Caroline Frank

Prolegomena zu einer historischen Raumnarratologie am Beispiel von drei autodiegetisch erzählten Romanen

After the spatial turn, questions concerning the representative and poietic function of literary spaces have arisen – questions which can only be answered by means of contextual and intertextual readings. Spatial concepts of different eras must be compared with each other in order to move toward a diachronic, and hence ‘postclassical’, narratology of space. This article takes an initial step in this direction: The spatial concepts of three autodiegetic novels – Der Abentheuerliche Simplicissimus, Die Leiden des jungen Werthers, and Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge – are analyzed with Genetteʼs categories; and these analyses are expanded upon using parameters such as degree of heteroreferentiality, modes of narrating space, and spatial symbols. Based on these results, the article concludes with some continuative thoughts on a historical narratology of space.

Seit der transdisziplinären Proklamation des Spatial Turns durch den Humangeographen Edward Soja (1990) erlebt auch die literaturwissenschaftliche Raumforschung einen neuerlichen Boom: War sie in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren hauptsächlich mit der strukturalistischen Analyse räumlicher Dichotomien und deren Semantisierung befasst (z.B. Lotman 1970, nach diesem Muster auch Hoffmann 1989), werden literarische Räume jetzt unter Rekurs auf die konstruktivistischen Raumtheorien des Spatial Turns zunehmend als Repräsentationen kultureller Raumdiskurse verstanden und auf ihr poietisches Potential untersucht.1 In der konkreten Textinterpretation zeigen sich die Grenzen beider Ansätze: Poststrukturalistische Methoden der Raumanalyse sind aufgrund des favorisierten radikal-konstruktivistischen Raumbegriffs und des damit verbundenen gesellschaftskritischen Impetus, der realweltliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse anhand literarischer Raummodelle aufzudecken versucht, nicht auf alle Texte anwendbar. Außerdem lassen sie sich nur in engen Grenzen operationalisieren, da es sich bei ihnen nicht um schematisch anwendbare Methoden, sondern um Formen der subversiven Annäherung an literarische Räume handelt – mit dem Ziel, scheinbar fixe Raumentwürfe zu de-naturalisieren oder nach neuen, die bisherige räumliche Ordnung sprengenden ,Dritten Räumen‘ zu suchen. Strukturalistische Methoden hingegen fokussieren einseitig textinterne Beziehungen, ermöglichen deshalb keine Historisierung oder Kulturalisierung literarischer Räume und erhalten im Bereich der Narratologie inzwischen zunehmend Konkurrenz von postklassischen Ansätzen, die erzähltheoretische Taxonomien mit neuen Fragestellungen kombinieren.2

Bisher gibt es allerdings nur sehr wenig narratologische Forschung, die in eben jenem postklassischen Sinn formale Analysetools verwendet, um Fragen nach der historischen und diachronen Variabilität literarischer Raumdarstellungen zu beantworten. Das ist damit zu erklären, dass es zunächst einmal einzelner Beiträge wie von Dennerlein (2009 u. 2011) und Nünning (2009) bedurfte, die begriffliche Abgrenzungen vorgenommen und Analysetools bereitgestellt haben, bevor nun auf dieser Basis vergleichende und kontextsensitive Erzähltextanalysen erfolgen können – mit dem Ziel einer noch zu schreibenden historischen Raumnarratologie.3

Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen dieses Beitrags lediglich Prolegomena zu einer historischen Raumnarratologie formuliert werden können. Ich gehe dabei in drei Schritten vor: Zunächst einmal definiere ich (1) unter Bezug auf Begriffsbestimmungen der historischen Narratologie einen Arbeitsbegriff von historischer Raumnarratologie, der den sehr weiten Gegenstand ein wenig abzustecken und gleichzeitig einzugrenzen versucht.4 Daran anschließend untersuche ich (2) eine kleine Gruppe autodiegetisch erzählter Lebensgeschichten vom Barock bis zur Moderne, die im Hinblick auf Konstanten und Differenzen ihrer Raumdarstellungen verglichen werden. Dabei beziehe ich mich in der gebotenen Kürze auch auf zur Entstehungszeit virulente anthropologische und raumtheoretische Konzepte. In einem letzten Schritt (3) formuliere ich ausgehend von meinen Ergebnissen einige weiterführende Gedanken zu einer noch zu schreibenden historischen Raumnarratologie.

1. Von der historischen Narratologie zur historischen Raumnarratologie

Im aktuellen Diskurs über die Arbeitsbereiche der historischen Narratologie konkurrieren und koexistieren verschiedene Herangehensweisen an das Thema. Das Zentrum für Erzählforschung (ZEF) an der Bergischen Universität favorisiert etwa die folgende:

Der Arbeitsbereich Historische Narratologie behandelt die Frage, inwiefern für die Analyse älterer Texte besondere narratologische Instrumentarien angewendet werden müssen. Es wird also davon ausgegangen, dass die existierenden erzähltheoretischen Analysekategorien ergänzungs- und änderungsbedürftig sind, da Erzählformen mit ihren historisch jeweils einzigartigen kontextuellen und diskursiven Verankerungen in Wechselwirkung stehen.5

Von dieser Prämisse gehen auch die Beiträge im Tagungsband Historische Narratologie von Haferland und Meyer (2010) aus, die überprüfen, ob narratologische Taxonomien auf Erzählphänomene in mittelalterlicher Literatur angewendet werden können. Besonders gewinnbringend ist die als wissenschaftliches Gespräch verfasste Diskussion zwischen Haferland und Meyer am Ende des Bandes, in der Argumente für und gegen travelling concepts in der Erzähltextanalyse gegeneinander abgewogen werden. Während Haferland sich gegen einen Transfer von Begriffen ausspricht, die an der Beobachtung moderner Lebensverhältnisse und Texte gewonnen wurden und die deshalb nicht auf vormoderne Texte angewendet werden sollten, plädiert Meyer für eine Position, die strikte Alteritätsschwellen zwischen Mittelalter und Moderne ablehnt und die deskriptiv vorgeht, um gerade epochenübergreifende Kontinuitäten erforschen zu können. Für eine historische Raumnarratologie scheint mir die Berücksichtigung beider Positionen sinnvoll zu sein: Die Annahme, dass sich narrative Raumdarstellungen aus unterschiedlichen Epochen vergleichen lassen, ist natürlich elementare Voraussetzung für eine diachrone Raumnarratologie. Wenn dabei erzähltheoretische Taxonomien verwendet werden, die anhand moderner Texte entwickelt wurden, muss deren Transfer auf vormoderne Texte jedoch kritisch überprüft werden.

Monika Fludernik führt in die Diskussion eine stärker gattungsgeschichtlich orientierte Dimension ein: „The historical approach to narrative can take a number of forms. For instance, one can look at narrative genres in each historical period and discuss how they develop over time“ (Fludernik 2003, 332). Aus einer dezidiert narratologischen Perspektive lassen sich aber auch spezifischere Fragen wie etwa die nach den Veränderungen in der Kommunikation zwischen Erzähler und Figuren sowie dem Verhältnis zwischen Autor und Erzähler stellen; außerdem können die Ursprünge bestimmter Erzählverfahren (erlebte Rede, Du-Erzählen) und der Wandel ihrer Funktionalisierung innerhalb des Erzählganzen erforscht werden (vgl. Fludernik 2008, 127-121 und de Jong 2013).

Eine historische Raumnarratologie kann sich im Anschluss an Fluderniks Konzept von historischer Narratologie mit der diachronen Entwicklung von Raumdarstellungen befassen und danach fragen, wie sich das Erzählen von Raum in ausgewählten Textkorpora im Lauf der Literaturgeschichte verändert hat. Andererseits kann sie sich auch stärker synchronen Aspekten widmen und narrative Raumdarstellungen daraufhin untersuchen, wie sie auf realweltliche Raumkonzepte sowie auf andere Diskurse zur Entstehungszeit referieren. Hierfür kommen kontextsensitive Hilfsmethoden wie die Diskursanalyse, der New Historicism oder die (klassische) Einflussforschung infrage. Ob nun mit Fokus auf diachronen oder synchronen Aspekten, eine historische Raumnarratologie betrachtet die narrativen Verfahren der Raumdarstellung immer in ihrer Wechselbeziehung zum jeweiligen historischen Kontext, in dem die zu untersuchenden Texte entstanden sind.

Vielversprechende Einzelziele von zukünftigen historischen Arbeiten zum Raumerzählen könnten – hier in loser Folge aufgelistet – lauten: Analyse von Textgruppen im Hinblick auf die historische Variabilität der Modi narrativer Raumerzeugung (Beschreibung, Bericht, Kommentar usw.) sowie Bestimmung von Umbruchs- bzw. Schwellenphasen, in denen narrative Techniken der Raumerzeugung wie etwa die sprachliche Inszenierung einer panoramatischen Raumwahrnehmung6 oder die Verwendung von erlebter Raumperzeption7 erstmals gehäuft eingesetzt wurden. Möglich wären des Weiteren Studien zur historischen und kulturellen Variabilität von semantischen Oppositionen, die die Topologie der Textwelt bestimmen (vgl. Ryan 2012, Punkt 5), zur diachronen Veränderung der Raumerzeugung in verschiedenen Medien oder zu Veränderungen der Funktionen des erzählten Raums für andere Konstituenten der epischen Situation wie etwa Handlung, Figuren oder Zeit. Mit Fokus auf raumbezogene Referenzen ließen sich Textkorpora außerdem daraufhin untersuchen, ob und wie das Verhältnis zwischen Auto- und Heteroreferentialität entlang diachroner Achsen variiert und welche epistemologischen Bedingungen der Auswahl von Welt- und Wirklichkeitskonzepten jeweils zugrunde liegen. Denn die Intensität heteroreferentieller Bezüge auf die außertextuelle Wirklichkeit sowie auf andere literarische Weltentwürfe ist, wie Nünning in Von historischer Fiktion zur historiographischer Metafiktion – dort allerdings noch nicht mit Blick auf Raumdarstellungen – darlegen konnte, stark abhängig von den ästhetischen und epistemologischen Bedingungen zur Entstehungszeit des jeweiligen Textes (Nünning 1995, bes. 64-72).

Die Liste an Desiderata ist prinzipiell unerschöpflich, weil jeder Aspekt literarischer Raumdarstellung, der bisher Gegenstand synchroner Arbeiten war, um eine diachrone Untersuchungsdimension erweitert werden kann. Ich sehe aktuell aber ein besonders großes heuristisches Potential in Ansätzen, die sich die Kategorien synchroner Raumnarratologien, welche neue Begriffe und Modelle in die Diskussion eingebracht haben (Dennerlein8, Hoffmann, Lotman usw.), zu Nutze machen und diese in einem ersten Schritt auf die diachrone Analyse von Textsorten mit gemeinsamem Merkmalsspektrum anwenden. Die Ergebnisse von solchen vergleichenden Analysen könnten dann in einem zweiten Schritt als Nuklei für transgenerische Arbeiten dienen. Welche erzähltheoretischen Parameter für den ersten Untersuchungsschritt geeignet sein könnten, soll der nun folgende Textvergleich zeigen.

