Teresa Hiergeist

Zwischen Text und Leser

Wege zur Zukunft der Kognitiven Literaturwissenschaft

Sophia Wege: Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft. Bielefeld: Aisthesis 2013. 532 S. EUR (D) 48,- ISBN 978-3-89528-953-8

Die kognitive Herangehensweise ist in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschungspraxis alles andere als etabliert. Das mag nicht nur an der Skepsis gegenüber der Produktivität naturwissenschaftlicher Einflüsse innerhalb der Geisteswissenschaften und der relativ kurzen Implementierungszeit der Strömung liegen, sondern nicht zuletzt auch an ihrer definitorischen Unschärfe. Leicht kann man zwischen Cognitive Poetics, Kognitiver Narratologie, Psychonarratology, Cognitive Stylistics, Biopoetics, Kognitiver Theater- und Filmwissenschaft, zwischen unterschiedlichen, bisweilen inkompatiblen Zielformulierungen und heterogenen methodischen Prämissen den Überblick verlieren. Von einer gattungsübergreifenden „Kognitiven Literaturwissenschaft“ im Sinne eines klar umrissenen Forschungsrahmens mit einer spezifischen Methodologie kann im Moment jedenfalls noch nicht die Rede sein. Ordnung in dieses fachliche Chaos zu bringen und die heuristische Relevanz des Ansatzes zu profilieren, ist somit unabdingbar für dessen Erfolg als ‚Subdisziplin‘. Ebendies macht sich Sophia Weges Monographie Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität zum Ziel, die Frucht einer Dissertation, die an der LMU München unter der Betreuung von Sven Hanuschek entstanden ist. Sie nimmt sich erstens vor, einen umfassenden Überblick über das Programm, die Untersuchungsbereiche und Prämissen der Kognitiven Literaturwissenschaft zu liefern, und zweitens, ihre Anwendungsmöglichkeiten anhand der exemplarischen Analyse vier kanonischer Werke der deutschen Literatur aufzuzeigen. In dieser engen Verknüpfung von Theorie und Praxis liegt auch die Besonderheit der Arbeit, zeichnen sich zahlreiche Publikationen in diesem thematischen Kontext doch durch eine gewisse Theorielastigkeit aus, während sie die Fragen nach der Anwendbarkeit und dem Mehrwert kognitionswissenschaftlicher Einflüsse häufig offen lassen. Alles in allem verspricht Weges Studie also, einerseits einen Beitrag zur Profilierung, andererseits zur Operabilisierung der Kognitiven Literaturwissenschaft zu leisten.

Der Aufbau der Monographie

Das Buch beginnt mit der Formulierung des Monitums, dass die bisher verfügbaren Einführungen in die kognitive Literaturwissenschaft wie etwa Stockwells Cognitive Poetics (2002) unterschiedliche Konzepte aus Gestaltpsychologie, Kognitionslinguistik und Kognitionswissenschaft zwar aufarbeiteten, diese aber meist unverbunden nebeneinander setzten. Überlegungen zum Figur-Grund-Konzept, zur Prototypentheorie, zu Scripts und Schemata würden dort nicht in ihrem wechselseitigen Einfluss behandelt (S. 33). Überdies existiere bislang keine umfassende theoretische Darstellung der Methode in deutscher Sprache (S. 34). Hiervon ausgehend setzt Kapitel 2 bei der Vorstellung der Grundannahmen der Kognitiven Literaturwissenschaft an: Dazu zählt Wege erstens, dass die Wahrnehmung literarischer Texte auf kognitiven Verarbeitungsprozessen beruht und somit unter Einbezug sowohl geistes- als auch naturwissenschaftlicher Konzepte untersucht werden muss (S. 42-43). Zweitens wird die Lektüre als Konstruktionsvorgang verstanden, der den Text in eine vorgestellte Erlebnissequenz transformiert und sich auf den Leser geistig und körperlich auswirkt (S. 45). Sie besteht in der Interaktion zwischen der Werkstruktur und dem kulturellen bzw. individuellen Kontextwissen des Lesers, seinen mentalen Repräsentationen und kognitiven Universalien (S. 82-84). Drittens wird vorausgesetzt, dass die Verarbeitung fiktionaler Welten die gleichen kognitiven Operationen erfordert und die gleichen neuronalen Verbindungen aktiviert wie die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit (S. 51-53). Zuletzt wird auch die „evolutionspsychologische“ Funktion von Literatur als Voraussetzung der Methode präsentiert: Das Lesen wird als Übungsplatz für das Leben entworfen, denn das Gehirn trainiere bei der Lektüre gewissermaßen für den Ernstfall, indem es seine Kapazitäten zur Organisation und Problemlösung verbessere (S. 59).

