Andreas Mauz

Auf weitem Feld

Narration als Ansatzpunkt multidisziplinärer Religionsforschung

Gabriela Brahier / Dirk Johannsen (Hg.): Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Würzburg: Ergon 2013 (= Diskurs Religion. Beiträge zur Religionsgeschichte und religiösen Zeitgeschichte, Bd. 2). 428 S. EUR 58,00. ISBN 978-89913-945-7

„Konstruktionsgeschichten“: Gegenstand und Struktur des Bandes

„Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel“ (Koschorke 2012, 19). Dieser basale Sachverhalt wird durch einen neuen Sammelband in aufschlussreicher Weise bestätigt für ein Feld, dem man eine soziale Bedeutsamkeit eigener Art zuschreibt: der ‚Religion‘. Die umfangreiche Publikation zeigt die vielfältigen Weisen, wie Erzählphänomene in religiösen Kontexten wirksam werden; sie zeigt aber auch deutlich einige Probleme ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung. Aus der Sicht eines Sympathisanten des „narratological tribe“ (Gerald Prince) geht eine Grenze der Publikation gerade aus der präzisen Formulierung ihres Untertitels hervor: Es handelt sich tatsächlich in erster Linie um „narrationsbezogene“, nicht aber um narratologisch informierte (und schon gar nicht im strengen Sinn narratologische) Untersuchungen.

Der Band geht zurück auf ein Projekt des ProDoc-Graduiertenprogramms des Schweizerischen Nationalfonds (SNF), das den „Interferenzen von Religion mit Wirtschaft und Politik im Spiegel ihrer Konstruktionsgeschichten“ galt. Diesem Kontext entsprechend handelt es sich bei der Mehrheit der insgesamt 26 (!) Einzelbeiträge um Texte von NachwuchswissenschaftlerInnen. Ihre disziplinäre Zugehörigkeit umfasst primär die Hauptzweige der Religionsforschung (Religionswissenschaft, Theologie), geht punktuell aber auch über sie hinaus (Anglistik, Nordistik, Ethnologie, Pädagogik, Philosophie). Der fachliche Schwerpunkt liegt deutlich im Bereich der Religionswissenschaften, und Religionswissenschaftler ist auch Dirk Johannsen, der zum gemeinsam mit der evangelischen Theologin Gabriela Brahier verantworteten Band die Einleitung formuliert hat: „Konstruktionsgeschichten“.

Gemäß der hier mit Koschorke eingespielten Grundeinsicht muss sich Johannsen nicht lange bei der Begründung des Forschungsgegenstandes aufhalten. Die eminente kulturelle Bedeutung des Erzählens lässt sich selbstredend auch auf dem Feld der Religion nachvollziehen. „Für die religionsbezogenen Wissenschaften legt sich ein Narrationsfokus schon aufgrund der Quellen nahe: In Schöpfungsgeschichten und Legenden, Konversionsberichten, Erlebnisschilderungen und modernen Mythen werden Religionen und die sie tragenden Gemeinschaften als spezifische Erzählkulturen greifbar“ (S. 9). Das Erkenntnisinteresse des Bandes gilt daher

den Funktionen und Formen des Narrativen in den Religionen und in der Aushandlung des religiösen Feldes. Sein Anliegen ist es, mit der Betrachtung narrativer Strukturen in religiösen Systemen, Rhetoriken und Selbstverständnissen ungewohnte Einblicke in religionswissenschaftliche und soziale Dynamiken zu geben. (S. 9)

Im Hinweis auf die „ungewohnten Einblicke“ deutet sich die Selbstwahrnehmung der Herausgeber an. Hier wie auch in der selbstbewussten Breite des Untertitels zeigt sich ein gewisses Pionierbewusstsein; das „narrativistische Paradigma“ (ebd.) soll programmatisch im Kontext der Religionsforschung zur Geltung gebracht werden. Allerdings macht Johannsen in seiner Einleitung gleich deutlich, dass dieses Paradigma eben ein kulturwissenschaftliches sei, da sich der Grundbegriff des Erzählens – er spricht bezeichnenderweise vom „Oberbegriff ‚Narrativ‘“ (S. 10) – von seinen klassisch-narratologischen Konnotationen und der Erzählliteratur als ihrem primären Bezugsobjekt unterscheide. Johannsen weist aber nicht nur auf diese Spannung hin, er gewichtet sie im Modus einer methodischen Handlungsanweisung: Das Erbe der „Ursprungsdisziplinen“ stelle, wenn unreflektiert in kulturwissenschaftliche Denkhorizonte übernommen, eine „Gefahr“ dar; die „Massgaben der Literaturkritik [sic]“ dürften etwa keinesfalls direkt auf die „Selbsterzählungen religiöser Akteure“ übertragen werden (S. 11). Die Notwendigkeit reflektierter Anleihen wird dann anhand der Leitdifferenz von fiktionalem und faktualem Erzählen und dem Problem ihrer objektsprachlichen Indikatoren exemplarisch gezeigt.

Die kulturwissenschaftliche Großzügigkeit des ‚Narrations‘- bzw. ‚Narrativ‘-Begriffs dokumentiert sich am deutlichsten im Doppelsinn, welcher der prägnanten titelgebenden Rede von „Konstruktionsgeschichten“ beigelegt wird. Diese verweise auf die „zwei leitenden Aspekte“ des Bandes: „Einerseits die Konstruktion von Identitäten und kulturellen Bereichen durch Geschichten, andererseits die Konstruktion dieser Geschichten selbst“ (S. 13). Auf der Basis so verstandener Konstruktionsgeschichten „sollen Potentiale und Grenzen narrativitätsbezogener Zugangsweisen im Bereich der Religionsforschung sichtbar gemacht werden“ (ebd.), also nicht zuletzt auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses selbst.

