Silvia Reuvekamp

Hölzerne Bilder – mentale Modelle?

Mittelalterliche Figuren als Gegenstand einer historischen Narratologie

The article attempts to make postclassical narrative theory productive for an analysis of characters in vernacular novels from the Middle Ages and the early modern period. Viewing medieval characters as well as medieval mental constructs as modern, it focuses on the processes whereby characters are constituted from textual information. Using the Fortunatus (1509) as an example, the article shows that markedly different textual structures of presentation direct the inferences of the audience and (in particular) how recipients respond to characters in different ways.

1. Einleitung

Figuren spielen in narrativen Fiktionen eine ganz entscheidende Rolle. Aus produktionsästhetischer Sicht gilt dies schon deswegen, weil Handlung ausschließlich an Menschen oder – mit gewissen Einschränkungen – doch menschenähnlichen Funktionsträgern dargestellt werden kann. Aber auch über die Rezeption literarischer Texte weiß man, dass Leser bei der Konstitution fiktiver Welten in ganz besonderer Weise auf die Figuren reagieren, die sie zu Vorstellungen von Personen komplettieren, obwohl das über sie Gesagte stets nur eine abgeschlossene und endliche Menge an Informationen enthält (Platz-Waury 1997, 587; Martínez 2011, 145f.).

Die wichtigsten Funktionsweisen dieses basalen Rezeptionsmechanismus sollen kurz an einem Auszug aus einem modernen Roman, Michel Houellebecqs 2010 erschienenem Künstlerroman La carte et le territoire (Deutsch 2011, Karte und Gebiet ), in Erinnerung gerufen werden. Die Handlung beginnt mit folgender Szene:

Jeff Koons venait de se lever de son siège, les bras lancés en avant dans un élan dʼenthousiasme. Assis en face de lui sur un canapé de cuir blanc partiellement recouvert de soieries, un peu tassé sur liu-même, Damien Hirst semblait sur le point dʼémettre une objection; son visage était rougeaud, morose. Tous deux étaient vêtus dʼun costume noir – celui de Koons, à fines rayures –, dʼune chemise blanche et dʼune cravate noire. Entre les deux hommes, sur la table basse, était posée une corbeille de friuts confits à laquelle ni lʼun ni lʼautre ne prêtait aucune attention; Hirst buvait une Budweiser Light.
Derrière eux, une baie vitrée ouvrait sur un paysage dʼimmeubles élevés qui formaient un enchevêtrement babylonien de polygones gigantesques, jusquʼaux confins de lʼhorizon; la nuit était lumineuse, lʼair dʼune limpidité absolue. On aurait pu se trouver au Qatar, ou à Dubai; la décoration de la chambre était en réalité inspirée par une photographie publicitaire, tirée dʼune publication de luxe allemande, de lʼhôtel Emirates dʼAbu Dhabi.
Le front de Jeff Koons était légèrement luisant; Jed lʼestompa à la brosse, se recula de trois pas. Il y avait décidément un problème avec Koons. Hirst était au fond facile à saisir [...]. (Houellebecq 2010, 9f.)1

Dieser Romanbeginn gestaltet sich als Kippfigur: was der Rezipient zunächst für die Einstiegsszene mit dem Auftritt der handelnden Figuren hält, entpuppt sich bald als Bildbeschreibung. Träger der Handlung sind nicht etwa die auf dem Bild dargestellten Figuren, sondern der Maler, der sich an der bildlichen Darstellung zweier in der Erzählwelt real existierender Persönlichkeiten abarbeitet. Liest man die Stelle ein zweites Mal, fällt schnell auf, dass doch eine ganze Reihe von Textsignalen die Statik des Dargestellten markieren oder sogar den künstlerischen Schaffensprozess thematisieren. Mit einer Ausnahme werden in der gesamten Passage keine Handlungen beschrieben, sondern lediglich Resultate von Handlungen benannt: Jeff Koons hatte sich bereits von seinem Sitz erhoben und seine Arme in die Luft gestreckt – Damien Hirst saß in sich gesunken auf einem weißen Sofa – das Ledersofa war teilweise mit einem Seidenstoff bedeckt – auf seinem Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck. Außerdem markieren Konjunktive den optionalen Status des Dargestellten: Es scheint so, als sei Hirst im Begriff, einen Einwand zu machen – Die Szenerie hätte sich in Dubai oder Katar ereignen können; vor allem aber beziehen sich die allermeisten der gegebenen Informationen auf visuelle Details, der Gesichtsausdrücke, der Raumgestaltung und des Hintergrundes. Bei näherer Betrachtung ist mehr als offensichtlich, dass es sich in der zitierten Passage um eine Bildbeschreibung handelt. Warum also hält der Rezipient bei der Erstlektüre Jeff Koons und Damien Hirst ungeachtet all dieser Textsignale für handelnde Romanfiguren, und warum irritiert die ungewöhnliche Art der Darstellung zunächst nicht einmal?

Die kognitiv ausgerichtete Narratologie beschreibt literarische Figuren als textbasierte mentale Modelle, die in der narrativen Kommunikation im Zusammenspiel von Textinformationen und Personenvorstellungen des Rezipienten aufgebaut, erweitert und verändert werden (vgl. Schneider 2000, 35-98). In Prozessen der Inferenzbildung naturalisieren wir diese Informationen, indem wir sie im Rekurs auf unser eigenes in einem weiteren Sinne anthropologisches Wissen lebensweltlicher, literarischer oder gelehrter Provenienz ausweiten und auffüllen. Die Grundlage dafür ist, dass mentale Figurenmodelle von vornherein, das heißt schon mit oder gar vor der ersten Erwähnung einer Figur eine Struktur aufweisen, in die die im Text gegebenen Informationen während des Rezeptionsprozesses sukzessive eingeordnet werden. Diese Grundstruktur entspricht den Annahmen darüber, was eine Person ausmacht, so z.B., dass sie ein Äußeres und ein Inneres hat, dass dem Innenleben mentale Zustände zugeschrieben werden können und dass es neben kurzfristigen inneren Dispositionen langfristigere Merkmale gibt, die gleichsam das „Wesen“ einer Person bestimmen (vgl. Jannidis 2004, 126-128; 192-195). Es ist dieser Mechanismus, der automatisierten Unterstellung von Personalität, der den Leser Jeff Koons und Damien Hirst in der eben zitierten Textstelle zunächst für literarische Figuren halten lässt und den Michel Houellebecq sich zu Nutze macht, um gleich zu Beginn der Handlung die Frage nach der Darstellbarkeit von Menschen im Medium von Kunst und Literatur als leitendes Thema seines Romans spektakulär zu inszenieren.2

Diskutiert werden soll im Folgenden die Frage, ob und unter welchen Bedingungen sich das skizzierte kognitive Figurenmodell, das durchweg an modernen Texten entwickelt wurde, auf mittelalterliche Literatur und ihre spezifischen Produktions- wie Rezeptionsbedingungen anwenden lässt und welcher Erkenntnisgewinn mit einer Historisierung solcher Theoriekonzepte und den daraus abgeleiteten Analyseinstrumentarien verbunden sein könnte.3 Im Anschluss daran möchte ich diese Überlegungen am Beispiel des frühneuzeitlichen Prosaromans Fortunatus perspektivieren.4

2. Mittelalterliche Figuren als Problemfeld einer historischen Narratologie

Referieren mittelalterliche Texte also in ähnlicher Weise auf Regularien der Personenwahrnehmung, wie moderne Literatur es tut, und machen die Texte sich diese Regularien bei ihren Figurenentwürfen zu Nutze, um die Bildung mentaler Modelle bei ihren Rezipienten zu steuern? Oder haben mittelalterliche Texte ein grundlegend anderes, vielleicht sogar geringeres Interesse an der Darstellung literarischer Menschen?

