Antonius Weixler

Das andere Dritte

Erkundungen zwischen Bild und Text

Alexander Honold / Ralf Simon (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild. München: Wilhelm Fink 2010 (= eikones). 499 S. EUR 61,00. ISBN 978-3-7705-5012-8

In der notorisch wendefreudigen Wissenschaftsrhetorik dürften der iconic und der narrative turn zu den beiden bedeutenderen gehören. Eines der Zentren der ikonischen Wende – und damit einer Bildwissenschaft, die sich als eine von der klassisch-kunstwissenschaftlichen Bindung ans Tafelbild befreite Bildkritik versteht – ist die von Gottfried Boehm initiierte und bis zu seiner Emeritierung geleitete, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Forschungsinstitution eikones (Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder) an der Universität Basel. Der 2010 in der eikones-Reihe des Wilhelm Fink-Verlages herausgegebene Sammelband Das erzählende und das erzählte Bild geht auf eine Tagung von eikones in Kooperation mit dem Deutschen Seminar der Universität Basel aus dem Jahr 2007 zurück.

Ziel (der Tagung und) des Sammelbandes ist es, die beiden genannten turns produktiv miteinander zu vereinen und das weitreichende Spannungsverhältnis von Bild und Text neu zu beleuchten. Nicht zuletzt möchte der Band folglich die gemeinhin mit dem Verweis auf Lessings Laokoon strapazierte Opposition rein zeitlich vermittelter Erzählungen und rein räumlich vermittelter Bilder zu differenzieren versuchen. Die beiden Herausgeber Alexander Honold und Ralf Simon skizzieren in ihrer Einleitung, dass in der „ikonischen Intensität“ der Bilder eine zeitliche Dimension (S. 9) und in syntagmatischen, „nichtsukzessive[n] Aspekte[n]“ der „Tiefenstruktur des Narrativen“ eine räumliche Dimension von Erzähltexten (S. 12) zu erkennen seien. Die einzelnen Beiträge antworten auf diese einleitende Einschätzung, indem in ihnen nicht einerseits erzählende Bilder und andererseits erzählte Bilder analysiert werden, sondern versucht wird, eine vermittelnde dritte Instanz zwischen Bild und Erzählung als ein beiden gemeinsames tertium zu identifizieren. Der Band steht damit in der Kontinuität erstens der eikones-Forschung; zweitens von kunstwissenschaftlichen Versuchen, das Instrumentarium der Erzählforschung für die Analyse von Bildern fruchtbar zu machen1 oder generell das Erzählen in Bildern theoretisch zu fundieren2 sowie drittens von Bemühungen, die Erzähltheorie intermedial zu erweitern.3

Honold und Simon positionieren den Sammelband in ihrer Einleitung darüber hinaus als den Versuch eines doppelten Korrektivs. Zum einen betonen die beiden Philologen Honold und Simon – was man vor allem auch vor dem Hintergrund der überwiegend bildwissenschaftlichen Prägung von eikones sehen muss – die „Agenda einer literaturwissenschaftlichen Bildkritik“ und folglich die „Notwendigkeit der Literaturwissenschaft im Kontext der gegenwärtig sich formierenden Bilddebatte“ (S. 12). Honold und Simon sehen darin die Chance, den Bild-Begriff von seiner klassischen Mediengebundenheit – etwa in der Vorstellung von einem ‚Bild‘ als einem ‚Gemälde‘ mit der medienmateriellen Bindung an das Tafelbild – zu befreien und einen differenzierteren und für digitale Bilderwelten offenen „poetisch-literarische[n]“ Begriff zu entwickeln, der „weder an das mentale Vorstellungsbild noch an die Verbindlichkeit eines materiellen Bildträgers“ (S. 12) gebunden ist. Auch hier der Versuch also, das ‚Bild‘ als ein Drittes zwischen Gemälden, Fotografien etc. einerseits und Texten andererseits zu verstehen.

