Matthias Grüne

Das vergessene Erbe

Zur Konzeption einer Geschichte der Erzähltheorie

Narratology is often considered to be an invention of the 20th century. This is based on the assumption that the focus of poetic theory prior to narratology was limited to specific genres, whereas narratology takes ‘narration’ as a transgeneric phenomenon. In contrast, this essay aims to show that, since the late 18th century, genre theory has considered narration a key feature of all epic forms and paved the way for a systematic discussion of narratological subjects. Against this backdrop, the article asks whether there is continuity in how narrative structures are conceptualized. The essay argues for a distinction between constant research issues and context-specific responses in the historiography of narratological concepts. In order to illustrate this approach, the article concludes with a short overview on the history of the concept of narrator.

„Die Poetik ist eine sehr alte und sehr junge ‚Wissenschaft‘. Vielleicht wäre es zuweilen in ihrem Interesse, das wenige, was sie ‚weiß‘, zu vergessen“ (Genette 1979, 87). Dieser Satz stammt aus Gérard Genettes gattungstheoretischer Abhandlung Einführung in den Architext (1979). Gemünzt ist er auf den Hang der Literaturwissenschaft, die Gattungstrias von Lyrik, Epik und Dramatik gewissermaßen als naturgegeben zu betrachten und dabei den Konzepten der deutschen Klassik verhaftet zu bleiben. Mit Blick auf die Erzähltheorie, zu deren Konjunktur Genette bekanntlich maßgeblich beigetragen hat, muss man allerdings konstatieren, dass sie den Ratschlag vom Vergessen der Tradition mit einer erstaunlichen Konsequenz befolgt hat. Sehr tief sitzt zumindest die Vorstellung, dass die Geschichte der Narratologie, von wenigen Vorläufertexten abgesehen, erst im 20. Jahrhundert beginnt, womöglich sogar erst mit den strukturalistischen Anstößen der 1960er Jahre (vgl. Nünning 1997, 514; Prince 1995, 111). Zwar hat sich die Aufmerksamkeit für die prä-strukturalistische Erzählforschung seit einigen Jahren deutlich erhöht, weit über die Jahrhundertwende hinaus reicht das historische Interesse an der eigenen Disziplin aber nicht. Immerhin weisen einige theoriegeschichtliche Beiträge auf relevante Werke der historischen Poetik hin, darunter vor allem die Klassiker der antiken Dichtungstheorie und Texte des 18. und 19. Jahrhunderts wie Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), der Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller oder Otto Ludwigs Romanstudien (1891) (vgl. Scheffel 1997, Darby 2001, Fludernik / Margolin 2004, Lahn / Meister 2008, 19-34). Eine umfassende und systematische Aufarbeitung der Erzähltheorie vor 1900 steht indes noch aus.

Diese Zurückhaltung gegenüber der literaturtheoretischen Tradition hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen geht man davon aus, dass sich die moderne Erzählforschung von älteren Theorien über das Kriterium der Gattungsgebundenheit abgrenzen lässt. Demnach habe die Literaturwissenschaft erst am Anfang des 20. Jahrhunderts ,Erzählung‘ als transgenerisches Strukturprinzip wahrgenommen und zu analysieren begonnen (vgl. Cornils / Schernus 2003, 149). Zum anderen zweifelt man offenbar daran, dass zu den spezialisierten Termini der modernen Wissenschaft konzeptuelle Entsprechungen in älteren Theoriekontexten existieren. Eine Theoriegeschichte, der es auf den Einbezug dieser Kontexte ankommt, muss auf beide Fragen eine überzeugende Antwort finden. Sie hat zunächst zu klären, ob von einer historischen Theorie des Erzählens überhaupt die Rede sein kann oder nur von Theorien einzelner Gattungen erzählender Literatur. Sodann muss sie darlegen, welcher begriffsgeschichtlichen Methode sie folgt, um die Konzepte älterer und neuer Theorien miteinander in Bezug setzen zu können. Auf beide Aspekte möchte ich im Folgenden zunächst gesondert eingehen, bevor ich abschließend am Beispiel des ,Erzähler‘-Begriffs zu zeigen versuche, welche Ergebnisse von dieser erweiterten Theoriegeschichte der Narratologie zu erwarten sind.

Erzähltheorie und Gattungstheorie

In der eingangs zitierten Abhandlung erläutert Genette, dass die Literaturtheorie seit der Antike über einen Begriff des Erzählens verfügt, der keine einzelne Gattung, sondern eine gattungsübergreifende Aussagesituation bezeichnet (Genette 1979, 19). Damit bezieht er sich auf das sogenannte Redekriterium, das bereits bei Platon auftaucht und in der Poetik des Aristoteles als eines von drei Differenzierungskriterien zur Einteilung literarischer Gattungen aufgegriffen wird. Für die Konzeption einer Geschichte der Erzähltheorie stellt sich nun die Frage, ob mit diesem Kriterium bereits die Grundlage für eine allgemeine Theorie der Erzählung gegeben ist. Dabei sind zwei Aspekte zu bedenken: Zum einen die kategorialen Unterschiede zwischen der platonischen und der aristotelischen Interpretation des Redekriteriums, zum anderen der Stellenwert des Kriteriums innerhalb des Gattungssystems.