Kapitel 3 legt die Konsequenzen dieser Annahmen für die narratologischen Analysekategorien dar. Es zeigt auf, dass die Figuren, der Erzähler, der Plot, aber auch die Raumwahrnehmung als mentale Konstrukte eines Lesers aufzufassen sind, der die einzelnen Bestandteile auf Basis der Textgrundlage realisiert und imaginiert. Der Leser, so führt Wege aus, verarbeitet die Informationen eines Werks mit dem Ziel, Kohärenz und Sinn zu erzeugen (S. 66): Informationslücken gleicht er mittels seines Erfahrungswissens aus, Informationen ordnet er, bis er den Eindruck einer relevanten, widerspruchsfreien und richtigen Konstruktion der Romanwelt erlangt (S. 69). Bisweilen allerdings legen es Texte darauf an, ihn auf falsche kognitive Fährten zu führen oder zu enttäuschen, woraus wiederum spezifische Rezeptionseffekte wie der Eindruck der Unzuverlässigkeit des Erzählers oder die Verrätselung der Handlung resultieren können (S. 74).

Der Fokus von Kapitel 4 liegt auf der Wahrnehmungssituation bei der Lektüre, für die, laut der Autorin, fünf Aspekte bestimmend sind: das repräsentierte Leserwissen, das in Schemata gespeichert und aufgerufen wird und auf geistig-körperlicher Erfahrung beruht; die Materialität des Texts, die der Rezipient wahrnimmt und in sein mentales Modell mit einfließen lässt; gängige kognitive Prozesse wie die Überbrückung von Diskontinuitäten (Inferenzbildung), die Herstellung von Kausalbeziehungen, die Strukturierung der Informationen nach dem Kriterium der Relevanz (profiling), die Raum- und Bewegungskonzeptualisierung sowie die Verschmelzung unterschiedlicher Informationen und Informationsebenen (mapping); mentale Modelle, die den Gesamteindruck eines Werks wiedergeben; und letztlich Emotionen, die sowohl aus der Realisierung der Figurengefühle als auch aus der Bildung einer Bewertung des Gelesenen resultieren können.

Doch die Monographie bleibt bei den Modalitäten der bloßen Umsetzung des Texts in der Vorstellung des Lesers nicht stehen, sondern versucht in Kapitel 5, auch Effekte ästhetischer Erfahrung an Literatur wissenschaftlich greifbar zu machen. Konzeptuell angeknüpft werden diese an Wiederholungsstrukturen, also an jegliche Formen von lautlicher, visueller, syntaktischer oder inhaltlicher Analogie, von Äquivalenzen, Korrespondenzen oder Parallelen innerhalb eines Werks. Diese fungierten, so Wege, als Katalysatoren von „Metarepräsentationen“, zumal Rezipienten die Regelhaftigkeit als stabilisierend und verlässlich und somit als positiv wahrnähmen (S. 174). Sie vermögen bei der kognitiven Verarbeitung ästhetische Erfahrungen anzustoßen, zumal sie die Wahrnehmung des Lesers vom Was des Sinns abziehen und auf das Dass der Materialität lenken (S. 180). Hierbei wird auch angesprochen, dass sich ein Übermaß an Wiederholung illusionsstörend auswirken könne, da eine zu starke Ausprägung der Materialität, die Aufmerksamkeit des Lesers vom Inhalt ablenke (S. 183).

An diese theoretischen Grundlagen schließt ab Kapitel 6 der Anwendungsteil an. An ausgewählten Beispielen zeigt er auf, in welchen Zusammenhängen die kognitiven Fähigkeiten des Lesers zur Konstitution des Werks beitragen können und was die Relevanz einer kognitiven Literaturwissenschaft ausmacht. Die Monographie eröffnet dabei nicht nur im Blick auf die untersuchten Gattungen, sondern auch in Bezug auf die Herangehensweise ein breites Spektrum. Im Einzelnen reicht es von einer diskursanalytischen Betrachtung über den Versuch der Rekonstruktion potenzieller Reaktionsweisen der Rezipienten der damaligen Zeit bis zu Detailanalysen in Hinblick auf eine mögliche aktuelle Partizipation des Lesers am Werk über die Theory of Mind, konzeptuelle Metaphern und Wiederholungsphänomene.

