Christoph Bartsch

Von sprachlichen Formen zu mentalen Räumen

Barbara Dancygier stellt ein kognitiv-linguistisches Beschreibungstool für die Analyse der Bedeutungsgenerierung in Erzähltexten vor

Barbara Dancygier: The Language of Stories. A Cognitive Approach. Cambridge: Cambridge University Press 2012. 228 S. EUR 79,70. ISBN 978-1-107-00582-2

Kognitionswissenschaftliche Prosperität in der Sprach- und Erzählforschung

Der cognitive turn affizierte die Sprachwissenschaft und die Erzählforschung gleichermaßen. Inzwischen sind ‚kognitive Linguistik‘ und ‚kognitive Narratologie‘ fest etablierte Spezialgebiete in ihren jeweiligen Disziplinen. Die Applikation von Prämissen und Ergebnissen der Kognitionswissenschaft auf die Erzählforschung wird – holzschnittartig betrachtet – von zwei Strömungen getragen: (1) Zum einen wird auf kognitionspsychologische Konzepte zurückgegriffen wie beispielsweise auf Beschreibungen von Inferenzprozessen als kognitive Schemata und mentale Modelle. Es wird auch versucht, sozial- und emotionspsychologische Einsichten für die Analyse von Figuren und deren Handlungsweisen fruchtbar zu machen oder die affektive Anteilnahme des Rezipienten an ihrem ‚Schicksal‘ bzw. die immersive Wirkung von Erzählungen im Allgemeinen (seien es etwa literarische Texte, Filme oder Computerspiele) zu erklären. Das Erkenntnisinteresse liegt bei diesen Zugriffen auf der Identifizierung und Beschreibung jener kognitiven Verarbeitungsmodi, die sich für die mentale Projektion einer erzählten Welt (storyworld) verantwortlich zeichnen. Sie re-konzeptualisieren narratologische Parameter wie Ereignis, Temporalität, Kohärenz, Kausalität oder Motivation. (2) Eine zweite Strömung der kognitiven Narratologie richtet ihren analytischen Fokus verstärkt auf die diskursive (Mikro-)Ebene von Erzählungen, indem sie grammatische und stilistische Signifikanzen, also die Textur der sprachlichen Darstellung im Hinblick auf die Sinngenerierung des Gesamttextes untersucht. Betrachtet wird die Narration unter Rückkopplung an konversationsanalytische Paradigmen als sprachlich kommuniziertes Artefakt, so dass etwa das Erzählen in Bildern weitgehend außen vor bleibt. Als Zugriff dienen hier nicht Erkenntnisse der psychologischen Fachrichtungen, sondern Theoreme und Konzepte der kognitiven Linguistik (z.B. Arbeiten zur kognitiven Grammatik oder konzeptuellen Integration). Vor allem narratologische Parameter der erzählerischen Vermittlung (wie etwa Erzählsituation, Modus, Stimme, Perspektive) werden in diesem Sinne reflektiert und neu bewertet. Die von der Sprachwissenschaftlerin Barbara Dancygier jüngst vorgelegte Studie The Language of Stories kann der zweiten Strömung zugerechnet werden.

Die Sinnfrage – und eine kognitiv-linguistische Antwort

Auf der ersten Seite wird die Monografie durch die Leitfrage motiviert, „how do stories construct meaning?“ (S. 4) Dieser Frage nachgehend versucht die Autorin, linguistische Formen freizulegen, die im Rezeptionsverlauf die Bedeutungskonstitution narrativer Texte anregen, denn „[m]eaning construction […] relies on the specific word and grammar choices“ (S. 5). Durch eine kognitiv-orientierte Sprachanalyse der Mikro-, sprich Satzebene lasse sich die Bedeutungsgenerierung auf makrostruktureller Ebene nachvollziehen: „What […] this book aims at is describing the consequences of lower-level linguistic choices at the higher levels of narrative discourse“ (S. 7).1 Ein narrativer Sinngehalt stelle sich nämlich nicht aufgrund einer linearen Dekodierung aufeinanderfolgender Bedeutungseinheiten ein, vielmehr unterliege er der Dynamik eines komplexen Zusammenspiels kognitiver Prozesse, die synchron und bidirektional auf mehreren Ebenen aktiv seien. Bedeutung wird nicht als eine dem Text inhärente Eigenschaft verstanden, sondern als eine Konstruktionsaktivität des Lesers. Um diese mentalen Operationen zu markieren, bedient sich Dancygier des kognitionswissenschaftlichen Beschreibungsmodells der mental spaces theory und des conceptual blending, das sich nicht nur innerhalb der kognitiven Linguistik, sondern auch innerhalb der Narratologie als ein in jüngerer Zeit häufig genutztes Tool etabliert hat.2