Die Unterschiede in den antiken Konzeptionen beginnen mit dem Erkenntnisinteresse. Aristoteles geht es um die systematische Differenzierung literarischer Gattungen, Platon hingegen um das Verhältnis zwischen Dichtung und Nachahmung. In der Politeia unterteilt Sokrates die Dichtung in Nachahmung, Nicht-Nachahmung (Bericht) sowie die Mischung von Nachahmung und Bericht:

[D]ie eine Art der Dichtung und Sage beruht ganz auf der Nachahmung; das ist, wie du sagst, die Tragödie und die Komödie. Die zweite beruht auf dem Bericht des Dichters selbst; du findest sie wohl am ehesten in den Dithyramben. Die dritte Art, die beides vereinigt, haben wir in der epischen Dichtung, aber auch sonst vielfach […]. (Platon 2000, 215)

Aristoteles hingegen stellt die gesamte Dichtung unter das Prinzip der Nachahmung und differenziert dementsprechend zwischen unterschiedlichen Weisen nachahmender Darstellung. So sei es dem Autor möglich

entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. (Aristoteles 1982, 9)

Die platonische Triade ist damit auf eine Dyade reduziert (vgl. Hempfer 2010, 39). Denn Aristoteles unterscheidet auf oberster Ebene nur zwischen Bericht und szenischer Präsentation. Die Differenzierung zwischen reinem Bericht und der Mischung von Figuren- und Erzähler-Rede verlegt er hingegen auf eine zweite, untergeordnete Ebene und nutzt sie zur Spezifizierung der berichtenden Nachahmung.

Dieser Unterschied ist erzähltheoretisch durchaus relevant. Nach Platons Einteilung fiele ein Großteil der Literatur, die wir nach heutigem Verständnis als erzählend bezeichnen, gar nicht unter die Kategorie ‚Erzählung‘ / ‚Bericht‘; vielmehr müsste sie als Mischform aus berichtender und szenischer Darstellung behandelt werden. Denn Platon ordnet der epischen Dichtung kein einheitliches Gestaltungsprinzip zu, sondern charakterisiert sie als Zusammentreten zweier unterschiedlicher Modi. Demgegenüber begreift Aristoteles die Kategorie ‚Erzählung‘ / ‚Bericht‘ als ein den ganzen Text umgreifendes Strukturprinzip, weshalb er auch Texte, die szenische Darstellung bzw. Figurenrede enthalten, als Erzähltexte definieren kann. Die theoriegeschichtliche Pointe dieser Modifikation liegt darin, dass im Grunde genommen nur die aristotelische Variante des Redekriteriums eine Theorie der Erzählung begründen kann. Zwar ist es auch der modernen Narratologie nicht entgangen, dass Erzählungen heterogene Gebilde sind, d.h. meistens „nicht nur aus Erzählen“ bestehen, weil sich jeder ,Erzähler‘ „in aller Regel partienweise immer wieder auch anderer Arten der Rede“ wie Dialog, Beschreibung, Betrachtung etc. bedient (Weber 1998, 64). Dabei gilt jedoch, dass neben einem engen, gewissermaßen platonischen Verständnis von Erzählung (eine Redeform unter anderen) das weite, aristotelische immer präsent bleibt. Erzählung bezeichnet eben nicht nur eine ,Art der Rede‘, sondern zugleich ein „komplexes Textgebilde“ (ebd.), das auch noch andere Arten der Rede beinhalten kann. Der Gegenstand der Narratologie ist mit anderen Worten niemals ausschließlich eine passagenweise angewandte Redeform, sondern immer das gesamte ,Textgebilde‘ Erzählung.

Die erste Bedingung für die Entstehung einer allgemeinen Theorie des Erzählens ist also der Anschluss an die aristotelische Variante des Redekriteriums. Die platonische Triade, vermittelt vor allem durch die einflussreiche Ars grammatica des Diomedes (vgl. Hempfer 2010, 40), bleibt theoriegeschichtlich jedoch sehr wirkungsmächtig. Dementsprechend werden die epischen Dichtarten in der Regel dem genus mixtum, d.h. der Mischform zwischen Dichterrede und Figurenrede, zugeordnet und keinem einheitlichen Prinzip unterstellt. Erst in den Poetiken der Aufklärung setzt sich die aristotelische Einteilung auf breiter Basis durch; man findet sie in den wichtigsten Dichtungstheorien der Epoche, bei Johann Christoph Gottsched ebenso wie bei Charles Batteux oder später bei Johann Jakob Engel. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit ein Begriffswandel einsetzt und das Adjektiv ,episch‘ nun nicht mehr allein auf das heroische Epos, sondern auf alle erzählenden Gattungen angewandt wird (vgl. Scheffel 2010, 312). Denn die Idee einer Makro-Gattung ,Epik‘ kann sich erst dort herausbilden, wo die Untergattungen auf ein gemeinsames und einheitliches Strukturprinzip – das Erzählen – zurückgeführt werden.

Damit ist bereits die zweite Voraussetzung einer Theorie der Erzählung angesprochen, die hier in den Blick genommen werden muss, nämlich die Bedeutung des Redekriteriums innerhalb des Gattungssystems. Bei Aristoteles ist die Bestimmung der Art und Weise der Darstellung nur eines von drei Kriterien zur Einteilung der literarischen Gattungen. Daneben tritt die Bestimmung nach den angewandten Mitteln (Rhythmus, Melodie, Versmaß) und die nach den dargestellten Inhalten. Das letzte Kriterium, die Einteilung nach den Gegenständen der Darstellung, überragt die anderen beiden an Bedeutung und wird von Aristoteles am ausführlichsten besprochen. Der Wandel der Gattungstheorie im 18. Jahrhundert verändert diese Hierarchie jedoch grundlegend. Die Leistung der antiken und humanistischen Gattungslehre, aus einer geringen Zahl von Einteilungskriterien eine Vielzahl von Gattungen und jede Gattung durch einen Katalog von Differenzmerkmalen zu bestimmen, verliert zu dieser Zeit an Überzeugungskraft. Stattdessen zielt das Bemühen der Theoretiker nun darauf, die einzelnen Gattungen auf eine innere Gesetzmäßigkeit zurückzuführen (vgl. Willems 1981, 110). Gesucht wird ein „Prinzip, das die Gattung organisiert“ und aus dem sich die ,wesentlichen‘, also nicht äußerlichen, zufälligen oder historisch wandelbaren Merkmale der Gattung ableiten lassen (vgl. Trappen 2001, 214). In diesem Kontext rückt die narrative Behandlungsweise zum zentralen Bestimmungskriterium auf, weil man im Erzählen ein anthropologisch konstantes Gestaltungsprinzip zu erkennen glaubt, das die ,wesentlichen‘ Formgesetze der epischen Gattungen miteinander verbindet. Das Verständnis der Erzählung als einer „poetogenen Struktur“ (Zymner 2003, 168), die der Kunst und den einzelnen literarischen Gattungen vorausliegt, hat hier seine Wurzeln.