Wenn Johannsen – der wissenschaftstheoretisch gut begründeten Üblichkeit folgend – bemüht ist um eine sorgfältige Situierung des eigenen Projekts innerhalb eines größeren multi- und interdisziplinären Forschungsfeldes, so muss eine gewisse Einseitigkeit auffallen. Wie angedeutet, liegt ihm einiges an einer Verhältnisbestimmung zur Erzählforschung; Hinweise, wie sich der eigene Band zu anderen narrationsaffinen Arbeiten der Religionsforschung verhält, finden sich dagegen nicht. Dabei könnte es, genauer betrachtet, ja um eine doppelte Verhältnisbestimmung gehen: um eine Klärung des weiteren Kontexts, nämlich der spezifischen Leistung narrationsbezogener „Ansätze“ angesichts anderer Ausprägungen der Religionsforschung, und um den engeren Kontext, die Klärung des Bezugs auf andere narrationsbezogene Religionsforschung. Erwartbar wären mindestens Hinweise zu diesem engeren Zusammenhang gewesen, denn die Einsicht in den hohen Stellenwert des Erzählens in religiösen Diskursen ist ja keineswegs originell.1 Eben deshalb wüsste man gerne, welche „Ansätze“ und Tendenzen unter den aktuellen Bedingungen des kulturwissenschaftlichen narrative turn auszumachen sind, welche spezifischen Desiderate innerhalb dieser Gemengelage kenntlich werden.

Eine implizite Stellungnahme zu diesem Aspekt lässt sich aber dennoch erkennen – in der Strukturierung des Bandes. Diese ist eine vierteilige: Der Band wird eröffnet durch drei Aufsätze zu „Grundlagen“ (S. 19-80); ihnen folgt eine umfangreiche erste Sektion zum „lebensgeschichtlichen Erzählen“ (S. 81-220), eine zweite zu „Kollektiv und Narration“ (S. 221-334) und schließlich eine dritte zum „transmedialen Erzählen“ (S. 335-426). Die Sektionen werden jeweils durch einen separaten Beitrag eingeleitet und umfassen im Fall der Sektionen 2 und 3 auch eine abschließende „Response“. Die Aufmerksamkeit für diese drei – umfassenden – Komplexe dürfte der Hebel sein, um die in Aussicht gestellten „ungewohnte[n] Einblicke“ zu eröffnen. Allerdings wäre hier eine ausdrückliche und auch ausführlichere Situierung hilfreich gewesen: Weder wird thematisiert, weshalb gerade diese drei Komplexe zur Sprache kommen – und welche angesichts der Weite des Feldes „narrationsbezogener Ansätze in der Religionsforschung“ unthematisiert bleiben –, noch wird geklärt, wie sie sich etwa hinsichtlich des Abgrenzungsproblems zueinander verhalten.

Aufgrund des Umfangs des Bandes kann die vorliegende Besprechung nicht die Fülle und Vielfalt der verhandelten Thematiken zur Geltung bringen; sie bewegt sich daher – den eingeschlagenen Weg fortsetzend – in mittlerer Distanz zum Einzeltext und fokussiert aus systematisch-hermeneutischem Interesse nur einzelne Aspekte. Dieser pragmatisch begründete Zugriff hat allerdings einen hohen Preis. Denn damit kommt notwendigerweise zu kurz, was global betrachtet als die große Stärke des Bandes anzuerkennen ist: Er bietet eine Menge hoch interessanter Einzeluntersuchungen, die innerhalb der betreffenden Spezialdiskurse sicher dankbar rezipiert werden.

Zu den „Grundlagen“

Der Grundlagen-Teil des Bandes umfasst drei Beiträge. Sönke Finnern bietet in seinem Beitrag zu „Kognitive[r] Erzählforschung und religiöse[n] Texte[n]“ – basierend auf seiner neutestamentlichen Dissertation (Finnern 2010) – eine konzentrierte Einführung in sein „integratives“ narratologisches Modell, das er ausdrücklich auch als „kognitives“ versteht, als eine Methode also, die über die Beschreibung bestimmter Erzählphänomene hinaus auch deren mentale Verarbeitung in Betracht zieht. Und darin, in der Aufmerksamkeit für den „intendierten (kompetenten) Adressaten“ (S. 23), sieht Finnern auch die Verbindung zum Instrumentarium der klassischen „historisch-kritischen“ Bibelwissenschaft gegeben, die es narratologisch zu vertiefen gelte. Das Stichwort der Kognition verbindet diesen Beitrag mit dem nächsten, der allerdings auf einer höheren Reflexionsstufe operiert. Wo Finnern (deskriptiv) einen wohl gefüllten „Werkzeugkasten“ (S. 24) anbietet, fragt der Anglist Ralf Schneider (normativ) nach den Bedingungen der Möglichkeit eines tauglichen Werkzeugkastens – also danach, was eine kognitive Rezeptionstheorie leisten muss, die sich auf der Höhe der Diskussion befindet. Dabei handelt es sich fraglos um ein „Grundlagen“-Problem, aber eben um das Grundlagenproblem einer allgemeinen literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie, die zurecht ohne die beiden Leitbegriffe auskommt, um die es dem Band ausdrücklich zu tun ist: Narration und Religionsforschung. Schneiders objektseitiger Grundbegriff ist der des ‚Textes‘, welcher aufgrund der neueren literatur-, medien- und kulturtheoretischen Debatten (pars pro toto: Kammer / Lüdeke [Hg.] 2005) sicher nicht bruchlos mit ‚Narration‘ / ‚Geschichte‘ identifiziert werden kann. Die abschließende „Coda“ Schneiders, die auf einer Zweidrittelseite die Religionsforschung in den Blick nimmt, indem sie die Zentralstellung des „Text[es] als Ausgangspunkt und Garant des Sinnstiftung“ (S. 51, Hervorhebung im Original) betont, akzentuiert das augenfällige Passungsproblem mehr als dass sie es behebt.

