Harald Haferland

‚Motivation von hinten‘

Durchschaubarkeit des Erzählens und Finalität in der Geschichte des Erzählens1

The article discusses forms of narrative orientation, both towards the ending of a narrative and governed by it. Prevalent in pre-modern fiction is a specific kind of motivation, which the German scholar Clemens Lugowski called ‘motivation from behind’. This kind of motivation operates on the level of narrative discourse. Modern fiction tends to minimize this motivation in favour of causal motivations on the level of the narrated events or story. Finality (teleology) is a trait shared by all plots, therefore a story can be anticipated by readers. The article differentiates forms of finality and inquires into the transformation of finality from the beginning of oral narration in folktales to modern fiction.

1. ‚Motivation von hinten‘

Was meint der unbefangene Leser eines Romans, wenn er urteilt: die Motivierung dieses oder jenes Geschehens genügt meinem Gefühl nicht, sie ist nicht ausreichend. (Lugowski 1932, 66)

Mit dieser Frage hat Clemens Lugowski das, was er ‚Motivation von hinten‘ genannt hat, dem Zusammenspiel von Text (Roman) und Leser überantwortet. Lugowski sucht keinen unabhängigen, objektiven Ausgangspunkt für die Beurteilung von Romantexten, sondern setzt einen Leser an, der in seiner Lektüre eine vorliegende Erzählweise als defizient wahrnimmt. Es wird sich gleich zeigen, dass zur Analyse dieses Zusammenspiels noch eine dritte Instanz benötigt wird: der Dichter, auf dessen Unvermögen oder aber auch Erzählgewohnheit die Erzählweise ggf. zurückgeführt werden muss. Die gewissermaßen subjektive Anfangsbeobachtung ist indes die des Lesers, der über einer Romanstelle stutzt, die er liest: Etwas geschieht, tritt ein oder jemand handelt oder fühlt auf eine Weise, die ihm im konkreten Erzählzusammenhang allzu unvermittelt und deshalb unmotiviert erscheint, so dass er sich nach einem Grund dafür fragt.

Es war sicher etwas voreilig von Lugowski, den Leser unbefangen zu nennen, denn es ist fraglich, ob es unbefangene Romanleser überhaupt geben kann. Lugowski meinte den kompetenten Leser des 20. Jahrhunderts. Wie Romane selbst stehen auch Leser in einer langen – überindividuellen und individuellen – Geschichte der Ausbildung ihrer Lesekompetenz, die zusammengeht mit der historischen Entwicklung des Romans. Die historische Ausbildung von Erzählweisen sozialisiert auch Leser, so dass ein geübter Leser des 20. Jahrhunderts Romane des 16. Jahrhunderts – wie Lugowski sie seiner Analyse zugrunde legte – mit anderen Augen liest als Zeitgenossen sie lasen. Lugowski war ein feinsinniger Leser, der Dinge wahrnahm, die Leser des 16. Jahrhunderts wohl nicht wahrgenommen hätten.

Sein Einstieg in die Begriffserläuterung führt auf einen Leseeindruck, nach dem die Motivierung eines Erzählzugs als unzureichend betrachtet wird und dabei entweder als narrativ defizient verbucht oder aber als Erzählstil / Erzählgewohnheit erkannt werden kann. Diese beiden Gesichtspunkte sind auseinanderzuhalten, auch wenn sie zusammenfallen können. Eine unterstellte Defizienz dürfte sich zuerst an der Erwartungshaltung des Lesers bemessen, die vom Text nicht erfüllt wird und daraufhin dem Dichter als Unvermögen zugeschrieben werden kann. Die Gewohnheit kann dagegen nur auf Seiten des Dichters liegen und ist historisch entstanden. Dem Dichter ist sie aber möglicherweise zu selbstverständlich, als dass er sie hinterfragen könnte. Dem später hinzukommenden Leser fällt sie dagegen auf, und er ist es, der sie als Gewohnheit erkennt, wenn er Vergleichsstellen im Kopf hat, die sie entsprechend auszuweisen erlauben.