Weil die erzählende Form zum zentralen Gattungsmerkmal der Epik erhoben wird, wächst auch das Bedürfnis nach einer theoretischen Erfassung des Erzählens. Greifbar wird dieser Zusammenhang im Eintrag „Heldengedicht“ in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771). Der Verfasser gibt darin zunächst eine Definition des Epos, die sich noch ganz im Rahmen älterer gattungstheoretischer Vorstellungen bewegt, indem sie alle drei aristotelischen Einteilungskriterien aufgreift und gleichrangig nebeneinander stellt: Das Epos verlangt demnach einen „feyerlichen Ton“ sowie eine „merkwürdige Handlung“ und werde „umständlich erzählt“ (Sulzer 1771, 526). Doch offenbar hält Sulzer die reine Auflistung von Merkmalen nicht mehr für ausreichend und fragt darum weiter nach dem „natürlichen Ursprung“ ihrer Zusammengehörigkeit, d.h. nach dem anthropologischen Fundament der Gattung. Er findet es in dem „natürlichen Trieb, merkwürdige Auftritte, die man mit Empfindung und mancherley Rührung gesehen hat, wieder zu erzählen“ (Sulzer 1771, 527):

Aus diesem, jedem lebhaften Menschen natürlichen Hange merkwürdige Begebenheiten mit seinen Zusätzen, Schilderungen, und besonderer Anordnung der Sachen zu erzählen, müssen wir den Ursprung des Heldengedichts herleiten. Auch ohne Kunst würde ein empfindsamer und dabey sehr beredter Mensch unter dem Erzählen ein Heldengedicht machen. (Sulzer 1771, 526)

Die strukturelle Analogie von Alltagserzählung und Epos bzw. die Zurückführung der literarischen Gattung auf die außerliterarische Tätigkeit impliziert, dass eine Theorie des Epos mit einer Theorie des Erzählens beginnen muss: Wer „eine gründliche Theorie des Heldengedichts schreiben“ will, der muss „zuerst auf das Nothwendige oder Natürliche darin sehen, was der Kunst vorher gegangen ist“, mithin auf die Eigenschaften „der natürlichen Erzählung“ (Sulzer 1771, 527).

Der Rückgriff auf die Form der Erzählung zur Ableitung ,wesensmäßiger‘ Eigenschaften der epischen Gattungen ist kein Spezifikum der Literaturtheorie der Spätaufklärung. Auch in den Poetiken der Klassik und Romantik, die mit der Behauptung einer Analogie zwischen literarischem und alltäglichem Erzählen ansonsten deutlich zurückhaltender sind, als Sulzer es war, stößt man auf diese Argumentationsfigur. Wilhelm von Humboldt merkt in seiner Untersuchung Über Göthes Herrmann und Dorothea (1798) zwar zunächst skeptisch an, dass die charakteristischen „Eigenschaften“ der Epik „aufs höchste nur dunkel in dem einzigen Ausdruck: Erzählung enthalten“ seien, um kurz darauf aber dann doch zu dem Ergebnis zu kommen, dass man „[s]treng genommen“ aus eben diesem Begriff „zugleich ihr ganzes Wesen ableiten“ könnte (Humboldt 1798, 267-268; Hervorhebung im Original). Auch Schiller zögert nicht, auf den „Begriff des Erzählens“ zurückzugehen, um die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten des Epischen daraus abzuleiten (zit. n. Goethe 1827, 451; Hervorhebung im Original). Und Goethes Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung, der den Austausch der Dioskuren über diesen Gegenstand zusammenfasst, erklärt die Kommunikationssituation des mündlichen Erzählens gewissermaßen zur epischen Ur-Situation (vgl. Goethe 1827, 445). Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass sich die Theorie der Epik seit dem späten 18. Jahrhundert in Gänze auf erzähltheoretisch relevante Themen reduziert oder die Ausrichtung auf bestimmte Leitgattungen, sei es das klassische Epos oder der moderne Roman, bei der Theoriebildung keine Rolle spielt. Bekräftigt werden soll jedoch, dass der beschriebene Wandel innerhalb der Gattungspoetik das theoretische Interesse an den Gesetzmäßigkeiten des Erzählens als einer gattungsübergreifenden Praxis deutlich steigert und so die konzeptuelle Entwicklung zahlreicher erzähltheoretischer Kategorien möglich macht.

Grundbegriffe der historischen Erzähltheorie

Der Blick auf die Geschichte der Gattungstheorie hat gezeigt, warum narratologische Themen und Begriffe seit dem späten 18. Jahrhundert ein elementarer Bestandteil des literaturtheoretischen Diskurses sind. Im Folgenden wird es darum gehen, zu präzisieren, um welche Begriffe es sich dabei handelt und wie sie sich historiografisch erfassen lassen. Die Begriffsgeschichte gilt neben institutionsgeschichtlichen Ansätzen als eine der beiden hauptsächlichen Formen, Geschichtschreibung der Narratologie zu betreiben (vgl. McHale 2008, 61). Beiträge zur Theorie und Methode begriffsgeschichtlichen Arbeitens sind gleichwohl rar, was sicher auch damit zu tun hat, dass von Ausnahmen abgesehen (vgl. Stang 1959, Doležel 1990, Ernst 2000) die historische Aufarbeitung narratologischer Kategorien oft über einen Forschungsüberblick nicht hinauskommt. Daneben ist zu bedenken, dass die Narratologie wie die Literaturwissenschaft insgesamt eher an der Präzision und Explikationskraft ihrer begrifflichen Werkzeuge interessiert ist als an ihrer geschichtlichen Diversität und Vielschichtigkeit. Allerdings dürfte mit der Debatte um die Historizität narratologischer Kategorien, die seit einigen Jahren intensiv geführt wird (vgl. Shaw 2008, Haferland / Meyer 2010), auch das Interesse an tiefer gehenden begriffsgeschichtlichen Untersuchungen und an einem tragfähigen methodischen Rahmen deutlich gestiegen sein.