Zum anderen wagen Honold und Simon abschließend die sehr „weitreichende[ ] Schlussfolgerung“, dass aufgrund der Ergebnisse der Beiträge „der Grundansatz der vielleicht erfolgreichsten literaturwissenschaftlichen Theoriebildung, nämlich der strukturalistischen Narratologie, neu überdacht werden muss“ (S. 23). Die Herausgeber zielen mit diesem Korrekturvorschlag auf die von Roland Barthes, Claude Bremond, Algirdas Julien Greimas, Jurij M. Lotman und Tzvetan Todorov propagierte formalistische Annahme einer semantischen Opposition a versus b, die durch „Temporalisierung“ derart dynamisiert werde, dass die daraus entstehende Zustandsveränderung zu einer Erzählung werde. Demgegenüber machen Honold und Simon mit Blick auf die „intensive Konvergenz“ der in diesem Band versammelten Untersuchungen die These stark, dass „in der genotextuellen Tiefe der Erzählung […] nicht semantische Oppositionsbündel, sondern Bilder“ lägen. Und fügen als Resümee hinzu, dass „die Erzählung […] nicht eine Vermittlung von [mit dichotomen Oppositionen arbeitenden, A.W.] Semantik, sondern eine Exegese von Bildlichkeit“ sei (S. 23).

Die Sektionen und Beiträge des Sammelbands

Der umfangreiche und sehr aufwendig produzierte Sammelband enthält vierzehn Einzelstudien aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie, Rhetorik, Kultur-, Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft. Die untersuchten Kunstwerke und Texte umfassen die unterschiedlichsten Medien und Gattungen aus antiken Epochen bis hin zu fast in die Gegenwart reichenden Filmen und Comicstrips. Die Beiträge werden im Sammelband in vier Sektionen unterteilt. Während in den beiden ersten Sektionen Bilder unterschiedlicher medialer und materieller Realisierungsformen im Hinblick auf ihre Fähigkeit zu erzählen diskutiert und in der abschließenden vierten Sektion textbasierte Narrationen auf ihre Bildhaftigkeit befragt werden, widmet sich die dritte Sektion gleichberechtigten „Kooperationen erzählender und erzählter Bilder“. Im Folgenden wird zunächst ein Großteil der Beiträge kurz skizziert, bevor abschließend zwei Artikel, die aus narratologischer Perspektive von besonderem Interesse sind, etwas ausführlicher vorgestellt werden.

Wie Bilder erzählen

Die beiden kunstwissenschaftlichen Beiträge der ersten Sektion von Ivan Nagel und Werner Busch untersuchen das „Bild als Handlungsraum“. Überraschenderweise beginnt dieser Sammelband, der sich dem Verhältnis von Erzählung und Bildern widmet, mit einem negativen Befund, denn Nagel argumentiert, dass das Genre Historiengemälde nicht erzähle. Nagel liefert einen instruktiven Einblick in die Geschichte und in die generischen Aporien der Gattung Historie. Indem er diese „Leitgattung“ (S. 29) der abendländischen bildenden Kunst anhand eines sehr engen Erzählbegriffs als nicht-narrative Dramatisierung einer präsentischen Szene diskutiert, aktualisiert Nagel implizit die klassische Lessing’sche medienästhetische Dichotomie.

Auch der zweite Beitrag der Sektion offenbart bereits im Titel „Erscheinung statt Erzählung“ eine gewisse Scheu davor, in der Analyse von „monoszenischen Einzelbildern“ (Varga 1990) den Erzählbegriff anzuwenden. Dabei zeigt Busch in seinen Ausführungen gerade auf sehr anschauliche und luzide Weise, wie im Produktionsprozess von Gemälden durch Farbauftrag, Pentimenti (korrigierende Übermalungen) und Farbrhythmik Tiefendimensionen metadiskursiv reflektiert werden und hierdurch im Rezeptionsprozess „die Wahrnehmung in Bewegung“ (S. 60) geraten kann. Die Bilder evozieren demzufolge ein sukzessives Rezipieren der Bildinhalte, was Busch als Erscheinung und als eine Verlebendigung, die im Betrachter nachklingt, beschreibt.

Auch in der zweiten, „Medienkombinatorik“ benannten Sektion steht die Diskussion der Erzählfähigkeit von Bildern im Zentrum. Patrick Bahners untersucht mit Krazy Kat eine Comicserie aus der Frühzeit des Genres, die von 1913 bis 1944 in amerikanischen Zeitungen erschien und dabei immer dieselbe Geschichte erzählte. Da der Plot bekannt war, konnte in dem Comic in immer neuen Varianten das Erzählen der immer gleichen Geschichte selbst zum Gegenstand der Strips werden, konnte in immer neuen „metanarrativen Tricks und Finten“ aus einer „Bilderzählung“ eine „Erzählreflexion“ werden (S. 17).