2. Raumdarstellung in autodiegetisch erzählten Lebensgeschichten

Im Rahmen dieses Beitrags wird nicht die Veränderung von Raumdarstellungen im Allgemeinen untersucht, sondern nur ein bestimmter Aspekt, nämlich die Raumdarstellung in drei autodiegetisch erzählten Lebensgeschichten: Grimmelshausens Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1668/1669), Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774/1786) und Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). Neben der Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Entwurf der Raummodelle (Kapitel 2.1) werden die Texte auch im Hinblick auf raumbezogene Erzählverfahren verglichen (Kapitel 2.2), die an entsprechenden Stellen eine Rückbindung an Diskurse zur Entstehungszeit erfahren.

Die ausgewählten Romane eignen sich deshalb für eine vergleichende Analyse ihrer Raumdarstellungen, weil bei der Schilderung der Lebensgeschichten zugleich das Wechselverhältnis zwischen der Innenwelt der Protagonisten und der sie umgebenden Außenwelt thematisiert wird. Denn wenn die Figuren sich im Verlauf der Lebensabschnitte, von denen sie rückblickend selbst erzählen, in Beziehung zur Außenwelt setzen, liegt es nahe, dass die Raumentwürfe zugleich auf ihre Befindlichkeiten hin semantisiert sind. Je nachdem, ob die Figuren die Welt annehmen oder ablehnen und ob sie die Lebensphase, von der sie als Erzähler berichten, als Krisis oder Katharsis erleben, können sich die Perzeption und Semantisierung des erzählten Raums verändern.

2.1. Raummodelle: Heteroreferentialität und Raumdichotomie

Die ausgewählten autodiegetisch erzählten Lebensgeschichten beziehen sich in unterschiedlichen Graden auf Räume der außertextuellen Wirklichkeit. Dass die Intensität der realräumlichen Bezüge im Simplicissmus und im Malte weitaus größer ist als im Werther, lässt sich damit begründen, dass die Erfahrung von Krisen und Problemen zur Entstehungszeit in den ersten beiden Texten zugleich als dezidiert raumbezogenes Phänomen gestaltet ist. So handelt es sich beim Simplicissimus neben der Schilderung einer Entwicklung zurück zum gläubigen Leben zugleich um eine fiktionalisierte Beschreibung der vom Dreißigjährigen Krieg gezeichneten Städte und Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge üben neben der Beschreibung von Maltes tiefgreifendem Veränderungsprozess am Beispiel von Paris auch implizite Kritik an den anonymisierenden Lebensbedingungen in den Großstädten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Werther hingegen kritisiert zwar die seine Lebensführung beeinträchtigenden Konsequenzen der Ständeunterschiede. Situationen, in denen er direkt mit den Ungerechtigkeiten der Ständeordnung konfrontiert wird, finden jedoch nur an Orten der Diegese statt, für die es kein realweltliches Pendant gibt.9

Ein weiteres Kennzeichen der drei hier untersuchten Texte ist die Affinität zur Aufteilung des erzählten Raums in zwei Gruppen. Die Stellung der Teilräume innerhalb des Raumgefüges sowie ihre Funktion für die Figuren sind jedoch von Text zu Text verschieden. Im Simplicissimus ist der Spessart, wo Simplex auf dem abgeschiedenen Hof seines Knans aufwächst und später dann vom Einsiedel im christlichen Glauben unterrichtet wird, eine heile Welt, in die unvermutet der Krieg einbricht, der Simplex dann hinaus zu den Schlachtfeldern und zu anderen Orten der Abirrung führt, bis er zunächst im Schwarzwald und schließlich – in der Continuatio – auf einer Insel im Indischen Ozean in den Zustand der religiösen Weltabgewandtheit zurückkehrt. Das Raummodell besteht also aus einer Gruppe von Räumen ,in‘ der vom Dreißigjährigen Krieg gezeichneten Welt, die für Simplex zugleich mit einer Abkehr vom Glauben, mit unfreiwilligem Verortet-Werden und mit Angstgefühlen verbunden sind, sowie aus einer Gruppe von Räumen ,außerhalb‘ der Welt, an denen Simplex sich sicher fühlt und die ihn zu einem über die Kontingenz des Lebens erhabenen Beobachter seiner Umwelt machen.

Auch die räumliche Welt im Werther ist zweigeteilt, wobei sich die Dichotomie am besten mit der Differenz zwischen Kultur- und Naturräumen beschreiben lässt. Positiv konnotiert sind in der Romanlogik zunächst die Naturräume bzw. die ländliche Gegend rund um Wahlheim: Hier fühlt sich Werther überaus wohl, er genießt das einfache, ländliche Leben, in dem er von laufenden Verpflichtungen entbunden ist und das er idealisiert. Gegenpol zu diesem idyllischen Naturraum, der sich allerdings analog zu Werthers Gemütsveränderung verdüstert, ist der Kulturraum, der von den Orten repräsentiert wird, an denen sich Werther während seiner Zeit beim Gesandten aufhält.

Anders angelegt ist die Dichotomie in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, wo Paris zum Ort von Maltes ziellosem Umherirren auf der Flucht und gleichsam auf der Suche nach den verdrängten Seiten des Lebens wird. Im Fortgang des Romans zieht er sich zunehmend aus der fiktionalen Wirklichkeit in Räume der Erinnerung und der Geschichte zurück. Die räumliche Zweiteilung besteht aus realen Räumen der erzählten Welt, die zugleich ein inneres, von Maltes Wahrnehmung ausgehendes Erlebniskorrelat erzeugen, sowie aus Räumen der Imagination und der Erinnerung, die als mentale Refugien dienen. Wie der Leser im Fortgang der Lektüre erfährt, unterscheiden sich diese beiden Raumgruppen jedoch nur hinsichtlich ihres Realitätsstatus innerhalb der Diegese und nicht hinsichtlich ihrer Qualität, denn in den Räumen der Erinnerung und der Imagination wiederholen sich für Malte lediglich jene ihn ängstigenden Erlebnisse aus der Erzählgegenwart, die so – wenn auch in veränderter Art und Weise – als eine immer schon in ihm angelegte Auseinandersetzung mit den abseitigen Bereichen des Lebens wie Tod, Krankheit und Armut erkennbar werden.

Die Tendenz zur dichotomischen Gliederung ist laut Jurij Lotman nicht an bestimmte Textsorten wie etwa autodiegetisch erzählte Lebensgeschichten gebunden. In seinen zahlreichen Publikationen zum Thema stellt er vielmehr die These auf, dass alle fiktionalen Texte zum Entwurf eines binären Weltmodells tendieren. Dies wiederum geht auf eine anthropologischen Grundannahme zurück: Weil Menschen die Welt visuell und damit räumlich wahrnehmen, tendieren sie dazu, nicht-räumliche Sachverhalte räumlich zu modellieren. Dabei erweisen sich besonders räumliche Relationen als Mittel zur Erfassung von Wirklichkeit, indem sie durch eine zusätzliche semantische Codierung am Aufbau von kulturellen Modellen beteiligt sind – so z.B. wenn ,hoch / niedrig‘ oder ,rechts / links‘ mit ,wertvoll / wertlos‘ oder ,gut / schlecht‘ assoziiert werden (vgl. Lotman 1973). Literarische Texte können diese Form der menschlichen Welterschließung in ihrer Topographie und deren Semantisierung reflektieren. Natürlich muss man bei der Übertragung von Lotmans Thesen auf die konkrete Textinterpretation berücksichtigen, dass es auch Texte gibt, in denen keine räumlichen Dichotomien identifiziert werden können, weil entweder gar keine oder aber non-binäre Relationen zwischen den Teilräumen bestehen. Mitunter sind literarische Räume laut Lotman auch bloß sujetlose Elemente, die mit den unbeweglichen, d.h. nicht handelnden Figuren verschmelzen.

Die hier verglichenen autodiegetisch erzählten Lebensgeschichten kennzeichnet jedoch eine deutliche Affinität zur semantisch aufgeladenen Zweiteilung der erzählten Welt, die sich auf den Veränderungsprozess der Protagonisten bezieht: Es gibt einen positiv konnotierten Raum, in dem es zu bleiben oder in den es zu gelangen gilt, wenn der individuelle Reifungsprozess erfolgreich sein soll, sowie einen negativ konnotierten Raum, in dem sich die Figuren nicht aufhalten sollen oder wollen, weil der Aufenthalt ihnen schadet oder sie nicht zufriedenstellt. Die räumliche Ordnung ist also, so different die einzelnen Texttopographien im Detail auch sein mögen, dem klassischen Muster einer oppositionellen Dichotomie zugeneigt und die beiden Raumgruppen werden auf die Entwicklung der Figuren hin semantisiert.

2.2. Narrative Verfahren der Raumerzeugung und Funktionen des Raums

Da es sich bei allen drei Romanen um Erzählungen in der ersten Person handelt, ist beim nun folgenden Vergleich der narrativen Raumerzeugungsverfahren zu fragen, wie sich das Verhältnis von erzählendem zu erlebendem Ich in Passagen raumbezogenen Inhalts gestaltet und, daran angeschlossen, ob die Raumschilderungen einen Effekt von Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit evozieren. Geeignete Kategorien zur Untersuchung dieser Fragen sind die von Genette unter ,Modus‘ rubrizierten Parameter ,Distanz‘ und ,Fokalisierung‘. Besonders interessant erscheinen hierbei raumbezogene Passagen in interner Fokalisierung, die im intertextuellen Vergleich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Vermittlung figuralen Raumwissens sowie figuraler Raumperzeption untersucht werden sollen. Dabei ist speziell das Zusammenspiel von Distanz und Fokalisierung zu beachten, denn – so meine These – ein hoher Grad an Unmittelbarkeit des Raumerlebens verstärkt zugleich den Eindruck von interner Fokalisierung.10 Diejenigen Textstellen, bei denen es sich um die Schilderung von Perzeptionsvorgängen handelt, untersuche ich zudem im Hinblick auf die Distanz zum wahrgenommenen Raum entlang der beiden Leitfragen: In welchem Verhältnis stehen Wahrnehmungsbericht und Wahrnehmungsmonolog zueinander?11 Und werfen die Wahrnehmungsinstanzen breite und tiefe Blicke in den Raum (Panorama) oder werden sie der räumlichen Umgebung nur in momenthaften und kleinteiligen Impressionen gewahr?

Bei der Klassifizierung raumbezogener Passagen zu übergeordneten Formen der räumlichen Informationsvergabe greife ich auf Begriffsbestimmungen aus Katrin Dennerleins Narratologie des Raumes zurück: Unter ,Raumbeschreibung‘ versteht Dennerlein einen Texttyp, in dem Informationen zu der materiellen Beschaffenheit erzählter Räume vergeben werden, ohne dass im selben Satz, Teilsatz oder Abschnitt ein einmaliges Ereignis erzählt würde (Dennerlein 2010, 239). In Raumbeschreibungen wird häufig zeitdehnend erzählt, mitunter kommt es sogar zu einer Pause in der erzählten Zeit, wenn der Fortgang des Plots für die Vergabe der räumlichen Informationen unterbrochen wird. Unter dem ,Erzählen von Raum‘ – das hier, um Missverständnisse zu vermeiden, als ,Berichten von Raum‘ bezeichnet werden soll – versteht Dennerlein demgegenüber eine situationsbezogene Vergabe räumlicher Informationen, die eher zu einem deckenden bzw. raffenden Erzählen tendiert. Im Zentrum stehen in Raumberichten somit Informationen zu Ereignissen, Hinweise auf den Raum, in dem diese Ereignisse stattfinden, werden meist nur beiläufig vergeben.