Dabei besteht die zentrale Herausforderung darin, das Verhältnis von Historizität und Kontinuität erzähltheoretischer Begriffe abzuwägen. Läuft eine narratologische Begriffsgeschichte darauf hinaus, dass historische Konzepte zusammengetragen werden, die mit den modernen Kategorien kaum etwas zu tun haben und deshalb für die gegenwärtige Begriffsbildung nicht als relevant gelten können? Oder gibt es eine gemeinsame konzeptuelle Basis, die einen Vergleich auch über größere historische Distanzen hinweg gestattet? An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Geschichte der Sprachtheorie, genauer gesagt in das rezente Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts (Haßler / Neis 2009). Denn diesem Projekt liegt eine durchaus vergleichbare Absicht zugrunde, insofern es die spezialisierten und theoretisch ausdifferenzierten Termini einer modernen Wissenschaft mit den auf den gleichen Gegenstandsbereich bezogenen Konzepten einer entfernten Epoche in Beziehung setzen will. Die Herausgeberinnen sehen sich dabei vor die Entscheidung gestellt, ob

heute gültige objektbezogene Aussagen über Sprache, die in einer oder mehreren Theorien begrifflich verankert sind, zum Ausgangspunkt der Untersuchung werden sollten oder ob im Sinne einer Vermeidung jeglicher teleologischen Perspektivierung ausschließlich eine Rekonstruktion von Begriffen aus dem Sprachdenken des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgen sollte. (Haßler / Neis 2009, 85)

Gerda Haßler und Cordula Neis wählen schließlich eine Vorgehensweise, die zwischen beiden Perspektiven vermittelt, also sowohl retrospektiv vom gegenwärtigen Begriffsverständnis aus nach früheren Konzepten fragt als auch die „authentische[n] Begriffe“ einer Epoche berücksichtigt (Haßler / Neis 2009, 84). Dafür differenzieren sie zwischen einer konstanten und einer dynamischen Ebene der Begriffsbildung: „Basis einer Inbezugsetzung über die zeitliche Verankerung hinweg sind […] hinreichend allgemeine Fragestellungen, die tendenziell zu vergleichbaren Antworten führen“ (Haßler / Neis 2009, 86; Hervorhebung im Original). Grundlage des begriffsgeschichtlichen Vergleichs ist demnach ein Analyseanliegen, das kontinuierlich an einen bestimmten Gegenstand – in diesem Fall: das System der Sprache – herangetragen wird. Im Grunde vertreten Haßler / Neis damit einen problemgeschichtlichen Ansatz, bei dem historisch variable und kontextuell gebundene Lösungsvorschläge für mehr oder weniger invariante Probleme gesucht werden. Aufgrund dieser Invarianz gibt es aber auch keine lineare Entwicklung, z.B. auf das heutige Begriffsverständnis hin. Alle Antworten oder Lösungsversuche müssen als potenziell gleichrangig und insofern nicht als Vorstufen, sondern als Alternativen zu aktuellen Konzepten angesehen werden.

Möchte man diesen Vorschlag aufgreifen und auf die Theoriegeschichte der Narratologie anwenden, so hat man zunächst zu klären, was diese invarianten Fragestellungen sein können. Es liegt nahe, dass es sich nicht um inhaltliche Probleme handeln kann, etwa um die „großen, ewigen Rätsel- und Schicksalsfragen des Daseins“, denen die ältere literaturwissenschaftliche Problemgeschichte auf der Spur war (Unger 1924, 155). Vielmehr geht es um Analyseanliegen, die sich auf die strukturellen Bedingungen und Gemeinsamkeiten narrativer Texte beziehen. Als ‚narrativ‘ gelten schriftliche Texte dem allgemeinen Verständnis nach, wenn sie zum einen die Darstellung von Handlung bzw. eine Folge von Zustandsveränderungen beinhalten und wenn zum anderen die Vergabe von Informationen über die Handlungswelt von einer oder mehreren Vermittlungsinstanz(en) abhängt (vgl. Schmid 2005, 3).1 Dementsprechend können sich die Basisprobleme der erzähltheoretischen Diskussion einerseits auf die Handlungs- und andererseits auf die Vermittlungsstruktur beziehen – wobei die Trennung einer Ebene der histoire und einer Ebene des discours und das Verhältnis beider Ebenen zueinander selbst bereits ein Gegenstand der Diskussion ist. Mit Blick auf den Aufbau und die Konstruktion der Handlung sind dann zunächst die Begriffe der Motivation und der Kohärenz zu nennen. Sie umfassen Fragen nach den Wirkursachen des Geschehens sowie nach der Geschlossenheit des dargestellten Vorgangs und den Möglichkeiten, diese zu befördern oder ihr entgegenzuwirken. In engem Bezug zu den Konstruktionsprinzipien der Handlung steht die Konzeption der Figuren, insbesondere des Helden. Narratologisch relevant ist hier das Bemühen, denkbare Unterschiede in der Anlage der Personen, z.B. hinsichtlich des Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie, Statik und Entwicklungsfähigkeit etc., zu erfassen oder aber das Verhältnis von Leser und Figur bzw. Erzähler / Autor und Figur zu bestimmen. Ein weiteres wichtiges Diskussionsfeld lässt sich mit den Begriffen der Ereignishaftigkeit und / oder Erzählbarkeit umreißen. Von erzähltheoretischem Interesse ist dabei nicht, welche Stoffe die Literatur aufgreift und welche sie etwa unter dem Druck sozialer Normen vermeidet, sondern ob bestimmte Stoffe als besonders geeignet gelten können, erzählerisch (und nicht z.B. dramatisch) behandelt zu werden, und welchen Kriterien ein Vorkommnis genügen muss, um als Ereignis und Erzählanlass wahrgenommen zu werden.