Die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn liefert durch den Vergleich von Louis XIV.- und Hitler-Portraits eine phänomenologisch-historische Strukturanalyse des „modernen Herrscherbildes“. Da das Abstraktum ‚Macht‘ auf Bildern nicht darstellbar sei, folgert Horn, gebe es die Notwendigkeit, diese durch „einen Diskurs, eine Erzählung, die unabhängig von ihnen und außerhalb“ der Bilder „besteht“, darzustellen (S. 129). ‚Macht‘ entstehe folglich durch das Zusammenwirken von Bild und Erzählung. Um zu verstehen, was Herrscherbilder „zu sehen aufgeben, was sie also erzählen“, und um entsprechend die Machtinszenierung überhaupt zu erkennen, müssen diese Bilder nach Horn gesehen und „gelesen“ werden (S. 157).

„Kooperationen erzählender und erzählter Bilder“

In der dritten Sektion werden Kunstwerke untersucht, in denen erzählende und erzählte Bilder gleichberechtigt kombiniert werden. Michael Diers zeigt etwa zum einen, wie Heinrich von Kleist durch den Kupferstich Le Juge ou La cruche cassée (1782) von Jean Jacques Le Veau zu seinem Lustspiel Der zerbrochne Krug (1808) inspiriert wurde und wie der Kupferstich sogar Kleists spezifische Gestaltung der Handlung prägte. Zum anderen betrachtet Diers die politische und moralische Bedeutung, die im Stück durch eine Bilderzählung aufgerufen wird, welche auf dem zerstörten Tonkrug zu sehen war und von der Besitzerin Marthe in der Befragung durch den Dorfrichter Adam nacherzählt wird. Marthes Beschreibung ist eine Ekphrasis und politische Satire zugleich, die Diers wiederum auf die zeitgenössische politische Situation überträgt und als „politische[ ] Ikonographie“ und Autoritätskritik interpretiert.

Monika Schmitz-Emans widmet sich dem Wettstreit von Minerva und Arachne aus Ovids Metamorphosen. Dabei interpretiert sie den Streit als die Diskussion zweier unterschiedlicher Darstellungsstile und insbesondere zweier „unterschiedliche[r] Modelle der Beziehung zwischen Bildlichkeit und Narrativität“ (S. 266). In den Metamorphosen würden hierdurch zwei Darstellungsverfahren idealtypisch durchgespielt und metadiskursiv reflektiert. Während Minerva dabei exemplarisch die Differenz zwischen bildlichen und verbal-textlichen Darstellungsmodi betont, steht nach Schmitz-Emans Arachne für die „innere Homologie von bildnerischer und erzählerischer Darstellungskunst“ (S. 266).

Ulrike Landfester untersucht in ihrem Beitrag Ray Bradburys Erzählzyklus The Illustrated Man (1951) und darin vorwiegend, wie sich die kulturgeschichtliche Bedeutung der Tätowierung mit der Herstellung eines literarischen Schrift-Körpers überschneidet. Landfester überträgt den eigentlich die Transgressionen zwischen Erzählebenen benennenden terminus technicus Metalepse auf ein intermedial zu verstehendes ‚Erzählen‘ und bezeichnet mit ihrem Metalepsen-Begriff den „Sprung zwischen Bild und Schrift“ (S. 274).

Narrative Bildproduktionen

Die vierte und letzte Sektion widmet sich „Strukturmodellen der Bild-Poiesis im Narrationsvorgang“ und liefert mit ihren stärker discours-orientierten Abhandlungen zugleich die aus erzähltheoretischer Perspektive interessantesten Beiträge. Gerald Wildgruber analysiert in einem close reading die Opferszene der Iphigenie in Aischylos Agamemnon. Er weist in seiner hervorragenden Analyse nach, dass Iphigenie im Moment der entscheidenden Zäsur, im Umschwung ihrer Tochter- zur Opferexistenz, inhaltlich und sprachlich-formal zu einem Bild wird: Der Umschwung zeige sich im Text durch den Wechsel vom individuellen Subjekt zum Opferobjekt sowie von inhaltlicher Beschreibung zu einer Umschreibung der Undarstellbarkeit. In einer etymologischen Reflexion auf die Entstehung des Bildbegriffes weist Wildgruber nach, dass der Moment der blutigen Einfärbung von Iphigenies Gewand, der diesen Umschwung und zugleich ihre Bildwerdung markiert, der antiken „Auffassung vom Bild als gewaltsamer Zäsur“ (S. 330) entspricht. Im Agamemnon wird nach Wildgruber damit innersprachlich eine Opposition zwischen Bild und Text entworfen: „Der Anfang des Bildes ist das Ende der Sprache“ (S. 334).