Die Frage der konzeptionellen Einbindung stellt sich in anderer Weise auch im Fall des dritten grundlegenden Beitrags des Religionswissenschaftlers Jürgen Mohn. Ihm liegt an einer Verbindung von Mythos- und Erzählforschung am Beispiel des „Narrativs“ der „Politischen Religion“. Anhand der diesbezüglichen Schriften Eric Voegelins, Jean-Jacques Rousseaus und, am Rande, Jürgen Habermas’ kann er zeigen, dass und wie sich in Modellen politischer Religion „ein Idealbild oder eine Negativfolie aus[spricht], die auf die gleiche Weise konstruiert ist, wie andere Religionen auch: nämlich narrativ im Sinne des Mythos“ (S. 78). Mohns subtile, weil mythostheoretisch geschärfte Analyse gipfelt schließlich in einer wissenschafts- und damit selbstkritischen Pointe: dem Appell, die Angebote der Narratologie zu nutzen, um „die eigenen mythischen Narrative“ (S. 79) aufzuspüren und sich reflexiv zu ihnen ins Verhältnis zu setzen. Da das Passungsproblem in diesem Fall nicht beim thematischen Akzent bzw. im dominant disziplinären Theoriehorizont liegt, ist zu fragen, weshalb gerade dieser Beitrag, der sicher auch gut in der Sektion 2 des Bandes aufgehoben gewesen wäre, als „Grundlage“ geführt wird. Mohn tut ja ‚nur‘ das, was alle Beiträge des Bandes tun (sollten): bestimmte (historische, theoretische, disziplinäre, mediale, etc.) Konstellationen von Religion und Narration zu explorieren. Wenn das Grundlegende in seinem Fall offensichtlich nicht im Allgemeinheitsgrad bzw. in einer theoretischen Stoßrichtung liegen kann – dafür ist, wie die Spannung zu den Beiträgen Finnerns und Schneiders deutlich macht, der Gegenstand der politischen Religion zu spezifisch –, sondern in einem vorbildlichen Reflexionsniveau und Synthesewillen, so hätte auch dies durch eine entsprechende Kommentierung deutlicher werden müssen. Die einleitende Aussage, mit den drei genannten Aufsätzen sei „der Rahmen der in diesem Band behandelten Konstruktionsgeschichten gesteckt“ (S. 14), ist – wie noch klarer werden wird – mit einem großen Fragezeichen zu versehen. In welcher Hinsicht diese Grundlegungen ‚grundlegend‘ sein sollen und wie sie zum Zusammenspiel der beiden Aspekte von „Konstruktionsgeschichten“ stehen, bleibt vage.

Grundlegung, incognito: der Beitrag Griesers

Der grundlegende Gehalt des Bandes würde aber verkürzt, bliebe es beim bloßen Hinweis auf die bedingte konzeptionelle Schlüssigkeit dieser eröffnenden Einheit. Denn an anderer Stelle, gleichsam incognito, bietet der Band einen Beitrag, der die funktionale Auszeichnung einer „Grundlegung“ zweifellos verdiente: Alexandra Griesers Response zu den Beiträgen der zweiten Sektion zu „Kollektiv und Narration“. Unter dem Titel „Zur Multi-Funktionalität kollektiver Narrative und der dynamischen Rolle von Religion“ (S. 319-333) exponiert die Religionswissenschaftlerin, bevor sie sich der ihr zugedachten Aufgabe annimmt, eine Reihe systematischer Erwägungen. Am Beispiel des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders zeigt sie die gesellschaftliche Wirksamkeit eines „Multikulturalitäts-“ bzw. „Religionsnarrativs“ (S. 319) – eine Wirksamkeit, die weder aus einer Ausführlichkeit und Konsistenz, noch aus dem Erfahrungsbezug der Narrative hervorgeht. Vor dem Hintergrund eines positiv-säkularen Multikulturalitäts-Narrativs unternimmt Wilders nach Grieser eine Reformatierung des Islams von einer Religion zu einer Ideologie, wodurch der Koran idealiter ebenso zu kriminalisieren ist wie Mein Kampf. „Der Marker Religion wird zum Definiens einer Gruppe, indem er als Religion negiert wird“ (S. 320). Als Ideologie steht der Islam dann im langen Schatten eines anderen „leicht abrufbaren Narrativs“ (ebd.): der Besatzung der Niederlande durch das faschistische Deutschland.

So bedient man und nutzt man Narrative ohne sie zu erzählen, und Religion spielt ihre machtvolle Rolle, indem sie zur Nicht-Religion erklärt wird, und doch als bedrohlicher Schatten des Säkularismus zur Wirkung kommt. (ebd.)

Grieser bleibt – und das unterscheidet ihren Beitrag wohltuend von vielen anderen – aber auch eine metasprachliche Klärung des ‚Narrativ‘-Begriffs nicht schuldig. Narrative seien zu verstehen als „Basisoperationen der Weltaneignung, der kognitiven und interpretativen Verarbeitung und Gestaltung von Welt, auf allen Ebenen von Wahrnehmung, Subjektkonstitution und sozialem Zusammenhalt“ (ebd.). ‚Religion‘ stehe mit dieser Kategorie dann in einer doppelten Beziehung:

Sie plausibilisiert sich selbst durch Narrative, und sie stellt Narrative zur Plausibilisierung von Welt zur Verfügung. Sie generiert mit die haltbarsten Narrative von Kulturen, sie wird als Waffe im politischen Kampf eingesetzt, sie bietet politischen wie privaten Sinnsystemen narratives ‚Material‘, sei es zur Begründung eines gerechten Krieges oder dazu, was in einer Gesellschaft als ‚guter Tod‘ gilt und welche Möglichkeiten sie bietet zu sterben. (S. 321, Hervorhebung im Original)