Kapitel 7 untersucht Friedrich von Schillers ästhetische Schriften und betrachtet dessen Ideen zur ‚Einbildungskraft‘ und ‚Vorstellung‘ sowie zu den Wirkungen des Theaters auf das Publikum aus der Perspektive der Kognitionswissenschaften. Unter Rekurs auf Ansätze der medizinischen Anthropologie, des französischen Materialismus, Ideen Kants und eigene Beobachtungen zur Philosophie und Physiologie nimmt Schiller nach Wege mehrere der heutigen Konzepte wie das embodiment, die mentale Repräsentation sowie die Theory of Mind vorweg (S. 249). Erörtert wird überdies, inwiefern der Autor bei der Abfassung seiner Theaterstücke, insbesondere bei der Figurenkonzeption, Effekte der Rührung und der Erhabenheit anstrebte.

Kapitel 8 befasst sich mit den Wahrnehmungsprozessen der Figuren in Schillers Die Jungfrau von Orleans. Nach Wege betont das Theaterstück den Konstruktcharakter der menschlichen Perzeption und Vorstellung, indem es ambivalente Deutungen in Bezug auf die Gestalt und Identität der Hauptfigur schürt (S. 271-274). Besondere Aufmerksamkeit kommt in der Analyse überdies der Raummetaphorik und -wahrnehmung zu: Die Körpersprache und die Bewegungen der Figuren im Text geben Dynamiken vor, die den Leser bei der Realisierung ihres Charakters und ihrer Affekte anleiten und die Dramatik des Ausgangs verstärken. So begünstigt etwa die wiederholte Platzierung Johannas auf erhöhten Blickpunkten (Berg etc.) ihre Wahrnehmung als überlegene Figur, während kontrastive Perspektiven diesen idealisierenden Impetus durchbrechen und ihre narzisstischen Züge hervortreten lassen (S. 314). Ebendieses steigende und fallende Element wiederholt sich im triadischen Schema der Tragödie und akzentuiert Johannas letztendlichen Tod somit auf der Ebene des Handlungsverlaufs (S. 339).

Heinrich Heines Heimkehr-Zyklus aus dem Buch der Lieder unterzieht das 9. Kapitel einer Betrachtung in Hinblick auf die Bildlichkeit, Räumlichkeit und Körperlichkeit. Es arbeitet heraus, inwieweit diese Qualitäten als konzeptuelle Metaphern verstanden werden können, die dem Leser bei der Realisierung der Gedichte emotionale und inhaltliche Dynamiken vor Augen führen. Dabei unterstreicht es, wie eng der Zusammenhang zwischen den Angaben zu den Bewegungen und der Modellbildung des Lesers ist. So legt Wege etwa dar, dass der Lektüreeindruck der Einsamkeit und Sehnsucht im Text mit räumlicher Distanz und einem von unten nach oben gerichteten Blick korreliert ist (S. 357) und kann sowohl auf makro- als auch auf mikrostruktureller Ebene zyklische Aufstiegs- und Fallbewegungen ausmachen, die sich im mentalen Modell als grundlegendes Gefühl oder als Atmosphäre der Haltlosigkeit niederschlagen können (S. 387-391).

Eine vergleichbar zentrale Rolle spielt das örtliche Element in der Analyse von Adalbert Stifters Bergkristall (Kapitel 10) und Thomas Manns Zauberberg (Kapitel 11). Anhand der Prinzipien der Vertikalität, der Innen-Außen-Relation sowie der Körpersprache pointiert Wege die Möglichkeiten der Beteiligung des Lesers am Charakter, den emotionalen oder moralischen Haltungen der Figuren. Für Stifter bemerkt sie einen ausgeprägten Hang zu symmetrischen Anlagen, der sich sowohl in den Bewegungsrichtungen der Figuren, ihren Blickpositionen, aber auch in der Wahl für den Text relevanter Gegenstände äußert. Diese Gleichmäßigkeit deutet sie als Wiederholungsphänomen, das dem Text einen harmonischen Charakter verleiht und somit einer ästhetischen Metarepräsentation Vorschub leistet (S. 420). Ähnlich geführt ist die Argumentation in Bezug auf die Beschreibung des Bergs bei Thomas Mann und des sich wandelnden räumlichen Verhältnisses Hans Castorps zu ihm. Auch hier bilden die inhaltlichen und visuell-akustischen Dynamiken eine Art Rhythmus, der den Leser emotional bzw. ästhetisch berührt (S. 481).