Interessant für einen Vergleich der autodiegetischen Narrationen sind außerdem die Funktionen von raumbezogenen Passagen sowie mögliche Funktionsverschiebungen innerhalb der einzelnen Texte und innerhalb der Textgruppe. So können Textstellen zum Raum einerseits der Handlungsverortung dienen und keine darüber hinausgehende Bedeutung haben. Andererseits können sie überdeterminiert sein und als Barometer von Stimmungen, als Symbol oder als Träger von raumbezogenen oder nicht-raumbezogenen Diskursen fungieren.

Der abenteuerliche Simplicissimus: Raum als Ort der Handlung und als Symbol

Mittelalterliche Texte enthalten in ihren einleitenden Passagen nur selten Beschreibungen und noch seltener Raumbeschreibungen. Das ändert sich, so Monika Fludernik, zwar in der Renaissance und im Barock, die Frequenz und Länge von Raumschilderungen unterscheiden sich aber immer noch eklatant von Texten der Romantik oder des Realismus (vgl. Fludernik 2003, 333). Zudem haben die Beschreibungen der Settings ihre textinternen Funktionen im Lauf der Literaturgeschichte verändert: In der mittelalterlichen Literatur bedingte der mündliche Vortragsmodus die Notwendigkeit, dem Zuhörer immer wieder Szenenwechsel zu kommunizieren. Durch die Kapiteleinteilung von Texten in Schriftform wurde dies zwar erzähllogisch obsolet, fand aber trotzdem weiterhin Verwendung; so auch im Simplicissimus, wo Informationen zu neuen Schauplätzen am Beginn von einzelnen Kapiteln positioniert sind, sich aber in kurzen Nebensätzen erschöpfen (vgl. Gräf 2010, 106). Toponyme haben hier hauptsächlich eine Lokalisierungsfunktion, sie sollen dem zeitgenössischen Leser die Verortung und damit den Bezug auf die eigene Lebenswirklichkeit ermöglichen – auch wenn sich die geschilderten Ereignisse und Orte nicht immer mit der realen Historie decken.12 Dabei überwiegt die kurze Nennung von Räumen, in denen Simplex unfreiwillig verortet wird, was wiederum als fehlende Orientierung im Leben gedeutet werden kann. Mit dem Verlassen der geschützten Umgebung des Waldes, wo er mit dem Einsiedel lebte, beginnt für ihn ein Prozess des planlosen Vagabundierens: Stätten des Kriegs reihen sich an Orte der Gefangenschaft und an Orte, in die Simplex vor Verfolgern oder vor privaten Verpflichtungen flüchtet, bis er sich schließlich selbstbestimmt für einen Rückzug in den Schwarzwald und später dann auf die Insel im Indischen Ozean entscheidet. Die meisten dieser Raumwechsel erfolgen abrupt und sind ein Resultat seiner Verfehlungen oder unvorhergesehener Schicksalswendungen.

Am Anfang und im vorletzten Kapitel gibt es zwei raumbezogene Schlüsselstellen, die auf narrativer Ebene Simplex’ Entwicklung spiegeln: Zum einen ein Raumbericht, also eine Vergabe von räumlichen Informationen im Zuge von Handlungsschilderungen, zu Beginn des Romans, zum anderen eine panoramatische Wahrnehmungsbeschreibung am Ende des 5. Kapitels.13 Passagen wie diese – das muss noch einmal betont werden – bilden jedoch seltene Ausnahmen, denn es dominieren mit Blick auf den gesamten Text bei Weitem sehr kurze Nennungen von Orten, die in keiner direkten Verbindung zu den Gefühlen und Stimmungen des Protagonisten stehen.

Die erste Textstelle folgt erzählchronologisch auf die Plünderung des Spessart-Hofs:

Als mich aber die Nacht wieder ergriffe / stunde ich auff / und wanderte so lang im Wald fort / biß ich von fern einen faulen Baum schimmern sahe / welcher mir ein neue Forcht einjagte / kehrete derowegen Sporenstreichs wieder umb / und gieng so lang / biß ich wieder einen andern dergleichen Baum erblickte / von dem ich mich gleichfalls wieder fort machte / und auff diese Weise die Nacht mit hin- und wieder rennen / von einem faulen Baum zum andern / vertriebe; […] dann mein Hertz steckte voll Angst und Forcht / die Schenckel voll Müdigkeit […]: Damals stunde ich auß / und empfande (jedoch ganz unvermerckt) die Würckung deß Unverstands und der Unwissenheit. (Grimmelshausen 1668/1669, 20f.)

Die Informationen zum Raum beschränken sich hier auf einige wenige Hinweise, die im Zuge der Szenenschilderung vergeben werden, es handelt sich also um einen Raumbericht und nicht um eine Raumbeschreibung. Simplex ist in den Wald geflüchtet, er ist traumatisiert und erschrickt beim Anblick der abgestorbenen, schimmernden Bäume, die ihn nach allen Seiten hin umgeben. Sprachliche Techniken, mit denen ein latenter Effekt von Unmittelbarkeit erzeugt wird, sind die wiederholte Erwähnung der ziellosen Fluchtbewegung von einem Baum zum nächsten, die eine Illusion von Nähe zum erlebenden Ich evoziert, sowie die asyndetische Aneinanderreihung der Ereignisschilderungen, mit der auf syntaktischer Ebene der Eindruck von panischer Orientierungslosigkeit unterstützt wird. Weil aber direkte Rede, deiktische Ausdrücke, indirekte Fragen sowie weitere Marker für interne Fokalisierung fehlen und weil das erzählende Ich sich auf die Schilderung von Wahrnehmungen konzentriert, ist der Fokalisierungsgrad relativ niedrig.14 Hinzu kommt außerdem, dass nicht erwähnt wird, wovor sich das erlebende Ich in dieser Situation genau fürchtet. Vermutlich stellt der junge Simplex sich vor, die Bäume seien zu lebendigen und bedrohlichen Wesen geworden. Das erzählende Ich entscheidet sich jedoch statt einer genauen Schilderung seines damaligen Erlebnishorizontes für die neutrale, beschreibende Bezeichnung der ,schimmernden Bäume‘, um den Leser über die physikalische Ursache der Angst zu informieren.

Zudem unterbricht das erzählende Ich in den folgenden Sätzen den Raumbericht wiederholt, um die Gefühle während des Erlebens in Form eines Erzählerberichts explizit zu benennen: „mein Herz steckte voll Angst und Forcht.“ Die Distanz zum erlebenden Ich wäre geringer – und der Grad an interner Fokalisierung damit höher – wenn die Gedanken und Gefühle des jungen Simplicissimus in einem Bewusstseins- und Wahrnehmungsmonolog oder indirekt über Handlungs- und Wahrnehmungsschilderungen vermittelt würden. Zusätzlich erhöht wird der Grad an Mittelbarkeit des Raumerlebens durch den nullfokalisierten Kommentar am Ende des Zitats („Damals stunde ich auß / und empfande (jedoch ganz unvermerckt) die Würckung deß Unverstands und der Unwissenheit“), mit dem das erzählende Ich aus einem nicht näher definierten Erzählraum15 und mit inzwischen erworbener Lebensweisheit eine Bewertung seiner damaligen Unwissenheit vornimmt, die insbesondere im Klammerzusatz deutlich wird. Nullfokalisierte Einschübe, in denen das erzählende Ich seinen Wissensvorsprung gegenüber dem erlebenden Ich ausspielt und dem Leser seine erinnerten Gemütszustände erklärt, sind ein immer wiederkehrendes Element des Textes und beschränken sich nicht auf Passagen raumbezogenen Inhalts. Sie dienen dazu, die Überlegenheit der Erzählerposition gegenüber dem noch ungläubigen, jungen Simplicissimus hervorzuheben und sie verstärken natürlich den Effekt von Mittelbarkeit.

Zwischen diesem und dem nächsten raumbezogenen Zitat liegen alle räumlichen und persönlichen Abirrungen von Simplicissimus. Er ist inzwischen zum Glauben zurückgekehrt und hat sich für ein Leben als Einsiedel entschieden. In der Moos, einem Gebirgsteil des Schwarzwalds, hat er sich vorläufig niedergelassen und genießt täglich den Ausblick hinab ins Tal:

ich hatte ein schönes Außsehen gegen Auffgang in das Oppenauer Thal und dessen Nebenzincken […]; gegen Nidergang kondte ich das Ober und UnterElsaß übersehen / und gegen Mitternacht der Nidern Marggraffschafft Baaden zu / den Rheinstrom hinunter; in welcher Gegend die Statt Straßburg mit ihrem hohen Münster-Thum gleichsamb wie das Hertz mitten mit einem Leib beschlossen hervor pranget. (Grimmelshausen 1668/1669, 474)

Hier wird im Modus der Raumbeschreibung eine iterative Raumwahrnehmung geschildert: Der sich im Lauf des Tages verändernde Sonnenstand ermöglicht dem erlebenden Ich eine gute Aussicht aus der Vogelperspektive hinab in die umgebenden Täler. Die Informationen zum Raum sind hier nicht mehr in eine Handlungsschilderung eingebunden, stattdessen beschreibt das erzählende Ich einen breiten und tiefen Panoramablick auf und in den Raum, ohne dass sich das erlebende Ich bei der Raumwahrnehmung in Bewegung befindet. Wie einige Zeilen später zu lesen ist, benutzt es sogar ein Perspektiv und intensiviert seine Perzeptionen in der Nacht mit einem von ihm selbst entwickelten Hörverstärker. Alles ist ausgelegt auf die geradezu akribische Erfassung der Außenwelt, vor der sich Simplex als erlebendes Ich nicht mehr ängstigt, sondern die er nunmehr kontrolliert. Dem entspricht die sprachliche Inszenierung des panoramatischen Blicks sowie die Verwendung von narrativisierter Wahrnehmung, die Distanz zu der bereits vergangenen Perzeption erzeugt. Während das Berichten von Raum im ersten Zitat den aufgewühlten Gemütszustand des jungen Simplex in ein darstellungsbezogenes Äquivalent überführt, zeugt die Schilderung des besonnenen Blicks auf das Elsass von Simplexʼ Entwicklung: Er ist nunmehr zur Ruhe gekommen, befindet sich nicht mehr ,in‘, sondern ,außerhalb‘ der weltlichen Verirrungen, worauf neben der distanzierten Beobachterperspektive auch das Straßburger Münster als Symbol für den christlichen Glauben hindeutet. Mit Blick auf den gesamten Roman lässt sich jedoch festhalten, dass Raumberichte viel häufiger Verwendung finden als Raumbeschreibungen und dass sich die räumlichen Informationen zumeist auf einige wenige Stichwörter beschränken.