Jürgen Link bestimmt die Topik des Vertikalen als eine kulturanthropologische Mastertopik, um zu zeigen, dass literarische Texte durch räumlich strukturierte Vorstellungen eine simultane, visuelle Tiefendimension erhalten, die die synchrone textuelle Sukzession ergänzt. Mittels der Vertikaltopik, wie sie sich z.B. im Gegensatz von Luftfahrt und Bodenhaftung manifestiert, kann Link zeigen, wie in Karl Immermanns Epigonen (1836) ein Disput zwischen Humanismus und Naturwissenschaft ausgetragen wird und in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich eine Katabasis ironisiert wird.

Triade und Topik

Wenn im Folgenden die Beiträge der beiden Herausgeber ausführlicher vorgestellt werden, dann deshalb, weil diese beiden Abhandlungen sich explizit mit narratologischen Theoriebestandteilen auseinandersetzen. Ralf Simon greift eine Grundannahme klassisch-strukturalistischer Narratologie auf: In histoire-zentrierten Ansätzen der Erzähltheorie der 1960er Jahre wurde die Frage nach der differentia specifica des Erzählens mit der Sequentialisierung von Ereignissen in der Form a versus b beantwortet. Simon setzt sich dabei vor allem mit Claude Bremonds Weiterentwicklung dieser dualistischen Grundfigur zur „Elementartriade bzw. Elementarsequenz“ auseinander, in der die genannte Formel in einer als Temporalisierung zu beobachtenden „Vermittlung“ und schließlich, als drittem Element der Triade, in eine „Lösung“ überführt wird (also: a versus b / Vermittlung / Lösung, vgl. S. 302). Simon versucht diese Ausgangsdifferenz a versus b bildtheoretisch umzudeuten und als „fortlaufende Exegese einer ikonischen Basis“ zu explizieren (S. 302). Als einen Vorläufer für die räumlich-ikonische Deutung der zeitlichen funktionalisierten Ereignisabfolge begreift Simon Lotmans Übertragung der semantischen Differenz in eine räumliche Grenzüberschreitung. In diesem Sinne deutet Simon z.B. die „Szenographie der Gastlichkeit“ (S. 303) als eine kulturgeschichtlich bedeutsame Variante der anthropologischen Grunderzählung a versus b als ein a geht zu b. Demnach werde diese Szenographie „als Vorstellung und Bild der gastlichen Situation stets in Anspruch genommen, so überhaupt ein Erzählprozess im Gange ist“, auch und obwohl diese konkrete Szene kaum je in literarischen Texten konkret nachweisbei sei (S. 303), wie Simon konstatiert. In einer ausführlichen und komplexen Phänomenologie dieser Szenographie kommt Simon zu dem Ergebnis, dass die Gast-Szene komplexer als die klassische Grunddifferenz (a versus b) ist, da es sich nicht lediglich um eine oppositionelle, sondern um eine chiastische Gedankenfigur handle, in der die „Dynamik der Vermittlung“ (S. 303) folglich schon inhärent sei. Komme in einer prototypischen Handlungssequenz ein Protagonist bei einem anderen an, so sei er bei diesem zu Gast. Die kulturelle Prägung dieser Grundszene bedingt nach Simon eine chiastische Vertauschung: Indem der Gast erst durch sein Gegenüber, den Gastgeber, zum ‚Gast‘ gemacht werde, der Wirt wiederum durch das Gastgeschenk nicht nur Sender, sondern auch Empfänger von Gastlichkeit ist, wird der Wirt letztlich zum Gast des Gastes und der Gast zum Wirt der Gastlichkeit. Indem Simon dieses szenische Modell des Gastes als die Grundlage von Erzählungen, verstanden als Sukzession von Ereignissen in der Zeit, sowie zugleich als Szene und damit als „bild- und vorstellungsbezogene Einheit“ (S. 309) konzipiert, gelingt es ihm, eine aufgrund ihrer komplexeren Dynamik „überraschende Neuinterpretation der Elementartriade“ zu entwickeln (S. 322). Für Simon kreuzt sich demnach in der „kulturanthropologischen Grundsituation“ der Gastlichkeit eine zeitliche Ebene der narrativen Vermittlung mit der „ikonisch formierten Einheit“ der Szene und in jeder Erzählung phänomenologisch betrachtet „Narratologie und Ikonizität“ (S. 322). Simon versteht seine Abhandlung der Szenographie des Gastes daher als den Entwurf einer „Ikononarratologie“ (so auch der Titel seiner Abhandlung).