Ihrer eigenen Theoriepräferenz entsprechend plädiert Grieser dafür, die Wirksamkeit und Dynamik dieser Narrative in einem religionsästhetischen Rahmen zu rekonstruieren. Innerhalb dieses Rahmens bietet sie dann auch Unterscheidungen an, welche die im ‚Narrativ‘ großzügig gebündelten Phänomene im Einzelnen greifbar machen. Von Bedeutung wird dabei, im Anschluss an Berger / Luckmann (1966), insbesondere der Aspekt der Plausibilität bzw. Plausibilisierung: „Narrativität als Organisationsform der Herstellung von Plausibilität – diese Sichtweise bietet ein Schlüsselkonzept, um Religion als kulturellen Faktor zu verstehen“ (S. 323). Angesichts der tendenziell entdifferenzierenden Rede von ‚Narrativen‘ lohnt es sich, die superlativische Auszeichnung von Religion als Generator „haltbarste[r] Narrative“ zu betonen (S. 321). Hier wird mit der Haltbarkeit ganz beiläufig ein Kriterium eingeführt, das zur Unterscheidung von Narrativen (wohl nicht nur religiösen von nichtreligiösen) weiter zu bedenken wäre.

Zu den Sektionen

Die erste Sektion des Bandes wendet sich einer Spielart von Erzählungen zu, die im Blick auf die Religionsproblematik zweifellos eine zentrale Stellung einnimmt: die lebensgeschichtliche Erzählung, also die Integration eigener und fremder Erfahrungen und Entwicklungsprozesse durch narrative „Biographiearbeit“ (Sektionseinleitung Kratzert, S. 85). Dieses Terrain wird auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichster Weise bearbeitet: Albrecht Grözinger (ev. Theologie) hält ein engagiertes Plädoyer für die „[r]iskante[n] Freiheiten“, die „Protestantismus und Lebensgeschichte“ unter den verschärften Bedingungen der ‚Postmoderne‘ verbinden; Gabriela Brahier fragt anhand von Max Frischs literarischen Etüden nach der „Personale[n] Identität als lebensgeschichtliche Selbstkonstitution und [den] Grenzen lebensgeschichtlichen Erzählens“; Jan Kruse (Soziologie) und Georg Wagensommer (Pädagogik) bieten einen Überblick „Sozialwissenschaftliche[r] Analyseansätze im Kontext qualitativer Religionsforschung“; Petra Bleisch Bouzar (Rw.) wendet sich in systematischer Absicht „Narrative[n] der persönlichen (religiösen) Erfahrung“ zu; Nadja Miczek (Rw.) bietet Einblick in „Narrative Konstruktionen religiöser Identitäten“ auf dem Feld der Esoterik; Frank André Weigelt (Ethnologie) fragt „Wer spricht im ethnographischen Text?“ und exponiert „Überlegung zur methodischen Umsetzung einer ‚Pluralität der Stimmen‘, Interpretationen und Autorschaften.“

In dieser Sektion ragt der Beitrag des mittlerweile emeritierten Philosophen Emil Angehrns, der eine hermeneutisch-philosophische Entfaltung des „[e]rzählte[n] Selbst“ liefert, deutlich heraus (S. 89-108). Auf der breiten Basis früherer Arbeiten bietet er eine ebenso anspruchsvolle wie klare Entfaltung eines Modells narrativer Identität. Das in Frage stehende Verhältnis der Leitbegriffe ‚Geschichte‘ und ‚Identität‘ – aphoristisch verdichtet in Wilhelm Schapps Diktum „Die Geschichte steht für den Mann“ – wird von Angehrn über das breitere Begriffsnetz von ‚Sinn‘, ‚Zeit‘ und ‚Erzählung‘ expliziert. Im Zuge dessen bietet er prägnante Paraphrasen etwa der Positionen Arthur C. Dantos oder Paul Ricœurs, die auch NichtphilosophInnen zugänglich sein dürften. Seine Ausführungen werfen aber auch ein Licht auf die Argumentationspraxis anderer Beiträge: Wird in nicht wenigen die Rede von individueller oder kollektiver Selbst-Konstruktion als scheinbar selbstverständlich angenommen, erweist sich Angehrns Schema verstehender Selbstbeschreibung als instruktiver Kontrapunkt. In existenzial-hermeneutischem Kontext erscheint ‚Konstruktion‘ als ein Modus, der präzise auf zwei andere bezogen ist:

Schematisch können wir drei Grundhaltungen unterscheiden, in denen wir uns sowohl im alltagsweltlichen Verstehen wie in Kulturpraktiken und Wissenschaften um das Verständnis von Sinn bemühen: ein rezeptives Aufnehmen von Bedeutungen und Sinngestalten, ein kritisches Auflösen falscher Deutungen und Selbstbilder, ein konstruktives Entwerfen neuer Interpretationen. Sich um ein Verständnis seiner selbst bemühen, heißt zum einen, sich erkennen wollen in seinem Sein und Gewordensein, zum anderen, sich kritisch mit Bildern auseinandersetzen, die ich und andere von mir haben, Verzerrungen und Verdrängungen in meinen Selbstverständnis korrigieren, und drittens, ein Bild konstruieren, eine Geschichte erzählen, in denen ich mich finde, und über die ich ein Verständnis meiner selbst gewinne. (S. 94, Hervorhebung von mir, A.M.)