Im Simplicissimus haben Räume immer wieder symbolische Funktion, weil sie als Orte der Erkenntnis lesbar werden.16 Zu den symbolischen Räumen zählt unter anderem die utopische Welt des Mummelsees, in die Simplex mit den sagenhaften Sylphen eintaucht und durch die er bis ins Innere der Erde gelangt.17 Was das Sylphenreich zu einem symbolischen Ort macht, ist die Erkenntnis, die Simplex dort gewinnt, denn bei seinem Tauchgang erfährt er, dass Gott den Menschen im Unterschied zu den sterblichen Sylphen das ewige Leben gegeben hat. Seine Reise zum Mittelpunkt der Erde wird dadurch zu einer Reise hin zur Erkenntnis, mit der er allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nichts anzufangen weiß. Er ist noch nicht bereit, zu einem gläubigen und gottesfürchtigen Leben zurückzukehren. Deshalb führt ihn sein Weg wieder hinaus aus dem Sylphenreich und zurück ins unstete Vagabundieren.

Eine Einkehr gelingt ihm endgültig erst in einem weiteren symbolischen Raum, der Inselhöhle im Indischen Ozean. Dort ist er in der Texttopographie weiter denn je von seinem Geburtsort im Spessart entfernt, findet aber zurück zur Einsicht, dass er bisher einen falschen Lebensweg gewählt hat. Die Semantisierung ist offensichtlich: Simplex ist der Einzige, der sich in der finsteren Höhle zurechtfindet und der den verängstigten Besuchern den Weg nach draußen weisen kann. Dass ein Kapitän erzählt, wie er und seine Mannschaft in der „grausammen Wunderspeluncke“ (Grimmelshausen 1668/1669, 586) festsitzen und auf Simplexʼ Hilfe angewiesen sind, der den Weg zurück kennt und mit seinen Wunderkäfern Licht spenden kann, ist ein narrativer Kniff: Auf diese Weise wird eine größtmögliche Objektivierung und Distanzierung von Simplex’ Erleben erzielt, denn durch den Wechsel der Erzählerstimme registriert nunmehr eine fremde Person, wie gläubig und in sich ruhend Simplex ist und wie weit er sich inzwischen räumlich von seinem früheren Lebensbereich entfernt hat.

Die Höhle übernimmt so einerseits die Funktion eines realen Raums in der Diegese und andererseits die eines Symbols für Simplex’ geistigen Innenraum.18 Die deutliche semantische Überdeterminierung der konkreten Räume der erzählten Welt ist dabei paradigmatisch für die Literatur des Barock, in der die Verwendung von Metaphern, Allegorien und Gleichnissen zum zentralen Signum wird (Knape 1992, 1304). Im Gegensatz zum Werther oder zum Malte dienen im Simplicissimus die narrativen Techniken der Raumdarstellung nur selten dazu, Stimmungsveränderungen der Figuren auszudrücken. Statt dessen fungieren konkrete Orte der erzählten Welt als Symbole und werden mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen, die sich aus dem Zusammenhang der Entwicklung des erlebenden Ichs ableiten lässt.

Die Leiden des jungen Werthers: Raumbeschreibung als Symbol für oder Barometer von Stimmungen?

Die Leiden des jungen Werthers wurden in der ersten Fassung 1774 veröffentlicht – in einer literatur- und geistesgeschichtlichen Phase, die das Konzept der Individualität umfassend aufwertete; zu denken wäre hier etwa an Johann Gottfried Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778), die im Widerspruch zu empiristischen Meinungen die Individualität des Menschen als eine bei der Geburt bereits im Keim angelegte betrachtet und die das Auseinanderfallen von leiblichem und seelischem Vermögen, von Empfinden und Denken und die Entfremdung des Menschen von der Natur beklagt. Herders Anthropologie ist, wie Jutta Heinz herausarbeitet, „untrennbar mit seinem positiven, monistisch-pantheistisch grundierten Natur-Bild“ verbunden, das er mit Goethe teilt (Heinz 1996, 106). Auch dieser ist in der Sturm-und-Drang-Phase seines Schaffens einem anthropologischen Genie-Konzept verpflichtet und beklagt die Zersplitterung der menschlichen Kräfte sowie die Entfremdung von der Natur. Beide vertreten sie ein organisches Modell der menschlichen Persönlichkeit, in dem die Außenwelt eine Wechselwirkung zum Subjekt eingeht, es aber in Form gesellschaftlicher Restriktionen gleichzeitig auch einschränkt. Die Subjektivitätskonzeption des Sturm und Drang, die Goethe wesentlich mitgeprägt hat, unterscheidet sich darüber hinaus deutlich von dem der Spätaufklärung, denn im Sturm und Drang ist es kein erklärtes Ziel, das Subjekt realitäts- und damit lebensfähig zu machen, sondern es in seinen Eigentümlichkeiten und in der Fülle seiner Sinnlichkeit darzustellen. Die Forschung sieht den Werther deshalb in der Tradition des anthropologischen Romans der Aufklärung, dem es um die literarische Darstellung psychischer Befindlichkeiten ging (vgl. Engel 1993, 207f.). Im Unterschied zum klassisch anthropologischen Roman nach dem Muster von Moritz’ Anton Reiser handelt der Werther jedoch nicht mehr von der Therapie eines seelischen Leidens und auch nur noch bedingt von dessen Diagnose. Entscheidend ist, zumindest in der ersten Fassung, vielmehr der Versuch, den Schwärmer Werther in der Entwicklung bis hin zum Taedium vitae darzustellen, ohne aufklären oder belehren zu wollen.

Zunächst einmal fällt eine Koinzidenz zwischen Werthers Entwicklung und der raum-zeitlichen Makrostruktur des Romans auf, denn mit Beginn des zweiten Teils findet innerhalb der Diegese ein Übergang von der Frühlings- und Sommer- zur Herbst- und Winterlandschaft statt. Die Symbolik der Jahreszeiten verstärkt Werthers Veränderung auf kompositorischer Ebene. Textstellen, in denen er dezidiert den ihn umgebenden Raum schildert, gibt es aber nur relativ wenige: Im ersten Teil – um diesen einmal exemplarisch herauszugreifen – sind es neben dem Brunnen, an dem Werther jeden Tag sitzt, nur der Platz vor der Kirche mit den beiden Linden sowie der Ballsaal und das Haus, in dem Albert und Lotte wohnen. Die Informationen zum Raum vergibt das erzählende Ich dabei relativ beiläufig; Werther möchte keine detaillierte Topographie entwerfen, sondern seinem Freund Wilhelm ein Bild seiner Stimmungen liefern. Meist befinden sich die Informationen zum Raum deshalb am Anfang der Briefe und sie werden vom erzählenden Ich in einer den Leser involvierenden Form der Beschreibung vergeben, die ganz seiner Art entspricht, Briefe zu schreiben. So heißt es etwa in der Raumbeschreibung am Anfang des Briefs vom 12. Mai:

Da ist gleich vor dem Orte ein Brunn’, ein Brunn’, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst einen kleinen Hügel hinunter, und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Das Mäuergen, das oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Orts, das hat alles so was anzügliches, was schauerliches. […] O der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnes Kühle gelabt haben, der das nicht mit empfinden kann. (Goethe 1774, 199f.)

Nach diesem Muster sind fast alle Raumschilderungen zu Beginn des Romans aufgebaut, in denen Werther mit einigen wenigen Stichworten die stereotype Topographie von amoenen Orten entwirft. Er versucht dabei für Wilhelm den Eindruck noch plastischer zu gestalten, indem er die Form der Wegbeschreibung wählt („du gehst“). Der Grad an interner Fokalisierung ist hoch, weil die Schilderung der Eindrücke nur mit einer geringen zeitlichen Verzögerung erfolgt und weil das erzählende Ich nur das beschreibt, was das erlebende Ich vom Raum wahrnimmt und was es über ihn weiß. Zugleich erzeugen die Wiederholungen, Hyperbeln und Emphasen eine Nähe zum Erleben.19

Einen Effekt noch größerer Nähe zum Raumerleben evozieren die vielfach analysierten, ebenfalls raumbezogenen Briefe vom 10. Mai und 18. August. Im Brief vom 10. Mai schreibt Werther keine Raumberichte, die in die Schilderung von Szenen eingebunden sind, sondern er liefert Beschreibungen einer Landschaft und ihrer Objekte:

Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht […]; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen […] näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen […]. Mein Freund, wenn’s denn um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehn ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken. (Goethe 1774, 199)

Zeitlich ist die Landschaftsschilderung nicht genauer bestimmt, die Wenn-Dann-Struktur impliziert jedoch ein iteratives Moment und sie deutet darauf hin, dass Werther das Tal häufig aufsucht. Ebenfalls ungenau ist die Lokalisierung: Der Leser kann lediglich aus dem Zusammenhang der vorherigen Briefe erschließen, dass Werther sich irgendwo in der Nähe von Wahlheim befinden muss. Anders als in den Schilderungen der amoenen Orte am Brunnen und unter den Linden versprachlicht Werther hier explizit seine Perzeption der Objekte und fokussiert noch dazu statt seiner visuellen seine haptischen Eindrücke, die weniger rational gesteuert zu sein scheinen. Alles, was er in diesen Szenen wahrnimmt, bezieht sich direkt auf ihn selbst, was die Verwendung der deiktischen Präpositionen („um“, „näher“, „in“) anzeigt. Werther erlebt die Landschaft, er erspürt sie, und wird sich dabei zugleich der Allgegenwart Gottes und der Göttlichkeit alles Irdischen bewusst. Es liegt eine interne Fokalisierung vor, weil das erzählende Ich seinem Freund Wilhelm nur das schildert, was es in der Situation vom Raum wahrgenommen hat und was es während der Perzeption dachte und empfand. Somit schiebt sich der figurale Wahrnehmungsfilter vor den wahrgenommenen Raum, weshalb der Zugang des Lesers zum geschilderten räumlichen Ausschnitt nur über das Figurenbewusstsein und nicht etwa über eine neutrale a-perspektive Beschreibung erfolgt.

Es liegt zwar eine interne Fokalisierung vor, der Vermittlungsakt bleibt gegenüber der Erlebnisschilderung jedoch insofern präsent, als das erzählende Ich auf die konditionale Wenn-dann-Satzstruktur und das ihr inhärente iterative Moment zurückgreift, was den Aktualitätseffekt der Raumschilderung verringert. Zudem wird Wilhelm direkt angesprochen und die Vermittlungsebene auf diese Weise weiterhin, wenn auch schwach, präsent gehalten. Trotz diesen kleinen Effekten von Mittelbarkeit ist der Abstand zwischen Erleben und Erzählen zeitlich und qualitativ geringer als in den raumbezogenen Passagen aus dem Simplicissimus, weil Werther als erzählendes Ich seine Erlebnisse nicht aus einem Reflexionsabstand heraus betrachtet und kommentiert.