Wendet man den Blick der Vermittlungsstruktur narrativer Texte zu, so wird man als erstes auf den Begriff des Erzählers stoßen. Die theoretische Auseinandersetzung dreht sich hier um eine Vielzahl von Aspekten, etwa um die Stellung der vermittelnden Instanz zum Erzählten, ihre Vordergründigkeit und Figuralität, die Unterscheidung verschiedener Erzählertypen (z.B. Ich-Erzähler, Er-Erzähler, Erzähler im Briefroman) oder auch um das Verhältnis von Autor und Erzählinstanz. Eng damit verbunden sind Fragen nach unterschiedlichen Erzählmodi, d.h. Präsentationsformen wie szenisch-unmittelbare und berichtend-mittelbare Darstellung. Sodann beschäftigt die Theoretiker, welche Strategien der Informationsvergabe dem Autor im Medium des Erzählens zur Verfügung stehen und welche Einflüsse sie z.B. auf die Spannungs- und Sympathieführung haben. Diese Themenbereiche lassen sich sowohl mit dem Begriff deYin der erzähltheoretischen Diskussion seit dem späten 18. Jahrhundert kontinuierlich aufgegriffen werden.2 Stattdessen möchte ich den ‚Erzähler‘-Begriff heranziehen und an ihm exemplarisch aufzeigen, wie sich in der Geschichte dieses Begriffs konzeptuelle Kontinuität und historische Spezifik ineinanderfügen und welche Ergebnisse von einer Theoriegeschichte auf begriffsgeschichtlicher Basis zu erwarten sind.

Eine kurze Geschichte des ,Erzähler‘-Begriffs (1770-1900)

Grundlage der vorliegenden begriffsgeschichtlichen Untersuchung ist eine möglichst unspezifische ,Fragestellung‘, in diesem Fall die Frage nach Funktion und Stellung derjenigen „Instanz“, die „die Informationen über die erzählte Welt vermittelt“ (Zeller 1997, 502). Es wird also ein bewusst vages und voraussetzungsloses Begriffsverständnis als Ausgangspunkt gewählt, das viele Aspekte, die in der Auseinandersetzung mit dem Erzählerbegriff eine Rolle spielen – wie z.B. der Grad an Figuralität, die ontologische bzw. aussagelogische Stellung oder die Zuverlässigkeit (vgl. Margolin 2009, 358-366) – unbestimmt lässt. Das bedeutet auch, dass der Begriff nicht die Trennung zwischen Erzähler und Autor voraussetzt, die erst im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer (freilich nicht unangefochtenen) Basisprämisse literaturwissenschaftlichen Arbeitens erhoben wird.3 Denn bis dahin verfügt die Literaturtheorie schlichtweg nicht über das Konzept des Erzählers als eines fiktiven, vom Autor entworfenen Aussagesubjekts (vgl. Zeller 1997, 503). Diese konzeptuelle Trennung soll auch nicht zum Telos der Begriffsgeschichte erklärt und ihr Fehlen in älteren Kontexten auf niedrigere Ansprüche an Methode oder den geringeren Komplexitätsgrad von theoretischen Modellen zurückgeführt werden. Stattdessen soll der Frage nachgegangen werden, ob die jeweils theorieleitenden historischen Prämissen eine solche Konzeptualisierung überhaupt ermöglichen und welche Alternativen unter den jeweiligen Bedingungen privilegiert werden.

Wo Erzähler und Autor gleichgesetzt werden, geschieht dies nicht aus Naivität, sondern zumeist aus guten Gründen. So ist für die Erzähltheorie der Spätaufklärung die Gleichsetzung deshalb naheliegend, weil von der literarischen Erzählung in erster Linie Kohärenz und korrekte Motivation verlangt wird, aber nur der Autor als Urheber und Schöpfer des Kunstwerkes diese Ordnung und Übersichtlichkeit garantieren kann. Er erfüllt dabei eine doppelte Funktion: Er muss zum einen alle notwendigen Informationen über die Vorgänge bereitstellen, damit der Rezipient die kausalen Zusammenhänge nachvollziehen kann; zum anderen ist er aber auch derjenige, der die „bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen“ (Blanckenburg 1774, 313) überschauen und unterbrechen kann, wodurch die Einheit und Sinnhaftigkeit des Erzählten gewährleistet bleibt. Er muss als Vermittler zuverlässig und als Urheber autonom sein, alle notwendigen Details bereitstellen und dabei außerhalb oder besser: oberhalb des Stoffes stehen. So heißt es in Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774):

Der Dichter […] kann den Vorwand nicht haben, daß er das Innre seiner Personen nicht kenne. Er ist ihr Schöpfer: sie haben ihre ganzen Eigenschaften, ihr ganzes Seyn von ihm erhalten; sie leben in einer Welt, die er geordnet hat. Mit dieser Voraussetzung werden wir nun, bey dem Wirklichwerden irgend einer Begebenheit, das ganze innre Seyn der handelnden Personen, mit all’ den sie in Bewegung setzenden Ursachen in dem Werk des Dichters sehen müssen, wenn der Dichter sich nicht in den bloßen Erzehler verwandeln soll. (Blankenburg 1774, 264-265; Hervorhebung im Original)