Die aktuelle mediävistische Forschung tendiert ganz deutlich dazu, für vormoderne Literatur ein Primat der Handlungsführung gegenüber der Figurendarstellung zu konstatieren und von daher bei ihrer Beschreibung eher an strukturalistische Forschungsparadigmen anzuschließen. Verstanden werden mittelalterliche Figuren entsprechend nicht als mentale Modelle, sondern als Aggregate narrativer Funktionen (vgl. Strohschneider 1997, 75f.) oder als Bündelung der Funktionen von Handlungskonstellationen (vgl. Müller 1998, 203f.). Ausgangspunkt dafür ist die Beobachtung, dass mittelalterliche Figuren vor dem Hintergrund moderner ästhetischer Gewohnheiten eher typenhaft oder gar holzschnittartig wirken und modernen Erwartungen an Kohärenz oder psychologisch stimmiges Verhalten nicht entsprechen. Die Ursachen für solche Eigenheiten des Erzählens werden gemeinhin in den zeitgenössisch wirksamen anthropologischen Modellen und Konzepten gesehen, denen zu Folge sich der Mensch allem voran über die verschiedenen sozialen Konstellationen definiere, in die er eingebunden sei und seine Identität gerade nicht im Sinne moderner Individualitätsvorstellungen in Abgrenzung zu diesen sozialen Konstellationen ausbilde (vgl. z.B. Müller, 2004; 2007, 170-271).

In seiner 2012 erschienen Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive resümiert Armin Schulz diese Argumentationslinie und plädiert in der Folge für eine anthropologisch neu begründete Verwendung des Aktantenmodells:

Die Figuren erscheinen kaum je als komplexe Charaktere (weshalb man den Begriff hier vermeiden sollte), sondern in erster Linie als Handlungsträger, die bestimmte Typen repräsentieren. Individualisiert werden sie vor allem durch ihre Geschichte, nicht aber durch persönliche, unveräußerliche Eigenschaften: durch das, was sie tun; nicht durch das, was sie ‚im Innersten sind‘. [...] Wenn das beschriebene Modell [i.e. das Aktantenmodell] jedoch nicht aus der Existenz einer narrativen Tiefenstruktur hergeleitet werden kann, braucht es eine andere Begründung. Diese liegt in der mittelalterlichen Anthropologie. Die mittelalterliche Vorstellung vom Menschen trennt das menschliche Individuum keineswegs so scharf von anderen Individuen und von seiner Umwelt, wie dies in der Moderne üblich ist. (Schulz 2012, 12-18)

Selbst wenn man dem erst einmal – jenseits aller dringend erforderlichen Differenzierungen – in der Grundtendenz zustimmen würde, bliebe fraglich, ob daraus schon abgeleitet werden kann, dass sich auch die basalen Prinzipien der Produktion wie Rezeption mittelalterlicher Figuren so grundlegend von denen moderner Literatur unterscheiden, dass sie im Sinne eines Alteritätspostulats ganz eigener theoretischer Modellbildungen und Analyseinstrumentarien bedürfen. Typenhaftigkeit ist eine skalierbare, u.a. einzeltext- und gattungsabhängige Eigenschaft narrativer Figurendarstellung generell, von der man wohl nicht behaupten wird, dass sie modernen Erzähltexten völlig fremd sei (vgl. resümierend Martínez 2011, 147f.). Und auch das Verhältnis von Figur und Handlung variiert insofern nicht allein historisch, als modernes Erzählen nicht frei von Formen der Determination literarischer Figuren durch die Handlung und deren thematische Erfordernisse ist. In beiden Fällen handelt es sich also nicht um absolute, sondern bestenfalls graduelle Unterschiede, die zudem letztlich nicht die zentralen Implikationen des kognitiven Figurenmodells tangieren. Dieses setzt ja gar nicht zwangsläufig eine möglichst differenzierte auf Individualisierung zielende Ausgestaltung von Figurenentwürfen voraus, sondern lediglich deren Repräsentationsstatus, die Tatsache also, dass Figuren als Artefakte auf Vorstellungen von Personen bezogen sind und vom Rezipienten auch entsprechend wahrgenommen werden. Empirisch lässt sich dies für mittelalterliche Literatur nicht erfassen, auch wenn Thomasin von Zerklære im 13. Jahrhundert als genauer Beobachter und Kenner höfischer Literatur die Tatsache, dass literarische Figuren ungeachtet ihres Konstrukt-Charakters auf Vorstellungen von realen Menschen referieren, mit großer Selbstverständlichkeit formuliert:

ein hülzîn bilde ist niht ein man:
swer ave iht verstên kan,
der mac daz verstên wol
daz ez einen man bezeichnen sol.5
(Thomasin von Zerklære, 1127-1130)

Für Thomasin liegt in diesem Rezeptionskontrakt die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Literatur überhaupt auf den Menschen einwirken kann, und er bindet auf diesem Weg die Existenzberechtigung und sogar den besonderen Wert nicht-historiographischen Erzählens an das Vermögen, eine ästhetische Simulation des Menschlichen entstehen zu lassen.

Ergebnisse der kognitionswissenschaftlichen Rezeptionsforschung weisen in eine ähnliche Richtung. Eingangs wurde schon darauf hingewiesen, dass die Verarbeitung von Textinformationen über Figuren narrativer Welten offensichtlich durch Basisannahmen vorstrukturiert wird, die an Grundbedingungen der Personenwahrnehmung orientiert sind. Diese Grundbedingungen der Personenwahrnehmung scheinen aber weitgehend unabhängig von kulturellen und historischen Kontexten zu sein. So gibt es keine bisher bekannte Kultur, in der Menschen ihrem Gegenüber keinen mentalen Innenraum unterstellen oder die Persönlichkeit eines anderen nicht aus situationsübergreifenden, also langfristigen Merkmalen und Eigenschaften konstruieren. Und auch die Tatsache, dass Menschen Informationen, die sie über andere Menschen erhalten, verarbeiten, indem sie sie an Merkmalen wie Glaubwürdigkeit, Offensichtlichkeit und Status messen, scheint eine anthropologische Konstante zu sein (vgl. Jannidis 2004, 185-195). Das hieße aber, dass auch elementare Mechanismen in der Rezeption literarischer Figuren weitgehend stabil sein müssten. Es spricht also zunächst einmal nichts dagegen, auch für mittelalterliche Texte das Figurenmodell der kognitiven Narratologie zu übernehmen und zwar ganz unabhängig vom Verdacht einer unzulässigen Applikation moderner ästhetischer Gewohnheiten.

Allerdings verschieben sich dabei Zielrichtung und Erkenntnisinteresse ein Stück weit. Auch wenn sich nämlich die kognitiven Prozesse der Figurenrezeption nicht grundlegend verändert haben, verhält es sich mit der inhaltlichen Ausgestaltung, also letztlich dem Gegenstand der Inferenzbildung und damit der Basis für die Ausbildung von Personenvorstellungen völlig anders. Alle dafür relevanten Bereiche allgemeinen Weltwissens – also Alltagswissen in Form von alltagspsychologischen, alltagssoziologischen und alltagsanthropologischen Annahmen, literarisches Wissen, aber auch gelehrtes Wissen – unterliegen in ganz erheblichem Maße historischer und kultureller Varianz. Das führt dazu, dass mit zunehmender Distanz die in Texten intendierten Schlussverfahren empfindlich gestört werden.

Anders als bei der Analyse kulturell vertrauter Texte können wir also nicht die Besonderheiten der poetischen Praxis im Bereich der Figurendarstellung auf der Grundlage eines fest umrissenen oder auch nur ansatzweise konturierbaren und rekonstruierbaren Wissens um ihre kulturellen Kontexte beschreiben. Und schon gar nicht können wir im eigentlichen Sinne einer kognitiven Literaturwissenschaft die heteronomen Wirkungsweisen von Textinformationen in Abhängigkeit vom Weltwissen individueller Leser erfassen, um konkrete Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Verstehensprozesse nachzuzeichnen und modellhaft zu konzeptualisieren.6 Im Falle mittelalterlicher Literatur bleibt der Text als (in sich geschlossenes und intentionales) sprachliches Artefakt der einzig wirklich greifbare Bezugspunkt der Analyse; Aussagen zu seinen Wirkungspotentialen sind am Ende nur vermittelt über Konstruktionen wie einen Modellleser oder impliziten Leser zu machen, der in textuellen Strategien der Rezeptionssteuerung greif- und beschreibbar wird.