Bevor die Autorin ihr analytisches Rüstzeug entwickelt, skizziert sie im einführenden der insgesamt acht Kapitel aktuelle Forschungspositionen zum Komplexbereich Kognition – Sprache – Narration und steckt damit das theoretische Feld ab, in dem sie ihren eigenen Zugriff verortet. Schnell wird deutlich, dass es offenbar trotz des interdisziplinären Anspruchs keine Zielsetzung der Monografie ist, eine eingehende Auseinandersetzung mit narratologischen Paradigmen vorzuführen. Dancygiers Positionsbestimmung diskutiert zahlreiche Theorien, die dem disziplinären Umfeld der Kognitionswissenschaft, der Evolutionspsychologie, der Sprachphilosophie und eben der kognitiven Linguistik zuzurechnen sind, literaturwissenschaftliche bzw. erzähltheoretische Ansätze werden hingegen, wenn überhaupt, eher tangiert, statt tiefergehend verhandelt.

Im zweiten Kapitel wird das zentrale Beschreibungsinstrumentarium ins Spiel gebracht, das Konzept der mental bzw. narrative spaces und des conceptual blending. Eine nähere Einführung in das ursprünglich von Gilles Fauconnier entwickelte und gemeinsam mit Mark Turner erweiterte Modell (grundlegend: Fauconnier / Turner 2002) erfolgt kaum. Stattdessen handelt Dancygier auf wenigen Seiten die theoretischen Grundlagen ab, auf denen ihre eigene Auslegung des Modells fußt und die für ihr erzählanalytisches Anliegen am operabelsten seien („I will elaborate the blending framework in ways which best respond to the needs of accounting for narrative discourse“, S. 32). Zwar dürften auch voraussetzungslose Leser, die mit Fauconniers und Turners Modell(en) nicht oder wenig vertraut sind, keine Schwierigkeiten haben, Dancygiers Ausführungen zu folgen, der Verzicht auf die Darstellung der Modellgenese wirkt jedoch etwas intransparent. Zumal auch hier keine Bezugnahme auf bestehende Forschungsarbeiten aus dem Schnittbereich mental spaces / blending und ‚Erzählanalyse‘ erfolgt. Die Wahl der mental spaces / conceptual blending theory als Methode wird nicht etwa mit deren vermeintlich empirischer Fundiertheit gerechtfertigt. Dancygier räumt im Gegenteil ein, dass es für das konzeptuelle blending keine empirischen Nachweise gäbe (S. 35, vgl. auch Sanford / Emmott 2012, 70). Vielmehr wird diese Methodenentscheidung mit der elaborierten Konsistenz und bewährten Praktikabilität des Modells begründet. Nach der kurzen Einführung geht sie dazu über, ihr Analysetool anhand narrativer Textbeispiele sukzessive weiter auszubreiten. Unter ‚narrativen‘ Texten versteht Dancygier fiktionale literarische Prosatexte (vornehmlich Romane).

Die Taxonomie von narrative spaces – Neue Etikette auf alten Konserven?

Narrative spaces sind mentale Konstrukte, induziert durch narrative (Teil  )Strukturen, die zwar im Einzelnen voneinander topologisch distinkt sind, jedoch auf makrostruktureller Ebene agglomerieren, sich überschneiden, sich vermischen (vgl. S. 36). Solche neuen Integrationen konzeptueller Einheiten – sog. blendings – evozieren laut Dancygier die Bedeutungskonstruktion narrativer Texte: „An emergent story results from the blending of all of the text’s narrative spaces“ (ebd.). In prototypischen Erzähltexten ließen sich demnach mindestens zwei Taxa konzeptueller Räume freilegen: (1) Einen story-viewpoint space, der die Sprechsituation des Erzählers situiere und der den perspektivischen Rahmen der Makrostruktur bilde, und (2) einen main narrative space, in dem die eigentliche Geschichte beherbergt sei. Letzterer könne seinerseits wiederum mehrere und diese ebenfalls wiederum mehrere narrative spaces beinhalten.