Mit dem ,bloßen Erzähler‘ meint Blanckenburg einen Erzähler, der sich auf die chronikale Aneinanderreihung von Ereignissen beschränkt und das Geschehen nicht kausal auseinander entwickelt. Dieser gleicht einem reinen Informanten, der nicht über seinen Stoff verfügt und ihn nur ,nennt‘, anstatt ihn zu ,vermitteln‘. Der Romanschriftsteller, wie Blanckenburg ihn sich denkt, erzählt hingegen in der Absicht, zu unterrichten und dem Rezipienten das Ineinandergreifen der Ereignisse zu veranschaulichen. Das Zusammenwirken von kommunikativer Präsenz und auktorialer Überlegenheit ist die Voraussetzung für das Erreichen dieses Ziels. Eine konzeptuelle Differenzierung zwischen vermittelndem und erfindendem Subjekt wäre in diesem Kontext also kontraproduktiv.

Von didaktischen Zielsetzungen dieser Art nimmt die Literaturtheorie um 1800 bekanntlich Abstand. Nicht nur deshalb entsteht in dieser Zeit ein völlig neues Erzählerkonzept, in dem auch das Verhältnis zwischen erfindendem und erzählendem Subjekt anders erfasst wird. Eine sehr bekannte und trotzdem narratologiegeschichtlich kaum ausgewertete Passage aus Goethes (und Schillers) Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung (1827) bringt die wichtigsten Veränderungen auf den Punkt:

Die Behandlung im Ganzen betreffend, wird der Rhapsode, der das vollkommen Vergangene vorträgt, als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken, die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird das Interesse egal verteilen, weil er nicht im Stande ist, einen allzulebhaften Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im Allgemeinen zu hören glaubte. (Goethe 1827, 447)

Der Begriff des ,Rhapsoden‘ ist hier mehr als ein klassizistisches Dekor. Er bezeichnet gewissermaßen die reine Erzählfunktion, die nicht an eine Figur mit individuellen Zügen gebunden ist. Der Sänger ist abgesehen von seiner narrativen Tätigkeit als Person nicht weiter interessant, er ist zwar gegenwärtig, aber eher als körperlose Stimme denn als empirisches Subjekt. Der topische Vergleich des Erzählers mit einem weisen Alten beschreibt nur die gewünschte Erzählhaltung und bezieht sich nicht auf eine tatsächlich zu gestaltende Erzählerfigur. Zudem repräsentiert der Rhapsode eine Instanz, die in erster Linie den Vortrag und die ästhetische Organisation (Spannungsführung, Ordnung etc.) verantwortet, nicht aber den Inhalt. Die schöpferische Leistung wird ebenfalls entpersonalisiert und einem überindividuellen Vermögen, der Einbildungskraft, zugeschrieben. Der Rhapsode ist das Medium nicht eines einzelnen Autors, sondern ,der Musen im Allgemeinen‘. Insofern kann man hier in der Tat von einer konzeptuellen Trennung zwischen dem Rhapsoden / Erzähler und dem Autor / Schöpfer sprechen, nur dass zum einen der Erzähler kein fiktives Aussagesubjekt darstellt und zum anderen der Autor als empirische Person und individueller Urheber theoretisch ignoriert wird.

In der Epiktheorie um 1800 wird der Erzähler demnach als eine unpersönliche, d.h. nicht individualisierte Kommunikationsinstanz konzeptualisiert. Bekräftigt wird gleichwohl die Vorstellung der Adressiertheit, der Ausrichtung der Erzählung auf ein (zuhörendes oder lesendes) Publikum. Genau dieser Aspekt wird für die (nach)hegelianische Ästhetik des 19. Jahrhunderts allerdings zum Problem. Das hängt auch damit zusammen, dass Hegel selbst in seinen kunstphilosophischen Vorlesungen die Erzählung nicht mehr als grundlegendes Strukturprinzip der Epik ansieht. Das Epos definiert er als das unmittelbare Aussprechen eines Gegebenen, nicht als Bericht von etwas Vorgängigem. Die Urform der Gattung ist deshalb auch nicht die (Alltags-)Erzählung, sondern das Epigramm: „Das Epos spricht aus, was die Sache ist; der Gegenstand als Gegenstand, die Breite der Umstände, der ganze Gegenstand in seinem Dasein wird ausgesprochen“ (Hegel 1998, 284). Im Vordergrund der Gattungsbestimmung steht für Hegel das sowohl vom Sprecher als auch vom Rezipienten unabhängige Dasein des Gegenstandes. Die kommunikative Struktur und der Vorgang der erzählerischen Vermittlung werden dagegen fast vollständig negiert. Das Epos „singt sich so für sich selbst fort, die Rhapsoden sind ganz tote [!] Instrumente für die Rede, der Inhalt ist für sich“ (Hegel 2005, 233). Man ist versucht, in Analogie zum ,Tod des Autors‘ im 20. Jahrhundert hier vom ,Tod des Erzählers‘ zu sprechen.

Die nachhegelianische Ästhetik nimmt diese radikale Position zwar ein Stück weit zurück, verschärft damit aber auch die Spannung zwischen der Objektivität des Inhalts und der Subjektgebundenheit des Darstellungsvorgangs. Diskutiert wird dieses Problem vor allem bei Friedrich Theodor Vischer (vgl. Grüne 2014, 98-102). Dieser widerspricht in seiner Ästhetik (1857) Hegels Behauptung, der erzählende Autor könne ganz hinter dem Inhalt verschwinden:

Als Erzähler bleibt er […] neben dem Inhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges Leben des Gegenstands. (Vischer 1857, 1265)

Im Gegensatz zum Bildhauer, der sich von der von ihm geschaffenen Plastik körperlich entfernen kann, bleibt der Epiker in seinem Text als Kommunikationsinstanz gegenwärtig:

[W]ährend wir es [das Epos] genießen, mag es ein Anderer vortragen oder mögen wir es lesen, ist er dabei und darin, denn statt des Materials hat er ja nur das Wort, er spricht es, er spricht mit uns, bis wir zu Ende sind. (Ebd.)