Über diesen Weg bietet sich dann aber vielleicht doch die Möglichkeit, vor dem Hintergrund des kognitiven Figurenmodells die poetische Praxis mittelalterlicher Figurendarstellung auf die ihr impliziten kulturellen Codes, das vorausgesetzte anthropologische Wissen und die intendierten Wirkungsweisen zu befragen. Das Ziel dabei wäre es, über eine dichte Beschreibung der Figureninformationen und insbesondere auch der – für Prozesse der Rezeptionssteuerung hoch relevanten – Art und Weise, in der diese im Text zustande kommen, die virulenten Aspekte von Figurenentwürfen aufzuspüren und diese dann zum Ausgangspunkt historischer Explikationen zu machen, um so letztlich zu einem genaueren Bild vom Status, der Poetik und den Funktionsweisen literarischer Figuren in mittelalterlicher Literatur zu gelangen. Das kognitive Figurenmodell bietet vor allem deswegen einen unverzichtbaren Verständnisrahmen dafür, weil es im Gegensatz zu anderen rein textzentrierten Perspektivierungen die Ebene kulturellen Wissens nicht nur punktuell sondern systematisch einbezieht.

Die – in der derzeitigen Diskussion keineswegs selbstverständliche – conditio für ein solches Vorgehen wäre allerdings die Bereitschaft, das Formen und Funktionenrepertoire mittelalterlichen Erzählens im Bereich der Figurendarstellung zunächst einmal unbelastet von Alteriätspostulaten deskriptiv zu erfassen und auch die für anthropologische Modellbildungen relevanten Wissensresiduen nicht von vornherein einzugrenzen.7

3. so was er ainer complex – Zur Semantisierung narrativer Techniken der Figurendarstellung im Fortunatus

Die Möglichkeiten eines solchen Ansatzes möchte ich im Folgenden an einigen Überlegungen zum Fortunatus skizzieren. Der Prosaroman erzählt die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs eines zypriotischen Patriziergeschlechts in einem Drei-Generationen-Schema. Im Zentrum steht der Titelheld, der wegen des finanziellen Ruins seiner Familie in die Welt zieht, um sein Glück zu machen. Nachdem er den Wechselfällen des Schicksals eine Zeit lang ausgesetzt war, begegnet er im Wald, dem Tode nahe, der Jungfrau des Glücks, die ihn zwischen verschiedenen Gaben wählen lässt. Fortunatus entscheidet sich für Reichtum und damit u.a. gegen Weisheit. Er erhält ein Säckel, dem er zu jeder Zeit und egal, wo er sich gerade aufhält, so viel Bargeld in der entsprechenden Landeswährung entnehmen kann, wie er benötigt. Fortunatus hütet das Geheimnis seines unermesslichen Reichtums gut und führt, nachdem er einige Jahre die bekannte Welt bereist hat, ein herrschaftliches Leben. Später gewinnt er noch einen weiteren Zaubergegenstand: Ein Wunschhütlein, dass ihn sofort an jeden gewünschten Ort der Erde transportiert. Beide Zaubergegenstände gehen nach dem Tod des Protagonisten an dessen Söhne Ampedo und Andolosia über, die allerdings weniger erfolgreich damit umgehen. Andolosia wird, nachdem er u.a. in einigen burlesken Abenteuern um Agrippina, die geldgierige und betrügerische Tochter des englischen Königs geworben hat, von Räubern ermordet; Ampedo stirbt aus Gram über den Niedergang der Familie und den Tod seines Bruders.

Die Forschung zum Fortunatus ist vor allem durch im weiteren Sinne sozialgeschichtliche und literatursoziologische Fragestellungen geprägt.8 Im Zentrum des Interesses steht die Literarisierung gesellschaftlicher Umwälzungen an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Die Tatsache, dass die Handlung im Generationen-Schema nacheinander den Weg verschiedener Protagonisten verfolgt, lenkt den Blick in besonderer Weise auf die Figuren und das Verhältnis der einzelnen Figurenhandlungen zueinander. Vor allem die Titelfigur Fortunatus wird dabei als Prototyp für die Suche nach einer neuen Identität in einer sich rasant verändernden Wirklichkeit verstanden.9 Strittig ist in diesem Zusammenhang allerdings, wie der Text den Weg des Protagonisten und seiner Söhne beleuchtet bzw. bewertet. Zur Diskussion steht letztlich, ob der Niedergang der Familie die Fatalität einer Entscheidung gegen Weisheit zugunsten einer vornehmlich materiell ausgerichteten Existenz demonstrieren soll, wie es im Pro- und Epimythion des Textes suggeriert wird. Doch will diese explizite Sinngebung, mit der der Text sich selbst versieht, nicht recht zur Handlung passen, da für Fortunatus selbst ja keinerlei negative Konsequenzen aus seiner Entscheidung resultieren. Damit entziehe sich der Text, so Teile der Forschung, systematisch jeder sinnstiftenden Lektüre und demonstriere nur noch die Kontingenzen einer sozial und moralisch aus den Fugen geratenen Welt. Erwogen wird aber auch, dass der Roman entlang der einzelnen Figuren verschiedene Verhaltenssemantiken demonstriert. Zugespitzt formuliert hieße das: Fortunatus verhält sich richtig und ist deswegen erfolgreich in der Welt, während sein Sohn Andolosia Fehler macht und deswegen katastrophal scheitert. Doch wieder sperrt sich der Text, da Andolosia auch in solchen Situationen scheitert, in denen sich sein Verhalten nicht grundlegend von dem seines Vaters unterscheidet.

Ganz offensichtlich hängt das Gesamtverständnis des Romans entscheidend davon ab, in welchen Bezug die Geschichten der einzelnen Figuren zu einander gesetzt werden, wie also die im Text entworfene Figurenkonstellation verstanden wird. Gerade darin konnte die Forschung aber bisher keine Einigung erzielen. So wurde Andolosia mal als planvoll angelegtes Komplement zum Vater, mal als Gegentypus (Raitz 1973, 89) oder Negativbild (Scheuer 1974, 111) und mal als offensichtliche Steigerung des väterlichen Negativexempels (Kästner 1993, 116-133) gesehen. Allerdings wurde im Gegenzug verschiedentlich darauf verwiesen, dass solche Lektüren der Ambivalenz beider Figurenentwürfe nicht gerecht zu werden vermöchten: Annette Gerok-Reiter (2008, 292-297) etwa betont, dass Vater und Sohn viele Gegensätze, aber auch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten eingeschrieben seien, denen in schematisierenden Gegenüberstellungen nicht beizukommen sei. Vielmehr seien Zeichnung und Handlungsstruktur beider Figuren gleichermaßen von konzeptuellen Interferenzen wie Differenzen geprägt. Besonders pointiert wendet sich Jan-Dirk Müller (1990, 1182) gegen die Möglichkeit, Sinn aus einer vermeintlich romanübergreifenden Gegenbildlichkeit der Figuren zu generieren. Die Geschichten der Figuren seien überhaupt nicht mehr sinnvoll aufeinander bezogen, jede Figur stehe für sich ganz allein, und der Roman verweise damit auf die radikale Individualisierung des Menschen in einer widerständigen Welt.

Geführt wird die hier nur in ihren Grundzügen skizzierte Diskussion bisher vor allem vor dem Hintergrund vergleichender Betrachtungen der Biographien von Fortunatus und Andolosia. Bezieht man beide Romanteile aufeinander, ließe sich – so wird immer wieder betont – kein sinnvoller Nexus von Verhaltensweisen bzw. Interaktionsformen der Figuren und deren Erfolg bzw. Misserfolg innerhalb der erzählten Welt und damit letztlich auch keine Verbindlichkeit einer übergreifenden Ordnung mehr erkennen (vgl. z. B. Haug 1991; Mülherr 1993; Braun 2001).

Bei aller Bedeutung, die der Figurenkonzeption und   konstellation damit für ein Verständnis des Fortunatus und zentralen Fragen der Sinnkonstitution des Romans beigemessen wird, fehlt es bisher an Untersuchungen, die diese Aspekte systematisch in den Blick nehmen und die wichtigen Beobachtungen zum Inhalt der Figurenhandlungen in Bezug auf deren narrative Gestaltung evaluieren und perspektivieren.