Insgesamt liegt das Hauptaugenmerk der durchgeführten Analysen im Bereich der Bildung mentaler Modelle, besonders auf Basis der Chronotopos- und Bewegungsgestaltung in ihrer Verbindung zur Vorstellung der Figuren und der Handlung. Es wird ausgelotet, inwiefern kognitive Metaphern, die Materialität des Texts sowie Figur-Grund-Prozesse mit der Bildung einer möglichen Repräsentation des Lesers in Zusammenhang stehen und sich dabei gegenseitig beeinflussen. Das anfängliche Ziel, die unterschiedlichen Kategorien und Konzepte der Kognitiven Literaturwissenschaft nicht isoliert zu betrachten, sondern miteinander in Beziehung zu setzen, ist somit zumindest in Bezug auf diese Aspekte erreicht.

Neue Impulse und neue Fragen für die Kognitive Literaturwissenschaft

Methodische Innovationen erbringt Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität vor allem in den Ausführungen zu den konzeptuellen Metaphern sowie den Wiederholungsstrukturen (Punkt III in Kapitel 4 sowie Kapitel 5). In Bezug auf erstere legt Wege dar, der Rezipient könne „vom beschriebenen konkreten Äußeren, z.B. der körperlichen Verfassung einer Person, […] auf ein nicht sichtbares Inneres“ (S. 123) schließen. Nicht verbalisierte psychische Zustände eröffneten sich ihm über solche Zuschreibungen. Eine besonders eingehende Betrachtung erfahren – wie oben bereits durchgeklungen sein mag – lokale Positionen und Bewegungen, vor allem das titelgebende Prinzip der Vertikalität, das Lakoff / Johnson und Gibbs mit Glück / Unglück, moralischer Stärke / Schwäche, Gesundheit / Krankheit, Macht / Unterlegenheit in Verbindung bringen (S. 118f.). Sicherlich ist Wege nicht die erste, die eine Fruchtbarmachung konzeptueller Metaphern für die Kognitive Literaturwissenschaft versucht – deren Relevanz heben etwa auch Peter Stockwell in Cognitive Poetics (2002, 105-120) oder Margaret Freeman in „Cognitive Mapping in Literary Analysis“ (2002, 472-474) hervor. Nichtsdestotrotz wurden sie im deutschsprachigen Forschungsraum bislang eher selten für Analysen bemüht, geschweige denn so umfassend und präzise dargelegt. Die Koppelung konkreter Rauminformationen oder verräumlichter Textmerkmale mit möglichen Leserkognitionen ist konsequent durchgeführt und schafft es, die Kognitive Literaturwissenschaft von einem strikt inhaltlichen Fokus zu lösen und die Rolle dieser bislang wenig beachteten Textbestandteile für die Verarbeitung durch den Leser sicht- und fruchtbar zu machen.

