Frauke Bode

Erzählen lyrische Texte?

Hartmut Bleumers und Caroline Emmelius’ Sammelband untersucht lyrische Narrationen und narrative Lyrik im Mittelalter

Hartmut Bleumer / Caroline Emmelius (Hg.): Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin / New York: Walter de Gruyter 2011 (= Trends in Medieval Philology Vol. 16). 404 S. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-021593-9

Mit dem Band Lyrische Narrationen – narrative Lyrik legen Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius die Ergebnisse eines Kolloquiums von 2008 vor, das sich einem in den letzten Jahren in der Forschung immer stärker beachteten Phänomen widmete: Im Zuge des narrative turn und der schon gemeinplatzartigen Rede von der anthropologischen Konstante und kulturellen Ubiquität des Erzählens wird verstärkt nach der Narrativität von Lyrik und Drama gefragt, was für Erstere zu Bemühungen geführt hat, Leerstellen und Diskussionspunkte der Lyriktheorie narratologisch aufzufüllen oder zu ersetzen. Besondere Beachtung haben hierbei die Ansätze von Jörg Schönert und Peter Hühn, der am vorliegenden Band ebenfalls beteiligt ist, gefunden (vgl. z.B. Hühn / Schönert 2007).

Der Band bezieht diese grundlegende Fragestellung der Lyriktheorie auf die Literatur des Mittelalters, vorwiegend aus germanistischer, aber auch aus romanistischer und anglistischer Perspektive. Ihm liegt die Beobachtung zugrunde, dass in Texten des Mittelalters generische Interferenzen zwischen Lyrik und narrativen Genres auftreten: die Lyrik greift auf narrative Strukturen zurück, während Gattungsmerkmale der Lyrik auch in narrativen Texten aufscheinen. Die Beträge des in vier Abschnitte eingeteilten Bandes nehmen dann vor allem lyrische Texte in den Blick, die in den beiden ersten Abschnitten („Theorien, Konzepte, historische Modelle“ und „Episches im Lyrischen“) den Hauptgegenstand darstellen. Ein dritter Abschnitt widmet sich dem „Lyrischen im Epischen“, während ein exkursartiger letzter Abschnitt sich mit zwei Beispielen aus der Mystik auseinandersetzt.

In ihrer systematisch orientierten, den Abschnitten vorangestellten Einleitung entwickeln die Herausgeber eine breit angelegte Lyriktheorie, deren Fluchtpunkte die Kategorien der Zeitlichkeit, der Narrativität und der lyrischen Sprechsituation darstellen. Es zeigt sich, dass bei einer narratologischen Betrachtung von Lyrik erneut geklärt werden muss, welche Rolle Fiktionalität und, damit einhergehend, die Sprecher-Konstitution in lyrischen Texten einnimmt.

Ausgehend vom Gegenstand mittelalterlicher Lyrik legen die Herausgeber dar, dass die Gattungsdiskussion ein modernes Phänomen ist, das ex post über eine „Literatur vor der Literatur“ geführt wird. Den mittelalterlichen Texten müsse demnach eine „generische Freiheit“ (S. 2) eignen, die sie interessant macht für die Beobachtung generischer Ausdifferenzierungen. Anhand von exemplarischen Stationen durch lateinische und romanische Texte des Mittelalters zeigen die Autoren auf, wo eine Differenzierung erkennbar ist und wo eine Vermischung von lyrischen und narrativen Tendenzen erfolgt. Aus einem auf den ersten Blick defizitären Feld lyrisch-narrativer Mischformen innerhalb der germanistischen Texte leiten sie eine ‚ästhetische Genealogie‘ her, die genreübergreifend festzustellen ist. Aus der Präsenz des lyrischen Ich in lyrischen Texten habe sich, so eine erste These der Herausgeber zur Interferenz zwischen Lyrik und Narration, das Erzähler-Ich bei Eschenbach herausgebildet. Mystische und narrative Verhandlungen von Liebe, so die zweite These, bedienen sich lyrischer Ausdrucksmöglichkeiten und stellen eine zweite Ebene der Interferenz dar.

