Daniel Becker und Anne-Catherine Höffer

Relevance and Narrative (Research)

Tagungsbericht zu „Relevance and Narrative (Research) – An International Symposium“, Bergische Universität Wuppertal, 30.09.-02.10.2014

Am Zentrum für Erzählforschung (ZEF) der Bergischen Universität Wuppertal fand vom 30.09. bis 02.10.2014 eine von der DFG geförderte Tagung zum Thema „Relevance and Narrative (Research)“ statt. Die von Matei Chihaia und Katharina Rennhak organisierte Veranstaltung brachte Erzählforscherinnen und -forscher unterschiedlicher Disziplinen zusammen, um die komplexen Interdependenzen zwischen Konzepten der Relevanz und der Narration in den Blick zu nehmen.

Ausgehend von der Beobachtung, dass der Begriff der Relevanz in der Regel in einem alltagssprachlichen Sinne verwendet wird, verfolgte die Tagung das Ziel, einen Beitrag zur Begriffsexplikation zu leisten und dabei das Potential des Relevanzbegriffs für die Erzählforschung zur Diskussion zu stellen. Einen ersten Vorschlag zur Konzeptualisierung beider Teilaspekte der Fragestellung – terminologische Differenzierung und Verortung des Relevanzbegriffs im Kategoriensystem der Narratologie – unterbreiteten Chihaia und Rennhak in ihrem einleitenden Vortrag „Relevance and Narrative Research as Conceptual Challenge“. Ihrer Auffassung zufolge ist ‚Relevanz‘ nur als relationaler Begriff denkbar, der die Beziehung zwischen zwei Entitäten beschreibt. Um eine solche Beziehung und ihre Implikationen beschreibbar zu machen, bedürfe es der Narration, verstanden als universal vorhandenes System der Bedeutungserzeugung. Als Rahmen für die weitere Untersuchung des Zusammenhangs von Narration und Relevanz schlugen Chihaia und Rennhak vor, die Zusammenhänge von Relevanz und narrativen Strukturen, von Relevanz und Kommunikation oder von Relevanz und Metanarrativen in den Blick zu nehmen.

Andreas Mahler (FU Berlin) beschäftigte sich in seinem Vortrag „Disciplining Relevance: On Manifest and Latent Functions of Narratives“ mit der Relevanz von literarischen Erzählungen als sozialen Institutionen. Eine wesentliche Funktion fiktionaler Erzählungen liege, so Mahler, in der repräsentativen Darstellung gesellschaftlicher und moralischer Problemstellungen als Basis gesellschaftlichen Wandels (manifeste Funktion). Die Relevanz des literarischen Textes ergebe sich hier außerhalb des Texts. Als Gegenentwurf stellte Mahler diesem Verständnis die latente Funktion literarischer Texte entgegen: Diese sei rein text-immanent und bestehe in der Hervorhebung des Konstruktcharakters literarischer Erzählungen durch ästhetische und gattungstheoretische Konventionen. Der literarische Text sei als solcher von höchster Relevanz, weil er die Bewusstmachung der narrativen Konstruktion von Wirklichkeit ermögliche. Die gesellschaftliche Funktion könne nur in Verbindung mit der ästhetisch-affektiven Dimension von Erzähltexten erfasst werden.

Julika Griem (Frankfurt am Main) ging in ihrem Beitrag „Compassion Fatigue: Emphatic Relevance and the Pitfalls of a Normativization of Literary Theory“ von der Beobachtung aus, dass Narrativen heute eine größere Relevanz zugesprochen wird als Literatur. Ein Grund dafür sei, das Narrative eine höhere mediale Assimilationsfähigkeit besäßen als schriftgebundene literarische Texte. Ähnlich wie Mahler vollzog auch sie eine Untergliederung in intrinsische und extrinsische Funktionen von Narrativen und veranschaulichte ihre Argumentation anhand von Beispielen aus der Biographie und dem Werk John Burnsides.

Während Mahler und Griem als Vertreter einer soziologisch-philosophischen Sichtweise den Fokus auf die gesellschaftliche Relevanz von Narrativen richteten, beschäftigten sich die Beiträge von Susan Lanser (Brandeis University, Massachusetts) und Roy Sommer (Wuppertal) mit methodologischen Implikationen dieser gesellschaftlichen Bedeutung für die aktuelle Erzählforschung. In ihrem Beitrag „The (Ir)Relevance of Narratology“ fragte Lanser nach der Relevanz der postklassischen Erzähltheorie. Sie erinnerte an den Narrative Turn der 1970er Jahre als Legitimationsgrundlage der heutigen Erzählforschung: Die immense Ausbreitung von Narrativenin allen erdenklichen gesellschaftlichen Bereichen verleihe der erzähltheoretischen Grundlagenforschung „second order relevance“. Allerdings hinterfragte Lanser die tatsächliche Leistungsfähigkeit aktueller theoretischer Ansätze. Derzeitig bestehe innerhalb der Narratologie Uneinigkeit über den Grad der Relevanz einzelner narratologischer Kategorien. Lanser plädierte daher für die Reduktion des terminologischen Instrumentariums und eine klarere Fokussierung auf gesellschaftlich relevante Fragestellungen. Am Beispiel des reversed plotting zeigte sie auf, wie die Narratologie durch eine solche Re-Fokussierung auch im Vergleich zu anderen Disziplinen eine höhere Relevanz gewinnen könne.