Kollektiv und Narration: Der Weite des Titels gemäß kommt auch in der zweiten Sektion Verschiedenstes zur Sprache: Stephanie Gripentrog (Rw.) untersucht die „[n]arrative Konstruktion kollektiver Identität“ anhand der religiösen Dimensionen der Staatsgründungen Israels und der Türkei; Rafaela Eulberg (Rw.) widmet sich „Diasporische[n] Narrative[n] sri-lankisch tamilischer Hindus“ in der Schweiz; Bernhard Lange (Rw.) exploriert „[d]ie soziale Wirksamkeit von Plot und Gegenplot“ in der säkular-gerichtlichen Entscheidung einer jüdischen Streitfrage; Lukas Röslis (Nordistik) Interesse gilt den „Erschriebenen und gespiegelte[n] Welten“ der Prosa-Edda und schließlich bietet Adrian Hermann (Rw.) unter dem Titel „Differenzierungsnarrative“ lesenswerte „Narrationsbezogene Überlegungen zum Verhältnis von ‚Religion‘ und ‚Wissenschaft‘ in modernen buddhistischen Kontexten“. In der zweiten Sektion ist der Beitrag von Hermann (S. 295-318) von besonderem Interesse, weil er den Akzent ganz auf Erzählphänomene im wissenschaftlichen Diskurs legt und dabei u.a. Einblick bietet in die neuere Rezeption der entsprechenden Untersuchungen Hayden Whites. Das argumentative Niveau dieses Beitrags steht leider in deutlicher Spannung zur Sektionseinleitung, die Hermann gemeinsam mit Stephanie Gripentrog formuliert hat (S. 223-229). Hier liefern die Autoren ein Schulbeispiel für eines der einschlägigsten Dont’s wissenschaftlichen Schreibens: Explizit interessiert an einem einheitlichen Thematisierungshorizont referieren sie zunächst ausführlich eine theoretische Position (die Diskurs- bzw. Hegemonietheorie von Laclau / Mouffe; Stäheli 1999), für die Darstellung der einzelnen Beiträge bleibt diese aber völlig folgenlos.

Schließlich die Beiträge der dritten, dem transmedialen Erzählen gewidmeten Sektion: Hubert Mohr (Rw.) stellt „[t]ransmediales Storytelling“ als „Konzept auch für die Religionwissenschaft“ zur Debatte; Lucius Kratzert (ev. Theologie) thematisiert „Rhetorizität und Narrativität als Grundbedingungen protestantischen Predigens“; Franziska Trischler (Sprecherziehung) repliziert mit rhetorisch untersuchten „Erzählungen in katholischen Predigten“; Anna-Katharina Höpflinger (Rw.) fragt am Beispiel des Runensteins von Altuna nach der „Narrativität von Bildern“ und Simona Chaudhry Ferraro und Lucia Stöckli (Rw.) widmen sich „[n]arrative[r] Architektur. Hindu-Tempel und Moscheen als ‚Geschichtenerzähler‘“.

Ein repräsentatives Beispiel: der Aufsatz Miczeks

Um die vielfältigen Problemlagen wenigstens exemplarisch zur Geltung zu bringen, sei genauer verwiesen auf einen Aufsatz aus der ersten Sektion: Nadja Miczeks Überlegungen zu narrativen Konstruktionen esoterisch-religiöser Identitäten (S. 191-204). Wie auszuführen sein wird, kann er, jenseits der konkreten Thematik, als repräsentativ gelten für zwei Charakteristika, die auch in vielen anderen Beiträgen auszumachen sind.

Auf der Grundlage narrativer Interviews mit Akteuren des esoterisch-religiösen Milieus fragt Miczek, wie diese

Narrationen nutzen, um ein kohärentes und in einer gewissen Kontinuität stehendes Identitätsbild aufzubauen und insbesondere, wie sie innerhalb dieses Prozesses mit der Vielfalt unterschiedlicher religiöser Elemente umgehen, auf die sie derzeit zugreifen können. (S. 193; im Hintergrund steht auch hier eine Dissertation: Miczek 2013)

Miczek kann zeigen, dass die Kohärenz und Kontinuität religiöser Selbsterzählungen insbesondere durch zwei „bedeutende Muster“ (S. 195) erzeugt werden: der Vorstellung des individuellen Lebens als „Weg“ und die religionstheoretische Hintergrundannahme, „dass letztlich ‚alles eins‘“ sei (S. 196). Das Weg-Muster erlaubt es, vergangenes, gegenwärtiges und – qua Reinkarnationsvorstellung – allenfalls auch künftiges Leben in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringen; positive wie negative Erfahrungen (letztere positiv reinterpretiert als „Lernaufgaben“) können so als Elemente eines teleologisch gerichteten Prozesses zur Darstellung kommen. Eine analoge Integrationsleistung bietet angesichts der Vielfalt ebenso traditionell kirchlich-christlicher wie esoterischer Strömungen die Annahme „der einen religiösen Wahrheit“ (S. 196).

Nach Nennung einer Reihe von entsprechend kommentierten Belegen für den Einsatz „felddominate[r] narrative[r] Muster […] und Topoi“ lenkt Miczek in einem neuen Abschnitt den Blick auf „Positionierungsakte“, verstanden als einer von „zahlreichen weitere[n] Prozesse[n]“ religiöser Identitätsarbeit (S. 198). Was hier zur Debatte steht, ist der Zusammenhang von Selbst- und Fremdpositionierung im Zuge von Sprechhandlungen (als theoretische Referenz fungiert primär das Modell der „Narrationsanalyse“ von Lucius-Hoene / Deppermann 2002). Miczek konzentriert sich auf zwei Gesichtspunkte: die Positionierungen ‚esoterisch‘ oder ‚spirituell‘ im Sinn einer Binnendifferenzierung des esoterischen Feldes und feldübergreifende Positionierungen zwischen ‚Esoterik‘ und ‚Christentum‘. Wie sich bereits zeigte, ist letzteres Verhältnis für viele Akteure klärungsbedürftig aus Gründen ihres Herkunftsmilieus. Anhand der Quellen lässt sich zeigen, dass hier aber oft gerade kein schlichtes „In / Out-Schema“ (S. 200) spielt. So zeichnet eine der Akteurinnen etwa ein sehr düsteres Bild der katholischen Tradition (Hexenverbrennung, Kreuzzüge), nimmt die Lehre Jesu (Bergpredigt, Nächstenliebe) aber von jeder Kritik aus. Sie wird in der Selbstpositionierung aus dem Feld des fremdpositionierten institutionellen Christentums herausgelöst und kann allenfalls, etwa durch die Annahme, Jesus habe eine Reinkarnationslehre vertreten, auch ganz ins eigene religiöse Identitätscluster integriert werden. – In welchen Hinsichten ist der paraphrasierte Beitrag nun aber repräsentativ für den gesamten Band?

