Jochen Mecke

Du musst dran glauben

Von der Literatur der Lüge zur Lüge der Literatur

The article discusses the relationship between literature and lying on the basis of a neutral definition of lying. The article argues that literature itself is primarily not capable of lying, because it uncovers its own fictional ‘lies’ and presupposes a ‘pact of fiction’ implying the suspension of disbelief. Focusing on the theory of unreliable and lying narrators, the article analyses several types of lies ‘with’ and ‘in’ literature, tackling the question of the existence of specific literary lies. Thus, examination of the homodiegetic narrator of the novel Lazarillo de Tormes points to the possibility of a literary lie, whereas the case of a lying heterodiegetic narrator suggests a modification of the general theory of lying through consideration of the aesthetic dimension of lies.

1. Lügen die Dichter? Die Möglichkeit literarischer Lügen

Jede Beschäftigung mit dem komplexen Verhältnis zwischen Literatur und Lüge kommt nicht umhin, auf jenes berühmte Verdikt einzugehen, das Platon den Dichtern angedeihen lässt. Nach der Vulgata hat Platon die Dichter aus dem Staat ausgeschlossen, weil diese Lügen verbreiten würden, wobei damit zumeist die Fähigkeit der Dichter gemeint ist, unwahre Geschichten zu erfinden, also die Fähigkeit, Fiktionen zu erschaffen.1 Wenn man den platonischen Dialog allerdings etwas genauer anschaut, erscheint diese Deutung als fragwürdig. Auch wenn unstrittig ist, dass Platon die Dichter aus dem Staat ausschließen will und dass er sie kritisiert, weil sie nur Nachbildner von Schattenbildern seien, so findet sich bei ihm keine kategorische Verdammung der Lüge. Ganz im Gegenteil: Platon verdammt vor allem die „Lüge der Seele“, die in der heutigen Diktion dem Irrtum entspricht.2 Platon muss diese Metapher benützen, weil das antike Griechisch keine lexikalische Unterscheidung zwischen Lüge und Irrtum kennt, sondern den Begriff des pseudos für beide Bereiche verwendet. Und im Staat – wie übrigens auch in der Schrift, die sich ausschließlich mit Lüge und Irrtum beschäftigt, dem Hippias Minor –, verurteilt Platon vor allem den pseudos der Seele, das heißt den Irrtum, während der pseudos der Worte ihm weniger verurteilungswürdig erscheint. Im Staat gibt Platon den Politikern überdies sogar ausdrücklich das Recht zu lügen, denn die Lüge ist in den Händen des Herrschers ein pharmakon, ein Medikament, dessen er sich aus Gründen der Staatsraison bedienen kann und sogar muss. Für den einfachen Bürger hingegen gilt, dass ihm das Lügen verboten ist (Platon 1988b, 91).

Und auch in Bezug auf die Dichter ist Platon weit von einer generellen Verurteilung der Lüge entfernt. Er schließt die Dichter nicht etwa aus dem Staat aus, weil sie Geschichten erfinden, ganz im Gegenteil: Platon bezeichnet die Fiktionen der Dichter als förderlich, ja sogar notwendig, und erlaubt ihnen ausdrücklich die Schaffung von erfundenen Geschichten, wenn diese das Ziel verfolgen, die Seelen der jungen Menschen im Sinne des Staates zu formen, „ihre Seelen weit eindringlicher durch ihre Märchen als ihre Leiber durch die Hände bilden“ (Platon 1988b, 77). Kritisiert wird hingegen, dass Dichter häufig Geschichten erzählen, die gerade diese Funktion literarischer Lügen nicht erfüllen. Sie können nicht als Vorbild für die Jugend dienen, weil sie die Götter in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen oder gar deren Schwächen schonungslos darstellen. Wenn etwa geschildert werde, wie Chronos seine eignen Kinder verzehrt oder Zeus, getrieben von einem unbezähmbaren sexuellen Verlangen, die Form eines Sterblichen oder eines Stieres annimmt, um eine Frau zu entführen, sei dies dazu angetan, die moralischen Grundlagen des Staates zu erschüttern (Platon 1988b, 83-85). Die Beispiele belegen, dass Platon die Dichter eher aus pädagogischen Gründen aus dem Staat ausschließen will und nicht etwa, weil er die Schöpfung von Fiktionen oder aber die Lüge an und für sich verdammen würde.

Der Blick auf den Staat führt also zu einem dreifachen negativen Ergebnis. 1. Platon unterscheidet noch nicht streng zwischen Lüge und Irrtum. 2. Er verurteilt die „Lüge der Worte“ nicht kategorisch. 3. Er schließt die Dichter vor allem deshalb aus dem Staat aus, weil sie ein wenig schmeichelhaftes Bild von den Göttern zeichnen. Angesichts der Tatsache, dass Plato die moralische Bewertung der Lüge im Hippias Minor offen lässt, dass diese im Staat zumindest für den Herrscher sogar positiv ausfällt und dass die Dichter nicht aus dem Staat vertrieben werden, weil sie fiktive Geschichten, sondern weil sie staatsschädigende Geschichten erzählen, stellt sich die Frage, warum sich der Ausschluss der Dichter aus dem Staat wegen ihrer Lügen zu einem der wirkmächtigsten Topoi entwickeln und sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption von Literatur einen solchen Einfluss nehmen konnte.3 Denn wenn man den Lügenvorwurf gegen die Literatur aus der Perspektive einer Theorie der Lüge genauer betrachtet, muss er zunächst als völlig haltlos erscheinen.

Bei dem Versuch, eine angemessene Definition der Lüge zu skizzieren, ist es allerdings notwendig, sich von der historischen Hypothek ihrer kategorischen Verurteilung zu befreien, so wie sie von Augustinus begründet und von der abendländischen Theologie und Philosophie von Thomas von Aquin über Immanuel Kant bis zur katholischen Morallehre der Gegenwart vertreten wurde.4 Befreit man die Lüge vom ideologischen Ballast ihrer kategorischen Verurteilung, so ergibt sich eine moralisch neutrale Definition, die man als kleinsten gemeinsamen Nenner aller Lügendefinitionen bezeichnen könnte. Sie enthält die folgenden drei:

  1. Jede Lüge basiert auf einer Diskrepanz zwischen Meinung / Gefühl und Äußerung. Wenn jemand lügt, sagt er etwas Anderes als das, was er wirklich denkt oder empfindet.

  2. Diese Diskrepanz wird verdeckt.

  3. Sie dient zu weiterführenden Zwecken, die gleichfalls verborgen bleiben.5

Legt man diese Definition zugrunde, so folgt daraus, dass Literatur, oder genauer gesagt fiktionale Literatur im engen Sinne des Wortes der Lüge prinzipiell unfähig ist. Das erstgenannte Kriterium wird zwar erfüllt, denn literarische Fiktionen basieren auf einer Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung, da Autor und Erzähler ja vorgeben, an die Realität einer Geschichte zu glauben, von der sie wissen, dass sie sich so nicht in Wirklichkeit zugetragen hat. Das zweite Definitionsmerkmal hingegen trifft für fiktionale Texte nicht zu, denn diese Diskrepanz wird nicht verdeckt. Am anschaulichsten nachzuvollziehen ist dies bei Geschichten, die ihren eigenen Lügencharakter bereits im Titel offenlegen, so wie dies etwa bei den so genannten „Lügengeschichten“ angefangen bei Lukians Der Lügenfreund (2. Jhdt. n. Chr.) über Gottfried August Bürgers Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1786) bis hin zu Martin Walsers Lügengeschichten (1964) der Fall ist. All’ diese Texte liefern explizite Lügensignale. Doch selbst wenn solche Signale fehlen, kann von einer literarischen Lüge nicht die Rede sein, denn der literarische Fiktionspakt und die entsprechenden Fiktionssignale wie zum Beispiel die Einleitungsformel „Es war einmal …“ im Märchen, Gattungsbezeichnungen wie „Gedicht“ oder „Roman“ oder die Rampe im Theater signalisieren dem Rezipienten, dass es sich hier um Lügen handelt. Lügen aber, die sich selbst als solche präsentieren, sind keine mehr, sie heben sich auf.6 „Kunst behandelt also den Schein als Schein“, heißt es bei Friedrich Nietzsche, „will also gerade nicht täuschen, ist wahr.“ (Nietzsche 1869ff., 632f.; Hervorhebungen im Original gesperrt) Der letzte Teilsatz ist jedoch problematisch, denn eine Aussage wird nicht allein schon deshalb wahr, weil sie den eigenen Lügencharakter offenlegt. „Wahr“ ist eine Lüge, die sich selbst als solche offenlegt, nur in Bezug auf die Offenlegung der Lüge, die jedoch durch ihre Ankündigung in einem performativen Selbstwiderspruch wieder zurückgenommen und aufgehoben wird. Literatur kommt mithin apriori nur in Bezug auf das Vorliegen ihrer eigenen Fiktionalität, auf ihren eigenen „Lügencharakter“ Wahrhaftigkeit zu. Die Produktion und Rezeption von Literatur vollzieht sich im kommunikativen Rahmen eines „Paktes der Fiktion“, der alle drei literarischen Gattungen umfasst und eine „suspension of disbelief“ voraussetzt, also die freiwillige Außer-Kraft-Setzung des Misstrauens seitens des Lesers (Coleridge 1817, 6).7 Daher ist es auch kein Zufall, dass der erste große neuzeitliche Roman, Cervantes’ Don Quijote (1605/1615), einen Leser zum Helden hat, der alle literarischen Lügensignale missachtet und die erfundenen Geschichten und Figuren der Ritterromane so sehr für bare Münze nimmt, dass er versucht, die eigene Wirklichkeit in deren Sinn zu deuten und umzuinterpretieren. Offenbar waren die Regeln des literarischen Paktes bereits zu Cervantes’ Zeiten so fest etabliert, dass sich das Lesepublikum über den inkompetenten und zur Dekodierung von Fiktionssignalen unfähigen Leser Don Quijote lustig machen konnte.

Diese primäre Unfähigkeit der Literatur zu lügen wirft allerdings einige Fragen auf: Wenn Literatur selbst lügenfrei ist, wieso wird die Lüge dann so häufig von literarischen Werken thematisiert? Wenn Lügensignale und Fiktionspakt bereits im 16. Jahrhundert so fest etabliert waren, dass sich die Literatur selbst ganz offenkundig über ihre Fehldeutung lustig machen konnte, stellt sich die Frage, wieso der Lügenvorwurf gegen Literatur weiterhin so häufig erhoben wurde und warum sich nicht nur Leser, sondern auch Dichter und Theoretiker bemüßigt fühlen, darauf zu reagieren. Und eine weitere Frage schließt sich daran an: Kann dann überhaupt von einer spezifisch literarischen Lüge die Rede sein? Und wenn ja, welchen Beitrag kann ihre Untersuchung zu einer allgemeinen Theorie der Lüge leisten?8

Einer der Gründe für die Rede von der „Lüge der Literatur“ liegt darin, dass sie selbst oftmals als literarische Trope zu verstehen ist. Wenn in einigen Publikationen Literatur als Form der Lüge thematisiert wird, so gilt dies zumeist in einem metonymischen Sinne: Weil literarische Werke Lügner und Lügen auf der Ebene der Geschichte darstellen, wird von literarischer Lüge gesprochen. Wenn literarische Werke Lügner darstellen, wie dies etwa beim Pikaro, beim Baron Münchhausen, bei Pinocchio oder dem Hochstapler Felix Krull eindeutig der Fall ist, dann bedeutet dies keinesfalls, dass diese Werke selbst der Lüge fähig wären. Weil Collodi in seinem berühmten Kinderbuch eine Figur darstellt, die manchmal lügt, lügt das von ihm geschriebene Werk noch lange nicht.

Darüber hinaus beruhen zahlreiche Thesen von der Literatur als Lüge auf der Ausblendung der literarischen Lügensignale und damit auf einer Verwechslung von Lüge und Fiktion (s.o.). Der Lügencharakter wird in diesem Fall allein an der Tatsache festgemacht, dass literarische Werke Geschichten erfinden. Daher ist die Behauptung auch lediglich metaphorisch zu verstehen. Genau der gleiche Befund gilt im Übrigen auch für alle rhetorischen Figuren. Jemand, der sich einer rhetorischen Figur bedient, lügt offenkundig nicht, obwohl er etwas Anderes äußert als das, was er glaubt. Wenn jemand zum Beispiel sagt, er sei tausend Tode gestorben, so dient die Hyperbel gleichzeitig als Lügensignal, der rhetorische Code zeigt die Lüge an und hebt sie auf.9 Ist damit aber die Lüge durch und mit Literatur völlig ausgeschlossen? Statt diese Frage grundsätzlich zu beantworten, soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, eine differenzierte Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Lüge zu geben.

