Kein Volk ohne Erzählung
Michael Neumanns Die fünf Ströme des Erzählens (2013)
Michael Neumann: Die fünf Ströme des Erzählens. Eine Anthropologie der Narration. Berlin / Boston: de Gruyter 2013 (= Narratologia, Bd. 35). 703 S. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-031288-1
Michael Neumann, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt Ingolstadt, versteht sich darauf, das große Ganze in den Blick zu nehmen und damit die Grenzen der eigenen Disziplin auszuloten. Nichts anderes hat er in seiner beeindruckenden siebenbändigen Ausgabe Mythen Europas (vgl. Neumann 2004a, 2004b, 2006, 2007a, 2008, 2009a) getan, die er chronologisch von der Antike über Mittelalter, Renaissance, Barock, Aufklärung und 19. Jahrhundert bis zur Moderne hin systematisch ediert hat und in der er sich erstmals in der Breite einer anthropologischen Perspektive dem Erzählen zuwendet, um die „Schlüsselfiguren der Imagination“ – so der Untertitel des Werkes – zu erkunden. Wie stark Neumann dabei traditionelle Fachgrenzen zu strapazieren bereit ist, zeigt eine Auswahl dieser Schlüsselfiguren: sie reicht von Nero und Augustinus über Robin Hood bis zu Asterix und Madonna. Hier wird bereits die Anlage von Neumanns Erzählverständnis deutlich: Der Mythos hängt an der Erzählung, ob Figur oder Person, spielt dabei oft nur eine nachgeordnete Rolle.
In Die fünf Ströme des Erzählens geht es Neumann nun um etwas noch Grundsätzlicheres: um das Erzählen selbst. Bereits in der Einleitung muss er daher auch die Gefahr der Trivialität abfangen, immerhin beginnt er das gesamte Unterfangen mit den Worten: „Die Menschen erzählen, seit sie sprechen können“ (S. 1). Der Mensch, so Neumann, bewege sich von der Wiege bis zur Bahre „in einem Meer des Erzählens“ (S. 1). So weit scheint alles selbstverständlich zu sein. Doch Neumann beschreitet nach dieser Feststellung sofort den Weg, der ihn eigentlich interessiert, und der führt zur Frage nach dem Warum. Der ‚narrative turn‘ mit all seinen Ausprägungen und das Hineingreifen des Narrativen in die verschiedensten Geistes- und Kulturwissenschaften führt beim Leser leicht zu der Befürchtung, Zeuge der Verwendung eines schwammigen Narrativitätsbegriffs zu werden. Doch Neumann richtet schnell den Fokus auf das Eigentliche: auf die Kerngegenstände des Erzählens, zeit- und kulturübergreifend. Welches sind die sich immer wiederholenden Geschichten? Wie kommt es zu diesen Kernarrativen? Und welche „Dispositionen“ sind „allen Menschen gemeinsam“ (S. 2) und haben so Auswirkung auf das Warum des Erzählten? Damit betritt Neumann das Gebiet der Anthropologie, er versteht Erzählen als basales und bedeutsamstes Interaktionsmittel, welches dem Menschen gegeben ist. Leider verkürzt Neumann die Anthropologie von Beginn an auf Biologie, Psychologie und Ethnologie und übergeht damit die genuin philosophischen Elemente (neben der philosophischen Anthropologie auch die Ästhetik), die hier eine Rolle spielen – so wie sie etwa Alexander Kosenina in seinem Studienbuch „Literarische Anthropologie“ berücksichtigt (vgl. Kosenina 2008). Auf diesen Punkt wird gegen Ende noch einmal eingegangen werden.