Zwei Charakteristika: Desinteresse an einer Binnendifferenzierung, Desinteresse an externer Distinktion

Es ist nicht der zusammenfassenden Darstellung geschuldet, wenn im obigen Referat keine narratologischen Unterscheidungen ins Spiel kamen (‚narratologisch‘ auch in einem weiten Sinn, s.u.). So zentral der Begriff der Narration angesetzt wird, er ist primär Gegenstand externer Relationierung. Eine interne Ausdifferenzierung durch ein terminologisches Feld, das die Spezifik bestimmter Erzählphänomene einzuholen erlaubte, erfolgt nicht. Wenn Miczek von „Erzählräumen“, „erzählerischen Entwürfen“, vom „Erzähler“ (S. 191), von „narrativen Mustern“ (S. 195), „narrativen Ausgestaltungen“ (S. 200) oder „Erzählstrukturen“ (S. 202) spricht, so sind dies durchgängig globale Kategorien, die in Hinsicht auf das divergierende Erzählmaterial ohne Präzisierung bleiben. Liest man in der Sektionseinleitung, Miczek würde ihr Quellenmaterial „mit Hilfe narratologischer Methodik“ (S. 87) sichten, so ist das – den handelsüblichen Narratologie-Begriff vorausgesetzt – schlicht falsch. Unsicherheit besteht in den Beiträgen aber nicht nur bezüglich dessen, was „narratologische Methodik“ strictu sensu meinen könnte, sondern auch auf den Narratologie-Begriff selbst. Entgegen der sinnvollen wissenschaftssprachlichen Konvention, durch die -logie-Endung die Reflexionsebene anzudeuten, die Thematisierung eines objektsprachlichen Phänomens im Kontext eines höherstufigen Fachdiskurses, wird diese Ebenendifferenz hier gelegentlich eingezogen. In Bezug auf die Erzählungen der Edda ist etwa davon die Rede, dass „[g]leich zu deren Beginn […] die Spiegelung als konstruierendes, narratologisches Prinzip eingeführt“ werde (S. 289; vgl. auch 291 und passim). Ausführlich zu diskutieren – im Horizont des Einzelbeitrags wie in dem des Bandes – wäre eben auch der inflationäre Gebrauch des seinerseits global grundierten ‚Narrativ‘-Begriffs. Über das zitierte Verständnis Griesers hinaus (und ungeachtet anderer etablierter Bestimmungsangebote2 fungiert er u.a. als Synonym zu „Erzählung / Narration“ (S. 13, passim), als globales Interpretationsmuster („Narrativ [des] Judentum[s] als Ethnie versus Judentum als Religion“, S. 266, Hervorhebung im Original), als Bezeichnung eines Traditionsmotivs („das Narrativ von Engeln als himmlische Wesen“, S. 337) oder auch als Gegenbegriff zu „expliziter Argumentation“ (S. 320).

Die zweite Charakteristik, die sich vom referierten Beitrag ausgehend identifizieren lässt, betrifft in gewisser Weise einen Gegenpol: Die Mehrheit der Texte zeigt auch wenig Interesse an dem oder den Anderen der Narration. Wie ausgeführt, verweist Miczek in einem eigenen Abschnitt auf den Aspekt identitätsbildender Selbst- und Fremdpositionierungsakte, auf die Aushandlungen innerhalb des esoterischen Feldes oder zwischen ‚Esoterik‘ und ‚Christentum‘. Auch bzw. gerade wenn diese Überlegungen auf der Basis narrativer Interviews angestellt werden, wäre doch zu fragen, was die Eigenart dieser primär begrifflichen Distinktionen ist. Es stellt sich, anders gesagt, die Frage, ob das, was in der formalen Thematisierung wiederholt amalgamiert wird – die „Erzähl- und Argumentationsschemata“ (S. 195) –, nicht auch auf Differenzen hin auszuloten wäre. Denn nimmt man wahr, was zumal in nichtliteraturwissenschaftlichen Kontexten als Antagonist des Erzählens fungiert, ist das regelmäßig die Argumentation, der begrifflich-rationale Diskurs. Hier sofort auf die Synthesen eines „argumentierenden Erzählens“ bzw. „erzählenden Argumentierens“ zuzusteuern (was Miczek freilich nicht explizit tut), könnte nachteilig sein, weil dadurch leicht die Differenz textinterner und textexterner Aussage- und Funktionszusammenhänge überspielt wird.