Eine solche Verschachtelung konzeptueller Erzählräume führt Dancygier anhand des Romans The Blind Assassin (2000) von Margaret Atwood vor Augen. Dabei zeigt sie überzeugend, wie bestimmte Objekte oder auch abstraktere (Leit-)Motive als ‚Anker‘ („narrative anchors“, S. 42) fungieren können, um konzeptuelle Erzählräume verschiedener Ebenen miteinander zu verknüpfen. So kann z.B. auf einer Fotografie, die innerhalb einer Erzählung beschrieben wird (ein narrative space innerhalb des main narrative space), ein Requisit zu sehen sein, das ebenfalls in einer Figurenrede erwähnt wird (ein weiterer narrative space), so dass beide Räume gekoppelt werden und eine Überführung von Informationen initiiert wird („cross-input projection“, ebd.). Dancygier erkennt in einem solchen Prozess das narrative Korrelat zu dem von der kognitiven Linguistik beschriebenen Phänomen der „frame metonymy“ (S. 33), bei der durch einen sprachlichen Ausdruck ein mit ihm assoziierter frame in seiner Gesamtheit mit aufgerufen wird (z.B. aktiviere der Satz „Irak ist das neue Vietnam“ den frame der US-amerikanischen Militärintervention in Vietnam und ein blending mit der US-Offensive im Irak mitsamt der spezifischen Bedeutungsimplikation – nur so erhalte der Satz überhaupt einen Sinn, vgl. ebd.). Dass globale Sinnzusammenhänge des narrativen Verstehens analog zu kognitiven Verarbeitungsprozessen auf lokaler Satzebene zu betrachten seien, ist die durchgängige These der Studie.

So überzeugend die Basis des Modells für die Untersuchung der textuellen Mikroebene ist, im Hinblick auf die Makroebene dürfte für die Narratologie nicht allzu viel dadurch gewonnen sein, von story-viewpoint space oder main narrative space zu sprechen, die unterm Strich narratologischen Kategorien wie ‚extra‘- und ‚intradiegetisch‘ im Sinne Gérard Genettes zu entsprechen scheinen.

Im dritten Kapitel widmet sich Dancygier den (fiktiven) Erzählern einer Geschichte. Wie oben skizziert, habe jede Erzählung einen story-viewpoint space, also einen ‚Aussichtspunkt‘ („vantage point“, S. 64), von dessen Warte aus das Erzählte überblickt werde. Das Erzähler-Konstrukt wird hier gewissermaßen als ein Fluchtpunkt verstanden, auf den sich alle Perspektiven der narrative spaces hin verdichten und der mehr oder weniger scharf konturiert sein könne. So unterscheidet Dancygier on-stage narrators von off-stage narrators. Auch hier zieht sie eine Analogie zu der kognitiven Verarbeitung linguistischer Kleinformen: Anders als der Satz „Tom schlug das Fenster ein“ gäbe es in dem Passivsatz „Das Fenster wurde eingeschlagen“ keinen on-stage Handelnden. Dennoch sei ein Verursacher des Fensterbruchs impliziter Bestandteil der Satzbedeutung, er verbleibe aber off stage (vgl. S. 63). Im übertragenden Sinne sei der on-stage Erzähler von Henri Fieldings Tom Jones (1749) klar als autonomer Sprecher im story-viewpoint space profiliert, er spricht den Leser direkt an, kommentiert die Erzählung und verantwortet den epistemischen Überblick auf das erzählte Geschehen. Der off-stage narrator in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) hingegen tritt nicht als eigenständige Instanz in Erscheinung, stattdessen wechselt die Perspektive unvermittelt zwischen den subjektiven Standpunkten und Gedankenströmen der Figuren („Ego-viewpoints“, S. 67) hin und her. Aber auch in solchen Fällen sei ein implizites Erzähler-Konstrukt bzw. ein story-viewpoint space außerhalb des main narative space als deiktisches Zentrum ermittelbar, von dem aus die durch das Präteritum als vorzeitig markierte Erzählung mitsamt den wechselnden und sich überlagernden (als narrative spaces konzeptualisierten) Figurenperspektiven orchestriert werde.