Die erzählerische Objektivität bezieht sich nach Vischer deshalb in erster Linie auf den Stoff und nicht auf den Vermittlungsvorgang. Er trennt also konzeptuell zwischen zwei verschiedenen Tätigkeiten und ihren jeweiligen Produkten, dem Erzählakt einerseits, der das „Bild der Dinge“ hervorbringt, und dem Auffinden der „Fabel“ andererseits, d.h. der Konstitution einer Handlung (Vischer 1857, 1306-1307). In der Antike, so Vischer, wird die ,Fabel‘ durch Sage und Mythos tradiert und so dem Autor objektiv vorgegeben; dessen Leistung geht hier in der vermittelnden Funktion auf. In der Moderne hingegen wird der Autor zum autonomen Erfinder seines Stoffes. Die dargestellten Sinn- und Wirkungsstrukturen entbehren damit eigentlich der Allgemeingültigkeit und Objektivität, sind sie doch das Produkt einer individuellen Schöpfungsleistung. Um dennoch dem Anspruch der Objektivität zu genügen, muss der Autor deshalb den Eigenanteil am Inhalt negieren oder bemänteln. Nicht als Erzähler, sondern als Autor und Urheber der ,Fabel‘ soll er zurücktreten:

Die epische Objectivität fordert, daß auch der frei schaltende Romandichter sich stelle, als thue er nichts dazu, als mache sich die Fabel von selbst oder zwinge ihn, weil sie einmal thatsächlich sei, so und nicht anders zu erzählen. (Vischer 1857, 1306)

Legitimiert sieht Vischer diese „Fiction des Glaubens an die thatsächliche Nöthigung des Fabel-Inhalts“ (ebd., 1307) durch die Einsicht in „die Nothwendigkeit des Weltlaufs“ (ebd., 1266), die dem Autor auch in der Gegenwart offenbar noch möglich ist. So kann selbst ein willkürlich entworfener Stoff dem Anspruch an absolute Repräsentativität genügen.

Mit dem Vertrauen auf die Transparenz des ,Weltlaufes‘ gibt sich Friedrich Spielhagen nicht mehr zufrieden; in seinen Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans (1883) stellt er es als das Grundproblem des modernen Schriftstellers heraus, dass dieser in seinem Schaffen notwendigerweise an Inhalte gebunden bleibt, die ihm durch eigenes Erleben zugänglich sind. Das muss nicht heißen, dass alle seine Figuren oder Stoffe einen ,realen Kern‘ haben, doch sind die dargestellten Handlungsmuster und Denkweisen zwangsläufig Ausdruck eines individuellen Erfahrungsprozesses des Autors. Zwar hält Spielhagen an der Objektivitäts-Forderung der hegelianischen Ästhetik fest; er macht aber zugleich deutlich, dass dieses Ziel nur unter der Anstrengung einer permanenten Selbstdistanzierung zu erreichen ist. Der Autor muss gewissermaßen die Spuren der Erfahrungsgebundenheit verwischen, die jedem Werk eingeschrieben sind. Ähnlich wie bei Vischer geht es also weniger um die Negation des Erzählakts, als vielmehr um das Verschleiern der Autorschaft. Denn der empirische Autor ist der kritische Punkt, der die Repräsentativität des Kunstwerks und die Allgemeingültigkeit seines Inhalts gefährdet. Allerdings sind dem Erfolg dieser „objektiven Methode“ (Spielhagen 1883, 178) Grenzen gesetzt; Spielhagen selbst betont, dass die Objektivität immer nur eine annähernde sein kann (vgl. ebd., 134), da immer Spuren des subjektiven Gestaltungswillens im Text zurückbleiben. Unschwer erkennt man eine Affinität zwischen der konsequenten Trennung zwischen Erzähler und empirischem Autor, wie sie die moderne Literaturwissenschaft kennt, und Spielhagens Objektivitäts-Ideal. In beiden Modellierungen kommt der Autor als Individuum und Erfahrungssubjekt in seinem Text per definitionem nicht mehr zu Wort. Beide Begriffe antworten jedoch, wie ebenfalls unschwer zu erkennen ist, auf unterschiedliche Fragestellungen, und stehen im Kontext jeweils verschiedener wissenschaftlicher Projekte und Methoden.