2. Die Lüge mit und in der Literatur

Da die Lüge eine besondere Form der Kommunikation ist, liegt es nahe, ihre Formen und Funktionen auf den unterschiedlichen Ebenen narrativer Kommunikation zu untersuchen und dazu das in der narratologischen Forschung übliche Modell heranzuziehen (Fieguth 1973).

2.1 Die Ebene externer Kommunikation zwischen realem Autor und realem Leser

Die sichtbarste und dem Alltagsverständnis wahrscheinlich am nächsten kommende Form einer literarischen Lüge liegt vor, wenn ein Autor in einem autobiographischen Werk Tatsachenbehauptungen aufstellt, die sich später als falsch erweisen. In diesem Fall belügt der reale Autor seinen nicht weniger realen Leser in einem normalsprachlichen Verständnis des Wortes. Der für die deutsche Literatur in dieser Hinsicht sicherlich spektakulärste Fall der jüngeren Zeit ist derjenige des Binjamin Wilkomirski und seiner autobiographischen Erzählung Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 (1995), die von seinen Erlebnissen im Konzentrationslager berichtet. 1998 wurde Wilkomirski dann von dem Schweizer Autor Daniel Ganzfried als das in der Schweiz geborene und von dem Ehepaar Dösseker adoptierte Waisenkind Bruno Grosjean enttarnt. In diesem wie in vergleichbaren Fällen liegt eine Lüge im allgemeinen Sinne des Wortes vor, da hier kein fiktionaler, sondern ein autobiographischer oder faktualer Pakt gegeben ist, bei dem Autor, Erzähler und Held identisch sind.10 In diesem Fall belügt der Autor und Erzähler seine realen Leser sowohl über seine wahre Identität als auch über die Ereignisse, die er als reale bzw. faktuale ausgibt, obwohl er weiß, dass sie fiktiv sind. Alle Bedingungen für das Vorliegen einer Lüge sind dadurch erfüllt: Eine verdeckte Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung dient weiterführenden Zwecken, wie etwa der Erregung von öffentlicher Aufmerksamkeit und dem Erwerb symbolischen Kapitals. Spezifisch literarisch im engeren Sinne ist eine solche Lüge allerdings nicht, denn sie betrifft alle Formen der Annahme falscher Tatsachenbehauptungen und angenommener Pseudoidentitäten.

Eine besondere, der Literatur scheinbar näher stehende Form der Lüge ergibt sich in Bezug auf das Zuschreibungsverhältnis zwischen Autor und Text. Wenn ein Autor kontrafaktisch und gegen besseres Wissen behauptet, der Verfasser eines Werkes zu sein, das in Wirklichkeit ein Anderer geschrieben hat, liegt gleichfalls eine Lüge im alltagssprachlichen Sinne vor. In Martin Suters Roman Lila, lila (2004) findet der Held ein Manuskript in der Schublade eines auf dem Flohmarkt erstandenen Möbelstücks und stimmt einer Veröffentlichung unter seinem Namen zu, um die Liebe einer Frau zu gewinnen. Auch wenn diese ohne das Zutun des „falschen“ Autors geschieht, handelt es sich doch um den gleichen Typ von Lüge. In Alberto Manguels Roman Todos los hombres son mentirosos (2008) veröffentlicht die Freundin des Protagonisten Alejandro Bevilacqua unter dessen Namen einen Roman mit dem Titel Elogio de la mentira, den in Wirklichkeit dessen Zellengenosse im Gefängnis geschrieben hat. In die gleiche Kategorie fällt auch der dazu konträre Fall, das heißt, wenn ein Autor einen eigenen Text unter einem Pseudonym veröffentlicht und diesem Namen aber – um die Täuschung der literarischen Welt perfekt zu machen – noch einer real existierenden Person zuordnet, so wie dies Romain Gary mit dem von ihm geschaffenen Autor Émile Ajar getan hat (Bona 1987, 269ff.). Der vielleicht spektakulärste Fall der neueren deutschen Literaturgeschichte ist derjenige von Helene Hegemanns von der Kritik hochgelobtem Erstroman Axolotl Roadkill (2010). Der Blogger Deef Pirmasens wies nach, dass Hegemann nicht nur Geschichten und Erfahrungen, sondern auch wortwörtlich aus dem Roman Strobo (2009) von Airen abgeschrieben hat. In diesem Fall liegt sicherlich eine Form von Lüge vor, die mit Literatur zu tun hat, doch ist auch sie nicht spezifisch literarisch, denn es handelt sich in diesem Fall eher um eine juristische Problematik als um eine literarische Lüge im engeren Sinne.11

Allerdings ist in der letzten Zeit ein neuer Typ des Plagiatvorwurfs aufgetreten, der eher literarischer Natur ist. Zwei französische Schriftstellerinnen, Marie NDiaye und Camille Laurens haben unabhängig voneinander gegen ihre Kollegin Marie Darieussecq den Vorwurf erhoben, sich ihrer besonderen fiktiven Welten (NDiaye) oder ihrer eigenen Erlebnisse (Laurens) bedient zu haben, um ihre Romane zu verfassen (Darieussecq 2010). Es handelt sich bei diesen Vorwürfen wohlgemerkt nicht mehr um eine Verletzung des Urheberrechts oder um Diebstahl geistigen Eigentums im konkreten Sinne des Wortes, sondern um eine besondere Form der „literarischen Lüge“, die in das Ressort der Ästhetik fällt. Denn weder NDiaye noch Laurens wollten Darieussecq ein Plagiat im juristischen Sinne des Wortes unterstellen. Die Tatsache, dass sie ihren Text selbst verfasst hat, wurde nie in Zweifel gezogen. Vielmehr warf Marie NDiaye ihrer Kollegin vor, für den Roman Naissance des fantômes (1998) ihr fiktives Universum genutzt zu haben, während Camille Laurens der Autorin vorhielt, für ihr Buch Tom est mort (2007), das von ihr in der Erzählung Philippe (1995) verarbeitete Erlebnis des Todes ihres eigenen Kindes benützt zu haben. Dieser Vorwurf bewegt sich im Grenzgebiet zwischen dem System des Rechts und dem der Ästhetik: Auf der einen Seite steht natürlich der Vorwurf, sich des geistigen Eigentums der beiden Autorinnen bedient zu haben, aber entscheidender und einschlägiger in diesem Kontext ist die Kritik, die fiktive Welt nicht selbst hervorgebracht, sondern von anderen Autoren kopiert zu haben (NDiaye) und fremde, literarisch bereits von anderen bearbeitete Erlebnisse (Laurens) zu übernehmen, um die eigenen Romane zu schreiben. Hier handelt es sich offenkundig weniger um einen Verstoß gegen das Urheberrecht als um eine Missachtung des Authentizitäts- und Originalitätsgebot der modernen Ästhetik.

Gleichfalls ursprünglich unter Lügenverdacht stehen zwei neuere Gattungen, die sich auf der Schwelle zwischen faktualem und fiktionalen Diskurs befinden. Es geht um die Gattungen der Autofiktion und der Dokufiktion, in denen sich reale und erfundene Ereignisse mischen.12 Allerdings weicht die literarische Dokufiktion im Prinzip nicht sehr stark von der Grundkonstellation der fiktionalen Literatur ab, denn auch diese mischt bekanntlich faktuale und fiktionale Elemente. In Stendhals Roman La Chartreuse de Parme (1839) kommen auch real existierende Figuren wie Napoléon und auch reale Ereignisse wie die Schlacht von Waterloo vor, die Handlung von Gustave Flauberts Roman Madame Bovary (1856) spielt zum Teil in der realen Stadt Rouen. Und in der Tat ist das tatsächliche Unterscheidungskriterium zwischen faktualem und fiktionalem Pakt nicht die Fiktivität der erzählten Ereignisse, sondern die Fiktionalität der Aussageinstanz. Daher impliziert die Dokufiktion mit ihrer Einflechtung von fiktionalen Ereignissen und Figuren auch immer eine Umdeutung des ontologischen Status’ der Aussageinstanz des Autors, der im gleichen Atemzug wie die erfundenen Orte, Figuren und Ereignisse derealisiert wird. Insofern zieht jede Dokufiktion strenggenommen gleichzeitig eine Modifikation des ontologischen Status’ nicht nur der Orte, Figuren und Ereignisse, also der Objekte der Aussage, sondern auch des Subjekts des Aussagens, also des Autors bzw. Erzählers nach sich. Der Unterschied zwischen Doku- und Autofiktion ist daher auch kein ontologischer, sondern betrifft lediglich eine Verlagerung des Akzents, je nachdem ob eher die Objekte der Aussage, also die Orte, Ereignisse oder Figuren im Zentrum des Interesses liegen oder aber deren Subjekt. Die Geburtsurkunde der Autofiktion ist zweifelsohne ein Text von Serge Doubrovsky mit dem Titel Fils (1977), der zwischen faktualem und fiktionalem Pakt changiert. Im Fall von Alain Robbe-Grillets Erzählung Le Miroir qui revient (1981) sind wir mit einem ähnlichen Phänomen konfrontiert. Auch hier muss der Leser von einem autobiographischen und das heißt faktualem Pakt ausgehen, denn Autor, Erzähler und Held tragen den gleichen Namen. Erzählt werden Erlebnisse aus der eigenen Jugendzeit und aus der Epoche, als Robbe-Grillet bereits der bekannte literarische Autor des nouveau roman ist. In diesen faktualen Text werden allerdings Erzählungen eingeflochten, wie zum Beispiel die Geschichten des Grafen Henri de Corinthe, die nicht den gleichen faktualen Status haben und deren fiktionaler Charakter durch einige literarische Stilisierungen angedeutet wird. Nur wenn diese Geschichten vom Leser im Rahmen eines autobiographischen Paktes verstanden würden, läge eine Lüge vor.13

2.2 Lügen und Lügner auf der Ebene interner Kommunikation

Ebenso sichtbar wie auf der Ebene der Kommunikation zwischen Autor und Leser ist die Lüge auf der Ebene der internen Kommunikation zwischen den Figuren. Und in der Tat zeigt ein flüchtiger Blick auf die Literaturgeschichte, dass es hier geradezu von Lügnern wimmelt. Dies belegen eine ganze Reihe berühmter Lügenfiguren, die von der Antike in die Gegenwart reichen. In der Bibel wird die Dynastie der Lügner von Adam und Eva begründet, verläuft über Kain, Jakob, die hebräischen Hebammen bis hin zu Judas und Simon Petrus. Selbst Jesus belügt seine Brüder beim Laubhüttenfest und auch Gott schickt dem König Ahab einen Lügengeist, um ihn zu einer Schlacht zu verleiten, von der er weiß, dass Ahab sie verlieren wird (vgl. Mecke 2014). Auch in zwei weiteren Kardinaltexten der Antike, in Homers Ilias und der Odyssee tummeln sich Lügner, Täuscher und Betrüger. Dabei ist die Bewertung der Lüge keineswegs immer negativ. Die Griechen nehmen Troja ja bekanntlich nicht im Kampf ein, sondern durch die List des Trojanischen Pferdes. In der Odyssee wird der Lügner und Täuscher Odysseus, dessen Unwahrhaftigkeit den ganzen Abscheu seines Mitkämpfers Achilles hervorruft, gar von Pallas Athene für seine Lügen gelobt (Bettetini 2003, 70). Die Reihe renommierter literarischer Lügner lässt sich beliebig fortsetzen, in der Renaissance und im Barock mit dem spanischen Pikaro, der sich der Lügen – wie im Lazarillo de Tormes (1554) – aus schlichter Notwendigkeit bedient oder aber – wie in Quevedos Buscón (1626) – als Mittel, die eigene Ingeniösität zu demonstrieren; sie geht weiter mit Alarcóns La verdad sospechosa (1624), einem Stück über einen notorischen Lügner, das Corneille später unter dem Titel Le Menteur (1644) für die französische Klassik neu bearbeitet hat, im 18. Jahrhundert mit Rudolf Erich Raspes (1785) und Gottfried August Bürgers Erzählungen des Barons Münchhausen (1786), im 19. Jahrhundert mit Collodis Le avventure di Pinocchio (1883) als Demonstrationsobjekt einer pädagogisch motivierten Verurteilung der Lüge, oder im 20. Jahrhundert mit Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1922-1954), mit Nathalie Sarrautes Hörspiel Le Mensonge (1967) oder der Serie der Romanesques (z.B. Le miroir qui revient, 1985) von Alain Robbe-Grillet, mit Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner (1969) oder Stephen Frys The Liar (1991), einem Roman, in dem Lüge zum reizvollen postmodernen Spiel wird, das in einer monotonen Welt Sinn und Bedeutung simuliert. Die wenigen genannten Beispiele aus einer Fülle von Texten zeigen, dass Lügner in der Literatur ein reiches Anschauungsmaterial für das Studium der Lüge bieten.