Dancygier bemängelt einen unreflektierten Gebrauch des narratologischen Konzepts eines ‚allwissenden‘ Erzählers, der nicht zwischen so unterschiedlichen narrativen Formen wie einem sich stetig einmischenden on-stage-Erzähler und einem ganz hinter den Gefühlswelten seiner Figuren zurücktretenden off-stage-Erzähler differenziere. Stattdessen betrachtet sie „[i]ntrusive narration and multi-Ego narration […] [as] two extremes along the spectrum of narratorial involvement“ (S. 75), d.h. je größer die räumliche, zeitliche und / oder epistemische Distanz zwischen story-viewpoint space und main narrative space inszeniert werde, desto mehr gewinne ersterer mit einem erzählenden Subjekt an Kontur (und umgekehrt). Als problematisch erweist sich allerdings Dancygiers eigener undifferenzierter Gebrauch der narratologischen Kategorie des ‚allwissenden Erzählens‘: Vermischt wird hier ein erkenntnistheoretischer Gebrauch des Begriffs, der die unbeschränkte Einsicht des Erzählers in die Bewusstseinsvorgänge der Figuren zu meinen scheint, mit der Erzählsituation des auktorialen Erzählens im Sinne Franz K. Stanzels, in dem der Erzähler durch ‚persönliche‘ Kommentare und moralische Wertungen seine eigene Anwesenheit markiert. Beide Erzählstile treten jedoch nicht notwendig gemeinsam auf (vgl. Martínez 2004, 141f.). Somit entpuppt sich Dancygiers on-off-stage-Unterscheidung lediglich als die Differenz von auktorialem und nicht-auktorialem heterodiegetischen Erzählen, unabhängig von der Allwissenheit – der perspektivischen Uneingeschränktheit – des Erzählers.

Neue Perspektiven auf narrative Räume – mentale Räume als narrative Perspektiven

In den vier Folgekapiteln setzt sich Dancygier mit zahlreichen Spielarten narrativer Vermittlung, Perspektivierung und referenzieller Bezugnahmen detailliert auseinander. Sie machen den stärksten Teil ihrer Abhandlung aus. Aufgrund der Vielfalt der betrachteten Erscheinungsformen und der Menge an Beispielen wird im Folgenden lediglich eine kleine Auswahl der Zugriffe etwas näher skizziert.

Der zentrale blending-Prozess, der sich für die sinngenerierende Konsistenz von Erzähltexten verantwortlich zeichne, ist nach Dancygier die Verdichtung von Perspektiven hin zu einem übergeordneten Standpunkt („viewpoint compression“):

[T]he multiplicity of viewpoints in narrative discourse is conceptually manageable because of a series of compressions bringing micro-level viewpoint up to the macro level of narrative spaces. Thus various partial and very local viewpoints are interpreted as contributing to or blending with the viewpoint of the narrative space currently being elaborated. (S. 97)

Bei der Wiedergabe von inneren Prozessen der Figuren unterscheide sich die sprachliche Repräsentation von Gedanken nicht wesentlich von der Präsentation von Figurenrede. Vielmehr gelte es, zwischen sprachlich repräsentierten Gedanken sowie ‚Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungskonzepten‘ („experiential conceptualizations“, S. 103) zu unterscheiden. Im letzteren Fall erhalte der Leser keinen eigentlichen Zugang zu den Gedanken der erlebenden Figur, deren innere Stimmen zitiert werden, sondern vielmehr zu ihrem unmittelbaren ‚Erleben‘ („experience“) selbst, das im Erzähldiskurs durch ein visuelles Bild, das Dancygier als ‚Konzeptualisierung‘ („conceptualization”) bezeichnet, repräsentiert werde. Wenn – wie in einem Textbeispiel – ein Erzähler beim Anblick seines Vaters, den er seit Kindertagen nicht mehr gesehen hat, bemerkt, „There were two men in my father’s chair“ (S. 101, zitiert nach Proulx 1986, 173), sähe das erlebende Ich natürlich nicht wirklich zwei Männer vor sich, sondern seine erlebte Desintegration der Erinnerung an den Vater und dessen gegenwärtigem Erscheinungsbild werde im Diskurs über eine ‚visuelle Konzeptualisierung‘ transportiert. Ähnliches gelte beispielsweise für folgende Textstelle:

Doming died at the gates of the graveyard. Everywhere else – the house, the road to the church, the church itself – he had been alive. […] But at the gates of the graveyard he died, suddenly, and Rosa was overwhelmed by the understanding. (S. 107, zitiert nach Garland 1999, 169)

Dancygier sieht hier keine erlebte Rede, die auf Rosas Gedanken bzw. ihre innere Stimme referiert (Rosa denkt nicht wirklich, dass ihr Vater Doming erst auf der Friedhofsschwelle stirbt), sondern eine ‚Konzeptualisierung‘ von Rosas emotionalem Erleben während des erzählten Ereignisses (das sie übermannende Gefühl des endgültigen Verlusts, als ihr Vater zu Grabe getragen wird) durch den Erzähler. Erst durch diese ‚konzeptuelle‘ Vermittlung erhalte der Leser ‚unmittelbaren‘ Zugang zum inneren Erleben der Figur.

Die Vielzahl an Sichtweisen innerhalb eines Erzähltextes, wie Dancygier sie beschreibt, sollte wohl nicht mit der narratologischen Kategorie des ‚multiperspektivischen Erzählens‘ verwechselt werden. Vielmehr sei ihre Fülle eine Funktion der vom Text konstituierten narrative spaces und nicht durch die Anzahl der in ihm vorkommenden Figuren determiniert (vgl. S. 133). In der Regel impliziere die Perspektive einer Figur vielfältige weitere narrative spaces. In einem Textbeispiel imaginiert die Protagonistin ihr anstehendes Vorstellungsgespräch: „‚Guten Morgen‘, würde sie sagen, ‚ich bin hier, um…‘“ (vgl. S. 173). Einerseits etabliere die vergegenwärtigte (kontrafaktische) Situation vom Standpunkt der Figur einen „thought space“ (ebd.). In diesem Sinne läge auf linguistischer Ebene eine transponierte Gedankenrede (free indirect thought) vor. „Guten Morgen“ könne jedoch auch als direkte Rede (direct speech) klassifiziert werden, betrachtet vom Standpunkt innerhalb des evozierten „discourse space“ (vgl. ebd.). Aber alle derartig ineinander geschachtelten, mitunter ambiguen Standpunkte der vom Text konstruierten narrative spaces kulminieren in dem übergeordneten story-viewpoint space, welcher einen die gesamte Geschichte überblickenden Standpunkt strukturiere.

Dancygiers Ausführungen vermögen im Verlauf einer voraussetzungslosen Lektüre zu überzeugen. Narratologen dürften allerdings mitunter Schwierigkeiten haben, Dancygiers Beobachtungen mit klassisch-narratologischen Begrifflichkeiten zu koppeln. Vor allem die oben skizzierte, durchaus beachtenswerte Differenzierung zwischen Gedankenwiedergabe und Erfahrungskonzepten bei der Repräsentation innerer Prozesse einer Figur müsste zu etablierten Kategorien wie ‚Stimme‘ (wer sieht?) und ‚Fokalisierung‘ (wer spricht?) ins Verhältnis gesetzt werden, um für die Erzähltheorie anschlussfähig zu sein.

Literarisches Untersuchungskorpus und Präsentationsform

Als Diskussionsinputs werden im Verlauf der Studie zahlreiche kurze Textpassagen aus Romanen unterschiedlicher Autoren, Kulturen und Epochen herangezogen, die den Variantenreichtum narrativer Strukturen und die Adaptierbarkeit von Dancygiers Analysetools gleichermaßen illustrieren – neben den bereits erwähnten Werken wird unter anderem auf Texte von Dave Eggers, Günter Grass, Ian McEwan, Haruki Murakami und Richard Powers zurückgegriffen. Jedoch lediglich Atwoods genannter Roman und Philip Roths American Pastoral (1997) werden eingehender, also über mehrere Seiten hinweg analysiert. Darüber hinaus werden im sechsten Kapitel auszugsweise einige dramatische Texte Shakespeares in den Mittelpunkt gerückt, um die deiktische Ausrichtung der durch die Sprache und Bewegung der dramatis personae konstruierten Aktionsräume auf der Bühne („physical spaces“, S. 141) ins Verhältnis zu mental spaces in Erzählungen zu setzen, die ausschließlich auf linguistischen Formen beruhen. Eine solche Präsentation von Textfragmenten trägt der Vielfalt literarischer Erzähltechniken Rechnung. Zwar ist Dancygier stets darum bemüht, die Textauszüge in den Kontext der jeweiligen Romane einzubetten und dadurch den Einfluss linguistischer Phänomene der Mikroebene auf die Bedeutungshaftigkeit der Makroebene zu veranschaulichen. Aber vielleicht wäre die Analyse eines kurzen, in sich geschlossenen Erzähltextes dem Erfolg dieses Unterfangens noch zuträglicher gewesen,3 anstatt ausschließlich nur wenige Sätze umfassende Auszüge zu analysieren. Viele der Textanalysen werden durch Schaubilder unterstützt, die die komplexen Schichtungen kognitiver Erzählräume und ihre perspektivischen Konfigurationen abbilden sollen. Da jedoch die Aufmachung dieser Abbildungen zumeist nicht näher erläutert wird, ist ihre Aussagekraft meines Erachtens gering. Auch der regelmäßige Gebrauch zahlreicher Abkürzungen im Fließtext4 ist dem Lesefluss eher ab- statt zuträglich.