‚Motivation von hinten‘ wird am einzelnen Erzählzug festgestellt, und sie lässt sich nicht in der Weise bestimmen, wie man in einem Text etwa eine grammatische Form wie z.B. die direkte Rede bestimmen kann, d.h. sie begegnet nicht schon auf der Ebene der Grammatik oder Textgrammatik. Lugowski demonstriert sie an einem Beispiel: Erzählt wird der Tod der Geliebten und der anschließende Schmerz des Liebenden. Das lässt sich mit unterschiedlichen Erzählabsichten verbinden; natürlich zuerst einmal mit der Absicht, einfach den Gang der Dinge darzustellen und wirken zu lassen. In diesem Fall motiviert der Tod der Geliebten selbstverständlich den Schmerz des Liebenden. Wenn aber dem Dichter eher daran liegt, durch einen tief empfundenen Schmerz den Charakter des Liebenden herauszustellen, dann kann es so scheinen, als trete der Tod der Geliebten nur ein, um auch diesen vorteilhaften Charakterzug im Liebenden zu evozieren.2 Unter solchen Umständen erschiene der Tod der Geliebten ggf. als unzureichend motiviert. Er wäre als technisches Mittel und als kalkulierter Erzählzug nur „um des Schmerzes willen da“ (Lugowski 1932, 67).3 Und das könnte einem Leser unangenehm aufstoßen, freilich wohl nur, wenn er die Funktion des ‚von hinten motivierten‘ Erzählzugs (des Todes der Geliebten) erkennt und die Erzählabsicht des Dichters durchschaut, der darauf hinaus will, den Liebenden in seiner vornehmen Gefühlswelt darzustellen. Eine ‚Motivation von hinten‘ würde man also so erkennen, wie man z.B. Absichten eines Kommunikationspartners durchschaut (,er tut das, um mich davon zu überzeugen, dass [...]‘).4 Sie tritt nicht auf der Textoberfläche zutage, sondern ist aus Indizien zu erschließen, die ein Dichter im Text hinterlassen hat. Sein Erzählen wird durchschaut.

Auch wenn es nach diesem Beispiel scheint, als seien dieserart technische Erzählzüge eine Angelegenheit der Intention des Dichters und seines Erzählplans, will Lugowski doch darauf hinaus, dass die ‚Motivation von hinten‘, wo sie typischerweise auftritt, einem Erzählstil eigener Provenienz angehört und in diesem Fall weder als Defizienz noch als intendierter Erzählplan zu analysieren ist. Als Defizienz nicht, weil diese nur von einem anders eingestellten Leser veranschlagt wird. Als Erzählplan nicht, weil sie wiederum vom Dichter nicht wahrgenommen wird und ihm unterläuft, da er es nicht anders kennt. Erst vom Standpunkt des modernen Romans aus erscheint sie als technisches Mittel, das für einen Roman denn auch tatsächlich entsprechend erfunden und eingesetzt werden könnte. Lange vorher existiert sie aber schon als eingespielte, unhinterfragte Erzählweise. Zu unterscheiden wäre diese ‚Motivation von hinten‘ also von einer erzähltechnisch kalkulierten ‚Motivation von hinten‘. Als gewohnheitsmäßige Erzählweise wäre sie nur relativ zu einer sehr viel reflektierteren Erzählweise auszumachen: durch einen versierten Leser, der sie als Symptom vormodernen Erzählens gleichsam diagnostiziert.

‚Motivation von hinten‘ wird im modernen Roman in der Regel dadurch vermieden, dass möglichst alles von vorn oder, wie Lugowski im Anschluss an Wieland formuliert, vorbereitend motiviert ist und dabei einem wohldurchdachten Plan folgt.5 Nicht nur zahllose Romane, sondern auch Poetiken der Neuzeit haben Dichter und Leser daran gewöhnt, dieserart durchgestaltete Texte zu verfassen oder auf sie zu treffen. Wohl niemand hat den Romandichtern eine entsprechende Planung nachdrücklicher eingehämmert als Wielands Parteigänger Friedrich von Blanckenburg. Sie sollen nämlich darauf achten, dass „jede Begebenheit ihre wirkende Ursache hat, diese Begebenheit selbst wieder die wirkende Ursach einer folgenden Begebenheit wird“.

Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen nun [...] so untereinander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Teile unter sich, und mit diesem Ganzen, in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist. Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es seyn kann. (Blanckenburg 1774, 313f.)6

Erst in der Moderne dürfte jenes Erzählen, das ‚Motivation von hinten‘ der eingelebten Gewohnheit nach als unanstößig zulässt, infolge einer perspektivischen Verzerrung als defizient wahrgenommen werden. Es begegnet hier durchaus weiterhin, freilich nicht mehr gewohnheitsmäßig, sondern erzähltechnisch kalkuliert, wenn auch mitunter bedenkenlos. Blanckenburg moniert einen charakteristischen, natürlich von ihm noch nicht so genannten Fall einer ‚Motivation von hinten‘ an dem Briefroman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (1770 72) von Johann Timotheus Hermes. Hermes lässt seine Heldin Sophie von einer für die damalige Zeit bestürzend intimen Begegnung mit dem Mann berichten, dem später ihr Herz gehören wird. Damit die Beziehung zustande kommen kann, treten bestimmte, nicht unbedingt wahrscheinliche, Umstände ein: die beiden sind einander zur Nacht in einem verschlossenen Zimmer ohne Ausweichmöglichkeit ausgesetzt. Dass der Mann die Situation nicht ausnutzt, lässt sich dann in Sophies Vertrauen ummünzen. Diese Umstände werden folgendermaßen hergestellt (Sophie schreibt):

Ich schloß das Zimmer ab und gab der Magd den Schlüssel. Bald drauf wollte ich, da mich dürstete, Wasser holen, mußte aber durstig zu Bette gehen, weil das Schloß nicht von inwendig geöffnet werden konnte.7

Der Leser erfährt nicht, warum Sophie eigentlich das Zimmer abschließt, ohne es aus eigener Kraft wieder öffnen zu können (geht sie fälschlich davon aus, dass das Zimmer von innen geöffnet werden kann? Wie auch konnte sie der Magd den Schlüssel reichen: durch eine Öffnung in der Tür?). Es ist vom weiteren Erzählverlauf her klar, dass sie oder irgendjemand anderes das Zimmer abschließen muss, da die Begegnung mit dem künftigen Geliebten sonst nicht die benötigte Dynamik gewinnt. In diesem Sinne ist das Einschließen im Zimmer ‚von hinten motiviert‘. Wir würden erwarten, dass Sophie dies aus einem nachvollziehbaren Grund tut, da wir andernfalls eine den Leseakt irritierende Motivationslücke wahrnehmen. Blanckenburg scheint dies ebenfalls zu tun, verlangt aber noch einiges mehr als die Angabe eines zureichenden Grundes für das Einschließen:

Das Einschließen könnte uns einen Theil ihres Charakters öfnen, wenn das Einschließen übertrieben, und ein Zug ihrer Prüderie wäre; wenn sie aber vorzuglich durch dies Einschließen in die folgende so sehr unangenehme Lage geriethe. Dann wäre die Sache vortreflich von dieser Seite behandelt; aber jetzt ... man sage mir, was ist in all den angeführten Umständen, die freilich dem Dichter alle nothwendig sind, wenn die Sache so erfolgen soll, wie sie erfolgt; – das aus Sophiens Denkungsart und innern Lage eben so nothwendig erfolgte? [...] Wo sind die Ursachen in dem Ganzen des Dichters, welche diese Umstände so hervorbringen, daß sie nun gar nicht anders erfolgen könnten, als sie wirklich werden? (Blanckenburg 1774, 347)

Blanckenburg verfolgt die Spur der Ungereimtheiten in Hermes’ Roman an dieser zentralen Stelle unerbittlich weiter, und dies zeigt, dass Romanautoren nach seinem Verständnis erst noch lernen müssen, wie man eine Erzählung ordentlich motiviert. Sicher verlangt Blanckenburg zuviel, denn keineswegs muss das Einschließen aus „Sophiens Denkungsart und innern Lage“ her motiviert sein – hier drängt sich seine Forderung einer Darstellung der inneren Geschichte eines Charakters zu sehr in den Vordergrund. Wohl aber beweist er ein Leseverhalten, das dem des von Lugowski vorausgesetzten kompetenten Lesers entspricht.