In diesem Zusammenhang ist Frage interessant, warum Lügner und Lügen eine so große Faszination auf Literatur ausüben. Ein Grund für die Attraktivität der Lüge liegt in der prinzipiellen und primären Lügenfreiheit der Literatur. Dadurch, dass Fiktionspakt und Lügensignale die Lüge aufheben, verhält sich Literatur gegenüber der Lüge neutral und wird zu einem idealen Medium zu ihrer Untersuchung. Ein weiteres Motiv liegt in den ungeachtet ihrer Lügenfreiheit häufig gegen Literatur geäußerten Lügenvorwürfen. Da Wahrhaftigkeitsbeschwörungen ebenso wie Dementis den Verdacht, den sie eigentlich zerstreuen sollten, eher noch verstärken, bleibt als Möglichkeit der Behauptung eigener Wahrhaftigkeit nur die Etablierung einer Differenz zu Lügnern und Lügen. Indem Literatur Lügner als Objekt ihrer Aussage thematisiert, kann sie sich selbst als Aussagesubjekt von der Lüge und vom Lügenvorwurf distanzieren und dadurch als wahrhaftig darstellen. Darüber hinaus gibt es jedoch einen zweiten Grund für die wechselseitige Attraktion von Literatur und Lüge, der eng mit den Möglichkeiten der Literatur zusammenhängt. Symptomatisch für diesen Grund ist die Tatsache, dass nicht der notorische Lügner und Täuscher Odysseus und auch nicht der Lügenbaron Münchhausen, sondern ausgerechnet Pinocchio das universell gültige Ikon für die Lüge und den Lügner bildet. Dass dem so ist, muss jeden unvoreingenommenen Leser des Buches von Collodi überraschen, denn obwohl Pinocchio keinen Jungenstreich auslässt, ist er weit davon entfernt, ein notorischer Lügner zu sein. In Wahrheit lügt er nur äußerst selten und eigentlich immer nur, um seine Freunde und sich selbst zu schützen.14 Seine Funktion als universelles Symbol des Lügners hängt nicht mit der Frequenz seiner Lügen zusammen, sondern vor allem damit, dass sein Name untrennbar mit einer zentralen Irritation verknüpft ist, welche die Lüge als semiotisches Phänomen hervorruft. Denn im Unterschied zu anderen Kommunikationsformen stellt sie ein semiotisches Phänomen dar, das alle Anzeichen für sein eigenes Vorliegen tilgt. Daraus ergibt sich eine doppelte Konsequenz: Der Lügner muss alles tun, um die Diskrepanz zwischen seiner Meinung und seiner Äußerung zu verdecken, während der Rezipient mit dem dazu komplementären Problem konfrontiert ist, Zeichen für das Vorliegen von etwas entdecken zu müssen, für das es im Erfolgsfall des Lügners keinerlei Zeichen gibt. Diese semiotische Anomalie liefert eine Erklärung für die von der Lüge ausgeübte Faszination und für die intensive Suche nach untrüglichen Hinweisen, welche Lüge und Lügner verraten. Aus dieser Perspektive sind der moderne Lügendetektor oder der Erfolg von Fernsehserien wie Lie to me nichts Anderes als moderne Manifestationen des uralten Menschheitstraumes, über untrügliche Anzeichen für das Vorliegen der Lüge zu verfügen. Pinocchios länger werdende Nase ist lediglich deren wirkmächtigstes Symbol.

Damit ergibt sich allerdings ein weiterer Zusammenhang zwischen Lüge und Literatur. Denn durch die mit ihr gegebene Möglichkeit, durch Fokalisation, Erzählperspektive, inneren Monolog und stream of consciousness das Bewusstsein unterschiedlicher Figuren darzustellen, mit deren kommunikativen Äußerungen zu konfrontieren und die Diskrepanz zwischen beiden aufzudecken, erlaubt Literatur eine im Alltag niemals mögliche untrügliche Erkenntnis der Lüge. Aufbauend auf dieser sicheren Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Lüge bietet Literatur die Möglichkeit zur Untersuchung ihrer verschiedenen Formen, Funktionen und Strukturen. Nicht nur dank ihrer Lügenfreiheit und ihrer langen Geschichte, sondern auch aufgrund ihrer Gestaltungsmöglichkeiten liefert Literatur daher auch das reichhaltigste Anschauungsmaterial zur Lüge, reichhaltiger als alle Medien vor und nach ihr.

Von der Frage nach den spezifischen Darstellungsformen der Lüge ist allerdings die Frage zu unterscheiden, ob auch Literatur selbst befähigt ist zu lügen, das heißt ob es neben der literarischen Darstellung der Lüge auch eine Lüge der literarischen Darstellung gibt.

2.3 Unzuverlässige Erzähler

Bisher haben wir neben dem äußeren lediglich das innere Kommunikationssystem von Erzählungen betrachtet. Auf der äußeren Kommunikationsebene zwischen realem Autor und realem Leser kann die Literatur als Mittel der Lüge dienen, etwa um den Leser entweder über die Faktualität der berichteten Ereignisse oder aber über das literarische Werk als Produkt des Autors zu täuschen. Es geht hier um eine Lüge „mit der“ Literatur. Auf der inneren Kommunikationsebene, das heißt der Ebene der Handlung und der Figuren, haben Lügner und Lügen hingegen den Status eines Objektes der Darstellung inne. In diesem Fall handelt es sich um eine Lüge ‚in der‘ Literatur. Im Folgenden soll es jedoch um die Frage gehen, ob Literatur selbst in der Lage ist zu lügen, es geht um Literatur selbst ‚als‘ Lüge. Um diese Frage zu klären, bietet es sich an, sich zunächst mit derjenigen Ebene zu beschäftigen, die das Spezifikum der erzählenden Literatur ausmacht, das heißt mit der Vermittlungsinstanz zwischen innerer und äußerer Kommunikation.

Dabei spielen Erzählerfiguren natürlich eine herausragende Rolle. Seit
Wayne C. Booths Überlegungen in The Rhetoric of Fiction (1961) wird der Lügner als eine Sonderform des unzuverlässigen Erzählers betrachtet. Dieser Begriff umfasst natürlich mehr als nur Lügner, da Erzähler, wie etwa Benjy in The Sound and the Fury (1929) von William Faulkner, geistig behindert sein, unter Erinnerungsverlust oder Wahrnehmungsstörungen leiden können. Booths klassische Definition lautet: „I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say the implied author’s norms), unreliable when he does not.“ (Booth 1961, 158f.). Diese lange Zeit widerspruchslos von der Narratologie übernommene Definition wirft allerdings einige Probleme auf: Zunächst wird Unzuverlässigkeit im Prinzip als eine defizitäre, moralisch und ästhetisch zu verurteilende Kommunikationsform betrachtet.15 Überdies bleibt das unzuverlässige Erzählen meist auf homodiegetische oder aber sich als Person durch Wertungen konstituierende heterodiegetische Erzählerfiguren beschränkt. Zusätzlich wird die Unzuverlässigkeit an der Figur eines impliziten Autors als Garant der Normen des Werkes gemessen. Aus der Perspektive der oben entwickelten Definition der Lüge müsste diese Definition in zweierlei Hinsicht modifiziert werden: Im Sinne einer moralisch neutralen und wertfreien Betrachtung der Lüge – der Wert der Wissenschaft ist bekanntlich gerade ihre Wertfreiheit – sollte eine Theorie des unzuverlässigen Erzählens von Werturteilen befreit werden. Darüber hinaus ist die oben skizzierte Theorie der Lüge nicht an eine Person gebunden. Die in der Definition gewählten Formulierungen sind bewusst neutral gewählt, um auch andere Formen der Lüge mit erfassen zu können wie zum Beispiel die von Walter Benjamin in seinen Fragmenten skizzierte „objektive Verlogenheit“, bei der der Lügner im guten Glauben, wahrhaftig zu sein dennoch lügt (Benjamin 1985). Daher sollte die Theorie nicht auf einen sich als Figur konstituierenden Erzähler beschränkt bleiben. Vielmehr soll der Versuch gemacht werden, die Frage der Unzuverlässigkeit des Erzählens von der Figur des Erzählers zu lösen und auch Formen von narrativer Unzuverlässigkeit berücksichtigen, die nicht an eine persönliche Erzählerfigur gebunden ist.

Aus der Perspektive einer wertfreien Theorie der Lüge sind daher neuere theoretische Ansätze zum unzuverlässigen Erzählen besonders interessant. So lässt sich der unzuverlässige Erzähler als Erzählinstanz begreifen, deren Perspektive im Widerspruch zum Normensystem des Gesamttextes steht. Ansgar Nünning hat auf dieser Basis eine Neukonzeptualisierung des unzuverlässigen Erzählers im Rahmen der frame theory vorgelegt, die neben den textinternen Normen auch den kontextuellen Bezugsrahmen, die kulturellen Schemata und das Vorwissen bzw. Weltwissen des Rezipienten berücksichtigt. Der unreliable narrator erscheint im Lichte dieser Theorie als Konstruktion, die es dem Leser erlaubt, Widersprüche innerhalb des Textes und zwischen der fiktiven Welt des Textes und seinem eigenen Wirklichkeitsmodell aufzulösen. Textliche Inkonsistenzen werden nach diesem Modell dadurch aufgelöst, dass sie der Unzuverlässigkeit des Erzählers zugeschrieben werden (Nünning 1998). Dieser theoretische Rahmen bietet zusätzlich den Vorteil, dass die Identifizierung eines unzuverlässigen Erzählers nicht mehr intuitiv, sondern anhand konkreter Textsignale erkannt werden kann.16 Zunächst soll der unzuverlässige homodiegetische Erzähler anhand des Lazarillo de Tormes untersucht werden.

2.3.1 Der homodiegetische Erzähler als Lügner

Die Figurenkonzeption des Pikaro als eines aus der unteren Gesellschaftsschicht stammenden Dieners vieler Herren eignet sich besonders gut zur Darstellung und Kritik gesellschaftlicher Lügen. So durchläuft Lazarillo in seinem Werdegang einen Großteil der spanischen Gesellschaft und ist dort mit zahlreichen Formen der Lüge konfrontiert. Als Sohn eines Müllers, lernt er die Betrügereien seines Vaters kennen, als Diener eines Blinden wird er mit Verstellung Betrug und Diebstahl bekannt, bei einem Priester mit der Scheinheiligkeit, bei einem verarmten Adligen mit gesellschaftlicher Maskerade. Nach vielen weiteren Stationen erhält Lazarillo schließlich im letzten Kapitel auf Betreiben des Arcipreste von San Salvador in Toledo eine Stelle als „pregonero“, als Ausrufer, die ihm einen einträglichen Lebensunterhalt verschafft. Lázaro heiratet die Haushälterin des Priesters. Allerdings zahlt er für Auskommen und Ehe einen hohen Preis, denn der Erzpriester hat Anstellung und Heirat nur ermöglicht, um sein Verhältnis mit seiner Haushälterin ungestört weiterführen zu können.

In allen Episoden werden die Täuschungen, Verstellungen, Betrügereien und Lügen der Gesellschaft aus der Perspektive des Protagonisten geschildert. Dabei sorgt insbesondere die Naivität des jungen Lazarillo für einen neutralen, unvoreingenommenen Blick, der in der Lage ist, die jeweiligen Täuschungen und Lügen zu erkennen und zu beschreiben. Wenn Kinder und Narren die Wahrheit sprechen, dann ist die Außenseiterfigur des Pikaro ein Garant der Wahrhaftigkeit in Bezug auf die Lügen der Gesellschaft. Damit lässt es der Roman allerdings längst nicht bewenden, denn Lazarillo selbst geht bei den Lügnern, denen er dient, in die Lehre und erlernt dort selbst die Kunst des Lügens. Beim Blinden lernt er die Täuschung, beim Priester die List und beim verarmten Adligen die Verstellung kennen und selbst praktizieren. Als er schließlich die Stellung eines Ausrufers in Toledo erhält, sucht er nicht nur die Öffentlichkeit über die ménage à trois zwischen dem Erzpriester, seiner eigenen Frau und ihm zu täuschen, sondern auch den Leser. Die Lüge wechselt damit von der Handlung zur Geschichte, von der inneren zur vermittelnden Kommunikationsebene.