Ähnlich wie zuvor schon Link begreift auch Alexander Honold die Topik als eine visuell zu verstehende Tiefenstruktur einer textbasierten histoire-Oberfläche. Honold untersucht mit der Emblematik in Sebastian Brants Narrenschiff (1494) die klassische Gattung der Bild-Text-Relation. Als Topik versteht er ein „raumanaloges Ordnungsschema“, in dem Stoffe, Motive und Figuren in einem virtuellen Raum aufbewahrt werden, um dann je in bildlicher, textlicher oder – im Falle der Emblematik – parallel in beidem zugleich aktualisiert zu werden (S. 411). Anhand epochen- und kulturübergreifender Zahlensymbolik zeigt Honold, wie sich bestimmte Topiken mit einem Zeitmaß, einer Raumanordnung sowie einer Zahlenreihe zu „isomorphen Gebilden“ verschränken (S. 417). Konkret zeigt er dies an der aus dem babylonischen Sexagesimalsystem stammenden, im herakleischen Zyklus (etwa des Zeustempels von Olympia), den Zwölf Stämmen Israels und den biblischen Aposteln sich fortentwickelnden Zwölfertopik, die er auch als ein „Supernarrativ“ (S. 417) bezeichnet. Eine narrativ-topische Grundkonstellation erkennt Honold sodann im schon sprichwörtlich gewordenen Scheideweg, an dem sich Herkules befinde. Denn die fortbestehende Handlungsalternative der Weggabelung kennzeichne die Topik, während die Erzählung durch die gefallene (Weg-)Entscheidung vorankomme und entstehe. Die Weggabelung symbolisiere damit „jenen Übergang, an dem synchrone Bildlichkeit zur sukzessiven Handlung tendiert“ (S. 420). Diesen für Honold paradigmatischen Übergang „von der Topik zum Plot“ analysiert er an den Beispielen des Jungfrauengleichnisses, wie es an den Pforten des Basler und des Straßburger Münster dargestellt wird, sowie Marcel Prousts Recherche. Ganz ähnlich wie Simon macht auch Honold den Vorschlag, die dichotome Grunddifferenz der Narratologie zu einem dreigliedrigen Modell zu erweitern. Im „Bild der Bifurkation“ (S. 428) und der Handlungsalternativen sowie den damit verbundenen „proairetischen Situationen (S. 435) denkt Honold entsprechend jeweils die „Position eines Zwischenraums“ mit, „und zwar als eine gleichermaßen räumlich wie zeitlich determinierte Stelle“ (S. 428). Beispielhaft versinnbildlicht sei dies im Zeitpunkt vor der Weggabelung und im Raum zwischen zwei Wegen.

Fazit

Der Sammelband schreibt sich in das Forschungsfeld der Bild-Text-Relation ein und ist in seiner Gesamtheit ein weiterer Beweis für die ausgesprochen spannungsreiche Beziehung von Bildern und Texten. In fast allen Beiträgen kommen die Vertreter der unterschiedlichen Disziplinen dabei zu dem erstaunlich konvergenten Ergebnis, dass das Gemeinsame von Bild und Text in einem anderen Dritten eines Dazwischen bzw. eines tertiums zu verankern ist. Im Hinblick auf dieses abstrakte Gedankenmodell geht also nicht nur Konzeption und Hypothese der Einleitung auf, sondern ist der Band zudem eine konsequente Fortschreibung von Gottfried Boehms Forschungsprogramm, der in seiner bildanthropologischen Begründung der Aktivierung von malerisch wie textlich induzierter Visualität den Bezugspunkt von Bildlichkeit ebenfalls in einem tertium, dem menschlichen Körper, verankert hat (vgl. Boehm 1995). Die instruktiven, allesamt auf sehr hohem analytischen Niveau argumentierenden Einzelstudien identifizieren und explizieren jeweils weitere derartige tertia.