Anders als im Roman seit dem 18. Jahrhundert besitzt die ‚Motivation von hinten‘ in ihrem ursprünglichen Lebensbereich ihr eigenes Recht. Vormodernes Erzählen nutzt sie in der Tat weithin, modernes Erzählen sucht sie zugunsten vorbereitender Motivierung auszuschalten; wobei sie in beiden Fällen durchaus in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen begegnet.

Ich möchte Form und mögliche Genese der sog. Motivation von hinten noch einmal an einem Beispiel demonstrieren, das ich im Folgenden noch öfter heranziehen werde: der bekannten Erzählung von Pyramus und Thisbe, die ich nach einer spätmittelalterlichen Nacherzählung referiere. Pyramus und Thisbe lieben sich, aber ihre Familien sind gegen die Verbindung. So halten sie durch einen Mauerspalt zwischen ihren Häusern Kontakt zueinander und verabreden sich heimlich an einem Quell. Thisbe kommt zuerst zum vereinbarten Treffpunkt. Statt Pyramus streift dort aber ein Löwe herum, der ein Rind gerissen hat und aus dem Quell trinken will. Thisbe lässt ihre Kleidung fallen und flüchtet. Der Löwe zerfetzt daraufhin die Kleidung mit seinem noch blutigen Maul. Als Pyramus kommt und die Fetzen sieht, wähnt er Thisbe tot und tötet zuerst den Löwen und daraufhin sich selbst. Thisbe wagt sich aus ihrem Versteck, sieht Pyramus sterben und stürzt sich ihrerseits in sein Schwert.

So das mittelhochdeutsche Märe Pyramus und Thisbe,8 das sich weitgehend an Ovids Erzählung von beider Schicksal (Metamorphosen IV 55 166) hält, dabei allerdings das Geschehen durch viele anrührende Monologe der Figuren dramatisiert. Die unselige Verkettung der Umstände, die man grob zerlegen kann (a: Heimliche Verabredung; b: Thisbe kommt zuerst zum Treffpunkt, wo sich ein Löwe herumtreibt; c: Thisbe lässt ihre Kleider fallen und flieht; d: Der Löwe zerfetzt die Kleider; e: Pyramus deutet, nachdem er sich verspätet hat, falsch, was er sieht, und tötet den Löwen und sich selbst; f: Thisbe tötet sich) läuft über einige problematische Bruchstellen (b, c, d und e): Warum verspätet sich Pyramus und warum muss am Treffpunkt ausgerechnet jetzt ein Löwe vorbeikommen (b); warum lässt Thisbe ihre Kleider fallen: vor Schreck, in Eile o.a. (c); warum vergreift der Löwe sich an Thisbes Kleidung (d); warum versichert Pyramus sich der Lage nicht mit größerer Umsicht (e)? Dass er sich umbringt, gehört dann allerdings mit zum Kern der traurigen Geschichte und ist deshalb nicht ‚von hinten motiviert‘. Doch könnte das Erzählen an allen Bruchstellen, die zum Tod des Pyramus führen, ‚von hinten motiviert‘ erscheinen. Diese Erzählzüge würden also nur eingebracht, um den Tod der Liebenden herbeizuführen. Das betrifft aber nahezu den ganzen Erzählverlauf.