Von der theoretischen Seite her argumentieren die Autoren, dass sich die Verknüpfung von Narratologie und Lyriktheorie aus der fortgesetzten Forschungsdiskussion um das lyrische Ich entwickelt habe. Der Versuch, Alternativen für diesen „umstrittenen Begriff“ (Martínez 2002) zu formulieren, wurde aus narratologischer Perspektive vorgenommen, wofür paradigmatisch die Ansätze von Jörg Schönert und Peter Hühn stehen, die in der These gipfeln, das Ich sei in der Lyrik eine so intensive Figur, weil es sich eine Geschichte zuschreibe (S. 16; vgl. Hühn / Schönert 2007, 300). Bleumer und Emmelius rollen die Diskussion um den Begriff des lyrischen Ich, ausgehend von den Positionen Margarete Susmans und Käte Hamburgers, noch einmal auf, um über Emil Staiger zu Gérard Genette und seiner Unterscheidung von Fiktionalität und Ästhetizität zu kommen, die er in dem Begriffspaar Fiktion und Diktion fasst. Sie schlussfolgern, dass Narration vertikal auf allen Ebenen des Textes stattfindet und dass, insbesondere für die mittelalterliche Lyrik und ihre performativen Aspekte, beachtet werden muss, dass die Fiktion des lyrischen Textes – also speziell die Fiktion des lyrischen Ich – in der ästhetischen Praxis aufgehoben wird, d.h. die Fiktion wird in der Aufführung zu einem quasi-realen, rituellen Moment.

Die Sektionen und Beiträge des Bandes

1. Theorien, Konzepte, historische Modelle

Im ersten Abschnitt des Sammelbandes, der theoretisch und paradigmatisch orientiert ist, greifen Jan Borkowski und Simone Winko mit „Wer spricht das Gedicht?“ die einleitend gestellte Frage nach dem lyrischen Ich wieder auf. Die Beziehung zum Oberthema des Bandes wird hier durch die Verknüpfung narratologischer mit lyrikspezifischen Analysekategorien begründet. Daher ist dieser Beitrag nicht spezifisch mediävistisch ausgerichtet, sondern stellt einen Versuch dar, die vielzähligen Ansätze zur Definition des Begriffs ‚lyrisches Ich‘ bzw. zu den gegen die Kategorie vorgebrachten Kritikpunkten zu systematisieren, um anschließend ein Modell zur Analyse der Sprech-Instanz zu entwerfen, das auf jede Art von Gedicht anwendbar ist. Der zentralen Frage „Wer spricht das Gedicht?“ wird mit der Aufspaltung der Sprechinstanz begegnet, die für Lyrik generell, insbesondere aber für mittelalterliche Texte sinnvoll erscheint: Der Sprecher 1 ist ein textexterner Sprecher, der Sprecher II ein realisierender Sprecher, also ein Vortragender. Diese Sprecher können jeweils unterschiedliche Kontexte aktualisieren: einen sprachlichen Kontext 1, einen individuell-situativen Kontext 2 und einen institutionellen Kontext 3 Mit Hilfe der verschiedenen Kontexte kann, nach eher linguistisch-strukturalistischen denn narratologischen Prinzipien das Sprecher-Ich in unterschiedlichen Gedichtformen differenziert werden.