Zusammenfassende Betrachtung: Antworten hinterlassen offene Fragen

Die Tatsache, dass eine Linguistin auf Erkenntnisse ‚ihrer‘ Disziplin zurückgreift und sich der Erzähltextanalyse widmet, verspricht für die Narratologie neue Einsichten, gewissermaßen einen frischen Blick von außen. Ob die vorliegende Arbeit einer solchen narratologischen Erwartungshaltung gerecht wird, kann nach kritischer Lektüre nicht einseitig beantwortet werden. Insgesamt breitet Dancygier ein beachtlich umfassendes, zugleich elegantes und in sich geschlossenes Analyseinstrumentarium aus. Die geduldige Demonstration der praktischen Anwendbarkeit anhand vielfältiger literarischer Textbeispiele überzeugt über weite Strecken. Zudem ist das Selbstbewusstsein der Autorin hervorzuheben, ihr Analysemodell auch an ‚schwierigen‘, weil unkonventionellen (post-)modernen Texten zu erproben (z.B. an second-person narrations). Dancygiers offenkundiges Bestreben, vermeintlich trockene Theorie auf das Nötigste zu reduzieren und stattdessen möglichst schnörkellos die vielseitige Praktikabilität ihrer Tools vorzuführen, ist durchaus dankenswert. Sie umgeht dadurch souverän die potenzielle Gefahr, ein als innovativ proklamiertes Theoriegerüst in ermüdender Abstraktion auszubreiten, jedoch den anschaulichen Beweis seiner tatsächlichen Operationalisierbarkeit schuldig zu bleiben.

Die Kehrseite des hier Gelobten kann jedoch zugleich als die auffälligste Schwäche der Studie angesehen werden. Vor allem (aber nicht nur) Erzählforscher dürften die reduzierte theoretische Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen und bewährten narratologischen Analysekategorien als unbefriedigend empfinden. Zwar lädt die Lektüre dazu ein, etablierte Kategorien wie etwa das Erzähler-Konstrukt oder Parameter wie Fokalisierung in ein neuartiges Licht zu rücken und zu (selbst-)kritischen Reflexionen herauszufordern. Wünschenswert wäre es jedoch gewesen, wenn die Studie selbst eine solche Diskussion vorgeführt hätte, um auszuweisen, welchen Mehrwert das Unternehmen gegenüber bestehenden Beschreibungsmodellen der Erzähltextanalyse denn eigentlich hat. Eine solche Transparenz erfolgt nur punktuell.