Damit zeichnet sich im Verhältnis zwischen Lüge und Literatur eine kopernikanische Wende ab. Literatur erzählt nicht mehr nur von der Lüge, sondern sie wird selbst zur Lüge befähigt. Die Lüge, bisher lediglich Objekt einer – wie oben gezeigt – im Prinzip lügenfreien Erzählung, wird zu deren Subjekt oder Aussageinstanz. In der Terminologie der Narratologie formuliert heißt dies, dass die Lüge sich von der Ebene der Makrostruktur, d.h. also von der erzählten Geschichte, der Struktur der Handlung und der Konstellation der Figuren auf die Ebene der narrativen Diskursstruktur selbst übertragen hat, sie wandert vom Signifikat der Erzählung zum Signifikanten, von der Literatur über Lügner und Lügen zu einer lügenhaften Literatur.17

Wenn allerdings Lázaro als Erzähler im Roman als Lügner denunziert wird, seine Lügen also signalisiert werden, würden die Lügen des Erzählers dadurch aufgehoben und wären als solche nicht mehr wirksam. Liegt in diesem Fall daher doch keine Lüge vor? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick auf das Vorwort des Romans zu werfen.

Auf den ersten Blick scheint der Prólogo in geradezu klassischer Weise nach rhetorischen Prinzipien konstruiert und mit einer ganzen Reihe literarischer Topoi durchsetzt zu sein.18 Die großspurige Ankündigung des Erzählers von „cosas tan señaladas, y por ventura nunca oídas ni vistas“, also von unerhörten und nie gesehenen Dingen, (Lazarillo, 3)19 gleich in den ersten Zeilen des Textes dient offenkundig als exordium, das in marktschreierischer Weise die Aufmerksamkeit und das Interesse des Lesers erringen soll. Mit einer Anspielung auf das horazsche prodesse aut delectare (Lazarillo, 4) legt der Text im Anschluss daran zwei Lektürearten nahe: Er richtet sich ebenso an Leser, die ihr Verständnis vertiefen wollen, wie an solche, die einfach um des Vergnügens willen lesen („a los que no ahondaren, tanto los deleite“ (Lazarillo, 4). In einer argumentatio werden diese beiden Rezeptionsmöglichkeiten dann mit dem Topos der Verschiedenartigkeit des menschlichen Geschmacks begründet („Los gustos no son todos unos“; Lazarillo, 4), die dazu führe, dass man aus jeder Sache Nutzen ziehen könne. Schließlich geht der Verfasser mit einem weiteren Topos zu den Motiven des Schreibens über: Die von Cicero als propositio übernommene Sentenz „La honra cría las artes“ („Das Streben nach Ehre schafft die Künste“; Lazarillo, 6) wird durch die exempla eines Soldaten, eines Predigers und eines Turnierkämpfers belegt, die alle um der Ehre und des Ansehens willen Heldentaten vollbringen (Lazarillo, 6-8). Die Exempla münden in eine captatio benevelontiae, denn Lázaro präsentiert sein Werk bescheiden als eine in grobem Stil verfasste Nichtigkeit („esta nonada que en este grosero estilo escribo“; Lazarillo, 8f.). Lázaro endet mit einer Begründung des Aufbaus seines Lebensberichtes und macht die gesellschaftskritische Moral seines Buches explizit: Die Reichen und Edlen, die ihre gesellschaftliche Stellung allein ihrer Herkunft verdanken, sollen sehen, dass sie sich selbst viel weniger verdanken („cuán poco se les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial“; Lazarillo, 11) als die Menschen niedriger Herkunft, die schließlich aus eigener Kraft im Hafen des Glücks gelandet sind („y cuánto más hicieron los que [la fortuna, J.M.] siéndoles contraria, con fuerza y maña remando, salieron a buen puerto“; Lazarillo, 11). Damit formuliert das Vorwort eine klar geäußerte gesellschaftskritische Stellungnahme.

Was allerdings auf den ersten Blick als wohlgeordneter und zielstrebig argumentierender Diskurs erscheint, der in einer klaren Moral der Umwertung herrschender Werte kulminiert, weist eine ganze Reihe von Ungereimtheiten und Widersprüchen auf, die zutage treten, wenn der Leser die im Text selbst formulierte Leseform der Vertiefung, des „ahondar“ praktiziert. Zunächst fallen einige Polysemien auf, die der bei der ersten Lektüre konstituierten Bedeutung widersprechen: Denn „señaladas“ bedeutet nicht nur „bemerkenswert“, sondern darüber hinaus auch „gebrandmarkt“ oder „kritisiert“, eine Variante, die auch das „por ventura“ der zweiten Zeile mit einer Zusatzbedeutung im Sinne von „afortunadamente“ versieht, die der ersten („por casualidad“, „quizá“) widerspricht: Diese zweite durch Isotopien konstituierte Bedeutungsebene der Einleitung würde also darauf hinauslaufen, dass die so sehr kritisierten Vorgänge bisher glücklicherweise nicht bekannt geworden sind, eine Bedeutung, die der Anpreisung der eigenen Geschichte zwar zuwiderläuft, die jedoch durchaus plausibel erscheint, wenn man bedenkt, dass Lázaro tatsächlich nichts Positives, sondern eher unehrenhafte Dinge über seine Person zu berichten weiß. Desgleichen unterminiert die Ergänzung des „nunca oídas“, also des „Unerhörten“ durch „ni vistas“, also das „nie Gesehene“, die sich mit der autobiographischen Perspektive verbindende Behauptung der Wahrhaftigkeit der Geschichte. Was zunächst wie eine bloße marktschreierische Werbeveranstaltung für den eigenen Text aussieht, läuft auf die Unterminierung des eigenen Anspruchs hinaus. Denn möglicherweise berichtet Lázaro Dinge, die er tatsächlich selbst weder gehört noch gesehen und damit auch nicht erlebt hat. Damit greift der Erzähler implizit den Vorwurf der platonischen Vulgata wieder auf, dass die Dichter lügen würden, weil sie erfundene Geschichten erzählen. Allerdings liegt der Fall des Lazarillo etwas anders, denn er äußert diesen Vorwurf innerhalb eines an sich „lügenfreien“ literarischen Systems. Es wäre also eine Lüge innerhalb der im Prinzip lügenfreien literarischen Kommunikation und damit eine literarische Lüge oder eine Lüge zweiten Grades. Auch der horazsche Topos des „prodesse aut delectare“ wird einer textuellen Subversion unterzogen, denn „agradar“ (gefallen) und „deleitar“ (ergötzen) sind offensichtlich Synonyme. Dadurch wird der Nutzen relativiert, den ein an der Vertiefung seines Verständnisses interessierter Leser aus der Lektüre ziehen könnte. Mit dem folgenden Plinius-Zitat „Que no hay libro, por malo que sea, que no tenga alguna cosa buena“ („Kein Buch ist so schlecht, als das man aus ihm nicht irgendeinen Nutzen ziehen kann“; Lazarillo, 4) wird der bereits vorher relativierte Anspruch gänzlich ad absurdum geführt. Der Verfasser des Vorwortes übernimmt lediglich die Form des Ausspruchs von Horaz, höhlt sie aber durch seine Aussage aus. Ebenso geht er mit Ciceros Sentenz „La honra cria las artes“ (Lazarillo, 6) um. Denn bei näherer Betrachtung bestätigen die in Form einer Klimax angeordneten Exempla nicht die These, die Ehre bringe die Kunst hervor, sondern unterminieren sie. Mag das Beispiel eines Soldaten, der sein Leben um der Ehre und des Ruhmes willen aufs Spiel setzt, noch als treffende Illustration gelten (Lazarillo, 6), so erhält der Begriff der Ehre bereits im Beispiel eines scheinbar vor allem um das Wohl der Gemeinde besorgten Predigers, der möglicherweise mehr auf Ansehen und Applaus aus ist, als es ihm geziemt, einen negativen Beigeschmack (Lazarillo, 7), bevor er dann im Beispiel eines schlecht kämpfenden Ritters, der auf Schmeicheleien seines Knappen hereinfällt, dem er sein Kettenhemd gibt, weil er ihn trotz seiner schlechten Leistung lobt, er habe eine gute Lanze geführt, endgültig als Ursache von Selbsttäuschungen entlarvt wird: „Justó muy ruinmente el señor Don Fulano y dio el sayete de armas al truhán porque le loaba de haber llevado muy buenas lanzas; ¿qué hiciera si fuera verdad?“ (Lazarillo, 8).

In einer für den Lazarillo de Tormes charakteristischen, reflexiven Figur wendet sich nun die Kritik, die Lázaro am Ehrbegriff der spanischen Gesellschaft geübt hat, gegen ihn selbst und das Motiv seines eigenen Schreibens:

Y todo va de esta manera; que confesando yo no ser más sancto que mis vecinos desta nonada, que en este grosero estilo escribo, no me pesará que hayan parte y se huelguen con ello todos los que en ella algún gusto hallaren, y vean que vive un hombre con tantas fortunas, peligros y adversidades. (Lazarillo, 9)20

Halten wir die Ergebnisse aus der Perspektive der Lügentheorie fest: Offenbar vertritt der Text eine gegen Ende explizit geäußerte Meinung, die für die Außenseiter und Unterdrückten der Gesellschaft Stellung bezieht und eine nicht minder radikale Gesellschaftskritik formuliert. Dieser Stellungnahme läuft aber die Art und Weise zuwider, in der sie geäußert wird. Fast alle Thesen, die der Erzähler aufstellt, dass nämlich seine Geschichte wahr und unerhört sei, dass sein Buch geeignet sei, literarischen Ruhm zu erwerben etc. werden durch seine Äußerungen unterminiert. Im Lazarillo wird diese Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung allerdings nicht in einer offenen und klaren Form angezeigt. Vielmehr bleibt sie verdeckt durch die besondere Form der Ambiguitäten und Doppeldeutigkeiten. Ein verständiger Leser kann diese kunstvolle Verdeckung allerdings aufheben, indem er der an der Oberfläche geäußerten Meinung nicht auf den Leim geht, sondern sich genauer mit der literarischen Form der Äußerung beschäftigt. In diesem Fall macht der Leser aber genau das, was Menschen auch im Alltag tun, wenn sie den Verdacht hegen, belogen zu werden. Das Vorwort des Lazarillo nimmt damit jedoch einen eigentümlichen Doppelstatus ein: Es verdeckt die aufgezeigten Diskrepanzen und gibt gleichzeitig – ebenfalls in verdeckter, kodierter Form – Hinweise auf sie. Der Text des Lazarillo präsentiert sich damit wie die Bauerstochter aus dem Märchen, die nicht nackt und nicht bekleidet ist. Beim Leser wird dadurch eine der Kaschierung der Diskrepanzen komplementäre Haltung erzeugt, er bemüht sich darum, die literarischen Verdeckungen aufzudecken. Auf diese Weise wird mit den Mitteln der Erzählung eine spezifisch literarische Form der Lüge erzeugt.

2.3.2 Der kommunikative Rahmen der Vermittlungsebene

Wir können aus dem Beispiel des Lazarillo de Tormes allerdings noch eine zweite Schlussfolgerung ziehen. Lazarillo gehört offenkundig genau zu jener Kategorie von Figuren, die Michel Foucault als „hommes infâmes“, also als Menschen ohne Fama, ohne Geschichte und ohne Ruhm bezeichnet hat (Foucault 1977). Aus dieser Perspektive kann man die Radikalität des Ansatzes der novela picaresca gar nicht hoch genug einschätzen. Das, was bisher aus der Literatur ausgeschlossen war, wird nun zu ihrem Gegenstand und dazu noch aus der Perspektive des Helden selbst. Berücksichtigt man die soziale Stellung des Pikaro, so trifft der Roman eine zentrale Aussage über eine wichtige soziale Funktion der Lüge. Denn wie das Vorwort deutlich macht, ist die Erzählung des Lázaro die Antwort auf eine – scheinheilige und hinterhältige – Anfrage eines hohen Herren, von dem sich am Schluss des Romans herausstellt, dass er ein Freund genau desjenigen Erzpriesters ist, der für die ménage à trois verantwortlich ist, durch die der Held zwar sein Auskommen gesichert, seine Ehre aber verloren hat. In dieser Situation bedeutet die Aufforderung der mit „Vuestra Merced“ (Euer Gnaden, J.M.) angeredeten hochgestellten Persönlichkeit ein klassisches Double-Bind, eine in sich widersprüchliche, paradoxe Aufforderung an den Erzähler: Er soll sich rechtfertigen, ohne jedoch eine Möglichkeit dazu zu haben. Denn in seinem Fall bedeutet jede Rechtfertigung eine Anklage der mächtigen hohen Herren, die für seine Situation verantwortlich sind. So sind die Lügen des Erzählers genauso wie die des mit ihm identischen Helden der einzige Ausweg aus einer an sich ausweglosen Situation. Damit lassen sich aus der Analyse des Erzählers als Lügner im Lazarillo Schlussfolgerungen nicht nur über die literarische Form, sondern auch über die gesellschaftliche Funktion der Lüge ableiten, die über den Roman und seine Epoche hinausgehen.