Bevor Neumann dem Leser die fünf Ströme des Erzählens vorstellt, entwickelt er in Teil A Universalien des Erzählens als strukturelles Skelett der gesamten Untersuchung. Hierbei versteht er den Begriff der Universalie indes weniger philosophisch als vielmehr im Sinn einer „Allgegenwart“ (S. 11) bestimmter Charakteristika. Mit Blick auf das Phänomen des Erzählens unterteilt Neumann diese Charakteristika in zwei Klassen: die narrativen Universalien, die sich als faktische Erzählkerne aus der Arbeit der Literaturwissenschaft ergeben, und die anthropologischen Universalien, die mit den Mitteln von (Sozio-)Biologie, Psychologie und Kognitionswissenschaft freizulegen sind. Nur ein Zusammenspiel dieser Disziplinen, so Neumann, kann eine Anthropologie des Erzählens ermöglichen.
Dieser Distinktion wiederum legt er ein dreistufiges Modell zugrunde, auf welchem die Universalien selbst sowie die gesamte Entfaltung der Theorie der Erzählströme aufbaut. Auf der ersten Stufe angesiedelt sind genetisch gesteuerte Dispositionen als regulativ-physiologische Basis des Erzählens, wobei dieser Teil wohl insbesondere die starke Anlehnung an Psychologie und (Sozio )Biologie rechtfertigen soll; mit Erzählen selbst hat dieser Abschnitt eher wenig zu tun. Auf der zweiten Stufe fragt Neumann nach der Deutung narrativer Universalien und bezieht sich dazu auf die Archetypentheorie Carl Gustav Jungs und dem damit gegebenen Reservoir der psychoanalytischen Mythenforschung: Die Archetypen als angeborene geistige und zu großen Teilen nichtbewusste (Bild-)Formen konkretisieren sich demnach in verschiedenen narrativen Grundmustern, die Neumann in seine fünf Ströme integriert, sei es als Muster der befeindeten Brüder, des Helden oder der Anima. Dabei ist er sich der Schwächen der Jung’schen Theorie durchaus bewusst. Erzählen setzt, als dritte Stufe, ein Verstehen voraus, hier aufgefasst als kognitiver Prozess. Nur so können Abstraktionsleistungen und mentale Repräsentationen gewährleistet werden, die es braucht, um Geschichten weiterzutragen. Mit diesem dreistufigen Universaliensystem kann Neumann eine „Ökologie des Erzählens“ (S. 89), ein „System Erzählen“ (S. 93) entwerfen, welches versucht alle eine Narration konstituierenden Elemente einzufangen: vom Erzählenden über die Erzählart bis zum Empfänger inklusive möglicher Störformen. Dieses Konzept ist, ebenso wie jenes der narrativen Universalien, nicht neu; Neumann hat ähnliche Ideen bereits in früheren Publikationen vorgestellt (vgl. Neumann 2007b, 2009b). Hier nun werden sie systematisiert und für einen größeren Zweck anwendbar gemacht.
Die zwei wesentlichen Leistungen dieses ersten großen Teils des Buches liegen zum einen in seiner hohen Benutzerfreundlichkeit, die es selbst dem naturwissenschaftlich wenig bewanderten Leser gestattet den Gedanken des Autors zu folgen, auch wenn dies an einigen Stellen eine gewisse (aber zu verschmerzende) Simplifizierung des Gegenstandes mit sich bringt. Zum anderen wagt Neumann einen riskanten, aber aus Sicht einer interdisziplinären, zumindest aber intermedialen Erzählforschung überfälligen Schritt, indem er auf „zwei sehr allgemeine Funktionsweisen von Narration“ (S. 42) hinweist, die er beide konsequent berücksichtigt: „Unterhaltung und die spezifisch narrative Verarbeitung all dessen, was im menschlichen Leben irgendwie als wichtig erscheint.