Im Sinne des organischen Menschenmodells des Sturm und Drang steht die Außenwelt, die den Menschen als Raum umgibt, in direkter Verbindung zur Innenwelt, was im soeben zitierten Brief vom 10. Mai in der Versinnlichung von Gefühlen ein narratives Äquivalent findet. Werthers Raumwahrnehmung unterliegt letzten Endes in all seinen Briefen stets seiner labilen Stimmung: Erschien die Landschaft ihm in einer Phase seelischen Gleichgewichts durchwirkt von Gott, erlebt er sie am Ende des Romans in seiner Verzweiflung nur noch „starr […] wie ein lackiert Bildgen“ (Goethe 1774, 267) und nicht mehr als Zeichen von Liebe und Gott, sondern als „Abgrund des ewig offnen Grabs“ (Goethe 1774, 239). Von dieser Veränderung zeugt auch der Brief vom 18. August, in dem Werther seine Erinnerungen an die im Brief vom 10. Mai geschilderten schönen Erlebnisse in der Natur lediglich nacherzählt und von Gefühlen berichtet, die er jetzt nicht mehr evozieren kann, da er in der Verzweiflung ob seiner unglücklichen Liebe zu Lotte bereits Lebensüberdruss empfindet.

Nicht immer eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob Schilderungen des Raums ein Symbol für oder ein Barometer von Werthers Stimmungen sind. In den Briefen vom 10. Mai und vom 18. August fungieren sie ganz klar als Barometer seiner Stimmungen, weil die ihn umgebene Landschaft als eine von seinem inneren Erleben abhängige Größe dargestellt wird. Er projiziert seine Befindlichkeiten auf den Raum und nimmt in der Landschaft ein Korrelat seiner seelischen Verfasstheit wahr. Im zweiten Teil des Romans gibt es aber auch raumbezogene Passagen, die eine klassische Symbolfunktion übernehmen. So ist kurz vor Werthers Selbstmord eine deutliche Verdüsterung der Wahlheimer Umgebung zu bemerken, die nicht in einem kausalen Zusammenhang mit Werthers Befindlichkeiten steht: Die Linden auf dem Kirchplatz werden gefällt und ein Unwetter verwüstet am Abend vor Werthers Selbstmord die Landschaft. Im Simplicissimus sind einzelne Räume ebenfalls symbolisch lesbar, die Semantisierung ist aber anhand weiterer zusätzlicher Marker wie etwa der symbolisch aufgeladenen Figuren (Beispiel Sylphen) erkennbar, die sich in den überdeterminierten Räumen aufhalten. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Romanen besteht darin, dass fast alle Raumbeschreibungen auf Werther als wahrnehmende und erlebende Figur hin semantisiert sind, wohingegen solche Techniken der Raumdarstellung im Simplicissimus nur selten Verwendung finden. Deshalb sind anders als im Simplicissimus im Werther auch fast alle Raumschilderungen zugleich Perzeptionsbeschreibungen in interner Fokalisierung.

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: momenthafte Erkenntnis beim Betrachten von Raum

Eine weitere quantitative und durchaus auch – bezogen auf das Romanganze – qualitative Steigerung erfahren die Überdetermination von Raumschilderungen sowie der Grad an interner raumbezogener Fokalisierung in Romanen wie etwa den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Passagen zum Raum sind dort noch deutlicher als im Werther von der Innenwelt des Protagonisten abhängig; sie haben nicht mehr nur eine Lokalisierungsfunktion wie im Simplicissimus und sie werden auch nicht mehr nur an einigen exponierten Stellen beschrieben wie im Werther, sondern sie übernehmen jetzt eine zentrale Funktion als Spiegel und Auslöser von Veränderungsprozessen. In den Aufzeichnungen Maltes, eines in Paris gelandeten, verarmten dänischen Adeligen mit künstlerischen Ambitionen, ist der zeitliche und qualitative Abstand zwischen dem Perzipieren der Stadt Paris und der Niederschrift dieser Perzeptionen noch geringer als in Werthers Briefen und der Grad an interner Fokalisierung dementsprechend noch ein bisschen höher, wie bereits der Romaneinstieg zeigt:

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. […]. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison D’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jaques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer. (Rilke 1910, 455)

Der Erzähler Malte setzt hier diverse narrative Mittel ein, um den Eindruck von zeitlicher Nähe zwischen der Wahrnehmung des Raums und der Niederschrift der Wahrnehmung zu erzeugen: Er verwendet Aktualität suggerierende Wörter („So“) und deiktische Präpositionen („Dahinter?“). Die orientierungslose Bewegung des gerade in Paris angekommenen erlebenden Ichs wird auf syntaktischer Ebene in kurzen parataktischen Satzkonstruktionen sowie in Toponymen gespiegelt, die auf Doppelpunkte folgen und die eigenständige kurze Sätze bilden („Asyle de nuit“, „Maison D’Accouchement“). Trotz der Verwendung des epischen Präteritums und der verba percipiendi erhalten die raumbezogenen Wahrnehmungsschilderungen auf diese Weise Merkmale eines Wahrnehmungsmonologs, was die Distanz zu den Erlebnissen der Figur verringert und den Eindruck von Unmittelbarkeit verstärkt.

In der nihilistischen Grundstimmung der Zeit suchten die Autoren der Jahrhundertwende nach literarischen Formen, um die – mit Lukács gesprochen – ,transzendentale Obdachlosigkeit‘ des Menschen und seine Suche nach Sinn auszudrücken. Rilke, der in Briefen und anderen poetologischen Texten ausführliche Einblicke in seine Poetik gegeben hat, fordert besonders in der mittleren Phase seines Schaffens ein radikal neues Verhältnis zur Welt, das sich an Nietzsches Experimentalphilosophie und den Konzepten des ,amor fati‘ sowie des ,Dionysischen Ja-Sagens‘ orientiert. Nietzsches Ziel ist die Überwindung des Nihilismus durch absolute Bejahung des Lebens, die auch bisher verneinte Seiten als notwendig, ja mehr noch, als wünschenswert begreift.20 Bei Rilke findet dieses Postulat eine Entsprechung im Konzept des ,Neuen Sehens‘, das er als ein vorbehaltloses Schauen versteht. Ohne Selektion soll das Ich sich der Außenwelt und den um es befindlichen Dingen nähern, sie wahrnehmen, ohne die Wahrnehmung im Prozess der Apperzeption mit Bekanntem zu verbinden. Malte durchlebt im Verlauf des Romans einen eben solchen Veränderungsprozess hin zu einem neuen Welt- und Ichverständnis, der ihn allerdings zu Beginn sehr ängstigt und von dem man nicht sagen kann, ob er am Ende glückt. In Paris, wo er sich beim Schreiben seiner Aufzeichnungen aufhält, wird er plötzlich mit abseitigen Aspekten des Lebens wie Armut, Krankheit und Tod konfrontiert, die im Roman nur als „das Große“ oder „das Unfassliche“ bezeichnet werden. Dass ihn diese Konfrontationen verändern, zeigt sich unter anderem daran, wie er auf die neue, fremde Stadt reagiert. Er öffnet sich nach allen Seiten hin, nimmt Menschen und Dinge neu und anders wahr:

Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe, daß ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Häuser […], sondern die letzte der früheren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre. […] Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen […]. Man konnte sehen, daß es in der Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes Weiß, das fault. (Rilke 1910, 485f.)

Malte beschreibt in dieser Passage akribisch genau eine alte Hausmauer, in der noch das Leben der vormaligen Mieter zu erahnen ist, er notiert in seinen Aufzeichnungen sogar die kleinsten Farbchangierungen. Seiner Beschreibung ist zu entnehmen, dass er beim Anblick einerseits Faszination und andererseits Ekel empfindet, ohne dass diese Gefühle explizit benannt würden. Ausgelöst von dem Anblick der Mauer stellt er sich das Leben in der Wohnung vor und glaubt sogar, all die Krankheiten der Mieter, ihr Ausatmen, ihren Schweiß riechen zu können. Er hat aber nicht, wie die zwei Seiten lange Wahrnehmungs- und Imaginationsschilderung in interner Fokalisierung nahelegen könnte, lange vor der Mauer gestanden. Wie er am Ende der Aufzeichnung schreibt, dauerte die Perzeption nur einen Moment lang, der jedoch ausreichte, das Geschaute zu erkennen: „Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir“ (Rilke 1910, 487). Gerade die Momenthaftigkeit der vom räumlichen Außerhalb ausgelösten Erkenntnis, ihr epiphaner Charakter, sind ein Spezifikum des Romans, das dieser mit vielen weiteren um die Jahrhundertwende entstandenen Texten teilt, deren Autoren literarische Raum-Zeit-Modelle entwickeln, die die Überwindung der nihilistischen Weltsicht in momenthaften Augenblicken eines Ich-Welt-Konnexes auszudrücken versuchen – allerdings in dem Wissen, dass es keine transzendentalen Letztversicherungen und damit keine sinnstiftenden Systeme jenseits ephemerer Erkenntnismomente mehr gibt.21

Die Beschreibung des Abrisshauses ist dabei paradigmatisch für viele weitere Raumschilderungen in den Aufzeichnungen: Malte selektiert seine Wahrnehmungen in Paris nicht mehr, er sucht vielmehr geradezu nach den abseitigen Elementen des Lebens und öffnet sich jetzt vorbehaltlos nach Außen wie nach Innen. Das Geschaute dringt in ihn ein und evoziert ein Erkennen, bei dem es sich nicht mehr um ein Erkennen mit dem Verstand, sondern um einen erkenntnishaften Prozess handelt, den Malte nicht kontrollieren kann.

Alles, was er perzipiert, ist auf ihn und seine Veränderung bezogen, sein Erleben des Raums ist höchst subjektiv. Malte notiert seine Erlebnisse, unmittelbar nachdem er sie wahrgenommen hat, und er ist bei der Niederschrift immer noch emotional bewegt vom Erlebnis; er wählt für die Wiedergabe seiner Erlebnisse jedoch keinen neutralen Wahrnehmungsbericht, der detailliert die einzelnen Perzeptionen schildert, ohne sie implizit durch syntaktische oder bildliche Mittel zu bewerten, sondern er durchformt seine Perzeptionsschilderungen metaphorisch und verwendet zahlreiche Sprachfiguren, die den genuinen Erlebniswert der Szene in ein darstellungsbezogenes Äquivalent überführen. Die Tendenz zur literarischen Verdichtung der raum- und nichtraumbezogenen Aufzeichnungen lässt sich vielleicht mit Maltes Ambitionen erklären, Schriftsteller werden zu wollen und seine kontingenten Raumwahrnehmungen durch sprachliche Mittel in ihrer Dauer zu verlängern. Sie kann außerdem auf produktionsästhetischer Ebene als Versuch Rilkes gelesen werden, ein spezifisch literarisches Gegengewicht zur Schilderung der abseitigen und verdrängten Lebensbereiche zu liefern.22

Wie subjektiv Maltes Erleben des Raums ist, zeigt sich besonders explizit an der Beschreibung der Räume seiner Kindheit, die später, im zweiten Teil des Romans, zu zentralen Handlungsschauplätzen werden:

So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es [das Schloß des väterlichen Zweigs der Familie in Dänemark] kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, – die Zimmer, die Treppen […], die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde: – alles das ist noch in mir und wird nie aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen. (Rilke 1910, 470f.)

