden Einzelanalysen zeichnen ein ähnliches Bild von Fernsehnachrichten. Bietz geht nicht bei jeder Einzelanalyse auf alle möglichen Untersuchungsaspekte ein, sondern er erläutert jeweils die in seinen Augen besonders auffälligen Beobachtungen. Der Raumzeitstruktur kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, da er sie in jedem der vorgestellten Fälle beleuchtet. Jede Einzelanalyse beginnt Bietz mit einer recht ausführlichen Schilderung der Thematik, sodass auch Leser, denen die Vorgänge nicht (mehr) genau präsent sind, die Zusammenhänge durchblicken können.

In der Analyse der Berichterstattung rund um den Sturz des ägyptischen Machthabers Mubarak widmet der Autor der Beachtung der unterschiedlichen beteiligten Akteure seitens der Nachrichten sowie der Mittelbarkeit der Korrespondenten besondere Aufmerksamkeit. So führt er zum Beispiel vor, wie sich die Medien im Falle Mubaraks allein schon durch ihre Perspektivierung gegen Mubarak stellen. Es würden „ausschließlich O-Töne von Demonstranten ins Geschehen eingeflochten […], was […] die Identifizierung des ‚Helden‘ der Geschichte unterstreicht“ (S. 258). Bietz zitiert außerdem den ZDF-Korrespondenten Dietmar Ossenberg, der immer wieder live in heute-Ausgaben zugeschaltet wird: „Ich hatte Schiss“, gesteht Ossenberg als er auf seine Eindrücke während der jüngsten Demonstration angesprochen wird, und Bietz meint, die Angst stehe ihm „buchstäblich ins Gesicht geschrieben“ (S. 263). Korrespondenten vermittelten dem Zuschauer einen ganz anderen Eindruck vom Geschehen, weil sie selbst Teil der erzählten Welt seien und nicht wie der Moderator außerhalb dieser in einem Studio säßen (S. 268). Gerade Korrespondentenberichte unterstrichen die narrative Konzeption der Nachrichten. Durch ihre oftmals subjektiven Schilderungen sei der Vermittlereffekt besonders ausgeprägt, und unterschiedliche Korrespondenten kämen teilweise zu recht unterschiedlichen Schilderungen (S. 268).

Immer wieder beobachtet Bietz Ironie in den Fernsehnachrichten. So würde in einem ZDF-Beitrag zum Beispiel von Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg als ‚Freiherr zu Googleberg‘ und ‚Copy Karl‘ gesprochen (S. 308). Überdies werde dort eine Darstellung seiner Person auf einem Terminator-Filmplakat gezeigt. Darunter prangt in dicken Lettern „Plagiator“. Das bearbeitete Filmplakat ist in der Dissertation abgedruckt (S. 309). In den Einzelanalysen sind diverse Screenshots zur besseren Nachvollziehbarkeit der Ausführungen neben dem Text platziert. Des Weiteren führt Bietz anhand der Atomkatastrophe in Japan vor, wie Nachrichten den erzählten Raum zu erweitern vermögen. So berichte das ZDF beispielsweise zwei Tage nach dem Tsunami in der Region um die japanische Stadt Fukushima über zurückliegende Störfälle im deutschen Atomkraftwerk Krümmel (S. 347).

Seine fünfte Einzelanalyse, die der Landtagswahl in Baden-Württemberg, nutzt Bietz als Schlussfolgerung der vorangegangenen Analysen: In der Wahl spiegele sich nämlich wider, wie die „serielle Verbindung einzelner Nachrichten mit einer Kausalität einhergeht, die im Grunde alle Nachrichten zu einem Gesamtgebilde verknüpft“ (S. 353). So begründeten die Medien die Abwahl Stefan Mappusʼ als Ministerpräsident unter anderem mit dessen Sympathie für zu Guttenberg und dessen langer Befürwortung der Atomkraft (S. 357). Das offenbare die „Makrostruktur des nachrichtlichen Erzähluniversums“, weil verschiedene Nachrichten nie bloß als Summe ihrer Teile, sondern stets in kausalen Verknüpfungen präsentiert würden (S. 365).

Ergebnis der Arbeit

Alle Untersuchungen führen Bietz schließlich am Ende seiner Arbeit zu der Feststellung, die Ursprungshypothese, Nachrichten seien stets narrative Konstrukte, habe sich als zutreffend erwiesen (S. 367). Mehr noch: In ihrer narrativen Struktur manifestiere sich gar das Faktische der Nachrichten. Eine narrative Darstellung als solche beanspruche zwar nie, etwas Geschehenes vollkommen realistisch und unverzerrt abzubilden. Narrativität bedinge die Unmöglichkeit rein objektiver Darstellungen von Ereignissen. Sehr wohl möglich seien hingegen glaubwürdige und faktische Darstellungen kleiner Ereignisausschnitte. Nachrichtenmacher sollten Ziele wie Realitätstreue oder Faktizität folglich nicht für ihre Nachrichten als Gesamtwerk, sondern lediglich für die einzelnen in den Nachrichten erzählten Geschichten postulieren. Diese könnten nämlich faktisch nachprüfbar und wahr sein. Genau darin liege auch die Chance der Nachrichten, ihren Wahrhaftigkeitsanspruch nicht völlig aufgeben zu müssen: Wenn Nachrichten als etwas Narratives begriffen werden, eröffne sich den Nachrichten durch ihre einzelnen Geschichten ein Zugang zur Faktizität, der dem Gesamtkonstrukt ‚Nachrichten‘ verwehrt bliebe. Jemand, der Nachrichten als etwas Narratives ansehe, erwarte schließlich wahre Einzelgeschichten, nicht jedoch eine faktische Abbildung der komplexen realen Welt (S. 369ff.).