“ (S. 42). Insbesondere um das Gewicht der Unterhaltung ist es Neumann zu tun, was faktisch die tradierte Trennung von „Hochliteratur“ (S. 117) auf der einen und unterhaltender oder „populäre[r] Literatur“ (S. 117) auf der anderen Seite aufhebt. Populäre Literatur ist dabei kein zeitabhängiges Phänomen, Unterhaltungsliteratur hat es immer gegeben, auch darauf macht Neumann aufmerksam. Hiermit wird eine Tendenz aufgenommen, die mit Blick auf visuelle Medien in der englischsprachigen Welt bereits erste Früchte trägt und die versucht Kunstformen (etwa den Film, die Fernsehserie etc.), die ganz offensichtlich eine hohe Komplexität aufweisen, dennoch aber der Unterhaltung dienen sollen, akademisch Rechnung zu tragen. Die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen sind allerdings fließend: „Die überwiegende Mehrzahl der Narrationen erfüllt aber, in unterschiedlichen Mischungen, beide Funktionen.“ (S. 42)
Natürlich ist die Deutung einer solchen Grenze als prinzipiell durchlässig nicht ohne Schwierigkeiten – insbesondere aus der traditionellen Philologie dürfte Widerstand zu erwarten sein mit Blick auf eine Diskussion um die Qualität von Literatur. Doch ist Neumann an keiner Stelle vorzuhalten, er sei sich dieser Gefahr nicht bewusst, sie ist vielmehr einkalkuliert und er kann seinen Standpunkt in dreierlei Hinsicht begründen: 1. Neumann stellt klar, dass Kunst-Literatur und populäre Literatur sich nicht „wie ‚gut‘ und ‚schlecht‘“ gegenüberstehen, sondern sich wie „zwei verschiedene Bereich je eigenen Rechts, mit eigenen Maßstäben und Gesetzen“ (S. 118) zueinander verhalten. 2. Qualitative Unterschiede kennen beide Formen der Literatur gleich gut, und 3. gab und gibt es zu jeder Zeit einen „produktiven Austausch zwischen Kunst- und populärer Literatur“ (S. 118).
Bevor Neumann die fünf Ströme des Erzählens eingehender beschreibt, setzt er sich in einem zweiten Kapitel mit den Problemen einer Gattungspoetik auseinander, die letztlich alle um die Frage kreisen, ob Gattungstheorien systematischer oder historischer Natur sind. Während etwa Stefan Trappen vor einigen Jahren die Gattungspoetik als historische Gegenstandsbestimmung deutete (Trappen 2001), wählt Neumann einen systematischen Zugang. So bildet er aus Goethes achtzehn Gattungsbegriffen (Allegorie, Ballade, Kantate, Drama, Elegie, Epigramm, Epistel, Epopöe, Erzählung, Fabel, Heriode, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Parodie, Roman, Romanze und Satire), die dieser im West-östlichen Divan durchdekliniert hatte, und André Jolles Einfache[n] Formen (Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen und Witz) eine Schnittmenge, die „einfach“ oder „Form“ zu nennen Neumann sich aber untersagt, vielmehr versteht er sie als Ströme, deren „Ränder [...] unscharf“ sind, denn sie „produzieren in voluptuöser Hemmungslosigkeit ständig neue Mischformen.“ (S. 140) Diese Ströme werden anhand einer Matrix jeweils formalisiert und umfassen Handlungssequenz, Handlungsziel, Figuren, Handlungsraum, Rahmen der Situation, Stimmung und Emotionen der Rezipienten sowie die anthropologische Funktion (S. 142). Mit dem in Teil A entwickelten Instrumentarium kann sich Neumann nun ganz den fünf Strömen widmen.
Die Ströme identifiziert Neumann in Teil B seines insgesamt 630 Seiten starken Werkes als folgende fünf: (1) Die Entwicklung des Individuums im Märchen-Strom, (2) die Dichotomie des Eigenen und des Anderen im Sagen-Strom, (3) das „große Ganze“ im Mythen-Strom, (4) die Dichotomie von Erdenwelt und Anderwelt im Anderwelt-Strom und (5) schließlich den Schwank-Strom. Alle Ströme werden auf ihre Genese, auf Dramaturgie und Ziel hin untersucht, wobei dem Märchen-Strom der größte Platz eingeräumt wird.