2.3.3 Die Lüge als Macht der Schwachen und Anti-Moral der Beherrschten

Im Lazarillo de Tormes erscheint die Lüge als legitimes Mittel der Unterdrückten und Schwachen, sich gegen die Zumutungen der Herrschenden und Mächtigen zu schützen und zu wehren. Diese Schlussfolgerung hat jedoch für die Theorie der Lüge Konsequenzen, die sich mit Hilfe von Nietzsches Genealogie der Moral auf den Begriff bringen lassen. Nietzsche unternimmt in der Genealogie bekanntlich den Versuch, die Herkunft, die Bedingungen, Umstände und Funktionen von Werten zu untersuchen:

Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist (Nietzsche 1887, X)

Nietzsche unterscheidet in der Folge zwischen einer Herren- und einer Sklaven-Moral. Die Herren-Moral besteht aus den Werten einer herrschenden Klasse, die ihre eigenen Normen als gut im Sinne von „edel“, „vornehm“, „mächtig“ definiert, während die Werte der unterprivilegierten als „schlecht“ im Sinne von „schlicht“, „(all)gemein“, „unvornehm“ abqualifiziert werden (Nietzsche 1887, 3ff., 6, 12, passim). Ganz im Gegensatz dazu steht die „Sklaven-Moral“ als das Wertesystem der Unterprivilegierten, deren Werte aus dem Ressentiment gegen die als „Böse“ definierten Werte der Herrenklasse entstanden sind (Nietzsche 1887, 21, passim). Auf dieser Basis erklärt sich etwa die aus Werten wie Mitleid, Caritas und Nächstenliebe bestehende Moral des Christentums als typische Moral der Unterlegenen. Wendet man die Prinzipien der Genealogie der Moral auf die Bewertung der Lüge an, so zeigt sich, dass man auch ihren ‚Wert‘ in Relation zu gesellschaftlichen Positionen setzen kann. Nimmt man den Grundgedanken der Genealogie ernst und fragt auch hier, statt nach den Gründen für eine bestimmte moralische Wertung, vielmehr nach den Gründen, warum Menschen glauben, nach bestimmten Werten oder nach einer bestimmten Moral handeln zu müssen, dann lassen sich aus der Analyse des Lazarillo die Gründe sowohl für die kategorische Verurteilung der Lüge finden als auch für deren konditionale, das heißt in Abhängigkeit von den jeweils mit ihr intendierten Zwecken vorgenommene Beurteilung finden. Die Stellungnahme, die der unterdrückte, ehrlose und infame Lázaro zur Lüge abgibt, steht in engem Zusammenhang mit seiner gesellschaftlichen Stellung. Denn hier sind Lüge, Täuschung und Intrige ein probates Mittel, die Macht der Herrschenden und ihren Anspruch auf totale Kontrolle wirkungsvoll zu umgehen. Die Lüge erlaubt es, sich der Allmacht von Kirche, Staat und Adel zu entziehen und sich einen gewissen individuellen Freiraum zu erhalten. Dadurch, dass eine Überzeugung durch eine abweichende Äußerung verdeckt werden kann, wird sie der allgemeinen Aufsicht entzogen. In Nietzsches Theorie würde eine solche Einstellung zur Lüge eindeutig unter die Kategorie der „Sklavenmoral“ der Unterdrückten fallen, denn es handelt sich hier um eine Moral der Schwachen, die sich nicht anders gegen die Zumutungen der Macht zu wehren wissen. Und es ist wohl kein Zufall, dass in der Nietzscheanischen Rekonstruktion der Genealogie der Moral die Mächtigen für sich in Anspruch nehmen, auch die Wahrhaften zu sein.

Sie heißen sich zum Beispiel »die Wahrhaftigen«; voran der griechische Adel, dessen Mundstück der megarische Dichter Theognis ist. Das dafür ausgeprägte Wort esthlos bedeutet der Wurzel nach einen, der ist, der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser Phase der Begriffs-Verwandlung wird es zum Schlag-Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn „adelig“ über, zur Abgrenzung vom lügenhaften gemeinen Manne [...]. (Nietzsche 1887, 7).

Aus der Sicht der Herrschenden ist die Lüge mithin verdammenswert. Aus der Perspektive einer Genealogie legt der Lazarillo de Tormes die Gründe für eine solche Moral offen: Zunächst einmal können es sich Adlige als Überlegene leisten, gegenüber Untergebenen die Wahrheit zu sagen, denn sie brauchen keine Rücksichten zu nehmen und haben auch keine Sanktionen zu befürchten. Darüber hinaus gilt jedoch, dass sowohl der Erzpriester als auch sein hochwohlgeborener Freund, der Lázaro um Auskunft und Offenlegung einer Situation ersucht, die er selbst nur zu genau kennen muss, als Angehörige der Mächtigen der spanischen Gesellschaft des Siglo de Oro, alles Interesse daran haben, dass ihre Untertanen ‚wahrhaftig‘ sind, keine Geheimnisse vor ihnen haben und offen das aussprechen, was sie denken und was sie bewegt. In den Händen der Mächtigen ist die mittels einer manipulativen Interpretation des 8. Gebots und unter Androhung himmlischer Strafen sanktionierte kategorische Verurteilung der Lüge und der damit einhergehende Zwang zur Wahrhaftigkeit ein vorzügliches Mittel zur Kontrolle. Aus der Perspektive des Lazarillo de Tormes erweist sich das kategorische Lügenverbot somit als Dispositiv der Macht. Während sich die Mächtigen die Wahrheit sprichwörtlich leisten können, sind die Schwachen auf die Lüge angewiesen, um sich vor den Mächtigen zu schützen. Was dem einen die Macht, ist dem Anderen die Lüge. Als Sozialtechnik und Machtdispositiv sorgt das kategorische Lügenverbot seit der Antike für jene umfassende Kontrolle, die heute durch Informationstechniken der massiven Datenabschöpfung geleistet wird.

Durch die Lüge des Erzählers lernt der Leser diese neue Moral nicht nur als Theorie und Objekt der Darstellung kennen, sondern zudem als Praxis, die ihn dazu befähigt, die moralische Haltung der Täuschung selbst nachzuvollziehen und zu praktizieren. Damit wird aber auch deutlich, dass die Lüge in Lázaros Erzählung nicht nur die Ebene der Bedeutung betrifft, sondern auch die Ebene der Beteiligung oder der Teilhabe. Darin genau liegt der Sinn der Tatsache, dass die Lüge vom Helden auf den Erzähler übergeht. Erst dieser Übergang vom Objekt auf das Subjekt der Darstellung, von der Repräsentation zur Partizipation erlaubt dem Leser die Einsicht in die Möglichkeiten, die Lüge als eine subversive Moral zu begreifen und selbst zu praktizieren, um sich den Herrschenden und ihrer Macht entgegenzustellen.

2.3.4 Der heterodiegetische Erzähler als Lügner

Während die Möglichkeit eines unzuverlässigen homodiegetischen Erzählers, so wie er im Lazarillo de Tormes vorliegt, unumstritten ist, scheiden sich bei der Erörterung der Frage, ob es einen unzuverlässigen heterodiegetischen Erzähler geben kann, die Geister. Kann ein heterodiegetischer – oder aber, in der Terminologie Stanzels, auktorialer – Erzähler unzuverlässig sein, obwohl er doch im Unterschied etwa zum autodiegetischen und homodiegetischen Erzähler gar nicht der Welt der erzählten Geschichte angehört, sondern diese vermittelt bzw. erschafft? Laut Manfred Jahn (1998) etwa bewegt sich der homodiegetische Erzähler im Rahmen eines Text-Leser-Kontrakts, der allgemeine Leseerwartungen erfasst und festlegt, was als üblich, und was als Verstoß zu gelten hat. Im Falle homodiegetischen Erzählens handelt es sich bei den Erzählaussagen in der Regel um „world-reflecting utterances“, die sich gattungsgegebenen Rahmenbedingungen unterordnen. Weitere Details des Kontrakts sind, dass der Erzähler zwar ein Recht auf seinen eigenen Stil hat, gleichzeitig jedoch auch die Grundregeln natürlicher Kommunikation einhalten muss und allgemein-menschlichen Daseins- und Wissenseinschränkungen unterliegt. Demgegenüber besteht ein heterodiegetischer Text hauptsächlich aus performativen bzw. „world-creating utterances“ (Ryan 1981, 530), denen andere Strukturen zugrunde liegen. Daher können die Aussagen eines heterodiegetischen Erzählers entweder als notwendig wahr oder aber als sachverhaltserzeugend-performativ gelten (Jahn 1998, 99). Der heterodiegetische Erzähler erschafft ja erst die Welt, an der seine Wahrhaftigkeit oder Lügenhaftigkeit ermessen werden können. Ein heterodiegetischer Erzähler könne daher auch nicht unzuverlässig sein. Für die Lüge gelten analog ähnliche Überlegungen.

Die Frage nach der Möglichkeit, Form und Funktion eines unzuverlässigen oder lügenden heterodiegetischen Erzählers soll am Beispiel des mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans Je m’en vais (1999) von Jean Echenoz untersucht werden. Erzählt wird die Geschichte des Galeristen Ferrer, der auf Anraten seines Assistenten Delahaye eine Reise zum Nordpol plant, um dort sehr wertvolle Werke primitiver Eskimokunst aus einem in den fünfziger Jahren im Eis havarierten Schiff zu bergen. Nach dem überraschenden Tod und der Beerdigung seines Assistenten macht sich Ferrer auf den Weg. Tatsächlich gelingt es ihm, den Kunstschatz zu bergen und nach Frankreich zu transportieren. Bevor er ihn jedoch verkaufen kann, werden ihm die Skulpturen aus seiner Galerie gestohlen. Die Erzählung berichtet nun alternierend von den Bemühungen Ferrers, die gestohlenen Kunstwerke wiederzuerlangen, und von den Untaten des Gangsters Baumgartner, der die Stücke gestohlen hat.

Im gesamten Roman haben wir es mit einem extradiegetischen und heterodiegetischen Erzähler zu tun, der sich zudem mit Kommentaren, Wertungen und Stellungnahmen in die Erzählung einschaltet. Dies geschieht erstmals gleich zu Beginn: „Puis, le portail franchi, négligeant l’ascenseur, il attaqua fermement un escalier de service. Il parvint au sixième étage moins essoufflé que j’aurais cru.“ (Je m’en vais, 9) Zwar konstituiert sich der Erzähler durch seine Bemerkung im Prinzip als extradiegetisch und heterodiegetisch, dennoch ist seine Position nicht eindeutig. Als extradiegetischer und heterodiegetischer Erzähler ist er im Prinzip in Bezug auf die erzählte Welt allwissend, das heißt, es müsste prinzipiell eine alle Figuren umfassende Fokalisation vorliegen. Durch die Passage „moins essouflé que j’aurais cru“ nimmt er jedoch gleichzeitig eine der ersten widersprechende homodiegetische Position in Kombination mit einer externen Fokalisation ein. Er erscheint dadurch als bloß externer Beobachter einer Handlung und einer Figur, die er selbst jedoch geschaffen hat und deren Eigenschaften er bestens kennen müsste.

Auch in anderen Situationen nimmt der ansonsten allwissende Erzähler eine strikt externe Fokalisation auf seine Figuren ein, so zum Beispiel, als Ferrer sich nicht entscheiden kann, die schöne Hélène zu küssen: „Et toujours pas moyen de savoir si Ferrer est intimidé, s’il craint d’être repoussé ou si c’est juste qu’il n’y tient pas plus que ça.“ (Je m’en vais, 184) Die Ambiguität betrifft nicht nur die Erzählperspektive, sondern auch die Konstruktion der Geschichte, den narrativen Diskurs selbst: „Personnellement je commence à en avoir un peu assez, de Baumgartner. Sa vie quotidienne est trop fastidieuse. A part vivre à l’hôtel, téléphoner tous les deux jours et visiter ce qui lui tombe sous la main, vraiment il ne fait pas grand-chose. Tout cela manque de ressort.“ (Je m’en vais, 189) Der Erzähler springt an dieser Stelle in die Rolle des Lesers, er tut so, als ob er selbst für die Erzählung nicht verantwortlich zeichnen, sondern diese nur zur Kenntnis nehmen würde, während sich die Kritik an der mangelnden Spannung natürlich gegen seine eigenen Fähigkeiten als Erzähler richtet.