Der Autor empfiehlt, Nachrichten fortan in erster Linie narratologisch zu untersuchen. Die Narratologie habe anderen medienwissenschaftlichen Konzepten wie der Nachrichtenwert-Theorie etwas Entscheidendes voraus: Sie sei sich der Beobachterabhängigkeit und Mittelbarkeit von Nachrichten bewusst (S. 380). Wie weiter oben schon angeklungen, müsse keine objektive, sondern eine glaubwürdige Berichterstattung Ziel der Nachrichten sein (S. 381). Glaubwürdige Nachrichten würden eine große Rolle spielen, denn „sie formen aus dem dissonanten Chaos menschlicher Zeiterfahrung konsonante stories“ (S. 383) – machen die unübersichtliche Welt also für jedermann zumindest in Grundzügen erfassbar.

Fazit

Nicht alles, was Bietz in seiner Arbeit feststellt, stellt die Welt auf den Kopf. Dass es ein gewaltiger Unterschied ist, ob von einer zehn Meter hohen Flutwelle vor Japans Küste (ZDF) oder einer Walze aus Wasser und Schutt 30 Meter über dem Meeresspiegel (ARD) (S. 323) gesprochen wird, bedarf keiner Erläuterung. Jedoch hinterfragt man selbst in der Regel selten den Grund für solche Differenzen. Bietz macht einen auf Unmengen solcher Ungereimtheiten aufmerksam und bewirkt so, dass seine Leser Nachrichten fortan mit anderen Augen sehen. Der möglicherweise anfangs noch skeptische Leser erkennt nach und nach die Unmöglichkeit objektiver Nachrichtenberichterstattung. Bietz erfüllt seine Ankündigung, nichts über die Qualität von Nachrichten auszusagen, bis zum Schluss und bemängelt den narrativen Charakter von Nachrichten keineswegs. Stattdessen stellt er sich immer wieder schützend auf die Seite der Nachrichtenmacher, die gar keine andere Wahl hätten, als Geschichten zu erzeugen. Es ließe sich aber durchaus die Frage stellen, ob das von Bietz postulierte Verhältnis zwischen übergreifendem konstruierten Nachrichtenzusammenhang und glaubwürdiger Einzelnachricht geeignet ist, den Anspruch auf Faktizität, den der Nachrichtenjournalismus auch nach Bietz nicht preisgeben sollte, zu retten. Denn der Generalverdacht, dass TV-nachrichtliche Mitteilungen konstruiert seien, lässt sich ja auch gegen jeden noch so kleinen Filmausschnitt erheben.

Auch wenn man dem Ergebnis Zweifel entgegenbringt, sind Bietz’ Schritte stets nachvollziehbar. Jedes der (Unter-)Kapitel führt zielgerichtet zum nächsten. Bietz erläutert fast immer explizit, weshalb nun der nächste Aspekt folgt, und macht es den Lesern damit leicht, den Überblick zu behalten. Mittels Vorausdeutungen im Theorieblock gelingt es ihm, Spannung auf die konkreten Einzelanalysen zu erzeugen. Jedoch sei ebenfalls angemerkt, dass es gerade die Ausführlichkeit der Arbeit ist, die dem Autor ab und an zum Verhängnis wird: So vertieft er sich zum Beispiel während seiner Darlegung des Forschungsstandes zum Russischen Formalismus in theoretische Details, und man fragt sich, was das eigentlich noch mit Nachrichten zu tun hat (S. 75). Auch der überaus ausführliche Einblick in die Erzähltheorie, der bei den Grundlagen ansetzt, birgt die Gefahr, die eigentliche Zielgruppe, das WVT-Handbücher lesende Fachpublikum, zu langweilen. Im Zusammenhang mit der auf die Fukushimakatastrophe folgenden Debatte um deutsche Atomkraftwerke driftet Bietz darüber hinaus ein wenig ab und beginnt, eher die Politik der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung als die Geschichten der Nachrichten zu analysieren. Bietz scheint allerdings immer wieder selbst festzustellen, dass er abzuschweifen droht. Diese Vermutung wird durch die Tatsache bestätigt, dass er seine Kernthesen oft wiederholt, wohl um den Bezug zum eigentlichen Thema deutlich zu machen. Das führt wiederum dazu, dass der Leser einige Passagen der Arbeit als redundant empfindet. Bemängeln kann man zudem die teils ausufernd langen Fußnoten, die den Fließtext im Extremfall von über 40 auf fünf Zeilen verknappen (S. 138).

Insgesamt lässt sich aber festhalten: Christoph Bietz gelingt es einleuchtend aufzuzeigen, dass TV-Nachrichten tatsächlich nicht anders können, als Geschichten zu erzählen. Wer diese Dissertation gelesen hat, wird auf die Behauptung, Nachrichten erzählten Geschichten, wohl kaum mehr mit verwunderten Blicken reagieren.



Maximilian Stier
Bergische Universität Wuppertal
Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften
Germanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: maximilian.stier@uni-wuppertal.de

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