Blickt man zunächst auf den Titelhelden Fortunatus, laufen sein Verhalten und dessen Darstellungen schon dem ersten Eindruck nach Erwartungen an Homogenität, Geschlossenheit, Nachvollziehbarkeit und Stimmigkeit zuwider. Verantwortlich dafür sind z.B. Lücken und Brüche in der Handlungsmotivation. So verlässt Fortunatus etwa, nachdem sein Vater ihm vom finanziellen Ruin der Familie berichtet hat, sein Elterhaus und seine Heimat völlig unvermittelt, ohne Abschied und heuert auf einer Galeere des Grafen von Flandern an. Der Erzählfokus liegt an dieser Stelle nicht, wie man erwarten könnte, auf der Umbruchsituation, in der sich der Protagonist befindet. Es wird lediglich lakonisch konstatiert, dass er nie mehr vor die Augen seines Vaters kommen will und diesem nicht zur Last fallen möchte (vgl. Fortunatus, 391,16-18). Viel ausführlicher wird demgegenüber berichtet, woher das Schiff stammt, welche Reiseroute es genommen hat, warum es in Zypern vor Anker liegt und wie man den nahenden Aufbruch vorbereitet (Fortunatus, 392,1-9).

Noch offensichtlicher erscheint die lückenhafte Motivation an einer weiteren Stelle: Nachdem Fortunatus von der Jungfrau des Glücks das Säckel erhalten hat, das ihn für den Rest seines Lebens von finanziellen Nöten und Existenzängsten befreit, hört er von einem Grafen, der für seine Hochzeit drei edle Pferde kaufen möchte, aber mit dem Händler noch nicht über den Preis einig ist. Daraufhin bietet Fortunatus mehr als das, was der Händler haben will, und kauft die Pferde. Weil er allerdings nicht erklären kann, woher das Geld für den Kauf stammt, wird er gefangen gesetzt und des Diebstahls angeklagt. Warum Fortunatus von den 15 Pferden, die der Händler im Angebot hat, ausgerechnet die kauft, die der Landesherr für sich beansprucht und sich damit letztlich in Lebensgefahr bringt, bleibt völlig offen. Weder ein Erzählerkommentar erklärt dieses merkwürdige Verhalten noch erhalten wir wirklich Einblick in seine Überlegungen. Es heißt lediglich: „sy geuielen im alle wol / doch so wolt er nur die dreü / so dann der graff kaufft wolt haben“ (Fortunatus, 433,8-10).

Solche Lücken und Inkonsequenzen in der Handlungsmotivation sind mit Sicherheit ein Grund dafür, warum der Protagonist dem Leser seltsam fremd bleibt, doch sind sie meines Erachtens nicht vorrangig dafür verantwortlich. Vielmehr erscheinen sie nur als ein Element einer Textstrategie, die das Bilden von Personenvorstellungen systematisch unterläuft, indem für diesen Prozess entscheidende Informationen verweigert werden. Besonders auffällig ist, dass es keine direkten Zuschreibungen von langfristigen, situationsunabhängigen Merkmalen der Figur gibt. Weder der Erzähler noch Figuren, die ihn über einen längeren Zeitraum begleiten, charakterisieren Fortunatus. Der Leser ist also darauf angewiesen, solche, für die Ausbildung von Personenvorstellungen ausgesprochen wichtigen Informationen, selbst aus den einzelnen Handlungselementen zu abstrahieren. Doch auch dies wird erschwert und zwar vor allem dadurch, dass die Handlungen von Fortunatus nicht einfach im Erzählerbericht wiedergegeben, sondern aus der Perspektive von Figuren geschildert werden, die Fortunatus kaum kennen und entsprechend nicht einschätzen können. Diese Beschränkung auf die Außensicht kann so stark inszeniert werden, dass Fortunatus über ganze Textpassagen der walsche genannt wird, nur weil ihn die anderen Figuren aufgrund seiner Sprachkenntnisse dafür halten, obwohl er ja eigentlich Zypriot ist:

do hetten sy all gemainiklich ain groß misfallen darab / das Fortunatus das ain kleinat gewunnen het / vnd batten all Thimotheum des hertzogen von Braband diener der dann das ain klainat gewunnen het / das er sich dem walchen / dem fortunato außbut mitt ym zu stechen / vnd sein klainat an dass sein satzte </> das wolten sy all / vnd yeder in sunderhait vmb in verdienen. (Fortunatus, 396,6-12)
Nun was ain alter listiger vnder yn / hieß Rpert / der sprach </> het er zehen par Cronen so wolt er sich vnderstan vnd den walchen dartzu bringen dass er selbs eyllentz wurd hynweg reütten. (Fortunatus, 397,1-4)
Rpert wißt auch wol daz die walchen nit geren gelt außgebend. (Fortunatus, 398,2)

Wenn im Roman Intrigen gegen Fortunatus gesponnen werden, erfahren wir genau, was sich die Intriganten erhoffen, was sie planen und wie sie ihre Angriffe vorbereiten, nicht aber, wie er selbst die Situation erlebt. Wenn Fortunatus erfolgreich agiert, wird dem Leser dies durch die Wertschätzung der einen und den Neid der anderen Beobachter vermittelt. Selbst als Fortunatus beschließt, zu heiraten, liegt das Interesse des Erzählers nahezu ausschließlich auf den Reaktionen der einzelnen Bewohner seiner Heimatstadt. Ausführlich wird geschildert, wie sie ihre Töchter ausstatten und wie sich politische Ränkespiele um die Wahl der richtigen Braut entspinnen. Ob Fortunatus diese Vorgänge zur Kenntnis nimmt und wie er sie erlebt, erfahren wir nicht. Das Bild des Protagonisten erscheint also wie in einem Kaleidoskop zersplittert in die Wahrnehmungen unterschiedlichster Figuren, wodurch das Aggregieren stabiler Figurenmerkmale erheblich erschwert wird.

Eine einzige Ausnahme bilden die Momente, in denen Fortunatus in große Gefahr gerät und erschreckt die Flucht ergreift. Diese ziehen sich wie ein Leitmotiv durch die Fortunatushandlung und stechen auch in der Darstellungsweise heraus: Hier bekommt der Leser ganz punktuell Einblicke ins Innere des Protagonisten und seine Panik wird durch die gehäufte Wiederholung des Adverbs eylentzt abgebildet. Aber so eylentzt wie Fortunatus sich der Gefahr entzieht, entzieht er sich auch wieder dem insistierenden Blick des Betrachters.

Dass es sich bei der beschriebenen, sehr ungewöhnlichen Art der Vergabe von Figureninformationen, nicht um eine Eigenheit des Textes oder gar um ein Spezifikum des Erzählens dieser Zeit handelt, zeigt ein Vergleich mit anderen Figuren. Dafür eignet sich Andolosia in ganz besonderer Weise, weil er als Sohn des Fortunatus Protagonist des zweiten Romanteils ist. Unterschiede zwischen Vater und Sohn, darauf wurde in der Forschung ja bereits hingewiesen, gibt es eine ganze Reihe. Dies gilt nicht nur für die Tatsache, dass Andolosia nicht in der Lage ist, die Existenz des Säckels und des Wunschhütleins zu verbergen. Insgesamt scheint Andolosia einem ganz anderen Heldentypus zuzurechnen zu sein als Fortunatus. Gerade in der Auseinandersetzung mit der verderbten englischen Königsfamilie agiert er nämlich als sympathischer Schwankheld, der gefährliche Situationen nicht flieht, sondern auf Listen mit spektakulären Gegenlisten reagiert und es letztlich immer schafft, sich triumphierend aus der Affäre zu ziehen. Die antithetische Konzeption von Vater und Sohn weist allerdings über solche inhaltlichen Merkmale weit hinaus. Denn auch die Technik der Informationsvergabe unterscheidet sich in beiden Fällen deutlich.

Während in der Darstellung des Vaters, die Bildung von Personenvorstellungen gezielt durch Verweigerung von Innensichten, den raschen Wechsel verschiedener Außenperspektiven, durch das Fehlen charakterisierender Adjektive und Adverbien wie das Fehlen erläuternder und motivierender Erzählerkommentare unterlaufen wird, sind die Figureninformationen zu Andolosia wesentlich expliziter. Schon anlässlich seiner Geburt, also unmittelbar bei seinem Eintritt in die Handlung wird ihm eine Eigenschaft vom Erzähler direkt zugeschrieben, die ihn und seinen Handlungsteil wie ein Epigramm überschreibt: „yedoch Andolosia alltzeyt etwas frecher was dann ampedo.“ (Fortunatus, 482,3f.)