Peter Hühn geht in seinem Beitrag „Geschichten in Gedichten“ von der Grundidee des narrative turn aus, dass Erzählen eine anthropologische Universalie sei. Sein teils strukturalistischer, teils kognitionspsychologischer Ansatz siedelt das Erzählen nicht nur als eine sequentielle Abfolge von Ereignissen auf der Ebene der histoire an, sondern auch als Änderung der Einstellung des Sprechers auf der Ebene des discours. Hühn bestimmt Erzählen in der Lyrik somit als performative Zustandsveränderung, was er an zwei Sonetten Shakespeares und deren diskursiver Abweichung vom petrarkistischen Modell aufzeigt. Lyrisches Erzählen wäre demnach also nicht an der Vermittlung einer Handlungsfolge festzumachen, sondern an einer Entwicklung innerhalb der Sprecherrede. Die Beispielanalyse zeigt überzeugend auf, wie der petrarkistische Frame in den Shakespeare’schen Sonetten zunächst übernommen und dann gewendet wird, wobei also zwei verschiedene Ansätze zum Tragen kommen, um Lyrik als Narration zu bestimmen. Zum einen das auf die Sprechinstanz und ihre Vermittlung ausgerichtete discours-Kriterium. Zum anderen eine eher kognitionspsychologische Deviation vom traditionellen Frame.

Dietmar Rieger konzentriert sich auf ein Korpus höfischer Lieder Frankreichs aus dem 12. und 13. Jahrhundert, um das Verhältnis von Lyrischem und Narrativem auszuloten. Er setzt voraus, dass man das hochmittelalterliche lyrische Ich als fiktiv und inszeniert, gleichwohl immer als in der Aufführung vermittelnden Sprecher zu verstehen habe, der die Rolle des Dichters einnehme. Der in der Liebeskanzone, z.B. bei Chrétien de Troyes, beschriebene paradoxale Zustand des Liebenden sei zwar an sich der Zeit und damit der Narration enthoben, es finde aber gerade innerhalb der hochmittelalterlichen Trobador-Lyrik eine Narrativierung statt, die das Muster der höfischen Liebe in Frage stelle. Die Narrativierung versteht Rieger als Entwicklung der Zustandslyrik der Kanzone hin zur Erfüllung des Liebesbegehrens im fleischlichen Akt – ein Prozess, der das System der höfischen Liebe stört. Neben der chanson de chance, in der sich der Liebende von der Dame ab- und einer anderen zuwendet, stellen auch die Pastourelle und das Tagelied Beispiele dafür dar, dass der paradoxe und präsentische Zustand des „amar desamatz“ narrativ gebrochen wird, aber nur, um in der Folge wiederhergestellt zu werden.

Michael Bernsen legt in seinem Beitrag die Frage nach dem Narrativen in der Lyrik weniger strukturalistisch an als Bleumer und Emmelius und trachtet auch nicht danach, Lyrik mit Methoden der Narratologie zu untersuchen, wie Peter Hühn dies vorschlägt, vielmehr definiert er mit Karlheinz Stierle die differentia specifica der Lyrik als „Überschreitung von Diskursschemata“ (S. 122). Ausgehend von der Beobachtung und genauen historischen Beschreibung der mittelalterlichen Liebeslyrik zeigt Bernsen auf, dass das dort vorhandene narrative Schema sich von einer Rollen zuweisenden sozialen Funktion hin zu Biographisierung entwickelt, die zugleich von christlichen Allegorisierungen begleitet wird. Am Beispiel des spanischen Petrarkisten Juan Boscán entwickelt Bernsen die These, dass mit zunehmender Biographisierung und nachlassender Allegorisierung das aus der altokzitanischen Lyrik stammende petrarkistische Narrativ durch den Sprecher bei Boscán hin zur Überwindung der Leidenschaft gewendet wird. Im Nachgang argumentiert er dann aber, dass schon bei Petrarca das Narrativ der Läuterung des verzweifelt Liebenden durch Hinwendung zur göttlichen Erlösung nur scheinbar eingelöst wird. Parallele Formulierungen in der Kanzone „Italia mia“, in der die Rettung Italiens von Vornherein auch durch Gott unmöglich erscheint, und dem Schlusssonett des Canzionere lassen diese These zu. Bernsen reicht damit eine chronologisch vorgeschaltete Bestimmung nach und entwickelt so ex post einen Ansatz zur Kartierung des narrativen Schemas vom 12. Jahrhundert bis hin zu Boscán.