Jedem Strom weist Neumann schließlich eine anthropologische Funktion zu. Märchen haben demnach die Aufgabe, Herausforderungen für das Individuum bereitzustellen, deren Meisterung anhand von Auszug (S. 224ff.), Reifungsprozessen und Heimkehr (S. 254ff.) – also Abenteuer (S. 269ff.) – dem Helden vorbehalten ist, der dadurch seinen Platz in der Welt findet.
Der Sagen-Strom indes verweise auf das soziale Gefüge, in welchem sich die Individuen bewegten. Er konkretisiere das „Wir-Gefühl“ (S. 310): „Das Erzählen von Sagen ist das eine große Mittel, das den Menschen den Raum ihrer Gruppe vertraut macht.“ (S. 295). Das andere Mittel sei die „physische Markierung aller auffälligen Punkte“ (S. 295), etwa durch Kapellen oder Denkmäler, also durch kulturell bedeutende, traditionelle Bauten. In dieser Wir-Welt könne der Held auch zum „pluralistischen Helden“ (S. 316) werden. Neumann denkt hier etwa an das Rolandslied, das Nibelungenlied oder den Herrn der Ringe.
Der Mythen-Strom dient in Neumanns Sicht der Sinnstiftung, durch welche der Mensch überhaupt handelnd in der Welt aktiv sein kann. Zu ihren Praxen gehören Riten, Kulte und tradierte Erzählungen, etwa das Popol Vuh (Guatemala), Kojiki (Japan) und natürlich die Genesis. „Der Raum des Mythos“, so fasst Neumann zusammen, „ist die ganze Welt.“ (S. 348). Er spanne die Welt auf und messe sie aus, er stelle den Handlungsraum für den oder die Helden bereit. Mythen schafften Ordnung durch Tradition und stifteten Sinn durch Rituale, meist anhand von Götter- oder Heroen-Geschichten.
Der Anderwelt-Strom hingegen richte sich auf höhere Mächte, auf schamanistische Initiations-Erzählungen (S. 387ff.), die Mahrten-Ehe (S. 392ff.), Geister (S. 395ff.) oder christliche Legenden (S. 413ff.). Der Held werde darin zum „Grenzgänger“ (S. 418), Anderwelt-Narrationen rufen demnach also jene höhere Instanzen auf den Plan, deren Eingriffe erbeten oder erhofft werden, wenn das Individuum leidet und des Schutzes oder Trostes bedarf.
Als fünften Strom bestimmt Neumann den des Schwankes. Er lebe vom Umwurf bestehender Orientierungen, auch jener, die in den vier Strömen zuvor entworfen wurden. Ein Schwank sei handlungsreich, überraschend, zumeist auch witzig. Ihn zeichne „das Vergnügen an Verstößen gegen die offizielle Ordnung“ (S. 429) aus. Selbstevidentes werde infrage gestellt, Bekanntes gleichsam ‚auf den Kopf gestellt‘ – so etwa im Decamerone oder im Till Eulenspiegel. Im Schwank sei zudem alles irgendwie anders, trickreich, unordentlich. Es gehe um „Revanche, Sieg, Ausgleich“ (S. 452), der Held müsse eine List anwenden, weil er sich asymmetrischen Machtverhältnissen ausgesetzt sehe: Er sei stets der Schwächere, aber Klügere.
Jedem der fünf Ströme weist Neumann eine basale Stimmung zu: Der Märchen-Strom bildet demzufolge das Abenteuer ab in Form von „Neugier und Staunen“ (S. 231). Der Sagen-Strom umfasse das „Wir im Zentrum des Nicht-Geheuren“ (S. 296). „Ehrfurcht“ (S. 358) stehe als Stimmung im Zentrum des Mythen-Stroms, „Trost und Hoffnung“ (S. 423) seien es beim Anderwelt-Strom. Der Schwank schließlich provoziere aus einem sozialem Zusammenhang heraus Lachen (S. 495ff.). Insgesamt bietet Neumann ein erstaunlich breites Spektrum anthropologischer Grundbausteine des Narrativen, die allerdings die Grenze zur Ästhetik überschreiten.