Erneut taucht hier am Ende des Zitats, wie schon in der Schilderung der Abrissmauer, das Motiv des Einstürzens auf, das in Zusammenhang mit Maltes Veränderungsprozess steht und diesen in ein metaphorisches Äquivalent überführt. Zugleich werden die Selektivität von Erinnerung und die Subjektivität von Raumperzeption direkt angesprochen. Die Räume der Kindheit sind für Malte ein Geflecht aus einzelnen Teilen, die in seinem räumlichen Gedächtnis unverbunden nebeneinander stehen. Es liegt zwar immer noch eine interne Fokalisierung vor, die Distanz zwischen dem Wahrnehmen des Raums und dem Erzählen ist jedoch inzwischen so groß, dass die einzelnen Raumbestandteile in Maltes Gedächtnis nur noch in zersplitterter Form vorliegen. Darin besteht natürlich ein Unterschied zu den Raumperzeptionen in Paris: Auch diese sind höchst selektiv und von Imaginationen überformt, das Erzählen folgt aber unmittelbar auf das Wahrnehmen, sodass der Zugang zum realen Raum der Diegese in den Parisaufzeichnungen zeitlich weniger verzögert erscheint.

Malte zieht sich im Verlauf des Romans zunehmend aus der realräumlichen Wirklichkeit zurück und sucht in seiner Vergangenheit sowie in den Geschichten über historische Figuren, die er im letzten Teil erzählt, nach Erlebnissen, die seinen Grenzerfahrungen in Paris ähnlich sind. Gleichzeitig flüchtet er sich damit jedoch, zumindest legen das seine Aufzeichnungen nahe, vor der direkten Auseinandersetzung mit der Stadt Paris und damit vor der Bindung an die räumliche und zeitliche (Erzähl-)Wirklichkeit, was sich unter anderem in der zunehmenden Verwendung von kommentierendem und einordnendem Wahrnehmungsbericht zeigt (in obigem Zitat: „So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude“).

Im Zitat zu Maltes kindlicher Erinnerung wird die Raumwahrnehmung als individuelles Konstrukt erkennbar und sie verweist auf ein den gesamten Roman kennzeichnendes denaturalisierendes Raumkonzept. Daneben greift der Text – zumindest implizit – um die Jahrhundertwende virulente Diskurse über das großstädtische Leben auf, ohne sie einfach zu adaptieren. Großstädte wurden wie z.B. in Simmels soziologischer Abhandlung Die Großstädte und das Geistesleben als Orte betrachtet, die ob der vorherrschenden Arbeitsteilung, des ent-individualisierten Geldverkehrs und der Sachlichkeit im wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Umgang dazu beitrugen, dass sich das Wesen ihrer Bewohner veränderte.23 Durch die „raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke“ (Simmel 1903, 116) steigert sich laut Simmel das Nervenleben der Großstädter. Eben jene Reizfülle wird in Maltes ersten Aufzeichnungen zum zentralen Thema, wenn er beschreibt, wie er orientierungslos durch Paris irrt und wie ihn die fremden Geräusche, Gerüche und visuellen Eindrücke überfordern. Aus seiner ersten Aufzeichnung, die den visuellen und den olfaktorischen Sinn thematisiert, wurde bereits zitiert. In der zweiten Aufzeichnung beschreibt das erzählende Ich auditive Eindrücke von der Stadt: „Dass ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin“ (Rilke 1910, 456). Anders als der von Simmel beschriebene typische Großstädter reagiert Malte offenbar nicht mit Blasiertheit, Reserviertheit und Rationalität auf die Erlebnisse in der Stadt, sondern wird von ihnen überwältigt. Selbst nachts, wenn er vermeintlich geschützt in seinem Zimmer liegt, dringen Geräusche und Gerüche der Stadt zu ihm vor und ängstigen ihn. Erst nach und nach findet er in seiner Imagination, die sich an die Perzeptionen der Außenwelt anschießt, ein probates Mittel, die Wucht der Eindrücke abzufedern. Paris ist zudem in der Romanlogik, und darin unterscheidet sich das Großstadtbild der Aufzeichnungen von den kurrenten Stadtdiskursen um die Jahrhundertwende, nicht ausschließlich negativ konnotiert. Gerade weil die Stadt als melting pot aller Lebensbereiche dargestellt wird, kann Maltes Veränderung in Gang kommen und sich eine, wie er schreibt, „vollkommen andere Auffassung aller Dinge“ entwickeln (Rilke 1910, 505).24

2.3 Vergleich der narrativen Raumdarstellungstechniken

Beim Vergleich der narrativen Raumdarstellungstechniken in den untersuchten drei Texten wird besonders eine quantitative und qualitative Veränderung im Gebrauch der beiden Modi Raumbericht und Raumbeschreibung als signifikant erkennbar: Während im Simplicissimus Orte zumeist nur sehr kurz erwähnt werden und die raumbezogenen Informationen in der Regel in Handlungsschilderungen eingebettet sind, werden in den anderen zwei Texten weitaus häufiger an das erlebende Ich gebundene Raumbeschreibungen verwendet, was mit einer Fokusverschiebung von der äußeren zur inneren Handlung einhergeht.25 Zudem unterscheiden sich die Texte deutlich bezüglich der semantischen Überdetermination der narrativen Techniken der Raumdarstellung. Im Simplicissimus gibt es nur sehr wenige Textpassagen, in denen die narrative Form der räumlichen Informationsvergabe in Verbindung mit der inneren Entwicklung des Helden steht und seine seelische Befindlichkeit spiegelt. Zwar schildert das erzählende Ich regelmäßig in Form von Erzählerbericht, wie es sich bei seinen Erlebnissen in bestimmten Räumen fühlte, weil die psychologische Konzeption von Simplex aber keinerlei Tiefendimension besitzt, erscheint die Bindung raumbezogener Passagen an das erlebende Ich im Vergleich zu den anderen beiden Texten weitaus weniger intensiv zu sein. Darüber hinaus unterbrechen Sprünge zurück zur extradiegetischen Ebene und damit vom erzählten Raum zum Erzählraum wiederholt die Raumberichte und tragen zu einer weiteren narrativen Distanzierung bei.

Im Simplicisimus gibt es nur selten Passagen, in denen der Raum intern fokalisiert wird. Wenn dies doch einmal der Fall ist, dann handelt es sich meist um Passagen, in denen die interne Fokalisierung nur durch wenige Marker angezeigt wird. Anders im Werther und im Malte: Dort überwiegt bei den Raumschilderungen die perzeptive und emotive Bindung der räumlichen Informationen an das erlebende Ich, was zu einer Dominanz des Wahrnehmungsmonologs gegenüber dem Wahrnehmungsbericht und zu deutlich markierter interner Fokalisierung führt. Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf ein mit der ,Erfahrungsseelenkunde‘ der Aufklärung beginnendes Interesse an psychologischen Phänomenen, das Autoren dazu veranlasst, verstärkt nach narrativen Äquivalenten für figurale Stimmungen zu suchen, was auch – aber natürlich nicht ausschließlich – in der Form der Raumdarstellung erkennbar wird. Der Zugang zum Raumerleben der Figuren erzeugt deshalb im Werther und im Malte einen Eindruck größerer Unmittelbarkeit als im Simplicissimus. Sprachliche Elemente, die einen auf die Raumwahrnehmung bezogenen Erlebniswert erzeugen, sind im Werther hauptsächlich syntaktischer und sprachfiguraler Natur („Wenn“-„dann“-Konstruktionen, Ellipsen, Wiederholungen). Im Malte werden demgegenüber zur Evokation einer Subjektzentriertheit des Raumerlebens andere, bildhaftere Techniken eingesetzt, die noch weniger realistischen Darstellungskonventionen verpflichtet sind als die Naturbeschreibungen im Werther: Malte hat beim Anschauen räumlicher Gegenstände wiederholt epiphane Erkenntnismomente, weil er in der erzählten Welt seinen état dʼâme für einen kurzen Augenblick erkennt, ohne diesen Prozess willentlich steuern zu können. Wie nah die Außenwelt ihm in diesen Momenten rückt, wie sehr er sich selbst in ihr erkennt, spiegelt sich auf der Darstellungsebene in der Verwendung bildhafter Stilmittel und in einer sprachrhythmischen Durchformung seiner lyrische Qualität gewinnenden Aufzeichnungen. Anders als im Werther ist die Perzeption des Raums im Malte immer auch ein Ergebnis von Imagination, wobei die durch den figuralen Perzeptions- und Emotionsfilter beschriebene Diegese für den Leser zwar noch vorstellbar bleibt, aber Prozessen der Verfremdung unterliegt (zu denken wäre an die zersplitterten Räume aus Maltes Erinnerung etc.).

Die Raumdarstellungen sind also in den drei ausgewählten autodiegetisch erzählten Lebensgeschichten aufs Engste mit den Wahrnehmungsweisen der Figuren und ihren Identitätskonzepten verbunden. Dass die Individualisierung der Raum- und Welterfassung im Werther und im Malte im Vergleich zum Simplicissimus weiter fortgeschritten ist, soll allerdings keine teleologische Entwicklung suggerieren – denn im Verlauf der Literaturgeschichte wechseln sich Phasen wachsender (z.B. Sturm und Drang, Aufklärung, Moderne) mit solchen abnehmender bzw. manchmal subtilerer Subjektivierung der Raumerzählungen (z.B. Realismus) ab. Zentrale Aufgabe einer historischen Raumnarratologie muss es deshalb sein, diachrone Unterschiede in der narrativen Raumdarstellung an Erzählkonventionen einzelner Epochen rückzubinden und immer auch die Bezüge zu den Figuren- und Handlungskonzepten zu untersuchen.

In allen drei Texten werden einzelne Teilräume zu Symbolen und Handlungen in ihnen zu Allegorien. Symbolisierungen sind, im Unterschied zu der eben beschriebenen Funktion von Raumschilderungen als Barometer von Stimmungen, nicht gebunden an die Wahrnehmungen der Figuren. Wenn sich im Werther am Tag vor dem Selbstmord ein Unwetter zusammenbraut, dann steht dies zwar in einem symbolischen Zusammenhang zur Dramatisierung der Handlung, ist aber nicht abhängig von Werthers subjektiver Wahrnehmung. Das Gewitter wird vielmehr fiktionsinterne Wirklichkeit und potenziert die Spannung auf der Handlungsebene. Am offensichtlichsten ist diese Form der Semantisierung des Raums im Simplicissimus, wo Räume zu Symbolen für Simplexʼ Innenleben werden. Mit der größeren Vielschichtigkeit der Figurenkonzeptionen seit der Aufklärung nimmt allerdings, literarhistorisch gesehen, die symbolische Aufladung von einzelnen Teilräumen quantitativ und qualitativ ab, ohne ganz obsolet zu werden. Was nämlich zumindest den Malte mit dem Simplicissimus verbindet und ebenfalls als Symbol betrachtet werden kann, ist die Zusatzcodierung räumlicher Orientierung, die sowohl als tatsächliche Orientierung in der erzählten Welt wie auch, im uneigentlichen Sinn, als Orientierung im Leben lesbar wird. So verirrt sich Simplex auf seinen vielfach verschlungenen Wegen, bis er endgültig an einem Ort fern der vorherigen Handlung ankommt, und Malte fehlt in Paris die Orientierung, bis er in den Räumen seiner Imagination und den Räumen der Historie Zuflucht findet.