In seinem Beitrag „Epik plus Lyrik ergibt Panegyrik“ widmet sich Thomas Haye der Dichtung Johannes Michael Pingonius aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert, überliefert durch eine Turiner Handschrift. Darin steht zu Beginn die Panegyris, ein Epos, in dem der savoyische Herzog Philibert durch Formulierungsanklänge an die Aeneis und die Alexandreis des Walter von Châtillon mit Äneas und Alexander verglichen wird. Obwohl in der lateinischen Dichtung des Mittelalters Lyrik und Epik klar getrennte Gattungen darstellten, sind im Opus von Pingonius Interferenzen festzustellen: Haye stellt heraus, dass das Herrscherlob sowohl in der Lyrik als auch im Epos seinen Ort findet, was sich in der durchgehenden Buchzählung bei Pingonius zeigt, welche die unterschiedlichen Gattungen nicht voneinander trennt. Episches und Lyrisches werden rein auf der Ebene der Präsentation vereint, während keine strukturellen Interferenzen auftreten. Die Funktion des Herrscherlobs wurde offensichtlich im lateinischen Mittelalter von beiden Gattungen erfüllt, was zu pragmatischen Gemeinsamkeiten wie übereinstimmenden Adressaten führt. Panegyrik müsse daher als gattungsübergreifende Funktion der lateinischen Dichtung im Mittelalter verstanden werden.

2. Episches im Lyrischen

Im ersten Beitrag des Abschnitts „Episches in Lyrischem“ erläutert Albert Hausmann unter dem Titel „Verlust und Wiedergewinnung der Dame“ wie der Bezug des Sprechers zur Dame im Minnesang zwischen narrativen und lyrischen Ausgestaltungen oszilliert. Dabei bestimmt er Narration als binnenpragmatische Logik der Sprechinstanz (Was kann der Sprecher über die Dame wissen? Was darf er sagen?), zum anderen als außenpragmatische Funktion des Sängers in der Rezeption (Narration als ‚Sicherheitsabstand‘ des Sängers in der Aufführungssituation). Hausmann unterscheidet einen narrativen Modus als Sprechen über Vergangenes von einem lyrischen Modus der Vergegenwärtigung im Hier und Jetzt der Rezeption. Anhand der narrativen und lyrischen Bewältigung der Liebessituation arbeitet er eine Geschichte des Minnesangs heraus. Im frühen Minnesang mit seinen Frauenstrophen sei der narrative Modus vorherrschend, weil diese in der Aufführungssituation von einem Mann gesprochen und damit narrativ eingeklammert werden. Diese „Situationsspaltung“ (Rainer Warning) ergibt sich aus der notwendigen Erzähler-Funktion des Sängers: spräche er von sich selbst, würde er sich kompromittieren. In der Hohen Minne fallen Lieben und Singen pragmatisch in eins, weil sich der Sänger als (simultanes nicht referentielles) Ich des Vortrags präsentiert. Mit dieser Entwicklung entfällt dann auch die Frauenstrophe, weil der Sänger als Liebender nicht auktorial auftreten, also nichts über die Sicht der Frau sagen kann. Im 13. Jahrhundert schließlich finden sich dann sowohl die (im definierten Sinne) narrative Lösung als auch eine lyrische, in der mit der Frau das „Minne-Programm“ (S. 180) inhaltlich verloren geht.