Gegen Ende des Romans fällt der Leser dann allerdings aus allen Wolken. Als Ferrer Baumgartner endlich stellen kann, erlebt er eine Überraschung: Denn es zeigt sich, dass Baumgartner und der scheinbar verstorbene Assistent Delahaye ein- und dieselbe Person sind: „Tiens, dit Ferrer, Delahaye. Je me disais bien, aussi“ (Je m’en vais, 227). Während die Figur Ferrer auf der Ebene der Geschichte natürlich eine solche Entdeckung machen kann, ist dies bei einem heterodiegetischen Erzähler, der um die Identität beider Figuren weiß, nicht der Fall. Der Erzähler hat seinem Leser nicht nur offensichtlich Informationen vorenthalten – das tut jeder auktoriale Erzähler, ohne dass sich der Leser getäuscht fühlen würde –, sondern er hat ihn offenkundig durch die Benennung Delahayes mit einem falschen Namen über dessen wahre Identität belogen. Dabei liegt hier kein Bruch mit narrativen Konventionen vor, wie sie etwa der nouveau roman praktiziert hat. Wenn die Geschichte der Hauptfigur Georges in Claude Simons Roman La Route des Flandres (1960) einmal in der ersten und dann wieder in der dritten Person Singular erzählt wird, also zwischen homodiegetischer und heterodiegetischer Erzählerposition wechselt, dann geschieht dies in einer für den Leser jederzeit sichtbaren und nachvollziehbaren Form, denn er legt die Identität der mit „Je“ und „Il“ bezeichneten Figur offen. Ganz im Gegensatz dazu bezeichnet Echenoz’ Erzähler ein- und dieselbe Person mit unterschiedlichen Namen, obwohl er um deren Identität weiß. Seine narrative Täuschung bricht keinesfalls mit den narrativen Konventionen, sondern muss – damit seine literarische Lüge funktionieren kann – diese voraussetzen. Mit dieser Technik unterscheidet sich Echenoz mithin sowohl von der literarischen Konvention als auch von den Experimenten der Moderne. Es liegt hier kein avantgardistisches Experiment vor, denn hier wird der konventionelle Code des Erzählens beachtet, so dass hier auch der Leser dessen Einhaltung erwartet, eine Erwartung, die enttäuscht wird. Das Ergebnis ist eine spezifisch literarische Lüge. Spezifisch ist sie deshalb, weil sie die Mittel des literarischen Codes nutzt, um den Leser zu täuschen und weil sich der Gegenstand der Lüge auf einen narrativen Code bezieht, dessen Geltung der Erzähler zu respektieren scheint. Insofern können wir festhalten, dass auch ein heterodiegetischer Erzähler durchaus unzuverlässig sein und lügen kann. Allerdings ist auch deutlich geworden, dass die narrative Lüge darauf basiert, dass der Erzähler eine ambige Position einnimmt, und zwischen einem heterodiegetischen und einem homodiegetischen Status oszilliert.

An einigen Stellen des Romans nimmt diese Ambiguität der Erzählerposition die Form einer narrativen Metalepse an, die die gleiche komische oder humorvolle Wirkung erzielt wie die klassischen Vorläufer in Sternes Tristram Shandy (1759ff.) oder Diderots Jacques le Fataliste et son maître (1765ff.). So behauptet der Erzähler an einer Stelle, den momentanen Erzählstrang nicht weitererzählen zu können, da er durch ein wichtiges Ereignis unterbrochen wird: „Mais nous ne pouvons, dans l’immédiat, développer ce point vu qu’une actualité plus urgente nous mobilise : nous apprenons à l’instant, en effet, la disparition tragique de Delahaye.“ (Je m’en vais, 62) Die Behauptung ist natürlich unglaubwürdig, denn die Geschichte Ferrers wird nicht im Modus der Simultanität zwischen Handlung und Erzählung geschildert, so dass der Erzähler alle Zeit der Welt hätte, den ersten Strang zu beenden.

Nicht nur der Status des Erzählers, sondern auch derjenige der Figuren ist vieldeutig, denn manchmal übernehmen die Figuren eigentliche Funktionen des Erzählers, Kritikers oder Lesers, indem sie etwa dessen Konstruktion der Geschichte kritisieren. Als Baumgartner seinen Komplizen Le Flétan in dem Gefriercontainer seines Lieferwagens einsperrt, um ihn sterben zu lassen, kontert dieser mit Argumenten, die sich eigentlich eher auf der Ebene der Komposition des Romans bewegen:

Mais non, a dit le Flétan, mais non, et puis arrêtez de pérorer, s’il vous plaît. Il a encore essayé de convaincre Baumgartner avant de paraître à court d’arguments. De plus, a-t-il tenté de faire valoir en désespoir de cause, c’est un procédé tellement banal, votre truc. On tue les gens comme ça dans tous les téléfilms, ça n’a vraiment rien d’original. Ce n’est pas faux, a reconnu Baumgartner, mais je revendique l’influence des téléfilms. Le téléfilm est un art comme un autre. Et puis bon, ça suffit maintenant. (Je m’en vais, 152)

Statt um sein Überleben zu kämpfen, wie es sich für eine Figur auf der narrativen Ebene der Handlung gehören würde, kritisiert Baumgartners Komplize die mangelnde Originalität der von ihm anvisierten Lösung. Und dieser antwortet nicht wie ein Kontrahent, sondern eher wie der Autor einer Erzählung, indem er sich zum Einfluss der Fernsehserien bekennt.

Halten wir fest: Echenoz lässt seinen im Prinzip heterodiegetischen Erzähler als unglaubwürdig und als Lügner erscheinen. Dies wird ermöglicht, indem der Erzähler eine ambige Stellung einnimmt, die ihn zwischen einer heterodiegetischen und einer homodiegetischen Erzählerposition oszillieren lässt, eine Position, die eigentlich über den gesamten Roman durchgehalten wird, sich aber an einigen Stellen punktuell in narrativen Metalepsen manifestiert.

Die letzten Beispiele zeigen allerdings auch, dass sich die Unzuverlässigkeit und die Lügen des Erzählers nicht auf die fiktive Welt direkt beziehen, wie dies etwa beim Lazarillo de Tormes der Fall war, sondern auf die Form der Erzählung selbst, auf ihre ästhetische Komposition und Konstruktion. Nicht in Bezug auf seine Darstellung der Handlung wirkt der Erzähler unglaubwürdig, sondern bezogen auf seine Fähigkeit, der fiktiven Welt einen adäquaten literarischen Ausdruck zu verleihen.

3. Ästhetische Lügen

Damit bewegt sich die Analyse allerdings auf einer weiteren Ebene, auf der es um die Authentizität der literarischen Form geht. Denn die Geschichte selbst enthält eine Reihe weiterer Ungereimtheiten und Unklarheiten: So wird Ferrer sich darüber klar, dass sein Unterfangen den Dieb seiner Skulpturen zu finden, völlig absurd ist, denn er weiß nicht einmal, wie der von ihm gesuchte Baumgartner aussieht: „Mais au bout d’une semaine son entreprise lui parut sans espoir, chercher un inconnu dans une ville inconnue ne rimait à rien, le découragement le gagna.“ (Je m’en vais, 224). Dieser Einwand betrifft jedoch weniger die Handlungen der Figur als die Komposition der Handlung durch den Erzähler. Darüber hinaus enthält die Erzählung eine ganze Reihe von narrativen Ellipsen, die wichtige Elemente der Handlung aussparen und sie dadurch als unplausibel erscheinen lassen. Das betrifft vor allem Ferrers Frauenbeziehungen. Immer wieder wird die erste Begegnung mit diversen attraktiven Frauen erzählt, bei der fast nichts geschieht. In der darauf folgenden Szene ist die umworbene Frau dann bereits bei Ferrer eingezogen, ein Ereignis, das durch die Aussparung der davor liegenden Zeit als völlig unmotiviert erscheint, so als wolle die Erzählung die Logik und Plausibilität der eigenen Handlung unterminieren. In die gleiche Richtung gehen die zahlreichen unmotivierten Handlungen der Figuren. Als Ferrer einen Schwächeanfall erleidet, befindet sich eine schöne junge Frau namens Hélène in der Nähe. Obwohl sie eigentlich mit dem Geschehen nichts zu tun hat, besucht sie ihn daraufhin jeden Tag im Krankenhaus, dann auch in der Galerie, ohne dass sich zwischen den beiden eine freundschaftliche oder amouröse Beziehung bildet. Hélènes Motive bleiben von Anfang bis Ende unklar. Das Gleiche gilt für ihre Gründe, letztlich doch eine Beziehung mit Ferrer einzugehen wie auch für ihren Entschluss ihn wieder zu verlassen.

Schließlich enthält der Roman Episoden, die jeder Wahrscheinlichkeit spotten und dadurch die Glaubwürdigkeit des Erzählers erschüttern. So gerät die Begegnung zwischen dem inzwischen allein lebenden Ferrer und seiner Nachbarin zu einer Persiflage auf den romanesken und den surrealistischen Zufall: „Mieux vaut attendre le hasard d’une rencontre, surtout sans avoir l’air d’attendre non plus. Car c’est ainsi, dit-on, que naissent les grandes inventions: par le contact inopiné de deux produits posés par hasard, l’un à côté de l’autre, sur une paillasse de laboratoire […].“ (Je m’en vais, 61) Der Satz, der entfernt an Lautréamonts Definition des Schönen als „rencontre fortuite sur une table de dissection dʼune machine à coudre et dʼun parapluie“ (Lautréamont 1874, 323) erinnert, leitet jedoch zu einer „zufälligen“, in Wirklichkeit vom Erzähler aber geplanten und daher gerade nicht surrealistischen Begegnung zwischen Ferrer und seiner Nachbarin über, die er kontrafaktisch als größtmöglichen Zufall präsentiert:

Eh bien justement, selon un processus analogue, après de longues recherches vaines au cours desquelles Ferrer a exploré des cercles concentriques de plus en plus éloignés de la rue d’Amsterdam, il finit par trouver ce qu’il cherchait en la personne de sa voisine de palier. Elle s’appelle Bérangère Eisenmann. Voilà qui était inattendu, c’est vraiment la porte à côté. (Je m’en vais, 62)

Der Erzähler begnügt sich nicht damit, eine höchst wahrscheinliche Begegnung als unwahrscheinlich und zufällig darzustellen, sondern unterstreicht durch seinen Kommentar deren Artifizialität, wodurch er als Erzähler unglaubwürdig wird. Auch in Bezug auf die Figurenkonzeption wirkt der Erzähler unzuverlässig, so fällt ihm erst spät, das heißt gegen Ende des Romans, ein, dass er eine Figur bisher überhaupt nicht beschrieben hat, so dass er die Beschreibung in letzter Minute nachholt.

Nous n’avons pas pris le temps, depuis presque un an pourtant que nous le fréquentons, de décrire Ferrer physiquement. Comme cette scène un peu vive ne se prête pas à une longue digression, ne nous y éternisons pas: disons rapidement qu’il est un assez grand quinquagénaire brun aux yeux verts, ou gris selon le temps, disons qu’il n’est pas mal de sa personne mais précisons que, malgré ses soucis de cœur en tous genres et bien qu’il ne soit pas spécialement costaud, ses forces peuvent se multiplier quand il s’énerve. C’est ce qui paraît en train de se produire. (Je m’en vais, 234)

Die Beschreibung wird mitten in die Schilderung der Auseinandersetzung Ferrers mit Delahaye / Baumgartner eingeflochten. Die Rechtfertigung der Kürze und ihres reduktionistischen Charakters mit dem Kampf zwischen den beiden Antagonisten beruht wiederum auf einer narrativen Metalepse, einer Vermischung der narrativen Ebenen von Geschichte und Erzählung, Handlung und narrativem Diskurs.

Verstärkt wird die Unglaubwürdigkeit des Erzählers noch durch kalkulierte „Fehler“ und „Ungeschicklichkeiten“ auf allen Ebenen der Erzählung. In diese Kategorie fallen etwa die Übergänge zwischen den Kapiteln, die eine logische oder chronologische Abfolge durch einen rein sprachlich geleisteten Übergang ersetzen, eine Art literarischer ‚jump cut‘, der eigentlich eher unterstreicht statt verdeckt, dass die Überleitung nicht wirklich geleistet ist. So wechselt der Erzähler von der Reise an den Nordpol und der Schilderung der Versuche Ferrers, die Krankenschwester Brigitte für sich zu gewinnen, zur Schilderung der Ereignisse in der Galerie sechs Monate zuvor mittels eines Calembour:

Sourire à ce point rassérénant et permissif que Ferrer n’hésita bientôt plus à s’inventer tous les deux jours des affections faciles à simuler – céphalées, courbatures – pour aller réclamer des soins – compresses, massages. Dans un premier temps, ça marchait. – [Chapitre 5]. Ce qui marchait moins bien, six mois plus tôt, c’étaient les affaires de la galerie. Car à l’époque dont je parle, le marché de l’art n’est pas brillant et, soit dit en passant, le dernier électrocardiogramme de Ferrer n’est pas très brillant non plus. (Je m’en vais, 23f.)