Am Ende des Buches (im Teil C) entwirft Neumann eine Reihe von „Fallskizzen“, die Variationen der fünf Ströme darstellen sollen. So entsteht eine (vom Autor selbst als notwendig eklektisch bezeichnete) 2000 Jahre umfassende erzählanthropologische Gesamtschau. Gemeinsam ist Neumanns verschiedenen Untersuchungen sowohl die Verweigerung der eindeutigen methodischen Selbstzuordnung zu einem Fach oder einer Disziplin (auch wenn der Autor sein Vorhaben klar als ein literaturwissenschaftliches versteht) sowie die Verweigerung zeitlicher oder kultureller Begrenzungen bei den Gegenständen: Platon und James Bond (Teil B) schaffen es ebenso nebeneinander in ein Kapitel wie Wilhelm Meister und Batman (Teil C).
Die 13 von Neumann angeführten Beispiele aus Literatur, Film (der über das ganze Buch hinweg immer wieder als Beispiel herangezogen wird) und Comic sind nur auf den ersten Blick ohne Zusammenhang: Auch wenn Märchen neben der Detektiv-Erzählung (hier Sherlock Holmes), der Heimatfilm neben der Shakespeare-Komödie (hier As You Like It), Batman neben Perseus stehen, beim zweiten Hinschauen zeigt sich, wie plausibel sich die Fallskizzen in Neumanns erzähltheoretischen Entwurf einfügen und wie mühelos sich dabei die Grenzen von Literatur-, Film- und Medienwissenschaft überschreiten (oder erweitern?) lassen.
Dieses Vorgehen ist freilich nicht immer gleich plausibel: So finden sich sowohl im Abschnitt über Shakespeare wie auch über Batman Vereinfachungen, die der Komplexität des Gegenstandes nicht immer gerecht werden und den narratologischen Grundannahmen Neumanns geschuldet scheinen. Dennoch ist der Versuch, diese verschiedenen Narrative überhaupt in eine Beziehung zu setzen, selbst wenn die Beispiele womöglich einer persönlichen Vorliebe geschuldet sein sollten, ein zwar riskantes, aber insgesamt geglücktes Vorhaben.
Die Vorzüge der Methode Neumanns lassen sich in drei Punkte zusammenfassen: 1. Erzählen aus einer anthropologischen Perspektive zu sondieren und systematisch zu erschließen ist ein aufregendes und vielversprechendes Vorhaben, mit dem Neumann den Grundstein für Folgeuntersuchungen gelegt hat. 2. In der Überwindung der traditionellen Trennung von Kunst- und populärer Literatur liegt die Chance, auch solche Erzählformen in den Blick zu bekommen und erklärbar zu machen, die üblicherweise nicht zum Kanon der Hochliteratur gehören, aber dennoch eine große kulturelle Bedeutung besitzen – man denke etwa an die Figuren aus dem Marvel-Universum, an Harry Potter oder Game of Thrones. 3. Neumanns Ansatz macht zudem die Überwindung medialer Grenzen möglich.
Neumanns generelle Bereitschaft, bei seinen Untersuchungen intermedial vorzugehen, wird jedoch nicht immer gleich überzeugend durchgeführt. Batman etwa wird im Rahmen der „Fallskizzen“ weniger intermedial analysiert, als vielmehr ausschließlich mit Blick auf die Erzählweise. Superhelden werden heute aber in mehr als einem Medium repräsentiert: Comics, Filme, Serien und Computerspiele bilden mitunter eine narrative Gesamtheit, in denen die Weise des Erzählens variiert (erstmals ist dieses Prinzip wohl umfassend im Rahmen der Matrix-Filme und der dazugehörigen Computerspiele umgesetzt worden). Die Ausführungen zu solchen aktuell sich entwickelnden parallelen Erzählungen gehen bei Neumann jedoch leider über Andeutungen nicht hinaus.