Ausgehend von Emil Staigers Überlegungen zur Differenz von Lyrischem und Lyrik definiert Katharina Philipowski in „Zeit und Erzählung im Tagelied“ das Lyrische als zeitlose Präsenz. Wie Hausmann greift Philipowski auf den Warning’schen Begriff der „Situationsspaltung“ zurück und stellt die Frage nach dem Verhältnis von Text-Ich und Sprecher-Ich, da sich in der mittelalterlichen Minne-Tradition Textualität und Situativität nicht nur – wie in jeder Aufführungssituation – überlagern, sondern die Texte explizit für diesen doppelten Rahmen verfasst werden. Am Beispiel des Tagelieds zeigt Philipowski auf, dass erst die Vermittlung des Erzählers die Vergegenwärtigung der Erfüllung der Liebe möglich macht. Narrative Vermittlung ist die einzige Möglichkeit, von der Erfüllung zu sprechen, darin stimmt Philipowski mit Hausmann überein, nicht nur, weil der heterodiegetische Erzähler den unerhörten Akt von seiner Person trennen muss, sondern weil durch seine Vermittlung die Zeit des Erzählens und die Zeit der Erzählung getrennt würden. Erst ein solchermaßen nicht am Geschehen beteiligter oder beteiligt gewesener Erzähler kann die Zeit, die im Akt der Erfüllung gegenüber dem fortschreitenden Tagesanbruch stehen bleibt, beschreiben. Wenn hingegen wie in Walthers „Frîuntliche Lac“ der Erzähler den beteiligten Figuren vollkommen das Wort überlässt, wird das Narrative zugunsten des Präsentischen eingestellt, weil die beteiligten Figuren nicht mehr vermitteln können als sprachliche Akte.

Auch die Mitherausgeberin Caroline Emmelius stellt (lyrische) Präsenz und (narrative) Distanz in das Zentrum ihres Beitrags „Zeit der Klage“, dessen Gegenstand die Minneklage ist. Da diese Gattung sowohl stimmlich-klangliche lyrische Präsenz produziere als auch reflektierende Distanz herstellen wolle, mithin narrativ sei, könne an ihrem Beispiel die Interferenz der Gattungen untersucht werden. Emmelius stellt zum einen heraus, dass die Klage über die abwesende Dame eine vorwiegend zeitliche Struktur auf der Ebene der histoire sei, während zugleich auf der Ebene des discours ein Präsenz-Effekt entstehe, welcher der klagenden Stimme – und damit dem sie vortragenden Sänger – die Geschichte als authentische Erfahrung zuschreibt. Emmelius argumentiert also gegen die Situationsspaltung und geht mit Hartmut Bleumer von einer Verschmelzung der Situationen durch den Klang des Gesangs aus, der das räumliche Hier und Jetzt betone. Am Beispiel der Trennungsklagen des Friedrichs von Hausen zeigt Emmelius auf, dass zwar eine zeitliche und kausale Aufeinanderfolge von Situationen erkennbar ist, aber keine axiologische Geschichte entworfen wird. Zeit und Raum werden vielmehr als semantische Gegensätze gefasst. Bei Reinmar dem Alten fällt zudem das Fehlen einer erzählbaren Geschichte auf.

In seinem Beitrag „Literarische Formen im Dialog“ widmet sich Timo Reuvekamp-Felber Figurenensembles der matière de Bretagne, die Eingang in lyrische Texte des 12.-14. Jahrhunderts finden. Mit der Interfiguralität greift Reuvekamp-Felber die Gattungsinterferenz zwischen Narrativem und Lyrischem als intertextuelles Phänomen auf. Während im 12. Jahrhundert Figuren oder Vergleiche aus Tristan und Isolde zitiert werden, treten im 13. und 14. Jahrhundert auch Figurennamen aus dem Artus-Stoff auf. Diese Übernahmen aktualisieren das komplexe Sinnpotential des Originaltextes, zu dem sie sich in ein Verhältnis von Korrespondenz, Kontrast oder Travestie begeben. Korrespondierende Zitate nennen die literarischen Vorläufer als Beispiele in einer Argumentation, Kontrast wird zum Beispiel in der Gegenüberstellung der erzwungenen Zaubertrankliebe Tristans und der authentischen Liebe des Ichs dargestellt. Im Tannhäuser-Leich zeigt sich, wie die unlogische Reihung von Namen einen komischen Effekt hat und in einer Parodie von Neidharts Sommerliedern schließlich die Dame als eine von mehreren Dörflerinnen gänzlich ‚außerhöfisch‘ verortet wird. Reuvekamp-Felber zeigt auf, dass die Anleihen aus der matière de Bretagne nicht nur ein gegebenes Bedeutungsarsenal aufnehmen, konterkarieren oder travestieren, sondern auch erweitern können, indem sie semantische Potentiale der Figuren aufgreifen, die im Prätext nur angelegt oder in andere Richtungen ausformuliert werden, was zu einer dialogischen Beziehung zwischen den beiden Texten führe, womit auch im Mittelalter grundsätzlich Effekte der Rückkopplung des späteren auf den früheren Text entstehen können.