Dass das in der Einleitung des Sammelbandes formulierte Ziel einer Revision der Grundelemente klassisch-strukturalistischer Narratologie letztlich nicht ganz erreicht wird, ist wenig verwunderlich, zumal die Annahme seines Erreichens von den Herausgebern selbst schon einschränkend als eine „weitreichende[ ] Schlussfolgerung“ bezeichnet wird, so dass ihr Ziel folglich wohl eher als Ausblick auf ein zukünftiges Forschungsprogramm verstanden werden sollte. Aus narratologischer Sicht fällt dabei ins Gewicht, dass die einzelnen Beiträge mit teilweise unterschiedlichen Erzähl-Begriffen arbeiten, was bei einer Zusammenstellung in sich abgeschlossener Artikel verschiedener Autoren zu einem Sammelband allerdings auch nur schwer zu vermeiden ist. Doch vor allem überrascht, dass als Gegenbegriff zu ‚Bild‘ mithin nicht ‚Text‘, sondern ‚Erzählung‘ fungiert. Werner Wolfs 2002 formulierter Kritik, dass an Untersuchungen, die sich mit der Narrativität von Malerei auseinandersetzen, ein „Defizit an Theoriebewusstsein“ zu beobachten sei, wenn sie die Begriffe ‚narrativ‘ und ‚Erzählen‘ lediglich „rein intuitiv“ und nicht ausreichend präzise definiert verwendeten (Wolf 2002, 24), entgeht die methodische Verfahrensweise mancher Beiträge in diesem Sammelband nicht. Präziser argumentiert hier die Einleitung, in der gerade das Programm skizziert wird, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive den kunstwissenschaftlich geprägten Bild-Begriff und aus kunstwissenschaftlicher Perspektive den literaturwissenschaftlich fundierten Erzähl-Begriff von ihren jeweiligen einseitigen Medienbindungen zu lösen. In seiner Gesamtheit zeigt der Sammelband in jedem Fall auf, welches Potential in der Untersuchung von Bild-Text-Relationen einerseits für eine erneute Betrachtung des Inventars der klassischen Narratologie steckt, und andererseits, welche Impulse die Erzählforschung den Bildwissenschaften zu geben vermag, gerade wenn das ‚Erzählen‘ selbst als ein tertium in der Bild-Text-Relation betrachtet wird.

Literaturverzeichnis

Baudson, Michel (1985) (Hg.): Zeit, die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim.

Boehm, Gottfried (1987): „Bild und Zeit“. In: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim, S. 1-23.

Boehm, Gottfried (1995): „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“. In: Ders. / Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Die Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München, S. 23-40.

Frank, Hilmar / Frank, Tanja (1999): „Zur Erzählforschung in der Kunstwissenschaft“. In: Eberhart Lämmert (Hg.), Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin, S. 35-51.

Kemp, Wolfgang (1987): Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster. München.

Kemp, Wolfgang (1989): „Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung“. In: Ders. (Hg.), Der Text des Bildes: Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München, S. 62-88.

Pochat, Götz (1996): Bild / Zeit: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit. Wien.

Sonesson, Göran (1997): „Mute Narratives: New Issues in the Study of Pictorial Texts“. In: Ulla-Britta Lagerroth et al. (Hg.), Interart Poetics: Essays on the Interrelations of the Arts and Media. Amsterdam, S. 243-251.

Varga, Aron Kibédi (1990): „Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität“. In: Wolfgang Harms (Hg.), Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion 1988. Stuttgart, S. 356-367.

Wickhoff, Franz (1912): Römische Kunst. Dritter Band: Die Wiener Genesis. Hg. v. Max Dvoràk. Berlin.

Wolf, Werner (2002): „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“. In: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, S. 23-104.



Antonius Weixler
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A
Geistes- und Kulturwissenschaften
Germanistik / Neuere deutsche Literaturgeschichte
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
E-Mail: weixler@uni-wuppertal.de
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1Vgl. v. a. Kemp 1987 und 1989.

2Vgl. Franz Wickhoff 1912, aber auch Baudson (Hg.) 1985, Boehm 1987, Varga 1990, Pochat 1996, Sonesson 1997, Frank / Frank 1999.

3Wolf 2002.