Diese Unzulänglichkeiten betreffen auch die Mikrostruktur. So operiert der Erzähler mit einer Reihe von Wiederholungen, die in diesem Fall jedoch nicht als ästhetisch reizvolle rhetorische Figuren wirken, sondern eher die Unfähigkeit des Erzählers anzuzeigen scheinen, seine Beschreibung abwechslungsreicher zu gestalten:

Au dernier étage d’une de ces trois villas, Baumgartner loue très cher un très grand studio. L’escalier qui y accède est d’un vert très foncé, presque noir. Quant au studio lui-même, ses murs sont en marbre brun, la cheminée en marbre veiné de blanc et des spots sont incrustés dans le plafond. Longs rayonnages à peu près vides, longue table avec une assiette sale dessus, long canapé couvert d’une housse bleue. La pièce est assez vaste pour qu’un vaste piano Bechstein poussé dans un coin ne soit qu’un détail, pour que le gros téléviseur logé dans un autre angle ait l’air d’un hublot minuscule. (Je m’en vais, 102) [Hervorhebungen J. M.]

Die beschriebenen narrativen und stilistischen Besonderheiten beeinträchtigen das Vertrauen des Lesers in die Fähigkeiten und in die Zuverlässigkeit des Erzählers. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den unzuverlässigen homodiegetischen Erzählern der novela picaresca und des Romans von Echenoz. Denn das Misstrauen betrifft in diesem Fall nicht nur seine Glaubwürdigkeit hinsichtlich der wahrhaftigen Schilderung der Ereignisse, sondern auch dessen Zuverlässigkeit als kompositorischer Gestalter der Erzählung und Stilist. Während bei der ersten Form der Unglaubwürdigkeit eine Absicht, den Leser zu belügen, vorliegt, erstreckt sich die Unzuverlässigkeit in diesem Fall auf einen heterodiegetischen Erzähler und dessen Fähigkeit, stimmig zu erzählen und eine authentische, literarische Sprache zu kreieren. Letztlich wird beim Leser dadurch nicht nur das Misstrauen gegen den Erzähler, sondern auch gegen den impliziten Autor bzw. das Werk geweckt. Die Erzählung erscheint nicht authentisch, nicht gut genug durchkomponiert, sprachlich auf eine kunstvolle Weise kunstlos. Wenn der Erzähler behauptet, seiner Geschichte mangele es an Dynamik, und eine der Figuren der Auffassung ist, dass das für sie von Baumgartner vorgesehene Ende wenig originell, ja banal und eher einer Fernsehserie würdig sei, dann betreffen diese Einwände die Stimmigkeit und Authentizität des Romans insgesamt. Die Erzählung erscheint unwahrscheinlich, ungeschickt aufgebaut, in der Komposition schwach, in der Handlung unlogisch und in der Figurenkonzeption und in den Beschreibungen unstimmig. Dies führt insgesamt zu einer besonderen Distanzierung des Lesers, die sich von einem traditionellen Illusionsbruch unterscheidet. Denn während Illusionsbrüche die Fiktionalität der Erzählung signalisieren, also eine durch den Fiktionspakt bereits signalisierte ‚Lüge‘ ein zweites Mal aufdecken, deckt die Unzuverlässigkeit des heterodiegetischen Erzählers Unstimmigkeiten auf, die innerhalb des Paktes der Fiktion angesiedelt sind. Es handelt sich also um eine Lüge innerhalb des Rahmens der ersten Lüge, eine Lüge zweiten Grades, die aus dem Glaubwürdigkeitsverlust der Erzählung resultiert. Wenn wir die Lüge definiert haben als verdeckte Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung, so lässt sich diese Definition auch auf den vorliegenden Fall anwenden. Denn die Überzeugungen des Erzählers, die von ihm entworfenen Figuren und Handlungen und die literarische Äußerungsform, die er ihm gibt, stimmen nicht überein, sie sind nicht stimmig, sondern gehen auseinander. Der Erzähler versucht diese Unstimmigkeit durch Tricks zu verdecken, eine Verdeckung, die in diesem Fall auch weiterführenden Zwecken dient, nämlich etwa, den Leser dennoch an die erzählte Welt glauben zu lassen.

In einem lesenswerten Essay mit dem Titel La verdad de las mentiras hat Mario Vargas Llosa versucht, den Lügenbegriff für die Literaturtheorie fruchtbar zu machen und eine Theorie der literarischen Lüge zu skizzieren. Er betrachtet dabei die primäre Lüge der literarischen Fiktion, also die Tatsache, dass ein Autor fiktive Welten erschafft und von diesen erzählt, obwohl er weiß, dass seine Äußerungen nicht der Wahrheit entsprechen, im Rahmen des Fiktionspaktes als die „Wahrheit“ des literarischen Textes. Und tatsächlich ist ja die fiktive Welt eines Romans im Rahmen des Fiktionspaktes dessen „Realität“ und der narrative Diskurs darüber der literarische Ausdruck dieser Realität. Wenn nun ein Erzähler, Autor bzw. Text es vermag, dieser Welt durch die besondere narrative und sprachliche Gestaltung zu entsprechen, ist der Text in den Augen Vargas Llosas wahrhaftig. Wenn er allerdings nicht dazu in der Lage ist, der fiktiven Welt einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, liegt in den Augen von Vargas Llosa eine literarische Lüge vor:

[…] la verdad de la novela no depende de eso [d.i. von der historischen Wahrhaftigkeit, J.M.]. ¿De qué entonces? De su propia capacidad de persuasión, de la fuerza comunicativa de su fantasía, de la habilidad de su magia. Toda buena novela dice la verdad y toda mala miente. Porque „decir la verdad“ para una novela significa hacer vivir al lector una ilusión y ‚mentir‘ ser incapaz de lograr esa superchería. La novela es, pues, un género amoral, o, más bien, de una ética sui generis, para la cual verdad o mentira son conceptos exclusivamente estéticos. (Vargas Llosa 1990, 10)

Wenn die Lüge in einer zu weiterführenden Zwecken dienenden verdeckten Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung besteht, muss man lediglich die jeweils geltende reale Meinung eines Sprechers durch die fiktiv angenommene „Überzeugung“ der literarischen Fiktion ersetzen. Eine literarische Fiktion würde immer dann wahrhaftig sein, wenn es realer oder impliziter Autor, heterodiegetischer oder homodiegetischer Erzähler vermögen, dieser fiktiv angenommenen Überzeugung 2. Grades einen adäquaten und stimmigen Ausdruck zu verleihen. Von einer literarischen Lüge kann man hingegen überall dort sprechen, wo dies nicht der Fall ist, das heißt, wo der Erzähler der dargestellten fiktiven Welt keinen stimmigen und authentischen Ausdruck verleihen kann. In diesem Fall lässt sich von einer literarischen oder ästhetischen Lüge sprechen. Bei einem homodiegetischen Erzähler können literarische Lügen durch Widersprüche zwischen Äußerungen und Handlungen, zwischen Selbstbild und Fremdbild, Inkohärenzen in der Darstellung oder Anzeichen von ideologischer Verbohrtheit oder geistiger Unzurechnungsfähigkeit entstehen. Diese Art Lüge ist der alltäglichen Form der Lüge sehr nahe, unter anderem auch deshalb, weil homodiegetische Erzähler auch als Figuren auf der Ebene der Handlung agieren. Komplexer ist hingegen der Fall des heterodiegetischen Erzählers, denn hier liegt die Unzuverlässigkeit allein auf der Ebene des narrativen Diskurses. Die Unzuverlässigkeit eines heterodiegetischen Erzählers ist daher auch anders gelagert als die eines homodiegetischen. In diesem Fall betrifft die Unzuverlässigkeit nicht die Objekte, sondern den Diskurs der Aussage.

Damit erschließt die Betrachtung der Literatur aber eine weitere Komponente der Theorie der Lüge. In der Alltagskommunikation gehen wir natürlicherweise davon aus, dass uns immer die angemessenen Äußerungen für unsere Meinungen zur Verfügung stehen. Literatur lenkt durch die ihr eigene genuine ästhetische Formproblematik geradezu den Fokus auf die Frage, ob Form (= Äußerung) und Fiktion (= Meinung) einander entsprechen. Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigen zahlreiche Beispiele nicht-stimmiger Werke, deren sichtbarster Ausdruck alle Formen literarischen Kitsches sind. Illustrieren lässt sich dies durch einen Auszug aus einem 1913 erschienenen Roman Entre deux âmes (1913) der Erfolgsautorin Delly (i.e. Jeanne-Marie Petitjean de La Rosière und Frédéric Petitjean de La Rosière):

De tous les hommes qui étaient là, aucun ne pouvait se vanter d’égaler quelque peu l’être d’harmonieuse beauté et de suprême élégance qu’était Élie de Ghiliac. Ce visage aux lignes superbes et viriles, au teint légèrement mat, à la bouche fine et railleuse, cette chevelure brune aux larges boucles naturelles, ces yeux d’un bleu sombre, dont la beauté était aussi célèbre que les œuvres de M. de Ghiliac, et la haute taille svelte, et tout cet ensemble de grâce souple, de courtoisie hautaine, de distinction patricienne faisaient de cet homme de trente ans un être d’incomparable séduction. (Delly 1913, 6f.)

Offenkundig hat der Erzähler eine herausragende Persönlichkeit in einer nicht weniger exquisiten Gesellschaft kreieren wollen. Aber ebenso offenkundig rufen die sprachlichen Mittel, mit denen Delly diesen Anspruch umsetzen will, eine gegenteilige Wirkung hervor. Die Überladung mit Adjektiven der Außergewöhnlichkeit lassen das Außergewöhnliche als gewöhnlich erscheinen, während der extensive Gebrauch von Superlativen die Glaubwürdigkeit des Textes unterminiert und einen ungewollten Verfremdungseffekt hervorruft. Die Intention des Textes, außergewöhnliche Figuren in einer außergewöhnlichen Welt zu erschaffen, wird mithin durch die triviale Form konterkariert. Der Text bedient sich einer Reihe von Stereotypen und Klischees, statt einen besonderen Menschen zu beschreiben, wobei er gleichzeitig in der Absicht, das Interesse des Lesers nicht abstumpfen zu lassen, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Durchführung durch eine Häufung der Hyperbeln zu kaschieren sucht. Alle Bedingungen der Lüge wären somit erfüllt.

Durch die Problematisierung der Form leistet das untersuchte Beispiel des Kitsches und der Literatur überhaupt einen entscheidenden Beitrag zur Reperspektivierung und Erweiterung der allgemeinen Theorie der Lüge. Denn sie legt eine verdeckte, weil selbstverständlich erscheinende Prämisse der kategorischen Verurteilung der Lüge offen. Diese basiert ja auf der Voraussetzung, dass wir immer dazu in der Lage sind, unsere Meinungen adäquat in Äußerungen zu übersetzen. Literarische Werke rücken jedoch gerade die Problematik der Äußerung bzw. der Formgebung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie zeigen, dass Äußerungen, Sprache und Formen keineswegs immer beliebig zur Verfügung stehen. Worte können fehlen, Gedanken verzerren oder sogar verfälschen. Literatur erweitert die Theorie der Lüge um die Möglichkeit einer objektiven, sprachlich bedingten Lüge, bei der Meinung und Äußerung divergieren, und zwar trotz der besten Absichten des Sprechers, wahrhaftig zu sein.