Die bei Lanser anklingende Frage nach der Berechtigung der Erzählforschung im Kontext anderer Wissenschaftsdisziplinen wurde durch Roy Sommer um eine wissenschaftstheoretische Dimension erweitert. Ausgehend von der grundlegenden Frage, in welchem Maße die aktuelle Erzählforschung einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann, zeichnete Sommer in seinem Beitrag „Relevance, Postclassical Narratology and Narrative Design“ die Entwicklung des Selbstverständnisses der Narratologie nach. Während die Narratologie der 1960er und 1970er Jahre ihre Relevanz aus der programmatischen Abkehr vom Paradigma der Werkinterpretation und der Hinwendung zu Fragen der Klassifikation und der Identifikation universeller Erzählmuster gewonnen habe, stellten die (interdisziplinäre) Diversifizierung narratologischer Ansätze in der postklassischen Phase die Erzählforschung vor neue Herausforderungen, nämlich die Vielfalt der narratologischen Ansätze durch theoretische Strukturmodelle klarer fassbar, sowie wissenschaftlich anschlussfähiger zu gestalten. Sommer diskutierte anschließend überblicksartig die Konsequenzen der von Edward Wilson initiierten Debatte um Konsilienz (consilience) sowie der von Mieke Bal vorgeschlagenen Abkehr von Methoden zugunsten von travelling concepts.

In Ergänzung der (meta)theoretischen Vorträge von Mahler, Griem, Lanser und Sommer fragte eine Reihe von anwendungsorientierten Beiträgen nach dem Potential des Relevanzbegriffs für die Analyse von Erzähltexten. Wiederkehrender Bezugspunkt war dabei die aus der Pragmatik stammende linguistische Relevanztheorie. Die von Dan Sperber und Deirdre Wilson (1986) formulierte Relevanztheorie baut auf der von H.  P. Grice entwickelten Implikaturtheorie auf und geht davon aus, dass Kommunikation nicht nur sprachliche Enkodierung und Dekodierung voraussetzt, sondern auch Inferenzbildungen, sowohl auf Seiten des Sprechers als auch auf Seiten des Adressaten. Damit Kommunikation unter diesen Bedingungen erfolgreich verlaufen kann, gilt für Kommunikation das Relevanz-Prinzip: der Sprecher hat Vorannahmen über den Kenntnisstand des Adressaten und passt seine Äußerung an das vermutete Vorwissen des Rezipienten an; der Rezipient geht entsprechend davon aus, dass der Sprecher sich in seinem Sprechakt auf relevante Aspekte konzentriert. Der interdisziplinäre Beitrag des Wuppertaler Linguisten Carsten Breul („Relevance Theory and Literary Studies – and Some Thoughts on Paul Torday’s The Irresistible Inheritance of Wilberforce“) erprobte die Übertragbarkeit der Theorie von Sperber und Wilson auf fiktionale Kommunikation, indem er mit Begriffen und Konzepten der Relevanztheorie der Frage nachging, ob es sich bei dem homodiegetischen Erzähler von Tordays Roman um einen „improbable narrator“ handelt.

Raphaël Baroni (Lausanne) bezog sich in seinem interdisziplinär ausgerichteten Vortrag „The Parameters of Relevance and Cooperation in Mimetic and Configuring Narratives“ neben der Relevanztheorie von Sperber und Wilson auch auf kommunikations- und kognitionswissenschaftliche Ansätze. Ausgehend von den Grundsätzen des Kooperationsprinzips von Grice unterschied Baroni verschiedene narrative Strategien, die für den Rezipienten Relevanz signalisieren. In diesem Kontext führte er die Unterscheidung von mimetic und configuring narratives ein: In mimetic narratives ergebe sich die Relevanz eines Textes für den Leser nicht durch die Vermittlung von Information, wie es bei configuring narratives der Fall sei, sondern durch die Simulation von unmittelbarem Erleben des Erzählten während der Rezeption.