Das Konzept des Erzählers als einer fiktiven, textimmanenten Instanz wird jedoch auch von anderer Seite vorgebracht. Theoretiker wie Otto Ludwig oder Berthold Auerbach betonen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorteile eines figuralen Erzählers, der nicht nur als Vermittlungs-, sondern auch als Erlebnismedium präsent ist. Den Prozess der Verarbeitung und Umwandlung von Erfahrungsmomenten, dessen Spuren Spielhagen aus dem Kunstwerk auszulöschen hofft, möchten diese Theoretiker gerade in den Bereich des Dargestellten ziehen. Das muss nicht bedeuten, dass der Erzähler als eine vom empirischen Autor getrennte Person verstanden wird. So schreibt Berthold Auerbach über Wilhelm Meisters Lehrjahre, Goethe erzähle hier „weder im Pathos des unmittelbar Geschehenden, noch als Erinnerung, wo Alles bereits erstarrt und abgethan“, sondern „wie ein Mann, der das selbst erlebt hat, jetzt wohl darüber hinaus ist, aber doch noch mit innerster Wärme daran hängt“ (Auerbach 1867, 35). Entscheidend ist, dass die persönliche Anteilnahme des Erzählers am Erzählten spürbar wird. Konsequenterweise findet in diesem Kontext das homodiegetische Erzählen deutlich mehr Beachtung, als dies zuvor der Fall war. So verbindet Otto Ludwig in seinen um 1860 entstandenen Romanstudien (1891) die typologische Trennung zweier Erzählmodi, der ,eigentlichen‘ und der ,szenischen Erzählung‘, mit der Opposition von Homo- und Heterodiegese (Ludwig 1891, 202-206). In der ,eigentlichen Erzählung‘ tritt demnach ein Erzähler auf, der „seinen Gegenstand entweder ganz oder teilweise selbst erlebt“ hat, der sein „Wissen um die Sache motivieren“ muss (ebd., 202) und der „sich und sein Erzählen zugleich mit dar[stellt]“ (ebd., 205). In der ,szenischen Darstellung‘ hingegen ist der Erzähler von der Verpflichtung entbunden, „zu motivieren, wie er dazu kommt, zu wissen, was er erzählt“ (ebd., 203). Der persönliche Bezug zum Dargestellten kann allerdings auch im heterodiegetischen Erzählen zum Ausdruck gebracht werden. Im Manuskript der Romanstudien findet sich eine diesbezüglich aussagekräftige Ermahnung Ludwigs an sich selbst, vor der Ausarbeitung eines Stoffes „jede Situation“ zunächst „als Erzähl[er], dann in den Charakteren“ zu empfinden und durchzuspielen.4 Der Erzähler ist für ihn folglich kein neutrales Medium, sondern partizipiert in jeder Hinsicht, emotional, kognitiv und voluntativ, am Geschehen.

In dieser Tradition steht auch noch Käte Friedemann, wenn sie den Erzähler als Repräsentation des Bewertenden, Fühlenden und Schauenden definiert (Friedemann 1910, 26). Der zentrale Aspekt ihres Erzählerbegriffs ist ebenfalls die Figuralität und die dadurch mögliche persönliche Bindung des Erzählers an das Erzählte. Für sie steht fest, dass dieser „nicht einen Automaten“, d.h. nur die Erzählfunktion, „sondern einen lebendigen Menschen repräsentiert“ (ebd.). Im Gegensatz zu den Theoretikern der Jahrhundertmitte tendiert sie allerdings dazu, wenn auch nicht mit letzter Konsequenz, dieses Erlebnismedium als eine eigenständige fiktive Figur und nicht als Alter Ego des Schriftstellers zu deuten.

Fazit

Dieser knappe Abriss einer Begriffsgeschichte des Erzählers bis 1900 sollte verdeutlichen, auf welcher Grundlage und zu welchem Nutzen Theoriegeschichte der Narratologie betrieben werden kann. Ausgangspunkt war die Identifikation eines grundlegenden Analyseanliegens, in diesem Fall der Beschreibung und Bestimmung jener Instanz, die Informationen über die erzählte Welt vermittelt. Es konnte gezeigt werden, wie sich unter dem Einfluss historisch spezifischer poetologischer Prämissen verschiedene Konzeptualisierungen des Erzählers herausbilden, die sich nicht in ein lineares Entwicklungsnarrativ etwa im Sinne einer zunehmenden Ausdifferenzierung zwängen lassen. Es handelt sich vielmehr um alternative Auffassungen eines allgemeinen Strukturphänomens, die jeweils unterschiedlichen konzeptuellen Zielen und theoretischen Herausforderungen entsprechen.

Es wäre nun eine ebenso naheliegende wie interessante Frage, inwieweit diese historischen Alternativen auch in der Begriffsbildung der modernen Narratologie berücksichtigt werden sollten. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem – also der Vermittlung historischer Differenz mit systematischer Konsistenz – gehört, wie bereits angedeutet, in die allgemeine Literatur- und Kulturtheorie und geht somit über den Horizont der Erzählforschung hinaus. Eines lässt sich gleichwohl schon an dieser Stelle festhalten: Als Korrektiv aktueller Systemzwänge und unhinterfragter Konzepte kann der Blick auf die Theoriegeschichte in jedem Fall nützlich sein. Denn die narratologischen Debatten der historischen Poetik sind vielfältiger und komplexer, als das geringe Interesse an diesem Erbe seitens der modernen Narratologie vermuten lässt. In Anlehnung an das eingangs zitierte Wort Genettes könnte man deshalb sagen: Die Erzähltheorie ist eine sehr junge und sehr alte Wissenschaft. Vielleicht ist es an der Zeit, sich an das, was sie vergessen hat, wieder zu erinnern.

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Matthias Grüne, M.A.
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1 In der anglo-amerikanischen Tradition hat sich bekanntlich ein Verständnis von Erzählung etabliert, das sich auf das erste Kriterium, das Vorhandensein von Handlung, beschränkt. In der historischen (deutschsprachigen) Literaturtheorie überwiegt jedoch ein engeres Verständnis, das sich auf beide Kriterien stützt. – Die Ausdehnung des Erzählbegriffs auf zahlreiche Formen nicht-verbaler Darstellung setzt sich meines Wissens erst im 20. Jahrhundert durch und soll deshalb in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben.

2 Eine ausführlichere Darstellung der erzähltheoretischen Grundbegriffe und ihrer Geschichte soll im Rahmen einer Dissertation zur Erzähltheorie des Realismus vorgelegt werden.

3 Die Debatte der modernen Narratologie über das Verhältnis von ,Erzähler‘ und ,Autor‘ steht nicht im Blickpunkt dieser Arbeit. Siehe dazu Jannidis (2002) sowie zur jüngeren Diskussion Köppe / Stühring (2011).

4 GSA (Goethe- und Schiller-Archiv) 61/VII,12, pag. 159.