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die methodische Begrenzung des vorliegenden Buches. Neumann versteht sein Werk als ein primär literaturwissenschaftliches; dadurch verstellt er sich die Möglichkeit (vielleicht sogar Notwendigkeit), eine Anthropologie der Narration auch für eine Epistemologie derselben, oder genauer: für eine narratologische Epistemologie anschlussfähig zu machen. V.a. werden erzählende Formen der Philosophie, wie wir sie von Platon über Augustinus bis zu Nietzsche und Wittgenstein finden können, systematisch aus Neumanns Narratologie ausgeschlossen. Im Gegensatz dazu weisen etwa Autoren wie Henry McDonald schon lange auf die narrativen Strukturen bei Wittgenstein hin (vgl. McDonald 1994, 2001), so dass er ihn dann auch konsequent einen „narrator“ (McDonald 1994, 1) nennt. Diese Ausklammerung philosophischen Denkens ist leider ein genereller Zug des Buches, der sich von der Begrenzung des Anthropologiebegriffs bis zur Außerachtlassung von narrativ organisierten Erkenntnisprozessen erstreckt. Es ist nicht ganz einsichtig, weshalb eine dem eigenen Anspruch nach primär literaturwissenschaftliche Analyse Erkenntnisse der (Sozio-)Biologie und Psychologie integrieren kann, nicht aber solche der Philosophie.
Mit Die fünf Ströme des Erzählens legt Neumann eine Arbeit vor, die in der europäischen Literaturwissenschaft ihresgleichen sucht in ihrer Fülle und Bereitschaft, auch entlegene Narrative zu berücksichtigen. Sie erweist der allgemeinen Erzählforschung einen großen Dienst. Daher erscheint auch Neumanns Fazit ebenso spannend wie folgerichtig: „In ihrer Gesamtheit kultivieren die fünf Ströme des Erzählens die Welt zu einem bewohnbaren Raum.“ (S. 630) Es scheint zudem nicht ausgeschlossen, dass weitere Ströme hinzukommen werden. Entsprechend schreibt auch der Autor, dass seine Arbeit im „günstigsten Fall [...] einen Anfang“ (S. 632) bezeichnet: „die Eröffnung eines Gesprächs über die Grenzen der europäischen Kultur hinaus“ (S. 632), denn, um es mit den Worten von Barthes zu sagen: „nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung.“ (Barthes 1988, 102).
Barthes, Roland (1988): Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M.
Kosenina, Alexander (2008): Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin.
McDonald, Henry (1994): „The Narrative Act. Wittgenstein and Narratology“. In: Surfaces Vol. IV. Montreal, S. 1-21.
McDonald, Henry (2001): „Wittgenstein, narrative theory, and cultural studies“. In: Telos: Critical Theory of the Contemporary Vol. 121, S. 11-53.
Neumann, Michael / Hartmann, Andreas (2004a) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 1. Antike. Regensburg.
Neumann, Michael / Hartmann, Andreas (2004b) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 2. Mittelalter. Regensburg.
Neumann, Michael / Schneider, Almut (2005) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 3. Zwischen Mittelalter und Neuzeit. Regensburg.
Neumann, Michael / Strobl, Christine (2006) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 4. Renaissance. Regensburg.
Neumann, Michael / Hartmann, Andreas (2007a) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 5. Vom Barock zur Aufklärung. Regensburg.
Neumann, Michael (2007b): „Die fünf Ströme des Erzählens. Zur Ökologie des Narrativen“. In: Karl Eibl et al. (Hg.), Im Rücken der Kultur. Heidelberg, S. 373-394.
Neumann, Michael / van Schlun, Betsy (2008) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 6. Das 19. Jahrhundert. Regensburg.
Neumann, Michael / Fuchs, John Andreas (2009a) (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Band 7. Moderne. Regensburg.
Neumann, Michael (2009b): „Universalien des Erzählens. Literaturwissenschaft und Anthropologie“. In: Martin Huber / Simone Winko (Hg.), Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Paderborn, S. 235-251.
Trappen, Stefan (2001): Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. Bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg.
Philipp Bode, M.A.
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