3. Lyrisches in Epischem

Manuel Braun eröffnet die Sektion „Lyrisches in Epischem“ mit einem Artikel zu Wolfram von Eschenbach, „Epische Lyrik, lyrische Epik“, in dem er die Tagelieder auf ihre narrative Verfasstheit und semantische Kontinuität zum Parzival in den Blick nimmt und vice versa versucht, den Parzival als lyrischen Text zu beschreiben. Braun stellt fest, dass gegenüber dem epischen Werk lyrische Texte bei Wolfram unterrepräsentiert und in der Mehrzahl der eher narrativen Gattung des Tagelieds zuzuordnen sind. Er überprüft diese gängige Beobachtung, indem er dem Tagelied auf drei Ebenen Narrativität bescheinigt: durch die Existenz eines plots, die minimale Präsenz eines Erzählers in der inquit-Formel und das spätere Erzählen. Wolframs Ergänzung des Figurenarsenals um den Wächter sei ein Schritt in Richtung des Epos, weil mit dem Wächter die Figurenzahl erweitert und verschiedene Perspektiven eingeführt werden. Auch semantisch gibt es eine Annäherung an den Parzival, wenn im Lied „Der Helden Minne“ als Alternative zum Ehebruch die Eheliebe steht, welche die Trennung am Morgen obsolet macht. Allerdings wird diese motivische Kontinuität im Lied nicht auserzählt, sondern in der Sprechweise der Empfehlung geäußert. Auch der Parzival selbst greift auf die Minne-Semantik zurück. Auf der formalen Ebene sind die Reimpaarverse der Lyrik verwandt, was sich vor allem in der Zusatzsemantisierung der Reimwörter äußert. Braun betont in seiner Beispielanalyse des Titurel, dass bei aller Fruchtbarkeit eines Perspektivenwechsels die inhärent lyrischen Charakteristika nicht einer narratologischen Analyse zum Opfer fallen dürfen. Lyrik definiert sich für ihn über den Gestaltungswillen der Form, der dem mehr oder weniger narrativen discours eine weitere semantische Ebene hinzufügt. Mit diesem Ansatz verdeutlicht Braun, dass Texte wie der Titurel nicht starr dem einen oder dem anderen Gattungspol zugeordnet werden können, sondern Positionen auf einer Skala darstellen.

Semantische Übernahmen aus dem Minnesang untersucht auch Armin Schulz im „Liet von Troye“ des Herbort von Fritzlar in Form von Minnesang-Zitaten. Sein Blick auf die Gattungsinterferenzen verfolgt den Zweck, gängige Interpretationen, die vor allem auf die Verdammung höfischer Liebe beim Kleriker Herbort gerichtet sind, zu hinterfragen, und generell das Verhältnis von importierter und texteigener Semantik auszuloten. Dabei bestimmt Schulz mittelalterliches Erzählen als eines, das durch Wiederholungsstrukturen und damit im Jakobson’schen Sinne als paradigmatisch zu bezeichnen ist. Dies führt dazu, dass die wiederholten Elemente ihr aus Prätexten mitgebrachtes Bedeutungspotenzial nach und nach modifizieren. Schulz sieht daher in poststrukturalistischer Tradition die Möglichkeit, Herborts „Liet von Troye“ nicht nur in seiner kritischen Einarbeitung des Minnesangs wahrzunehmen, sondern in ihm ein eminent selbstreferentielles und damit lyrisches Moment zu erkennen.