3. Weiterführende Gedanken zu einer historischen Raumnarratologie

Zu Beginn des Beitrags wurden bereits diverse Arbeitsbereiche einer historischen Raumnarratologie bestimmt. Abschließend greife ich deshalb in einem knappen Ausblick nur zwei Aspekte heraus, die mir für eine noch zu schreibende historische Raumnarratologie von einzelnen narrativen Gattungen im Speziellen sowie von Narrationen im Allgemeinen besonders vielversprechend zu sein scheinen und in denen sich mehrere Untersuchungsparameter bündeln lassen.

(1) Was ich in den kurzen Vergleichsanalysen nicht thematisieren konnte, ist die spannende Frage nach Gemeinsamkeiten der Texttopographien: Wie viele Informationen werden in den einzelnen Texten zum Raum gegeben und – noch wichtiger – welche Lücken lässt die Narration im Hinblick auf Entfernungen und Beziehungen von einzelnen Teilräumen zueinander? Eventuell ergibt sich ja im Vergleich verschiedener Texte so etwas wie ein über die Tendenz zur Dichotomie (siehe Kap. 2.1) hinausgehendes Raumschema, das die Merkmale der einzelnen fiktionalen Topographien als ein Set an Gemeinsamkeiten beschreibbar werden lässt. Michail Bachtin hat in seiner 1979 erstmals erschienenen Studie zum Chronotopos anhand von Gattungen wie dem idyllischen Roman, dem Ritterroman oder dem griechischen Roman versucht, gattungs- und zeitspezifische Raum-Zeit-Modelle zu beschreiben. Seinen Ideen liegt die These zugrunde, dass es in der außertextuellen Wirklichkeit epochenspezifische raumzeitliche Muster der Welterfassung gibt, die sich in der Konzeption literarischer Raum-Zeit-Modelle spiegeln.26 Dass Gattungsbestimmungen wie etwa die des „griechischen Romans“ literarhistorisch relativ eng gefasst sind, impliziert bereits, dass eine Übertragung des Chronotopos-Konzepts auf lose Textgruppen wie die der hier untersuchten autodiegetisch erzählten Lebensgeschichten, zu denen Texte aus vielen verschiedenen Epochen gezählt werden können, schwierig sein dürfte. Ich sehe jedoch trotzdem eine Möglichkeit, das Konzept gewinnbringend für die Untersuchung weiter gefasster Textgruppen zu nutzen: Der Schlüssel liegt gerade in der Anerkennung historischer und epochenspezifischer Besonderheiten bei der Gestaltung der Raum-Zeit-Modelle. Es scheint deshalb sinnvoll, zunächst einmal Chronotopoi von Texten mit gemeinsamem Merkmalsspektrum zu beschreiben, die im selben geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Kontext entstanden sind, und erst daran anschließend Kontinuitäten und Diskontinuitäten in diachroner Entwicklung zu bestimmen. Besonders wichtig ist bei einer solchen Vorgehensweise natürlich die Reflexion der literaturwissenschaftlichen Methoden, denn eine Bestimmung von Chronotopoi, die Aspekte auf der Ebene des discours und der histoire berücksichtigt, muss immer mit Schematisierungen und Typisierungen einhergehen, die auf ihre Sinnfälligkeit und Trennschärfe hin überprüft werden müssten.

(2) Was ein gattungsinterner Vergleich von Raumdarstellungen in narrativen Genres außerdem leisten müsste, wäre der konsequente Einbezug außertextueller Diskurse, falls sie für die Untersuchung der Raumsemantiken wichtig sind. Hier scheint vor allem die Frage zentral zu sein, ob Neukonzeptionen des Raums – zu denken wäre an die Kopernikanische Wende oder auch an den aktuellen Spatial Turn mit seinem radikal-konstruktivistischen Raumverständnis – eine Entsprechung in literarischen Raumdarstellungen gefunden haben bzw. finden und mit welchen Mitteln diese Diskursreferentialität erfolgt. Dabei wäre zu überprüfen, ob die raumbezogenen Paradigmenwechsel konkret, z.B. in der Figuren- und Erzählerrede, thematisiert werden oder ob Autoren nach impliziten ästhetischen Verfahren suchen, um solche Paradigmenwechsel anzuzeigen. Vielleicht lassen sich im Anschluss daran einerseits Schwellenphasen ausmachen, in denen ein Übergang zu neuen literarischen Techniken der Semiotisierung des Raums stattfindet, sowie andererseits narrative Genres bestimmen, die literarhistorisch gesehen eine deutliche Tendenz zur Durchlässigkeit für außertextuelle Raumdiskurse zeigen, indem sie Konstanten, aber auch Veränderungen in der menschlichen Raumkonzeption literarisch inszenieren. Einen ersten Versuch in diese Richtung hat unlängst Wolfgang Hallet unternommen, indem er die von ihm so genannten ,fictions of space‘ als eine Gruppe narrativer Texte definiert, in denen Raum nicht nur als Handlungshintergrund fungiert, sondern zu einer die Erzählung konstituierenden Dimension wird. ,Fictions of space‘ wie Paul Austers City of Glass oder W.G. Sebalds Austerlitz imitieren und inszenieren laut Hallet Bewusstseinsvorgänge, die mit Raumsemiotisierungen verbunden sind, und sie dienen durch extra- oder intradiegetische Kommentare als metakulturelle Kommentierungen zu sozialen Praktiken der Raumsemantisierung (Hallet 2009, 108f.). Mit diachronem Fokus wäre im Anschluss danach zu fragen, ob es auch jenseits der Postmoderne eben solche ,fictions of space‘ gibt, die – natürlich unter Verwendung differenter narrativer Techniken – dem Raum als Bestandteil der epischen Situation und als Träger von Raumdiskursen eine zentrale Rolle zuweisen. Weil Raumdarstellungen darüber hinaus auf nicht-raumbezogene Diskurse referieren können, indem sie beispielsweise, wie die vergleichende Analyse der drei autodiegetisch erzählten Romane zeigen konnte, anthropologische Konzepte zur Entstehungszeit oder aber Geschlechterterritorialisierungen, Segregationsprozesse usw. aufgreifen und gegebenenfalls unterminieren können, sieht sich eine historische Raumnarratologie vor die große Aufgabe gestellt, viele verschiedene Diskurszusammenhänge zu untersuchen. Hier wird es gerade darauf ankommen, nur konkreten, in den Texten angelegten Referenzen nachzugehen, um präformierende Lektüren literarischer Raumdarstellungen zu vermeiden.

Literaturverzeichnis

Arndal, Steffen (2002): „»Ohne alle Kenntnis von Perspektive«? Zur Raumperzeption in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76, S. 105-137.

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Caroline Frank
Universität des Saarlandes
Fachrichtung 4.1 Germanistik
Postfach 15 11 50
D-66041 Saarbrücken
E-Mail: c.frank@mx.uni-saarland.de
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1 Beispielhaft hierfür sind etwa die Sammelbände von Hallet / Neumann 2009 und Böhme 2005, in denen literarische Raumentwürfe als Träger kultureller Diskurse untersucht werden.

2 Ich verwende hier das Adjektiv ,postklassisch‘ im Sinne von David Herman 1999, der damit eine Entwicklung der Narratologie von rein textzentrierten und formalen Modellen hin zu Modellen bezeichnet, die sowohl den Text als auch den Kontext berücksichtigen.

3 Katrin Dennerlein 2009 hat mit der Definition der beiden Modi ,Beschreiben‘ und ,Erzählen‘ von Raum einen wichtigen ersten Schritt in diese Richtung unternommen und auch das von Ansgar Nünning 2009 vorgeschlagene Mehr-Ebenen-Modell der Raumanalyse, das neben paradigmatischen Aspekten der Auswahl von Teilräumen und der Verfahren ihrer narrativen Erzeugung zugleich syntagmatische Aspekte des erzählchronologischen Nacheinanders berücksichtigt, hilft dabei, das weite Spektrum möglicher Kategorien einzugrenzen.

4 Im Folgenden soll es nur um den ,konkreten Raum der erzählten Welt‘ gehen (vgl. Dennerlein 2009, 239). Zu diesem zählen all diejenigen in der Regel dreidimensionalen Objekte in Erzähltexten, die zur Umgebung von Figuren werden können und die ein Innen und ein Außen besitzen. Dazu gehören einerseits Räume, in denen innerfiktionale Handlungen stattfinden, andererseits aber auch Räume, in denen der Erzählakt stattfindet, sowie Räume, die sich die Figuren nur vorstellen, die aber in der figuralen Vorstellung konkret-räumliche Eigenschaften besitzen. Entscheidend dafür, dass ein gesamträumlicher Eindruck entsteht, ist die Vermittlung einer Relation zwischen den einzelnen räumlichen Objekten. Narrative Texte enthalten dabei diverse Unbestimmtheitsstellen im Hinblick auf die genaue Texttopographie – sei es bezogen auf Entfernungen, Richtungsangaben oder semantische Beziehungen.

5 http://www.zef.uni-wuppertal.de/forschung/historische-narratologie.html (06.10.2014)

6 Erdmut Jost stellt eine quantitative Häufung von panoramatischer Wahrnehmungsbeschreibung in der Reiseliteratur um 1800 fest und betrachtet diese Form der Raumdarstellung als ein Signum der Gattung. Daran anschließend wäre zu fragen, welche Vorläufer es in früheren Epochen gibt und inwiefern die Funktionen gleichgeblieben sind oder sich verändert haben (Jost 2005).

7 Der Begriff der erlebten Raumperzeption meint die Wiedergabe von raumbezogener Figurenwahrnehmung in Form von erlebter Rede (free indirect speech). Normalerweise wird die erlebte Rede definiert durch das Fehlen von Verben des Sagens, Denken oder Wahrnehmens sowie durch die Verwendung der 3. Person Indikativ. Fiktionslogisch sind aber auch Erzählungen in der 1. Person denkbar, in denen diese transponierte Redeform Verwendung findet. Die Identifikation von Passagen in erlebter Rede dürfte sich in diesen Fällen aber auf die Unterschiede zwischen erzählendem und erlebendem Ich beschränken: Die Stimme des erzählenden Ichs muss in ihrem Erzählverhalten von der Stimme des erlebenden Ichs, die im Sinne des ,Oncle-Charles-Principle‘ imitiert wird, unterscheidbar sein.

8 Katrin Dennerlein arbeitet in ihrer Narratologie des Raumes (2010) zwar mit kognitionswissenschaftlichen Konzepten wie dem Modellleser und dem mentalen Raummodell, ihre Arbeit ist aber insofern an strukturalistische Modelle angelehnt, als ihren meisten Parametern die Unterscheidung in eine Ebene des discours und der histoire zugrunde liegt.