Gerade, weil Fortunatus die gesamte Handlung über nicht an einer einzigen Stelle ein solches charakterisierendes Adjektiv zugeschrieben wird, lohnt es hier näher hinzusehen. frech bezeichnet in seinen unterschiedlichen Verwendungen und Verwendungsweisen eine Potenz und einen Willen zur Behauptung der eigenen Identität gegen äußere Widerstände und Beschränkungen. Im Kontext von Kampfdarstellungen können dies der Mut, die Entschlossenheit und die Körperkraft sein, sich auch in scheinbar aussichtslosen Lagen einer vermeintlichen Übermacht entgegenzustellen, in einem im weiteren Sinne politischen Bereich sind es entsprechend Durchhaltevermögen, Zuversicht und Opferbereitschaft, die die Bewältigung von Niederlagen oder Rückschlägen ermöglichen. Aus der Perspektive didaktischer Reflexion oder normativer Gesellschaftsentwürfe bezeichnet frech demgegenüber eine fehlende Akzeptanz grundlegender Ordnungsmuster oder sozialer Normierung und die Bereitschaft, sich dagegen aufzulehnen.

Der so konturierte Habitus und die damit verbundenen Verhaltensdispositionen sind dabei beinahe durchweg Gegenstand ambivalenter Bewertungen. Einerseits sind Mut, Durchsetzungskraft und die Fähigkeit zur Selbstbehauptung vielfach positiv konnotierte Eigenschaften, die den Einzelnen gegenüber der Masse auszeichnen. Andererseits geraten im Zuge einer solchen Selbstbehauptung beinahe zwangsläufig die Bedürfnisse des Einzelnen in einen Konflikt zu den Bedürfnissen des Kollektivs, der letztlich die Stabilität der gemeinschaftlichen Ordnung gefährdet. So steht der unbedingte Wille zum Kampf prinzipiell gütlichen und auf Deeskalation setzenden Formen der Konfliktbeilegung im Weg, politische Unnachgiebigkeit provoziert Gewalt, und ein Beharren des Einzelnen auf der Freiheit, den eigenen Bedürfnissen jenseits jeder sozialen Normierung nachgeben zu können, verletzt unwillkürlich die Rechte und Bedürfnisse der anderen. So problematisch all dies vor dem Hintergrund ethisch-moralischer Kategorien auch ist, so offensichtlich ist der literarische Reiz der mit frech bezeichneten Verhaltensdispositionen. Exzeptionalität, Normen- und Tabubrüche sind in hohem Maß ereignishaft und dazu prädestiniert, Erzählprozesse unterschiedlichster Art in Gang zu setzen, die nicht nur unterhaltsam sind, sondern darüber hinaus einen Diskussionsraum für zentrale Fragen der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Miteinanders eröffnen. Virulent werden u.a. das Verhältnis von Gewalt und Kultur (mögliche Formen der Konfliktlösung; Gefahr der Verrohung durch Gewalt), von Freiheit und Determination des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft, aber auch das Verhältnis von angeborenen Dispositionen und äußeren Einflüssen bei der Sozialisation des Menschen. Wenn Andolosia bei seinem Eintritt in die Handlung, also an prominenter Stelle – mit dem Adjektiv frech charakterisiert wird, ist damit ein Verständnisrahmen für weite Teile der folgenden Handlung vorgegeben. Tatsächlich entsprechen eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die Andolosia im zweiten Romanteil an den Tag legt, den oben beschriebenen Verwendungsweisen von frech. Willen und Potenz, die eigenen Bedürfnisse gegen Beschränkungen und Regulierungen von außen durchzusetzen, kennzeichnen beinahe die gesamte Andolosia-Handlung. Schon mit seiner ersten Entscheidung, nämlich die beiden Zaubergegenstände auf sich und seinen Bruder aufzuteilen, übertritt er das Gebot seines Vaters. Gegen die Einwände seines Bruders behauptet er selbstbewusst sein Recht, die väterliche Weisung zu missachten: „ich keer mich nit an die red / er ist tod / so leb ich noch / vnnd ich will taillen.“ (Fortunatus, 508,17f.)

Kurz nach seinem Aufbruch von zu Hause bietet er dann einer verheirateten hochadeligen Dame 1000 Cronen für eine gemeinsame Nacht und verletzt damit gleichermaßen ständische Grenzen, eherechtliche und moralische Normierung. Egal in welchen Handlungsraum oder in welche gesellschaftliche Konstellation Andolosia im Weiteren eintritt, zielt sein Agieren allein darauf, die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu verschieben und die Regeln des sozialen Raumes zu bestimmen. Besonders deutlich wird dies in der Auseinandersetzung mit dem englischen König. Um ihn, in seine Schranken zu verweisen, verbietet der König allen Händlern in der Stadt, Andolosia Holz zu verkaufen. So will er verhindern, dass der junge Fremde zum wiederholten Mal bei einem Festmahl, zu dem auch der König geladen ist, seine finanzielle Überlegenheit öffentlich inszenieren kann. Daraufhin lässt Andolosia kurzerhand große Mengen kostbarer Gewürze kaufen und verbrennen, um das Essen darüber zubereiten zu können. Die vermeintlichen Hindernisse geraten Andolosia zum Vorteil, weil das über brennenden Gewürzen zubereitete Essen nicht nur besonders gut schmeckt, sondern seinen unermesslichen Reichtum noch offensichtlicher werden lässt.10

Aber nicht nur mit der Charakterisierung als frech schafft der Erzähler einen Verständnisrahmen für die Andolosia-Handlung, auch sonst zeigt er im Umgang mit seinem Protagonisten nicht die gleiche Zurückhaltung wie im ersten Handlungsteil. Nun erklärt und motiviert er Verhalten und kommentiert es engagiert, mitunter sogar ironisch. So vergleicht er den völlig in Liebe zur englischen Prinzessin Agrippina entbrannten Andolosia mit einem Lastenkamel, dem man zu viel Pfeffer aufgeladen hat:

Als nun die maltzeit volbracht ward / vnd die weil man aß / mengerlay saytenspil / hübsch sprüch als man gewonlichen vor der herren tisch pfligt zu thon / da Andolosia wenig auff gemerckt het / wann er hett alle sin vernunft auff Agripina gelegt / vnd kam allso zu hauß mit liebe beladen / fester dann ain kmelthyer / das pfeffer auß Jndia gen Alkeyro tragen mß / denen man tzumal schwrsam auff legt (Fortunatus, 516,31-517,7).

Auch in Andolosias Wahrnehmung des Geschehens erhält der Leser tiefe Einblicke. Wurden Intrigen gegen Fortunatus immer nur aus der Perspektive seiner Gegner geschildert, erfahren wir hier genau, wie er selbst solche Situationen erlebt und wie er plant, den Angriffen entgegen zu treten. Als Beispiel für solche Ausgestaltungen des Innenraums der Figur soll hier nur eine der vielen langen Gedankenreden Andolosias stehen, in der er seinen Plan für die Wiedergewinnung des Geldsäkels entwickelt, das die betrügerische Agrippina ihm entwendet hat:

Als er nun bey ir sass / gedacht er ym </> was mag sy mir zu lon wllen geben / ob sy mir schon zway oder dreü tausent Cronen gibt / daz doch ainem yeden doctor in der artzney ain großser lon wre. noch dannochtt so ist es gar untzalbrlichen tzu schtzenn / gegen dem so sy von mir hatt / vnd Ee das ich die hrner gar vertreib / so will ich mit ir reden vnd ir sagen mein mainung. will sy es nit thon / so sy dann mainet ich werd ir die hrner gar vertreiben / will ich ir ain confect machen das sy ir wider so lang werden wie vor / vnd denn in flandern faren / vnnd ir enbietten wlle sy der hrner abkommen / das sy tzu mir komm vnnd mitt ir bring das ich ir anmt. Als bald sy erwachet will ich sprechen / gndige fraw ir sehend wol wie sich ewer sach vast beßsert Nun ist es erst am bsten vnd künstlichesten / die hrner auß der hyrenschalen zutreiben / da sondere grosse und kostliche stuck zu gebraucht werden </> mssen die auch vil gelts kosten / und ob ir darab ainen vnwillen welten enpfahen / so mßt ich die sach lassen steen als sy steet / vnd als ich ain doctor in der ertzney bin vnd ir villeicht vermaint mich mit ainem klainen gelt außzurichten / des will ich ain wissen haben. Wissen das ich auch byn doctor in der Nigromancia / das ist in der schwartzen kunst / vnnd hon den bsen gaist besworen daz er mir radt was ich für meinen lon vodren sll / der sagt / ir habenn zway klainat / das ist ain sekel und ain htlin / der aines sll ich begern / versicht er sich </> ir geben mir das htlin vnd solt mir dartzu geben alle iar / das ich ainem herren geleich leben müg. (Fortunatus, 547,11-548,6)

In diesem Zusammenhang lohnt auch noch ein Blick auf die wörtliche Rede: Andolosia spricht nicht nur erheblich mehr als sein Vater, seine Reden sind auch von deutlich höherer Expressivität und geben zudem, wie die Gedankenreden, ausführliche motivierende Innensichten. Auch hierfür ein Beispiel:

O falsches vngetrewes weyb / yetz bist du mir zutail worden / yetzund will ich solche trew mit dir tailen / als du mitt mir getailt hast / do du mir den seckel abtrantest / vnnd ainen vntugentlichen seckel an sein stat stricktest / ytzund sichst du das er wider an sein alte stat kommen ist / ytzund nym zu hilff vnd radt dein mter / dein alte hoffmaisterin vnd haiß dir gtt getranck geben damitt du mich betriegest / vnd zwar wrn die vnholden bayd bey dir / so hulf sy all ir kunst nit / daz sy den seckel mer von mir brechten. o agripina wie mochtestu es am hertzen gehaben / mir solliche grosse vntrew zu erzaigen / so ich dir so trew was. Jch hett mein hertz mein seel / leib vnd gt mitt dir getailt / wie mochtestu es an deinem hertzen hon / ainen so manlichen ritter / der da alletag durch deynen willen stach / scharpffrant vnd alle manliche ritterspil getriben hat / in so grossen armt richten / vnnd kainerlay erbrmd hast mit mir gehebt. sonder der küng vnd die künigin mit mir getriben haben iren spot und faßnacht schympff / das mir noch vnuergessen ist in meinem hertzen / wann durch das übel so du an mir volbracht hast / was ich in ain vertzweyflung kommen / vnd wolt mich selbs erhangen haben / dann das mir Maria die mtter gots mit iren gnaden in der bßen anfechtung zuhilf kam / der ich auch trewlich dienen will biß an mein end / vnnd wo ich sollichs gethon hett / so wrest du doch ain vrsach gewesen das ich vmb sel vnd leib / eer vnd gt kommen wr / vnnd do du den tugentreychen seckel in deinem gewalt hettest / vnnd dir wol gesagt warde das ich gantz nichts het / meine knecht all von mir lassen / allain mßt hynweg reütten / du hettest mir vngern ain zergelt gesant / das ich ain wenig eerlich hett mügen haimkommen zu meinen freünden. Nun sprich selb vrtail / ist nit billich </> ich habe mitt dir erbrmbde als du sy mitt mir gehabt hast? (Fortunatus, 551,22-552,24)

In dieser Rede rekapituliert Andolosia die einzelnen Schritte des Betruges, den Agrippina an ihm begangen hat, und kontrastiert dabei durchgängig seine Liebe, Treue und Aufrichtigkeit ihrer Falschheit, Verachtung und Mitleidlosigkeit. Durch Ausrufe, rhetorische Fragen und die Schilderung seiner tiefen Verzweiflung stellt er seine emotionale Beteiligung aus, markiert aber gleichzeitig durch die wiederholte Nennung des Zeitadverbs yetz oder yetzund einen Wendepunkt in seiner Haltung der ehemaligen Geliebten gegenüber. Schon zu Beginn der Rede kündigt er an, von diesem Zeitpunkt an, die gleiche Rücksichtslosigkeit walten zu lassen zu wollen, die Agrippina im Umgang mit ihm gezeigt hat: „yetzund will ich solche trew mit dir tailen / als du mitt mir getailt hast“ – und letztlich zielt seine hoch rhetorische Rede allein darauf, die bereits überwundene Agrippina zu demütigen, indem er sie nötigt, anzuerkennen, dass sie kein Mitleid oder Erbarmen verdient hat: „Nun sprich selb vrtail / ist nit billich </> ich habe mitt dir erbrmbde als du sy mitt mir gehabt hast?“

All dies, trägt dazu bei, dass Andolosia dem Rezipienten viel vertrauter wird, als sein Vater. Nicht nur die Schwankhandlung mit ihren unterhaltsamen Handlungskonstellationen bindet den Rezipienten, auch die Technik der Informationsvergabe begünstigt eine affektive Auseinandersetzung mit dem Helden. Beide Romanteile folgen also einer je eigenen Technik der Figurendarstellung, wobei die Unterschiede in der Darstellungsweise entschieden zur Sinnbildung des Textes beitragen. Fortunatus ist gerade deswegen so erfolgreich, weil er sich gegenüber seiner Umgebung weitestgehend isoliert. Wie den anderen Figuren der Handlung, wird es auch dem Rezipienten beinahe unmöglich gemacht, verlässliche und relevante Informationen über ihn zu gewinnen. Genau entgegengesetzt verhält es sich bei Andolosia, der letztendlich daran scheitert, dass er zu viel von sich preisgibt. Er offenbart nicht nur die Existenz des Zaubersäckels, sondern provoziert durch seine Dominanz und sein expressives Verhalten neben der Bewunderung auch den Neid und den Hass anderer Figuren. Getötet wird er am Ende nicht wegen des Säckels, das ihm seine Gegenspieler längst abgenommen haben, sondern aus Eifersucht über das gesellschaftliche Ansehen, das er sich bei Hof erworben hat. Die völlig unterschiedlichen Darstellungstechniken werden in gleicher Weise mit Blick auf die zentrale Problemkonstellation des Romans hin semantisiert. Nicht die Entscheidung für den Reichtum als solche wird problematisiert, sondern die (charakterlichen) Dispositionen diskutiert, die ein Erhalt von Reichtum zur Voraussetzung hat. So wie das Geldsäckel an jedem Ort Bargeld in der passenden Währung bereithält, verfügt auch Fortunatus immer gerade über die Eigenschaften, die in seiner jeweiligen Umgebung gefordert sind.

Im Ausblick soll nun noch kurz Theodorus, der Vater des Fortunatus in die Überlegungen einbezogen werden. Auf den ersten Blick scheint seine Geschichte nur im Sinne einer Handlungsexposition den Hintergrund für das eigentliche Geschehen zu bilden. Eher summarisch wird auf gerade einmal drei Seiten erzählt, wie er das enorme Vermögen seiner Familie durch eine an adeligen Verhaltensformen orientierte Lebensweise durchbringt und zum Schluss seine Frau und seinen Sohn kaum noch ernähren kann. Trotz des summarischen Erzähltempos werden allerdings auf engstem Raum verschiedene Möglichkeiten der Vergabe direkter und indirekter Figureninformationen genutzt: Besonders auffällig ist, dass Theodorus – wie auch sein Enkel Andolosia – mit einem charakterisierenden Adjektiv gleichsam gelabelt wird. Wurde Andolosia als frech bezeichnet und damit vor allem die Unnachgiebigkeit und Beharrlichkeit in scheinbar aussichtslosen Lagen als besondere Disposition der Figur herausgestellt, heißt es über Theodorus, dass er „wild was“ (Fortunatus, 389,2). wild ist im Fortunatus ein häufig gebrauchtes Beiwort, wird allerdings an keiner anderen Stelle auf menschliches Personal angewendet. wild sind der Wald, die Wüste und oder auch Tiere in der unbewohnten Natur. Der Begriff bezeichnet also die Bereiche der Lebenswelt, die der Mensch nicht zu domestizieren in der Lage ist. Allgemein bedeutet wild im Mittel- und Frühneuhochdeutschen als Gegensatz zu zam ‚nicht domestiziert‘, ‚nicht kultiviert‘ oder ‚nicht bewohnt‘ und bezieht sich damit im Grunde ausschließlich auf Tiere, Pflanzen, Naturräume, Naturereignisse oder auch Fabelwesen, üblicherweise aber nicht auf Menschen der höfischen oder städtischen Gesellschaft.11 Wie ist also die außergewöhnliche Verwendung dieses Begriffes zu verstehen? Theodorus gehört ja in keiner Weise der unkultivierten Natur an, wie etwa der wilde Mann in Hartmanns Iwein. wild meint hier also bestimmt nicht die topologische Verortung der Figur. Vielmehr geht es wohl darum, dass alle Versuche, Verhaltensdefizite des jungen Patriziers durch Einwirkung von außen zu korrigieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Freunde des Theodorus erkennen nämlich schon früh, dass er sich ruinieren wird, wenn er seinen Lebenswandel nicht radikal ändert. Deswegen bringen Sie ihn dazu, zu heiraten und eine Familie zu gründen, weil sie hoffen, den jugendlichen Leichtsinn damit zu beenden:

vnnd seine freünd wol kunden mercken / das er mer on ward / dann sein nutzung ertragen mocht. vnd gedachtend jm ain weib zu geben / ob sy jn von sollichem ziehen mchten / vnd legten ym das für. (Fortunatus, 388,10-14)

Solchen Versuchen erteilt allerdings der Erzähler vorausdeutend eine scharfe Absage:

Darab seyne freünd / unnd auch der braut freünd großs wolgefallenn entpfyengend / vermaineten sy hetten ain gt werck volbracht / das sy Theodorum (der so wild was) mitt ainem weib allso zam hetten gemachet. Doch was ynen unkund / was die natur an ir hat / das / das nicht wol zu wenden ist. (Fortunatus, 388,29-389,4)

Offensichtlich geht es in der Handlungsexposition darum, zu zeigen, dass Verhaltensweisen des Menschen inneren Dispositionen folgen, die sich dem menschlichen Zugriff genauso entziehen, wie die unkultivierte Natur. Begriffe wie wild, zam und natur eröffnen einen Assoziationsraum, der diese inneren Dispositionen als eine fremde und weitgehend unbeherrschbare Sphäre eigenen Rechts markieren. Deutlich wird außerdem, dass solche Anlagen weder von den Eltern ererbt, noch durch ihr Vorbild erlernt werden. Theodorus weiß am Ende selber nicht, warum er es den vorderen nicht gleich getan hat (Fortunatus, 390,6-14), und in der späteren Handlung betont Andolosia, dass er ein ander complex (Fortunatus, 521,10-14), also ein anderes Temperament, eine andere Sinnesart, habe als sein Vater.

Die Elternvorgeschichte eröffnet insofern einen Verständnishorizont für den gesamten Roman, als genealogische Strukturen von Beginn an relativiert werden. Das Strukturprinzip des Generationen-Romans wird damit ein Stück weit konterkariert. Die Angehörigen einer Familie geraten zu Einzelfiguren, das schlägt sich dann vor allem in den völlig unterschiedlichen Darstellungstechniken nieder. Damit sperrt der Text sich gegen Lektüren, die Vater, Sohn und Enkel als Repräsentationen des gleichen Prinzips betrachten und in ihnen die Fatalität einer an materiellen Gütern ausgerichteten Existenz exemplifiziert sehen. Er sperrt sich aber ebenso gegen Lektüren, die in ihm im Sinne einer Verhaltenssemantik Leitbilder für positives und negatives Verhalten entworfen sehen, die Orientierung in einer veränderten Wirklichkeit bereithalten. Dagegen spricht schon, dass Verhalten im Fortunatus nicht grundsätzlich erlernbar oder veränderbar erscheint, sondern in inneren Dispositionen gründet, die sich dem gestaltenden Zugriff des Menschen entziehen. Gezeigt wird allein, dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer Eigenarten erfolgreich in einer komplexen Wirklichkeit operieren und andere dies nicht können. Die Differenzen in der Darstellungstechnik führen dabei dazu, dass all dies nicht nur auf der inhaltlichen Ebene dargestellt, sondern für den Leser im Rezeptionsakt gleichsam erfahrbar wird.

All dies zeigt, dass das Erzählen im Fortunatus bei weitem nicht allein darauf ausgerichtet ist, das handlungslogisch relevante oder notwendige Wissen über die Figuren an den Rezipienten zu vermitteln, sondern literarische Verfahren der sukzessiven Informationsvergabe weit darüber hinaus zielgerichtet eingesetzt werden, um kognitive Effekte zu initiieren. Ganz offensichtlich sind die Figuren im Fortunatus keine ausschließlich funktional determinierten Handlungsträger, sondern sie sind auch auf Wirkungen hin konzipiert, die elementare Prozesse der Sinnbildung mitbegründen und steuern. Beschreibbar werden solche ganz speziellen Verfahren der Rezeptionslenkung erst im Rekurs auf das Figurenmodell der kognitiven Narratologie, auch wenn sich das Erkenntnisinteresse dabei von den konkreten Verstehensbewegungen auf modellhaft gedachte textuelle Strategien verlagert. Für die mediävistische Literaturwissenschaft kann es nur lohnend sein, an diesem Modell und seinen ganz eigenen Möglichkeiten der Korrelation von Darstellungstechniken und kulturellem Wissen zu partizipieren.

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Dr. Silvia Reuvekamp
Germanistisches Institut der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstraße 1
40225 Düsseldorf
E-Mail: reuvekamp@phil-fak.uni-duesseldorf.de
URL: www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ3/reuvekamp

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1Jeff Koons hatte sich gerade von seinem Sitz erhoben und voller Begeisterung die Arme ausgestreckt. Ihm gegenüber saß Damien Hirst leicht in sich zusammengesunken auf einem weißen Ledersofa, das zum Teil mit Seidenstoff bedeckt war. Er schien im Begriff zu sein, einen Einwand geltend zu machen, auf seinem geröteten Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck. Beide trugen einen schwarzen Anzug – Koons einen Nadelstreifenanzug –, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Zwischen den beiden Männern stand auf einem niedrigen Tisch eine Schale mit kandierten Früchten, der keiner von beiden die geringste Aufmerksamkeit widmete. Hirst trank ein Budweiser Light.
Hinter ihm war durch eine Fensterwand eine Hochhauslandschaft zu sehen, ein babylonisches Gewirr aus riesigen Polygenen, das sich bis zum Horizont erstreckte. Die Nacht war hell, die Luft ungemein klar. Die Begegnung hätte in Katar oder in Dubai stattfinden können; tatsächlich war die Raumausstattung einem Werbefoto aus einer deutschen Hochglanzbroschüre über das Hotel Emirates in Abu Dhabi nachempfunden.
Jeff Koonsʼ Stirn glänzte ein wenig. Jed milderte den Glanz mit dem Pinsel ab und trat drei Schritte zurück. Mit Koons gab es ganz offensichtlich ein Problem. Hirst dagegen war leichter darzustellen.“ (Houellebeqc 2011, 7f.)