Das Problem, das hier anhand des Verhältnisses Erzählung / Argumentation aufbricht, ist in anderen Varianten auch in weiteren Beiträgen erkennbar. In manchen Fällen bekommt der Begriff ‚Erzählung‘ eine Extension, die ein starkes Bedürfnis nach Unterscheidungen weckt, nach Darstellungsmodi und Phänomenen, die nicht ‚irgendwie‘ auch ‚narrativ‘ (oder Teil eines ‚Narrativs‘) sind. Das Problem dieses latenten Pannarrativismus bricht, wie zu erwarten, am stärksten auf in der dritten Sektion zum transmedialen Erzählen. Hier muss zur Sprache kommen, dass literarische Texte anders erzählen als Musik oder auch Architektur. Damit steht einerseits die Grundfrage nach dem Verständnis von Narrativität zur Debatte, seiner Ausrichtung etwa am Kriterium kommunikativer Intentionen (wie in der Mehrheit der Beiträge der Fall). Nicole Mahne wirft in ihrer Respone mit Bezug auf den Beitrag von Lucius Kratzert denn ihrerseits die Frage auf nach den Unterscheidungsverlusten infolge einer „Entgrenzung des Erzählbegriffs“ (S. 424). Und sie erinnert an die diesbezüglichen Entwürfe Werner Wolfs und Marie-Laure Ryans, insbesondere an Ryans Vorschlag der Unterscheidung von „being a narrative“ und „having narrativity“ (S. 424 bzw. Ryan 2004, S. 9; wobei letzteres die Fähigkeit eines Objekts bezeichnet, unabhängig von – hypothetischen – auktorialen Darstellungsabsichten in der kognitiven Verarbeitung ein „narrative script“ zu evozieren). Andererseits geht es jenseits des Intentionalitätsaspekts schlicht um die Grunddifferenz von Interpretandum und Interpretans: um die bewusste Unterscheidung eines Redens von ‚Erzählung‘, ‚erzählen‘, ‚narrativ‘ etc., das die Sphäre des Interpretierten (das Objekt der Interpretation) betrifft oder eben die Sphäre des Interpretierenden, der Nutzung der Narrationsbegrifflichkeit als Medium des Interpretierens. Erst diese Unterscheidung erlaubt es, im konkreten Kontext etwa über Nutzen und Nachteil der Wahrnehmung einer Argumentation als Argumentation oder als Erzählung nachzudenken.

Narratologische Theorieangebote

Mit diesen problematisierenden Hinweisen soll, um ein allfälliges Missverständnis klar auszuschließen, der Religionsforschung auf keinen Fall ein Narratologie-Obligatorium auferlegt werden, eine zwingende Orientierung an den entsprechenden primär literaturwissenschaftlichen Theorieangeboten. Angesichts der wissenschaftskonstitutiven Pluralität disziplinärer Erkenntnisinteressen, Methodenstandards und Begrifflichkeiten wäre es unsinnig, jeder Rede von ‚Erzählung‘ eine mitlaufende erzähltheoretische Positionierung und Entfaltung abzuverlangen. Aufgrund der ausdrücklichen „Narrationsbezogenheit“ der vorgelegten Aufsätze erstaunt aber doch das ausgeprägte Desinteresse selbst an minimalen analytischen Schärfungen dieses Bezugsphänomens – etwa entlang eines elementaren Satzes wie: Wer erzählt wem was wie wozu? Dies wäre ein denkbarer (kommunikationstheoretisch inspirierter) Grund-Satz einer Narratologie in einem weiten Sinn. Ein einfaches Schema dieser Art, das in der schriftlichen Darlegung auch latent bleiben kann, erfüllt bereits die Funktion grundlegender Orientierung: Es erlaubt zu entscheiden, welche Aspekte eines narrativen oder als ‚narrativ‘ interpretierten Objekts innerhalb eines größeren Fragezusammenhangs in den Blick kommen könnten – und welche nicht. Dass die vielfältigen Angebote der Narratologie im engeren Sinn (und sei es nur anhand der leicht greifbaren neueren Basisliteratur: u.a. Martínez 2011, Hühn et al. [Hg.] 2014, Schmid 2005) darüber hinaus eine erhebliche Präzisierung der jeweiligen Akzentsetzung erlauben, dies ist nicht zuletzt den – wenigen – Beiträgen zu entnehmen, die sich erkennbar auf diese Angebote einlassen (Hermann, Lange, Mohn, Mohr, Weigelt). Der produktive Ertrag des theoretischen Widerstands zeigt sich, scheint es, am deutlichsten, wenn nicht mehr oder minder virtuelle ‚Narrative‘, sondern manifest vorliegende Erzählungen in den Blick kommen. Auch im Fall Miczeks könnten insofern manche Befunde noch (terminologisch) geschärft werden. Als Beispiel für das Weg-Muster, für die erzählerische Verankerung der späteren esoterischen Orientierung der Akteurin in ihrer Kindheit, zitiert Miczek etwa den Satz: „Ich hab auch von klein auf an meditiert, ohne es eigentlich zu wissen, also das war wirklich mir in die Wiege gelegt [sic]“ (S. 197). Dieser move wäre innerhalb einer Analyse des Erzähler-Parameters3 (genauer: der ontologischen Bestimmung der Erzählinstanz) zu fassen als Zusammenspiel des ‚erzählenden‘ und des ‚erlebenden‘ Ich: Das autodiegetisch erzählende Ich berichtet retrospektiv, was dem erlebenden Ich damals widerfuhr. Die Pointe der narratologischen Beschreibung dieses Satzes, die zur religionswissenschaftlichen Pointe transformiert werden kann, liegt in der Erkenntnis der maximalen Annäherung beider Ich-Instanzen in Gestalt einer restlosen Überformung des erlebenden durch das erzählende Ich. (Für ein Kontrastexempel denke man an die Bekehrungserzählung eines Ex-Nazis, in der das erzählende zum erlebenden Ich vermutlich auf möglichst große Distanz gehen wird.)

Jenseits solcher Beschreibungsgewinne würde bereits ein punktueller Rekurs auf erzähltheoretische Unterscheidungen eben auch deutlich machen, was selbst das nuancierteste narratologische Instrumentarium bekanntlich nicht leistet: Es ersetzt nicht eine Erzähltextinterpretation, die die Ergebnisse der Erzähltextanalyse als Material höherstufiger Bedeutungszuschreibungen nutzt. Wenn es nicht bei vielleicht fleißigen, aber auch leicht sterilen Analysen von Textphänomenen bleiben soll, müssen externe Relationen eröffnet werden bzw. worden sein, da diese Bezüge ja immer schon zirkulär die Selektion der Aspekte mitbestimmen, die in der Analyse zum Zuge kommen. Die fraglos erläuterungsbedürftige Unterscheidung beschreibender und interpretativer Aussagen4 dürfte gerade im Zusammenhang dezidiert funktionaler Erkenntnisinteressen von Belang sein, die im diskutierten Band ja im Vordergrund stehen. Dass eine Erzählung textintern so oder anders angelegt ist, sagt für sich genommen nichts aus über eine allfällige Funktion im textexternen Zusammenhang religiöser Identitätsbildung. Sie lässt sich allenfalls aus guten Gründen in diesem Sinn interpretieren – und diese Gründe können durch einen narratologisch geschärften Blick nur besser werden.