9 Zentrale Aufgabe einer nicht auf einzelne Textgruppen beschränkten historischen Raumnarratologie wäre die Beantwortung der Frage, ob bestimmte Epochen und / oder bestimmte Textsorten eine Affinität zu hetero- oder autoreferentiellen Raumentwürfen haben. Dies ist natürlich nur auf Basis eines breiten Korpus an narrativen Texten möglich.

10 Bis auf die Tatsache, dass Distanz und Fokalisierung modale Kategorien sind, fehlen bei Genette leider Hinweise auf die enge Zusammengehörigkeit dieser beiden Parameter. Das liegt vermutlich an Genettes erklärtem Ziel, distinkte Kategorien entwickeln zu wollen. Bei der konkreten Bestimmung von einzelnen Fokalisierungstypen sind jedoch die Distanz zu den Gedanken und Worten der Figuren und damit implizit auch der Anwesenheitsgrad des erzählenden Ichs wichtige Marker (vgl. Cohn 1981, 175).

11 Wahrnehmungsbericht ist eine vom Erzähler vermittelte Form der Wahrnehmungswiedergabe, die zu den Formen der von Dorrit Cohn definierten Psychonarration zählt. Beim Wahrnehmungsmonolog handelt es sich hingegen um zitierte Figurenrede bzw. zitierte Gedanken der Figuren über die eigene Wahrnehmung.

12 Der Simplicissimus fällt innerhalb der Textgruppe durch die große Dichte an realräumlichen Referenzen auf. Simplex wandert von einem Kriegsschauplatz zum nächsten und die Stationen seiner Lebensreise reichen von seiner Geburt im Spessart über Aufenthalte in Gelnhausen, Hanau, Wittstock, Soest, Recklinghausen, Köln, Lippstadt und Paris bis in den Schwarzwald, nach Wien, in den Orient und schließlich über Rom und einen erneuten Zwischenstopp im Schwarzwald bis auf eine Insel im Indischen Ozean. Wie Ansgar Cordie nachweisen konnte, fallen die interne und externe Chronologie des Dreißigjährigen Krieges zwar stellenweise um bis zu 10 Jahre auseinander (Cordie 200, 355), das hat aber auf die Nachvollziehbarkeit von Simplex’ Weg keine Auswirkungen.

13 Dennerlein weist zu Recht darauf hin, dass Raumbeschreibungen auch sprachliche Inszenierungen eines Wahrnehmungsprozesses sein können. Entscheidend für die Identifikation eines Wahrnehmungsaktes ist nicht unbedingt das Vorhandensein von Wahrnehmungsverben, mitunter genügen andere erzählerische Mittel wie etwa Deiktika oder Lokal- und Temporaladverbien, die einen Eindruck von Subjektivität, Aktualität und Standortgebundenheit erzeugen (vgl. Dennerlein 2009, 146).

14 Genette erwähnt in Diskurs der Erzählung nicht, dass Fokalisierung ein graduelles Phänomen sein könnte. Ich stimme jedoch mit Tilmann Köppe und Tobias Klauk überein, die in „Puzzles and Problems for the Theory of Focalization“, einer Ergänzung und Erweiterung zu Burkhard Niederhoffs Artikel „Focalization“ im Living Handbook of Narratology, diverse Argumente für eine Gradierbarkeit zumindest von interner Fokalisierung anführen. Sie verstehen diese These jedoch eher als einen tentativen Vorstoß und führen als Gegenargument selbst an: „One might try to deny that focalization is a gradual phenomenon. [...] definitions and theories are build for specific purposes. One can acknowledge that from text A we learn more about a character’s perspective than from text B, but maintain that, all things considered, it is more useful to think of focalization as not gradual.“ (Köppe / Klauk 2011, revised 2013, bes. Kapitel 3: „Is focalization a gradual phenomenon?“).

15 Kahrmann, Reiß und Schluchter haben in Analogie zur Dichotomie aus ,erzählter Zeit‘ und ,Erzählzeit‘ das Begriffspaar ,erzählter Raum‘ und ,Erzählraum‘ entwickelt. Während sie mit ersterem Begriff die Gesamtheit der Räume meinen, die das erzählte Geschehen als einen Welt- und Wirklichkeitszusammenhang durch Beschreibung oder indirekte Darstellung rezipierbar machen und die in Form von Erzähler- und Figurenrede konstituiert werden, bezeichnen sie mit letzterem die räumliche Dimension der fiktiven Redesituation des Erzählers (Kahrmann et. al. 1991, 158-163).

16 Symbolen kommt laut Gerhard Kurz eine gewisse gegenständliche Konkretheit innerhalb der erzählten Welt zu, sodass sie im Unterschied zu den Metaphern nicht nur als Bild, sondern auch als konkrete Dinge anwesend sind: „Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Elemente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit auf die dargestellte Empirie gerichtet. Beim Symbol wird daher auch die wörtliche Bedeutung gewahrt, die Referenz des Wortes. Bei der Metapher wird sie okkasionell ausgedehnt. Bei Metaphern aktualisieren wir ein Sprachbewußtsein, bei Symbolen ein Gegenstandsbewußtsein“ (Kurz 2004, 77).

17 Die Sylphen informieren Simplex darüber, dass ihr Reich die Ozeane auf der Erdkugel hält und den zirkular vorgestellten irdischen Wasserhalt regelt. Anders, als vielleicht zu erwarten gewesen wäre, bezieht Grimmelshausen sich nur an einer Textstelle auf Kopernikus, wenn er den Sylphenkönig erklären lässt, die Sonne sei kein Fixstern. Weitaus häufiger referiert er auf naturkundliche (Sylphen), alchemistische (Transmutation des Geisterschatzes in der Continuatio) und astrologische (Nativitäten von Herzbruder) Diskurse (Eickmeyer 2007, 270).

18 Friedrich Gaede rekurriert mit dem ,geistigen Innenraum‘ auf eine Metapher C.G. Jungs (2003, 41).

19 Werther begibt sich am Anfang des Romans nur an solche Orte wie den Brunnen vor Wahlheim, die in den Gesamteindruck des „vertraulichen […] Plätzchens“ (Goethe 1774, 204) passen und die, wie auch seine favorisierten Lektüren, dazu dienen, seine Hochstimmung zu potenzieren. Liest er zu Beginn noch betuliche Episoden aus der Odyssee und erfreut sich an den schönen Plätzen rund um Wahlheim, entscheidet er sich am Ende für die Lektüre der bedrückenden Songs of Selma und es zieht ihn hinaus in die unwirtliche und gefährliche Gewitterlandschaft.

20 Wörtlich heißt es in den nachgelassenen Fragmenten, die im Frühjahr / Sommer 1888 entstanden sind: „Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selbst willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht“ (Nietzsche 1980, 492).

21 Epiphanien in einem modernen, d.h. nicht mehr als religiöse Erscheinung verstandenen Sinn, werden literarhistorisch gesehen zuerst von James Joyce in seinem Romanfragment Stephen Hero definiert: „By an epiphany he meant a spiritual manifestation, whether in the vulgarity of speech or of gesture or in a memorable phase of the mind itself“ (Joyce 1952, 216). Kennzeichen moderner Epiphanien sind zumeist neben der Plötzlichkeit ihres Auftretens auch die Trivialität der sie auslösenden Gegenstände und Ereignisse sowie ihre kurze Dauer. In der deutschsprachigen Literatur sind Epiphanien im Besonderen in den Werken Hofmannsthals, Musils, Rilkes, Benns u.a. zu finden, ihre Verwendung ist jedoch in der Zeit der Jahrhundertwende ein europaweites literarisches Phänomen. Obschon sich die Forschung bereits intensiv mit dezidiert modernen Inszenierungen von Epiphanien beschäftigt hat, fehlt zurzeit noch eine Arbeit, die autorenübergreifende Spezifika epiphanen Raumerlebens und – damit zusammenhängend – eine epiphane Raumstruktur zu beschreiben versucht.

22 Seine Begeisterung für Cézannes Malerei, die mit farbiger Flächigkeit spielt und zwischen Abstraktheit und Konkretheit oszilliert, hat Rilke dazu angespornt, entsprechende sprachliche Ausdrucksmittel zu finden.

23 Es ist belegt, dass Rilke 1899 und dann wieder 1905 Vorlesungen von Simmel in Berlin besuchte und dass beide auch danach in gelegentlichem Kontakt blieben und sich besuchten. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Rilke in irgendeiner Form, sei es schriftlich oder mündlich, mit Simmels Großstadttheorie in Berührung gekommen ist (vgl. Donahue 1992, 198).

24 Steffen Arndal versucht diese im Malte inszenierte neue, von epiphanen Erkenntnismomenten begleitete Erfassung der Wirklichkeit physiologisch als Panumsehen zu erklären, bei dem disparate Netzhautpunkte während der Wahrnehmung des Raums verschmelzen, was den visuell erzeugten Eindruck einer fremden Wirklichkeit evoziert. Im Text finden sich allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass Maltes Neues Sehen etwas anderes ist als eine neue Deutung der Welt. Arndals Versuch, es als ein binokulares Sehexperiment zu erklären, wird somit nicht von Hinweisen im Text gedeckt und bleibt spekulativ (vgl. Arndal 2002, 118-125).

25 Das Ergebnis dieses auf die Modi der Raumdarstellung fokussierten Vergleichs korreliert mit Natascha Würzbachs These, dass sich in der Literatur der Moderne eine Entwicklung vom Handlungs- hin zum Erlebnisraum vollzieht. Was Würzbachs Argumentation ein wenig schwächt, ist die Behauptung, dass erst in der Literatur des 20. Jahrhunderts das subjektive Raumerleben in den Vordergrund rücke (Würzbach 2001, 109). Der Modernebegriff, den sie dabei zugrundelegt, ist ein zeitlich sehr eng gefasster, der unbedingt erweitert werden müsste, denn schon in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts lassen sich diverse Techniken einer Subjektzentrierung in der Raumwahrnehmung finden, die aber – darin ist Würzbach zuzustimmen – noch keinen Intensitätsgrad erreichen, der mit Texten der klassischen Moderne vergleichbar wäre.

26 Michael C. Frank und Kirsten Mahlke betonen in ihrem Nachwort zum neu herausgegebenen Chronotopos-Essay, dass Bachtin seine Studie als eine historische versteht, weil er Gattungen nicht mit statischen Merkmalen beschreibt, sondern sie – ganz im Gegenteil – als historische Erscheinungen begreift, die sich im Kontakt mit der zeitgenössischen Wirklichkeit verändern (Nachwort in Bachtin 1979, 218). Relativierend ließe sich hier jedoch ergänzen, dass Bachtin natürlich trotzdem schematisierend vorgeht, wenn er Texte auf Basis von Merkmalen, die er selbst ihnen zuspricht, zu Gattungen ordnet und zugleich Gemeinsamkeiten in der Konzeption der raum-zeitlichen Welt erarbeitet.