2 Die Darstellbarkeit und Abbildbarkeit von Menschen in Malerei, Photographie und Literatur bildet nicht nur ein durchgängiges Thema der Romanhandlung, dieses Thema wird auch an verschiedenen Stellen in ähnlicher Weise poetologisch durchsichtig wie in der zitierten Eingangssequenz. In einem zentralen Gespräch zwischen dem Protagonisten Jed Martin und dem Schriftsteller Michel Houellebecq erörtern die Figuren etwa die Eigenarten und Grenzen der jeweiligen Kunstformen und stellen in diesem Zusammenhang die Frage, ob wohl ein Heizkörper zum zentralen Gegenstand eines literarischen Textes werden könne. Während der Schriftsteller dies zunächst bejaht und sogleich ein Szenario für einen Wirtschafts- und Politthriller über Pfusch am Bau von Schulen in sozial benachteiligten Gegenden Frankreichs entwirft, das die Geschichte des Heizkörpers von der Erzgewinnung bis zu seiner Installation zum Ausgangspunkt einer Romanhandlung macht, wendet der Maler und Photograph Jed ein, dass diese Handlung nur von Romanfiguren getragen werden könne, die dann jedoch statt des Heizkörpers im Zentrum des Geschehens stehen würden. Spannender als diese in die Figurenrede delegierte literaturtheoretische Grunderkenntnis ist die Gestaltung des Gesprächs, in das sie eingebettet wird. Bei genauerer Betrachtung scheint es nämlich gar nicht um das literarische Potential von Heizkörpern zu gehen, und auch das eigentliche Thema des Gesprächs, die Darstellungsmöglichkeiten verschiedener Kunstformen, wird letztlich vor allem dazu genutzt, die beiden handlungstragenden Figuren auszugestalten. So werden die einzelnen Turns gerahmt von einer enormen Fülle an Informationen über die Gesprächspartner, die nur in einem rudimentären oder gar keinem Bezug zum Thema der Unterhaltung stehen. Z.B. reflektiert Jed in seinen Sprechpausen immer wieder darüber, wie seine Art zu reden und das, was er sagt, wohl bei seinem Gegenüber ankommen, oder er denkt über seinen Vater und dessen Geschäftsprinzipien nach. Seine Wortbeiträge sind zögerlich, von langen Pausen unterbrochen und zeugen von geringer sprachlicher Souveränität. Houellebecq dagegen dominiert das Gespräch, zeigt sich gleichwohl aber kaum in der Lage, auf die Überlegungen seines Gegenübers einzugehen. Beschäftigt ist er allein mit sich und seinem literarischen Schaffen, sei es auch nur der Genealogie eines Heizkörpers. Seine narzisstische Selbstinszenierung dokumentiert sich nicht zuletzt im Tick, fahrig eine Zigarette nach der anderen anzuzünden. Während also der fiktive Schriftsteller Houellebecq auf der Handlungsebene lediglich zugesteht, dass er Romanfiguren benötigt, um ein Thema literarisch umsetzen zu können, benutzt der reale Autor Houellebecq das Thema, um daran seine Figuren zu entwerfen. In diesem ironischen Spiel, das nicht unwesentlich von der Namensgleichheit einer Romanfigur mit dem biographischen Autor lebt – Houellebecq straft sich ja letztlich selbst Lügen – wird am Ende auf der poetologischen Ebene der methodische Paradigmenwechsel im Umgang mit literarischen Figuren pointiert, den die Narratologie in den letzten Jahren und Jahrzehnten vollzogen hat. Zur Intermedialität in La carte et le territoire vgl. auch Schlüter 2012.

3 Auf die Notwendigkeit einer Historisierung des Figurenmodells der kognitiven Narratologie und die damit verbundenen methodischen Herausforderungen wurde wiederholt mit Nachdruck hingewiesen. Vgl. u.a. Zerweck 2002, 237-239; Jannidis 2004; Martínez 2011, 149. Innerhalb der germanistischen Mediävistik wurde dabei insbesondere das Verhältnis von literarischer Ausgestaltung und Strukturbindung bzw. Handlungsdetermination literarischer Figuren in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters diskutiert. Vgl. z.B. Nanz 2010, 9-45; Stock 2010; Schulz 2012, 8-118; Haferland 2013; Philipowski 2013, 331-355; Zudrell 2013.

4 Der Fortunatus ist der älteste Roman in der Beispielreihe, auf die Fotis Jannidis seine historische Narratologie der Figur gründet. Näher in den Blick kommt dieser Text bei ihm insbesondere als Beispiel für einen selbstverständlichen Umgang mit verschiedenen Verfahren kompositorischer Motivierung, die z.B. alltagspsychologisches Wissen über mentale Zustände der Figuren ganz selbstverständlich voraussetzen (vgl. Jannidis 2004, 224-227). Insgesamt fokussieren sich die Analysen von Jannidis allerdings eher auf die systematischen Aspekte der Darstellungsverfahren und weniger auf eine historische Konkretisierung der kulturellen Konzepte, die letztlich die Grundlage der Inferenzbildung bilden. Vgl. dazu auch Stock 2010, 192f.

5 „Ein hölzernes Bild ist zwar kein Mensch, wer auch immer aber irgendetwas zu verstehen in der Lage ist, der wird sehr wohl verstehen, dass es einen Menschen darstellen / abbilden soll.“

6 Zu den generellen Herausforderungen und Schwierigkeiten einer literaturwissenschaftlichen Operationalisierung kognitiver Modellbildungen vgl. Zymner 2009.

7 Vor allem bei der Konturierung des für ein Verständnis mittelalterlicher Figurenentwürfe relevanten Feldes anthropologischen Wissens nimmt die aktuelle Forschung zum Teil doch ganz erhebliche Restriktionen vor. Immer wieder in Zweifel gezogen wird vor allem die Erklärungsfunktion gelehrter Reflexionen über den Menschen in den unterschiedlichen mit anthropolgischen Themen befassten Spezialdiskursen wie Theologie, Philosophie und Medizin, aber auch Recht, Musik und Astronomie. Überhaupt erwartbar seien mit Blick auf die an den spezifischen Interessen und Bedürfnissen ihrer laienadeligen Trägerschicht ausgerichteten literarischen Kommunikationssituation sowie die wenig elaborierte Bildung der meisten volkssprachigen Autoren allenfalls lose Anklänge an eher basale und zum Allgemeingut sedimentierte anthropologische Kenntnisse. Vgl. zuletzt Schulz 2013, 23-25 und Philipowski 2013, 26. Hinter solchen Ansätzen steht die in der laufenden Diskussion besonders virulente Vorstellung einer eigenständigen, von der Klerikerkultur weitgehend unabhängigen und unbeeinflussten feudalen Anthropologie, deren Wissensbestände im Wesentlichen schriftfrei tradiert würden. Greifbar sei dieses gruppenspezifische kulturelle Wissen demzufolge auch nicht in intertextuellen Relationen von (literarisch volkssprachigem) Schrifttext zu (lateinisch-gelehrtem) Schrifttext, sondern es manifestiere sich beinahe ausschließlich in Form eines dem Erzählen unterlegten Subtextes. Besonders intensiv um die Rekonstruktion dieser impliziten Wissensschicht hat sich an verschiedenen Stellen Jan-Dirk Müller bemüht (1998; 2007) und dabei konsequent die Idee einer allein aus dem Erzählen selbst generierten und von den diskursübergreifend schriftlich archivierten Speichern losgelöste Archäologie anthropologischen Wissens verfolgt.

8 Auch wenn die aktuelle Forschung in kritischer Auseinandersetzung mit ihren sozialgeschichtlichen Vorläufern, die Handlung des Fortunatus längst nicht mehr als mehr oder minder getreues Abbild historischer Verhältnisse betrachtet, werden unter veränderten methodischen Prämissen nach wie vor die engen diskursiven Zusammenhänge zwischen der erzählten Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der bürgerlichen Familie mit den tiefgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu Beginn der Frühen Neuzeit betont. Vgl. resümierend z. B. Kellner 2005, 312-315 und Friedrich 2011.

9 Einen instruktiven Überblick über die einschlägige Forschung bietet Schausten 2006, 203-209.

10 Nicht ohne Ironie, wird Andolosias Gewürzkauf in diesem Zusammenhang als eylentz bezeichnet, also mit genau dem Adverb, mit dem im ersten Handlungsteil leitmotivisch das Bedürfnis des Vaters zum Ausdruck kommt, konfliktträchtige Situationen zu fliehen: „Do Andolosia das hort / marckt er wol das es des künigs bott was / vnd sandt eylentz zu den Venedigern / die zu Lunden ire geleger haben vnd leyß yn abkauffen nglein / muscatt / sandel vnd zymetrinden / das schut man an die erd vnd zundt es an / darbey kochet man vnnd beraitet die speiß als ob es sunst holtz wre“ (Fortunatus, 519,8-14).

11 Zur problematisierenden Attribuierung exorbitanter Helden mit wild vgl. Udo Friedrich 2009, 256-269.