Was die akustischen, visuellen, syntaktischen oder thematischen Wiederholungsstrukturen anbelangt, die Wege auch „Spiegelbeziehungen“ (S. 173) nennt, so ist positiv hervorzuheben, dass sie überhaupt berücksichtigt und stark gemacht werden, zumal die übrigen Publikationen zur Kognitiven Literaturwissenschaft ihren Zusammenhang mit der Textverarbeitung häufig nur eingeschränkt berücksichtigen und ihrer Produktivität kaum Tribut zollen. Allerdings ist es ungewöhnlich, dass der Entwurf dieser Kategorie ohne Bezugnahme auf Roman Jakobsons Ausführungen zum Äquivalenzprinzip und zur Ikonizität literarischer Texte auskommt. Sicherlich argumentiert Jakobson in „Linguistik und Poetik“ aus einer strukturalistischen Perspektive, die den Rezipienten nicht miteinbezieht. Gleichwohl stützen seine Überlegungen die Idee der Wiederholungsstrukturen und erfordern lediglich noch eine Erweiterung in Bezug auf deren kognitive Verarbeitung. Zudem wirft die Argumentation in diesem Bereich einige Fragen auf: Erstens bleibt unklar, warum sich Wiederholungsphänomene ausschließlich auf die ästhetische Erfahrung auswirken und nicht auch auf die Figuren- / Erzähler- / Orts- und Plotkonstruktion. Ein lautlicher oder inhaltlicher Rhythmus beispielsweise kann nicht nur den globalen Eindruck von Harmonie begünstigen, sondern er kann je nach Frequenz und Amplitude der periodischen Wiederkehr ebenso den Anschein der Ausgeglichenheit oder Nervosität einer Figur oder des Erzählers, der Beschaffenheit des Raums oder des Stillstands bzw. der Brisanz der Handlung erwecken. Es gilt dementsprechend, sich näher mit der Frage auseinanderzusetzen, wann der Leser eine Wiederholungsstruktur eher als Figurenemotion und wann eher als Metarepräsentation realisiert. Überdies sollten nicht nur die Regelmäßigkeiten als Quelle der emotionalen oder kognitiven Befindlichkeiten der Figuren oder der atmosphärischen Gegebenheiten herangezogen werden. Auch der Bruch mit einem Gleichmaß kann als eine Art ikonisches Element fungieren, etwa wenn eine Veränderung oder Unterbrechung des Rhythmus als Umschwenken einer Emotion oder als Schockeffekt gelesen werden (vgl. Hiergeist 2014, 146-166). Auf diese Art von kognitiven und affektiven Implikationen der Textrhythmen jenseits des ästhetischen Erlebens geht Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität zwar punktuell ein, wenn es etwa in Bezug auf Heines Lieder heißt, dass über die Länge der Verszeilen eine emotionale Beteiligung des Lesers befördert werden könne (S. 390); eine konsequente Verbindung zwischen den Rhythmen und möglichen verkörperlichten Affekten des Rezipienten oder aber auch eine Untersuchung der genauen Modalitäten ihres Zustandekommens leistet die Studie jedoch noch nicht. Dieser beschränkten Thematisierung affektiver Leserreaktionen entspricht die Tatsache, dass die Kognitive Literaturwissenschaft Emotionen wie die übrigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen lange als zu subjektiv und vage aus ihrem Zuständigkeitsbereich ausgeklammert hat (vgl. Anz 2006). Es scheint daher nach wie vor zu gelten, was David Miall in Literary Reading andeutet: „Restriction to a cognitive approach has almost entirely eliminated consideration of the role of feeling in literary response“ (Miall 2006, 3).

Zweitens und damit zusammenhängend lässt sich in Bezug auf die Wiederholungsstrukturen fragen, ob nicht auch die Festschreibung auf ihre illusionsstörende Funktion zu kurz greift bzw. einer formalistischen Form-Inhalt-Trennung anhängt, die der Lektürerealität nicht unbedingt entspricht. Sicherlich kann in Situationen einer sehr manifesten Wiederholung das Medium seine Transparenz verlieren und dadurch die Aufmerksamkeit auf den „Nicht-Sinn im Sinn“ (Mersch 2002, 205) lenken. Bei diesen Störfällen handelt es sich um Extrembeispiele der sinnlichen Wahrnehmung, doch man muss gar nicht so weit gehen, um die Materialität eines Texts zu erfahren. Die Bedeutungsherstellung muss nicht zwangsweise unterbrochen, die romanweltliche Illusion nicht gestört sein, damit die sinnliche Wahrnehmung von Romanen möglich wird. Vielmehr zeichnet sich die emotionale Beteiligung gerade dadurch aus, dass diese beiden Dimensionen miteinander verschmelzen und Materialität und Bedeutung stets gleichzeitig wahrgenommen werden (vgl. Strätling / Witte 2006, 7). Dass speziell aus dem simultanen Zusammenspiel der beiden Ebenen emotionale und kognitive Mehrwerte resultieren können, sollte die Kognitive Literaturwissenschaft in Zukunft noch stärker explorieren.