In einem luziden Beitrag, der auf die Präsenzeffekte des Lyrischen im Vergleich zum Narrativen abhebt, widmet sich der Mitherausgeber Hartmut Bleumer dem Frauendienst Ulrich von Liechtensteins, wobei er zeitliche Aspekte als zentrales Differenz- und Kontinuitätsphänomen zwischen lyrischen und narrativen Entwürfen des Frauenlobs feststellt, die dazu führen, dass die auf Minneerfüllung ausgerichtete Handlung um die Hauptfigur Ulrich scheitern muss. Der Artikel hat den doppelten Vorzug, dass hier zum einen die lyrischen Präsenzeffekte stringent über das Fehlen von Linearität und ein eher semantisches Zeitverständnis definiert werden (die Jahreszeiten der Minne haben nur ein metaphorisches, kein referentielles Korrelat in Ulrichs Welt) und zum anderen aus diesem theoretischen Ertrag ein Mehrwert für die Analyse des Frauendienstes gezogen wird. Aus der Differenz von Chronologie und Topos ist erkennbar, dass das Scheitern des Protagonisten vorgezeichnet ist: Am Beispiel des paradoxalen Liebesleids zeigt Bleumer auf, dass was in der Liebeskanzone als rhetorischer Effekt außerhalb von Zeitlichkeit (also auch jenseits einer Erfüllungsmöglichkeit) gestaltet ist, im ‚wirklichen Leben‘ der Erzählung zu einem unlösbaren Dilemma führen muss. Ulrichs Absicht, das komplette Minneprogramm umzusetzen, gestaltet sich als Ding der Unmöglichkeit.

4. Lyrisch-narrative Übergänge in der Mystik

Die zwei letzten Beiträge des Bandes sind dem mystischen Paradigma gewidmet und untersuchen auch hier Interferenzen zwischen Lyrik und Epik. Sandra Linden betrachtet Mechthild von Magdeburgs Fließendes Licht der Gottheit daraufhin, wie lyrische Inserate, rhythmische Strukturierung und Kolonreime der Schwierigkeit begegnen, die unio mit dem Göttlichen auszudrücken. Lyrisches Sprechen weiche ebenso von der Alltagssprache ab wie die mystische Erfahrung von Alltagserfahrungen und könne daher logische und syntaktische Brüche sowie mangelnde Chronologie und Kausalitätsbeziehungen eher integrieren, als dies bei Narrationen der Fall wäre.

Der Klang ist ebenfalls zentrales Element in Burkhard Hasebrinks Beitrag „Gegenwart im Klang?“. Präsenz ist der verbindende Begriff zwischen Lyrik als präsentischem Sprechen durch Klangeffekte nach Bleumer und dem das Göttliche vergegenwärtigenden jubilus der Mystiker. Hasebrink fasst in diesem Sinne sowohl Minneliebe als auch Gottesliebe als ästhetische Erfahrung. Die von ihm untersuchte Predigt von Johannes Tauler spricht sich aber gerade gegen ein solches Verfahren und für ein rhetorisch-diskursives aus, denn der Jubel, so analysiert Hasebrink, sei ein artifizieller Effekt, der eben nicht die Präsenz des Göttlichen darstelle, sondern diese gerade verfehle.