Dass Thisbe als erste kommt und der Löwe die Quelle gerade zu diesem Zeitpunkt aus Durst zum Trinken aufsucht, mag man allerdings als einen der narrativen Konstruktion geschuldeten Zufall akzeptieren und unbefragt hinnehmen. Man stolpert dann aber über den Wortlaut, wenn es heißt: „diu frou ir kleider vallen lie / und flôch vil wunderbalde / hin gên dem wilden walde“ (V. 204-206). Dass der Löwe sich alsbald an den Kleidern zu schaffen macht, ist noch einmal seltsam – Ovid selbst nimmt hier Bezug auf den Zufall („forte“, Metamorphosen IV 103). Zufriedenstellender hat er den Verlust der Kleidung motiviert: „Dumque fugit, tergo velamina lapsa reliquit“ (‚und während sie floh, ließ sie das herab gleitende Gewand hinter sich zurück‘, Metamorphosen IV 101). In der Hast gleitet Thisbes Gewand von der Schulter. Hier stellen sich keine Nachfragen. Wenn Thisbe aber im mittelhochdeutschen Märe ihre Kleider einfach fallen lässt und dann flieht, könnte dies folgenden Schluss provozieren: Sie ‚muss‘ es tun, damit erst der Löwe die Kleider zerreißen und Pyramus später auf die blutigen Fetzen stoßen kann – mit der Folge, dass er sich vom Schmerz überwältigt umbringt. Gewiss kann man die minimale Motivationslücke auch selbstständig füllen und sich denken, dass Thisbe die Kleider in der Eile der Flucht fallen lässt; es handelt sich ja nur um eine minimale Vertauschung der Reihenfolge: ‚Thisbe lässt ihre Kleider fallen – und flieht‘ statt ‚Thisbe flieht – und verliert dabei ihr Gewand‘. Gleichwohl stolpert man über die – wohl unwillkürliche und nicht rhetorisch bedingte – Vertauschung. Und während man auch das kurzschlussartige Handeln des Pyramus hinnehmen mag, bleibt das Verhalten des Löwen immer noch seltsam.

Das Märe ist eine selbstständig auftretende Erzählung, die eigene Akzente setzt. Dass sie dennoch minimale Unstimmigkeiten aufweist, liegt möglicherweise an einer Verschiebung der Aufmerksamkeit des Dichters. Das erneute Erzählen folgt dem eigenen Impetus zur Dramatisierung und verliert über der Betonung des Erlebens der Figuren eine sauber durchgeführte Motivierung der Ereignisse aus dem Auge, die gleichwohl auf dasselbe Ende zulaufen. Die Fixierung auf das Ende beim Wiedererzählen könnte den Ausschlag gegeben haben für die unwillkürliche Vertauschung in der Mikrostruktur der Erzählung. Es ist wichtiger für den Fortgang, zu erfahren, dass Thisbe das Gewand verlor, als zu erfahren, warum und wie sie es verlor. Der mittelhochdeutsche Nacherzähler dokumentiert deshalb ein Moment gleichsam archetypischer Unaufmerksamkeit. Sie schlägt sich aber nieder in einer charakteristischen Form des ‚von hinten motivierten‘ Erzählens, die eine lange Vorgeschichte hat.

Der größere und weitgehend verborgen bleibende Teil der jahrtausendelangen Geschichte des mündlichen Erzählens dürfte nämlich einen vergleichbaren Effekt gezeitigt haben, wie er bevorzugt eintritt, wenn mündliche Erzählungen immer wieder aufs Neue erzählt werden. Die Aufmerksamkeit eines Erzählers bleibt dabei zuallererst auf Fortgang und Verlauf der Erzählung und auf das zu erreichende Ende gerichtet. Wie ein solcher Verlauf aber etwa im Einzelnen ausgestaltet wird, stellt einen nachgeordneten Aspekt der performativen Realisierung des Erzählens dar. Der Erzählakt selbst beansprucht seine eigene Aufmerksamkeit. Dabei mögen Motivierungen besonders leicht vernachlässigt werden, die, wie Thisbes überhastete Flucht vom Treffpunkt unter Verlust ihres Gewandes, für den Fortgang nur mit ihrem (Teil  )Ergebnis, dem Verlust des Gewandes, wichtig sind. Wenn dies schon einem Erzähler unterlief, der seine Erzählung aufzeichnete oder aufzeichnen ließ, um wie viel mehr konnte es einem mündlichen Erzähler beim Vortrag unterlaufen.