Davon abgesehen kann ein weiterer Punkt zur Diskussion gestellt werden, der die Strategie zur Legitimation naturwissenschaftlicher Konzeptanleihen betrifft. Hierzu rekurriert die Monographie – wie mehrere andere Publikationen im Bereich der Kognitiven Literaturwissenschaft – wiederholt auf eine evolutionstheoretische Argumentation: So heißt es etwa, die Funktion und Relevanz der Lektüre und somit ihre Sinnhaftigkeit bestehe darin, die Leistungsfähigkeit des Gehirns über das Ausprobieren in einem gefahrlosen, zumal fiktionalen Zusammenhang zu schulen und zu optimieren (S. 59). Der Lustgewinn, den der Leser aus Literatur zieht, läge demnach im Erwerb eines impliziten evolutionären Vorteils gegenüber denjenigen, die sich diese Übung entgehen ließen. Auf diese Weise wird der Beitrag des Rezipienten zum literarischen Werk beständig auf biologische Funktionen reduziert. Aus einer solch biologistischen Rhetorik ergibt sich jedoch kein Mehrwert für die konkrete Analyse, ganz abgesehen davon, dass ihr Nutzen in einem geisteswissenschaftlichen Kontext auch sonst eher zweifelhaft ist. Im Grunde würde es zur Rechtfertigung der Methode doch ebenso ausreichen, die Lektüre literarischer Texte als wichtige und gängige Kulturtechnik zu beschreiben, die sich auf Basis kognitiver Grundlagen vollzieht. Literatur hat ihre Notwendigkeit und Berechtigung auch jenseits eines funktionalistisch gedachten survival of the fittest: Zu den grundlegenden menschlichen Zielen gehört wohl nicht nur, sich gegenüber den täglichen Herausforderungen zu behaupten, sondern auch, das Leben qualitativ anzureichern, etwa über das Erleben von Emotionen, Evaluationen und Kognitionen oder ästhetischen Erfahrungen bei der Lektüre.

Fazit

Insgesamt wird Wege ihrem ursprünglichen Vorhaben durchaus gerecht, den Wust kognitionswissenschaftlicher Theorien zu bändigen, diese zu systematisieren und die einzelnen Konzepte der Kognitiven Literaturwissenschaft auf fruchtbare Weise miteinander zu vernetzen. Hervorzuheben ist, dass sie die Anwendung der Theory of Mind nicht auf die Wahrnehmung der inhaltlichen Aspekte literarischer Texte beschränkt, sondern nach Möglichkeiten sucht, die Interaktion von Text und Leser in ihrer stofflich  sinnlichen Dimension zu erschließen. Was ihre Analysen zur Räumlichkeit und den Bewegungsdynamiken sowie zu den Wiederholungsphänomenen als Katalysator der ästhetischen und emotionalen Beteiligung angeht, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung und Weiterentwicklung des Forschungsinstrumentariums. Als in methodischer Hinsicht weniger hilfreich erweist sich hingegen die evolutionsbiologische Rhetorisierung der Literatur, deren inhaltliche Relevanz für die Kognitive Literaturwissenschaft unklar bleibt.

Den Textanalysen kommt der Verdienst zu, eine breite Palette unterschiedlicher (leserseitiger, textseitiger und kulturwissenschaftlich orientierter) Herangehensweisen vorzustellen, neue Möglichkeiten der Anwendung von Kognitionswissen in der Literaturwissenschaft zu erschließen, wodurch sie zur Erreichung einer größeren Operabilität der Subdisziplin beitragen. Allerdings bringt die Auswahl eines so breiten Untersuchungskorpus auch Nachteile mit sich: Die Einzelanalysen können nur beschränkt in die Tiefe gehen, was sich bisweilen komplexitätsreduzierend auswirkt, so dass die Interpretationen vor allem bei längeren Primärtexten etwas punktuell und flüchtig bleiben müssen. Davon abgesehen ist Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität ein gelungenes Buch, das zur Etablierung der kognitiven Methode in den Literaturwissenschaften durchaus einen Beitrag leisten kann.

Literaturverzeichnis

Anz, Thomas (2006): „Emotional turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung“. In: Literaturkritik.de. URL: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267 (23.12.2014).

Freeman, Margaret (2002): „Cognitive Mapping in Literary Analysis“. In: Style 36 (H. 3), S. 466-483.

Hiergeist, Teresa (2014): Erlesene Erlebnisse. Formen der Partizipation an narrativen Texten. Bielefeld.

Mersch, Dieter (2002): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz und Ereignis. München.

Miall, David (2006): Literary Reading. Empirical and Theoretical Studies. New York.

Stockwell, Peter (2002): Cognitive Poetics. An Introduction. London.

Strätling, Susanne / Witte, Georg (2006): „Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität“. In: Susanne Strätling / Georg Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift. München, S. 7-17.



Dr. Teresa Hiergeist
Institut für Romanistik
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