Koryphäen der modernen Erzähltheorie wie Gérard Genette, Wayne C. Booth oder Seymour Chatman werden zwar mitunter erwähnt, um bestimmte Stichworte aufzurufen (focalization, unreliable narrator oder die story / discourse-Distinktion), aber in vielen Fällen wird nicht klar, was durch die kognitive Neukonzeptualisierung und begriffliche Umetikettierung bestehender Kategorien gewonnen ist. Vor allem die ausführlichen Betrachtungen der variationsreichen Repräsentationsformen von Sprache und Gedanken der Figuren (etwa der Erlebten Rede), die als spezifische Erscheinungen fiktionaler Diskurse ausgezeichnet werden, lassen aus narratologischer Sicht Verweise auf die klassischen Arbeiten Käte Hamburgers oder Dorrit Cohns vermissen. Nicht nur ‚genuin‘ erzähltheoretische Positionen werden auffallend marginal berücksichtigt, sondern auch solche, die einem ähnlichen interdisziplinären Terrain angehören. Denn der Weg, den Dancygier mit ihrem Projekt beschreitet, folgt in manchen Überlegungen – wie sie selbst anmerkt (vgl. S. 30 und 36) – Catherine Emmotts contextual frame theory (1997) sowie Paul Werths (1999) und Joanna Gavins’ (2007) text world theory, die beide ebenfalls einen kognitiv-linguistischen Zugriff auf narrative Texte offerieren. Statt solchen ‚verwandten‘ Ansätzen ebenfalls nur wenige Sätze zu widmen, wäre eine genauere Konturierung abweichender oder sich überschneidender Schwerpunktsetzungen angemessen gewesen, um den Mehrwert von Dancygiers eigenem Beschreibungsinstrumentarium zu untermauern.

Im achten und letzten Kapitel, in dem sie die wesentlichen methodologischen Schritte, Argumentationsfolgen und Erkenntnisse ihrer Studie noch einmal resümiert, versucht Dancygier einer solchen Kritik zuvorzukommen:

Blending may not become scientifically satisfying for a while, but it is very satisfying already from the point of view of language analysis. As regards stylistics and literary criticism, the complaints are (often ironically) different – couldn’t we say the same without blending? isn’t it too scientific to be useful to me? It is hard to imagine a theory which could satisfy all its critics, especially if they come from different academic cultures, with their specific expectations. (S. 202)

Dieser Bemerkung wiederum ist zweifelsohne zuzustimmen, appelliert sie doch an eine Aufgeschlossenheit gegenüber der Einladung, Gewohntes einmal neu zu betrachten. Darum sei abschließend noch einmal betont, dass die oben geäußerten Vorbehalte den positiven Gesamteindruck des Buches lediglich durch die Linse des gestrengen Narratologen trüben. Wer mit unvoreingenommener Neugierde die Mechanismen verstehen möchte, mittels derer uns Bücher zum Imaginieren anleiten, wird nach der Lektüre mit anderen, mit bewussteren Augen lesen.

Literaturverzeichnis

Emmott, Catherine (1997): Narrative Comprehension. A Discourse Perspective. Oxford.

Fauconnier, Gilles / Turner, Mark (2002): The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities. New York.

Garland, Alex (1999): The Tesseract. New York.

Gavins, Joanna (2007): Text World Theory. An Introduction. Edinburgh.

Hartner, Marcus (2012): Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation. Berlin / Boston.

Herman, David (2009): Basic Elements of Narrative. Malden.

Martínez, Matías (2004): „Allwissendes Erzählen“. In: Manfred Engel / Rüdiger Zymner (Hg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn, S. 139-154.

Proulx, Annie (1986): Coasting. London.

Sanford, Anthony J. / Emmott, Catherine (2012): Mind, Brain and Narrative. Cambridge.

Schneider, Ralf / Hartner, Marcus (2012) (Hg.): Blending and the Study of Narrative. Approaches and Applications. Berlin / Boston.

Werth, Paul (1999): Text Worlds. Representing Conceptual Space in Discourse. London.



Christoph Bartsch, M.A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Germanistik
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
E-Mail: christoph.bartsch@uni-wuppertal.de
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1 Vgl. auch: „One of the points this analysis makes is that a narrative achieves its meaning through the compounded effect of meanings emerging at the lowest lexical and grammatical level“ (S. 47).

2 Erprobungen einer textanalytischen Verquickung von blending- und Erzähltheorie sind jüngst in der narratologischen Fachbuchreihe Narratologia erschienen, nämlich Hartner (2012) und Schneider / Hartner (2012).

3 Dies hat beispielsweise David Herman (2009) vorgeführt, der sein analytisches Gerüst immer wieder auf Ernest Hemingways short story „Hills Like White Elephants“ (1927) bezieht, die im Appendix seiner Darstellung abgedruckt ist.

4 Verwendet wird u.a. SV-Space (story-viewpoint space), MN-Space (main narrative space), STR (speech and thought representation), FID (free indirect report), FIST (Free Indirect Speech and Thought) oder DIST (Distancing Indirect Speech); die inkonsequente Groß- und Kleinschreibung folgt den Schreibweisen im Buch.