Fazit

Liegt die Stärke des Bandes vor allem en detail, auf der Ebene des gelungenen Einzelbeitrags – was nicht wenig ist, denn so wird er rezipiert werden –, so gibt er en grand zu verschiedenen Rückfragen Anlass. Diese Rückfragen verdanken sich primär einer gewissen Laxheit hinsichtlich der Leitgrößen ‚Narration‘ und ‚Religionsforschung‘ und gleichzeitigen uneingelöst bleibenden konzeptuellen Ansagen. Durch eine entschiedenere Orientierung vor allem am Narrationsbezug hätte der prägnante Begriff der „Konstruktionsgeschichte“ – der in den Beiträgen kaum eine Rolle spielt – noch stärker an Kontur gewonnen. Der Band wäre einheitlicher geworden, weil nicht nur der eingangs erwähnte Aufsatz Schneiders an anderem Ort erschienen wäre, sondern auch der mit 34 Seiten umfangreichste Aufsatz der Sektion zum lebensgeschichtlichen Erzählen (die Revue „Sozialwissenschaftliche[r] Analyseansätzen im Kontext qualitativer Religionsforschung“ von Jan Kruse und Georg Wagensommer). So instruktiv er ist, auch hier fehlt ein direkter Narrationsbezug. Damit wäre der Band um einiges schlanker geworden – und nicht zuletzt auch diese Rezension.

Literaturverzeichnis

Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas (1966): The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. New York.

Finnern, Sönke (2010): Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28. Tübingen.

Ganzevoort, R. Ruard et al. (2014) (Hg.): Religious Stories We Live By: Narrative Approaches in Theology and Religious Studies. Leiden.

Geertz, Armin W. / Jensen, Jeppe Sinding (2011) (Hg.): Religious Narrative, Cognition, and Culture: Image and Word in the Mind of Narrative. London.

Hühn, Peter et al. (2014) (Hg.): The living handbook of narratology. Hamburg.
URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de (20.10.2014).

Jahraus, Oliver (2004): Literaturtheorie. Tübingen.

Kammer, Stephan / Lüdeke, Roger (2005) (Hg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart.

Koschorke, Albrecht (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M.

Lahn, Silke / Meister, Jan Christoph (2008): Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart.

Lucius-Hoene, Gabriele / Deppermann, Arnulf (2002): Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Heidelberg.

Martínez, Matías (2011) (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart.

Miczek, Nadja (2013): Biographie, Ritual und Medien. Zu den diskursiven Konstruktionen gegenwärtiger Religiosität. Bielefeld.

Müller-Funk, Wolfgang (2002): Die Kultur und ihre Narrative. Eine methodologische Einführung. Wien 2007.

Ryan, Marie-Laure (2004): Narrative across Media. The Language of Storytelling. Nebraska.

Schmid, Wolf (2005): Elemente der Narratologie. Berlin 2014.

Spoerhase, Carlos (2010): „Strukturalismus und Hermeneutik. Über einige Schwierigkeiten strukturaler Verfahren im Spannungsfeld von Textanalyse und Interpretation“. In: Hans-Harald Müller (Hg.), Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910-1975. Göttingen, S. 13-38.

Stäheli, Urs (1999): „Diskursanalytische Hegemonietheorien: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe“. In: André Brodocz et al. (Hg.), Theorien der Politik. Opladen, S. 143-166.

Strohmaier, Alexandra (2013) (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld.



Andreas Mauz, Dr. theol. des., lic. phil.
Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR)
Theologische Fakultät Zürich
Kirchgasse 9
CH-8001 Zürich
E-Mail:
andreas.mauz@access.uzh.ch
URL:
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1 Um nur einige Diskurse zu nennen, die im Interesse einer reichhaltigeren Beschreibung des Feldes „narrationsbezogener Religionsforschung“ in den Blick kommen könnten – gerade weil die Schwerpunkte innerhalb des Bandes andere sind: die literatur-, religionswissenschaftliche und theologische Literatur-und-Religion-Forschung, die bibelwissenschaftliche, die altphilologische und die mediävistische Narrationsforschung, die Entwürfe „narrativer Theologien“, die (theologische) Erforschung „narrativer Ethik“. Aufgrund der Ausrichtung der Beiträge erstaunt insbesondere auch die Absenz von Bezugnahmen auf den Sammelband von Geertz / Jensen (2011) und die erwähnte „Allgemeine Erzähltheorie“ Koschorkes, die als derzeit wohl ambitioniertester Versuch der Verbindung von Erzähl- und Kulturtheorie gelten kann. Zur Debatte neuerdings auch Ganzevoort (2014) und Strohmeier (2013).

2 Vgl. u.a. Müller-Funk 2002; Koschorke 2012.

3 Wenn die Erzählinstanz in vielen Fällen im Kontext der Diskursdimension diskutiert wird, so scheint mit Lahn / Meister (2008) viel dafür zu sprechen, sie aufgrund ihrer systematischen Bedeutung als eigenständiges Phänomen neben (genauer: ‚zwischen‘) Diskurs und Geschichte zu sehen. Vgl. Lahn / Meister 2008, 15ff. und 59f.

4 Vgl. u.a. Spoerhase 2010; Jahraus 2004, 338-361. Zur Wiederkehr der Differenz innerhalb des narratologischen Instrumentariums: Lahn / Meister 2008, 102f.