Die Beiträge von Sabine Schlickers (Bremen) und Michael Ranta (Lund) bearbeiteten Fragestellungen der transmedialen Erzähltheorie: In ihrem Vortrag „Unreliability and the Search for ‚Relevant‘ Concepts in Narrative Analysis“ setzte sich Schlickers mit dem erzähltheoretischen Konzept des unzuverlässigen Erzählens im Film auseinander. Ranta reflektierte in „Relevance and Tellability in Pictorial Storytelling“ im Rückgriff auf die linguistische Relevanztheorie visuelle Wahrnehmungsprozesse beim Betrachten bildender Kunst.

Die Beiträge von Elke D’hoker (Leuven), Sebastian Domsch (Greifswald), Sonja Klimek (Freiburg) und Susanne Schlünder (Osnabrück) widmeten sich unkonventionellen Strategien zur Erzeugung von Relevanz in exemplarischen Erzähltexten. D’hoker untersuchte in „The Relevance of Narrative Theories for the Study of Short Fiction: The Case of First-Person Present-Tense Narration“ das Phänomen der Ich-Erzählsituation im Präsens in Kurzgeschichten, u.a. von Claire Keegan und Jackie Kay. D’hoker zufolge erzeugen die vermeintliche Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit der beschriebenen Gefühlseinblicke Relevanz durch die Intensität des dargestellten Erlebens. Die Authentizität des Erzählten würde zudem durch die Nähe zum mündlichen Alltagserzählen gesteigert – so entstünden neue Identifikationspotentiale.

In eine ähnliche Richtung bewegte sich der Beitrag von Sebastian Domsch, Slice of Life‘ and the Question of Narrative Relevance“. Domsch untersuchte naturalistische Slice-of-Life-Erzählungen, in denen die Alltäglichkeit des Dargestellten und der Verzicht auf eine Dramaturgie des Plots den Eindruck einer zufälligen Auswahl des Dargestellten erzeugen. Der Eindruck der Beliebigkeit in der Selektion und der damit einhergehenden Ereignislosigkeit der Handlung widerspreche zwar der Erzählkonvention der tellability, entwickle aber durch die simulierte Authentizität der Erfahrung eine spezifische Relevanz.

Sonja Klimek ging in ihrem Beitrag „Fantastic?! Metaleptic Events and Their Relevance for Readers’ Inferences about Fictional Worlds“ der Frage nach, wie sich Metalepsen als Stilmittel im Fantasy-Roman auf die Erwartungshaltung des Rezipienten auswirken. Die Erwartungen eines Lesers an einen Text, die u.a. durch Vorwissen über ein Genre erzeugt würden, bestimmten, inwiefern der Leser sich auf eine – im Grice’schen Sinne – fruchtbare Kommunikation mit dem Text einlassen könne und wolle. Metalepsen, die, ähnlich wie unzuverlässiges Erzählen, illusionsstörend wirkten, forcierten Neuformulierungen der bis zu ihrem Auftreten entworfenen Diegese im Bewusstsein des Rezipienten. So würden Metalepsen die genretypisch tendenziell in sich abgeschlossene fantastische Welt des Fantasy-Romans öffnen.

Die gezielte Hervorhebung des Irrelevanten war schließlich Gegenstand des Beitrags von Susanne Schlünder, „Narrative Strategies and the Construction of (Ir)Relevance in the Works of Echenoz and Toussaint“. Die französischsprachigen post-avantgardistischen Romane von Jean Echenoz und Jean-Philippe Toussaint stellten dezidiert das Alltägliche und aufgrund seiner Ereignislosigkeit gewissermaßen ‚Unerzählbare‘ in den Mittelpunkt der Darstellung. Durch die Reduktion auf die Monotonie des Alltags erweise sich das Irrelevante als ebenso ‚erzählbar‘ wie scheinbar relevanteres Geschehen. Die dadurch entfallende narrative Schwerpunktsetzung entlarve den Erzählprozess selber als das eigentlich Relevante.

Insgesamt deckten die Vorträge der Tagung eine große Bandbreite von Themen ab, wobei sich die beiden Hauptschwerpunkte der Beiträge und der Diskussionen – einerseits die metatheoretischen Überlegungen zum Relevanzbegriff, andererseits die Konzeptualisierung narrativer Relevanz anhand von exemplarischen Analysen unterschiedlicher Erzähltexte – sehr gut ergänzten. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Fragestellung, das haben die engagierten Diskussionen gezeigt, ist sicherlich lohnend.



Daniel Becker
Bergische Universität Wuppertal
Anglistik / Amerikanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: daniel.becker@uni-wuppertal.de
URL: http://www.anglistik.uni-wuppertal.de/ueber-uns/personal/becker.html

Anne-Catherine Höffer, M.A.
Bergische Universität Wuppertal
Anglistik / Amerikanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: c.hoeffer@uni-wuppertal.de
URL: http://www.zgs.uni-wuppertal.de/mitglieder/anne_catherine_hoeffer.html

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