Für die Theorie der literarischen Lüge im engeren Sinne liefert die Untersuchung von Je m’en vais und des Kitschbeispiels wertvolle Aufschlüsse. Sie zeigt, dass die literarische Lüge eine bestimmte Ethik der Ästhetik impliziert, welche das allgemeine moralische Gebot der Wahrhaftigkeit in einer besonderen Weise spezifiziert.21 Als Maßstab der Verurteilung des Kitsches und der literarischen Lüge fungiert das Postulat der Authentizität. Diese konstituiert einen kategorischen Imperativ der Ästhetik der Moderne, der an jeden Autor die Aufforderung richtet, Imitationen zu vermeiden und eine neue, der jeweiligen Situation angemessene Form zu entwickeln.22 Wenn sich die Moderne als literaturhistorische Epoche einer permanenten Bewegung beschreiben lässt, die sich aus der Destruktion traditioneller und der Schaffung neuer Formen, aus der unaufhörlichen Suche nach neuen Darstellungstechniken ergibt, um dem gegenwärtigen Moment in authentischer Form Ausdruck zu verleihen, ist Literatur tatsächlich befähigt zu lügen. Immer dann, wenn ein Text nicht in der Lage ist, der eigenen fiktiven Realität durch eine stimmige Form zu entsprechen, bringt er ästhetische Lügen hervor, von denen der Kitsch, den Hermann Broch in einem berühmten Vortrag als „das Böse im Wertesystem der Kunst“ bezeichnet hat (Broch 1968, 128), nur die sichtbarste Manifestation ist. Im Fall von Delly entspringt die ästhetische Lüge aus der Divergenz zwischen dem Anspruch des Romans und der Unfähigkeit des Autors, eine narrative Form zu erschaffen, die diesem Anspruch Genüge leisten kann. Aber man kann auch dort eine literarische Lüge veranschlagen, wo die Form des traditionellen Romans selbst den Autor daran hindert, der von ihm entworfenen fiktiven Welt einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Mit diesem Phänomen wird eine ganze Tradition der Sprach- und Genrekritik angesprochen, die sich in Nietzsches Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (Nietzsche 1873) ebenso findet wie in Hugo von Hoffmansthals Ein Brief des Lord Chandos (1902) oder in Roland Barthes am Collège de France gehaltenen Inauguralvorlesung, in welcher er den Vorwurf äußert, dass die Sprache ganz einfach faschistisch sei (Barthes 1978, 14). Bereits in den fünfziger Jahren hatte der junge Roland Barthes in Le degré zéro de la littérature den traditionellen Roman an sich der Falschheit und Lüge bezichtigt. Nach Roland Barthes bilden das passé simple, die Erzählung in der dritten Person und die teleologische Struktur des Romans einen Romancode, der den Romancier dazu zwingt, sich einer obsoleten und verlogenen Form zu bedienen: „On s’explique alors ce que le passé simple du Roman a d’utile et d’intolérable: il est un mensonge manifesté“ (Barthes 1972, 29). Der konventionelle Roman verpflichtet den Romancier demnach dazu, eine literarische Lüge zu äußern, die seine eigenen Überzeugungen und ästhetischen Intentionen verrät. Die romaneske Schreibweise wird als eine Art literarische Fatalität betrachtet, die direkt zu einer ästhetischen Lüge führt und dies ganz unabhängig von den Absichten des Autors. Auf diese Weise entwickelt Roland Barthes auf dem Gebiet der Ästhetik einen Begriff, den Walter Benjamin auf der soziopolitischen Ebene einige Jahre zuvor in einem Fragment gebliebenen Essay entworfen hat. Benjamin spricht dort von der „objektiven Verlogenheit“, die in einer umfassenden Struktur besteht und ganz unabhängig von individuellen Absichten eines Individuums existiert. Das Individuum kann laut Benjamin „bona fide“ sein und dennoch eine objektive Lüge äußern. (Benjamin 1985, 60)

In einem Essay mit dem Titel L’ère du soupçon (1950) hat Nathalie Sarraute einen allgemeinen Glaubwürdigkeitsverlust des konventionellen Romans konstatiert. Der Leser glaube nicht mehr an die Produkte der Phantasie des Autors, er misstraue der von ihm entworfenen Handlung und seiner Gestaltung der Figuren (Sarraute 1950, 41-43). Es war das Bestreben der Moderne, derartige, durch das Genre und die Tradition auferlegte „ästhetische Lügen“ zu zerstören und Werke zu schaffen, die innovativ, originell, authentisch und in der Lage sind, die verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen. Es gibt allerdings noch eine zweite Möglichkeit, mit dem Misstrauen gegen ästhetische Lügen umzugehen. Sie besteht darin, den Glaubwürdigkeitsverlust zu umgehen, indem Autor und / oder Erzähler nicht nur Figuren und Handlung darstellen, sondern darüber hinaus auch die Unzulänglichkeit, Unzuverlässigkeit und Inauthentizität ihrer Darstellung suggerieren. Auf diese Weise integriert Jean Echenoz das die Rezeption prägende Misstrauen in die Produktion seines Textes. Dabei bedient er sich einer Technik, die sich unmittelbar aus der Logik der Lüge ergibt. Denn auch für die ästhetische Lüge gilt, dass eine signalisierte literarische Lüge keine mehr ist, sie hebt sich selbst auf.

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Prof. Dr. Jochen Mecke
Institut für Romanistik
Universität Regensburg
93040 Regensburg
E-Mail: jochen.mecke@sprachlit.uni-regensburg.de

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1 Zumeist wird der Lügenvorwurf gegen die Dichter auf die platonische Ontologie und Epistemologie zurückgeführt, die im Höhlengleichnis entwickelt wird, zunächst jedoch in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Lügenvorwurf steht. Im 10. Buch der Politeia schließt Platon die Dichter aus dem Staat aus, weil sie nur „Bildner von Bildern, von der Wahrheit aber fern abstehend“ seien (Platon 1988b, 404; s.a. Schmitz-Emans 2001, 7). Hier erfolgt der Ausschluss der Dichter aus epistemologischen Gründen, während der auf dem Lügenvorwurf basierende Ausschluss auf einer anderen Argumentationslinie beruht (s.o.).

2 Platon unterscheidet zwei Arten des pseudos. Die erste, die er die „wahre Lüge“ oder die „Lüge der Seele“ nennt, entspricht in der heutigen Diktion dem Irrtum, während die zweite, die er als die „Lüge mit Worten“ bezeichnet, der Bedeutung entspricht, die später das lateinische Wort „mendacium“ annehmen wird (Platon 1988b, 84). Im Hippias Minor erwägt Sokrates sogar die Hypothese, dass der Lügner, der seine Lüge bewusst einsetzt, demjenigen vorzuziehen sei, der sich irrt, denn er verfügt über mehr Wissen und Kenntnisse (Platon 1988a, 29; s.a. Mecke 2014; für eine Begriffsgeschichte der Lüge vgl. Dietzsch 2001).

3 So begreift Hans Blumenberg die gesamte Tradition abendländischer Dichtungstheorie seit der Antike als eine Auseinandersetzung mit dem Platonischen Satz, dass die Dichter lügen und fasst sogar den Mimesisgedanken als Versuch einer Legitimation von Dichtung aus ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit auf (Blumenberg 1969, 9f.).

4 Eine hier nicht mögliche ausführlichere Auseinandersetzung mit der von Augustinus begründeten abendländischen Tradition kategorischer Verurteilung der Lüge findet sich in Mecke 2014.

5 Die Grundlage dieser Definition geht auf die Arbeiten von Simone Dietz (z.B. 2003, 25) zurück.

6 Selbstreferenzielle Bezeichnungen heben die Lüge auf, die explizite Benennung und das Vorliegen der Lüge schließen sich daher gegenseitig aus. Der Linguist Harald Weinrich konstatiert daher im Anschluss an Friedrich Nietzsche: „Eine literarische Lüge, die von einem Lügensignal begleitet ist, erfüllt daher nicht mehr den Tatbestand der Lüge im außerliterarischen Sinne.“ (Weinrich 1966, 69).

7 Die berühmte Formulierung lautet im Kontext: „it was agreed, that my endeavours should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic, yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith.“ (Coleridge 1817, 6).

8 Die meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten über Lüge und Literatur gehen von einer in anderen Disziplinen entwickelten Definition und Theorie der Lüge aus und untersuchen dann, wie Lügen und Lügner von literarischen Werken dargestellt werden, während es hier darum geht zu klären, ob es spezifisch literarische Lügen gibt und ob die Analyse der literarischen Lüge einen Beitrag zur Theorie der Lüge leisten kann (vgl. Barbedette 1989, Baron 1998, Bettetini 2003, Brown 2005).

9 Im Prinzip gilt das Gleiche auch für andere Äußerungstypen, wie zum Beispiel Höflichkeitsbezeugungen oder Begrüßungsformeln. Man kann bekanntlich seinen ärgsten Feind mit einem „Guten Tag“ begrüßen, obwohl man ihm sicherlich gerade das nicht wünscht.

10 In Spanien hatte fast zwanzig Jahre zuvor Enric Marco damit begonnen von seiner vorgeblichen Gefangenschaft im Konzentrationslager Flossenbürg zu erzählen, Erinnerungen, die er dann auf einigen Seiten in dem von Jordi Ribó López und David Bassa Cabanas mit Erinnerungen katalanischer Gefangener von Konzentrationslagern herausgegebenen Band Memòria de lʼinfern: Els supervivents catalans dels camps nazis (2002) zusammengefasst hat. Sein Betrug wurde 2005 von dem spanischen Historiker Benito Bermejo aufgedeckt.

11 Für eine ausführliche Geschichte des Plagiats vgl. Maurel-Indart 2007.

12 Noch verbreiteter sind solche Formen der Mischung in den audivisuellen Medien, also etwa in den Dokufiktionen von Fernsehsendern wie Arte, in denen ahistorische Ereignisse dokumentiert und mit fiktiven Spielszenen durchsetzt werden (vgl. z.B. Hourlier 2013).

13 Allerdings liefert Robbe-Grillet in zahlreichen Passagen, die Henri de Corinthe betreffen, deutliche Fiktionssignale, so dass der Leser auch innerhalb eines faktualen Paktes den fiktionalen Charakter dieser Passagen erkennen kann. Nach einer Phase der Konsolidierung, die mehr als dreißig Jahre nach der Genese der Gattung erreicht worden sein dürfte, kann man davon ausgehen, dass es auch hier solch expliziter Fiktions- oder Lügensignale nicht mehr bedarf, sondern dass bereits die Zuordnung zur Gattung der Doku- oder Autofiktion ausreicht, um die Lüge aufzuheben.

14 Maria Bettetini weist im Übrigen auf den nicht uninteressanten Umstand hin, dass Kinder von der Lüge durch eine Drohung abgebracht werden sollen, die selbst eine Lüge ist, dass nämlich die Nase beim Lügen länger werde (Bettetini 2003, 43).

15 Wie sehr Booth den Begriff erzählerischer Unzuverlässigkeit mit moralischen Urteilen verbindet, zeigt seine Einschätzung von Célines Roman Voyage au bout de la nuit (1932), dessen Autor und Erzähler er explizit verurteilt: „we cannot excuse him for writing a book which, if taken seriously by the reader, must corrupt him.“ (Booth 1961, 383).

16 Die Forschungsliteratur hat eine ganze Liste von Signalen etabliert, die den Leser zur Erkennung narrativer Unzuverlässigkeit befähigen, wie zum Beispiel Widersprüche, Diskrepanzen zwischen Aussagen und Handlungen, Divergenzen zwischen Selbstcharakterisierung und Fremdcharakterisierung, zwischen Fremdkommentaren und Selbsteinschätzung, zwischen Erzählwiedergabe und Interpretation des Geschehens, Äußerungen anderer Figuren als Korrektiv, Multiperspektivität, Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen, linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität oder Emotionalität (Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen) etc. (vgl. Nünning 1998 u. 2008, Busch 1998, Alrath 1998)

17 Natürlich hängt diese kopernikanische Wende mit einer weiteren zusammen, die für die Renaissance charakteristisch ist. Denn was bedeutet die konsequente Erzählung einer Geschichte aus der Perspektive eines Protagonisten anderes als die narrative Analogie der Zentralperspektive in der Malerei? Und das heißt, die konsequente Umstellung der Literatur vom Theozentrismus des Mittelalters auf den Anthropozentrismus der Renaissance. Mit dieser Anthropozentrierung der Literatur geht auch die Möglichkeit der Lüge einher. Man könnte mithin sagen, dass für die Lüge genau der gleiche Wechsel der Perspektive auf den Menschen gilt wie für die Erzählperspektive oder die Renaissance allgemein. Wenn die autobiographische Erzählperspektive bedeutet, dass sich die Welt ab sofort um das Individuum dreht, dann vollzieht die novela picaresca die gleiche Subjektivierung und Anthropozentrierung in Bezug auf die Lüge.

18 Angesichts der konventionellen rhetorischen Oberfläche des Textes nimmt es nicht wunder, dass das Vorwort von der traditionellen Literaturwissenschaft als „rather conventional“ bezeichnet wurde (vgl. Wagner 1917, 1).

19 Zitate nach der 1990 von Francisco Rico besorgten Cátedra-Ausgabe (s. Literaturhinweise, vgl. Anónimo 1990).

20 „Und so geht es mit allem. Daher bekenne ich, dass es mich, der ich nicht heiliger bin als meine Mitmenschen, nicht bedrücken würde, wenn sich all diejenigen, die an dieser Nichtigkeit [gemeint ist das eigene Werk, J.M.] Gefallen finden, daran teilhätten, sich damit amüsierten, und sähen, dass ein Menschen mit solch großen Erfolgen, Gefahren und Unglücken leben kann.“ [Übersetzung J.M.]

21 Mit Ethik der Ästhetik ist hier die ethische Haltung gemeint, die sich aus der jeweils besonderen literarischen Form ergibt. Dieser literaturbezogene Ansatz unterscheidet sich von den Versuchen, die Christoph Wulf, Dietmar Kamper und Hans Ulrich Gumbrecht (1995) unternommen haben, eine allgemeine Ethik der Ästhetik zu bestimmen.

22 Für eine ausführliche Diskussion des Imperativs der Authentizität vgl. Mecke 2006.