5. Fazit

Der umfangreiche, von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius betreute Band mit hochkarätigen Beiträgern widmet sich dem Phänomen lyrischen Erzählens und narrativer Lyrik in handbuchartiger Form, insofern insbesondere im ersten Abschnitt konzeptionelle Entwürfe des Zusammenhangs von Lyrik und Narration präsentiert werden, die in den Folgeabschnitten an Einzelanalysen variiert und erprobt werden. Der vorherrschende narratologische Blick auf die Lyrik des Mittelalters schafft eine neue Forschungsperspektive, deren Fruchtbarkeit die Beiträge in ihren Anwendungen unter Beweis stellen; theoretische Gewinne halten aber besonders die Einleitung und der erste Abschnitt bereit. Die ausführliche Einführung der Herausgeber konzentriert sich höchst differenziert auf den Aspekt des Narrativen im Lyrischen, was auch in der Folge den Schwerpunkt der Beiträge darstellt, lässt aber eine konzeptionelle Einführung zur lyrischen Affiziertheit narrativer Texte vermissen. Auch wenn es nicht den Konventionen eines Sammelbandes entsprechen mag, wäre zudem ein Fazit zu der Sammlung von Beiträgen wünschenswert gewesen, das mehr als einen Ausblick auf konzeptionelle Verbindungen zwischen den Gattungen im Mittelalter böte (vgl. S. 39). Bleumers und Emmelius’ Konzeption hat aber den Vorteil, dass sie aus der klaren sprachlichen und epochalen Eingrenzung des Gegenstands einen theoretischen Nutzen zieht: Die theoretischen Überlegungen zur Gattung Lyrik werden aus einem mittelalterlichen Korpus abgeleitet, lassen sich aber gut auch auf neuere Ausprägungen anwenden.

Durch einen Großteil der Beiträge lässt sich eine thematische Kontinuitätslinie vom höfischen Diskursmodell bis zum Petrarkismus der frühen Neuzeit ziehen (welche sich im germanischen und romanischen Sprachraum bis hin zu Shakespeare zeigt). Dies sorgt für die nötige Einheitlichkeit der Beiträge, die ansonsten mit einer Vielzahl an Lyrik-Begriffen (wobei hier der Präsenz-Begriff dominiert) operieren, und mit einem Verständnis von Narration, das teils konventionell narratologisch im Wesentlichen über die Sukzession von Ereignissen gefasst wird, zum Teil aber auch – und hier scheint eine mittelalterliche Besonderheit zu liegen – in der Funktion des Sprechers als quasi-Erzähler, auch wenn er lediglich als Wiedergabeorgan und nicht strukturell narrativ agiert.

Auffällig ist, dass der Band, was durchaus als Vorzug zu verstehen ist, mit einer Vielzahl von Antworten auf die Frage operiert, was eigentlich unter Narratologie zu verstehen ist. So gehen die neben der Einleitung von Bleumer / Emmelius theoretisch ertragreichsten Beiträge von Winko / Borkowski und Hühn nicht unbedingt von einem im engeren Sinne narratologischen Ansatz aus, sondern greifen vielmehr auf den Gedanken zurück, dass in Lyrik überhaupt Erzählen stattfindet. Auf diese Weise ergeben sich aus der den Sammelband überspannenden Forschungsfrage gewinnbringende Perspektiven für die Lyriktheorie im Allgemeinen und für die Hermeneutik der Einzeltexte im Speziellen. Ob letztere aber von Seiten der Narratologie her motiviert werden müssen bzw. tatsächlich narratologisch arbeiten, bleibt in Einzelfällen fraglich.

Literaturverzeichnis

Hühn, Peter / Schönert, Jörg (2007): „Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse“. In: Jörg Schönert et. al. (Hg.), Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin / New York 2007, S. 1-18.

Martínez, Matías (2002): „Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs“. In: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart / Weimar 2002, S. 376-389.



Dr. Frauke Bode
Bergische Universität Wuppertal
FB A: Romanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: frauke.bode@uni-wuppertal.
URL: http://www.romanistik.uni-wuppertal.de/personal/literaturwissenschaft/dr-phil-frauke-bode.html

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