Daraus leitet sich nun aber eine besondere Form des Erzählens ab: Märchen bzw. folktales, wie sie erst seit zweihundert Jahren systematisch gesammelt, aber wohl – in zumindest annähernd vergleichbarer Form – doch seit Jahrtausenden erzählt werden,9 erzählen grundsätzlich eher resultathaft und ergebnisorientiert, ohne dabei die besonderen Beweggründe für den Eintritt eines Ereignisses oder einer Handlung besonders zu beachten.

Ein vollständig durchmotiviertes Volksmärchen wäre kein Volksmärchen mehr – nicht nur weil mündlich unbekümmerter erzählt wird als schriftlich, sondern weil Nichtmotivierung in irgendeiner Form zum Begriff Volksmärchen einfach gehört. [...] Nichtmotivierung, „Offenheit der Motivation“, kennzeichnet [...] das Märchen überhaupt [...]. (Lüthi 1975, 82f.)10

Wo ein Erzähler zusätzliche Motivierungen (er)findet, kann ein nachfolgender Erzähler, der dieses Märchen von ihm gehört hat, sie getrost wieder weglassen, weil das Märchen auch ohne solche Motivierungen zu seinem Ende kommt und zu Ende erzählt werden kann.11 Motivierungen über diejenigen hinaus, die ein Plot unvermeidlich mit sich bringt,12 sind Zutat und sogar überflüssiger Ballast, auch vom Gesichtspunkt einer Erzählanthropologie aus: Wenn wir eine Geschichte hören, wollen wir zuerst wissen, was überhaupt passiert. In zweiter Linie interessiert es dann, warum und wie es dazu gekommen ist.13 Zweckmäßig erschiene es im Sinne einer solchen Interessenstaffelung, Geschichten besser zweimal zu erzählen. Märchen indes tendieren dazu, auf eine Reduktionsform zurückzuschrumpfen, die einmal eingeführte vorbereitende Motivierungen leicht wieder abstößt. Daraus leitet sich eine Erzählhaltung ab, die eine habituelle Orientierung auf und eine Gewöhnung an das Erzählen von Ergebnissen erzeugt. Dies wäre eine mögliche Erklärung der historischen Genese der ‚Motivation von hinten‘ als typischer Erzählweise.

Wie aber stellt ein erfahrener Leser sie fest? Wenn ihm ein ergebnisbezogener Erzählzug dieser Erzählweise allzu unvermittelt erscheint, dann rekonstruiert er den Handlungsverlauf beim Weiterlesen von hinten: damit ein erzähltes Ergebnis zustande kommen kann, muss vorher etwas eingetreten sein, was es bedingt. Das unvermittelte Erzählelement liefert die Erklärung. Der Erzähler verfährt dabei so durchsichtig oder unbedacht, dass er die Vorbedingung geschehen lässt, ohne sie hinreichend von vorn bzw. vorbereitend (d.h. kausal im weiteren Sinne14) abgesichert oder motiviert zu haben, so dass man merkt, dass b und c nur eintreten, damit d, e und schließlich f zustande kommen können. Dabei ist aber ein Grund nicht absehbar, warum b und c überhaupt eingetreten sein sollten.

Dem Dichter des mittelhochdeutschen Märe von Pyramus und Thisbe dürfte entgangen sein, dass ihm eine Ungereimtheit unterlaufen war, über die ein Hörer oder Leser stolpern konnte (warum sollte Thisbe ihre Kleider fallen lassen? Damit Pyramus sie zerfetzt und blutig vorfinden und die schreckliche Ereignisfolge ihren Lauf nehmen kann!). Seine Erzählung läuft dann wie bei Ovid über dieselben bekannten Stationen weiter auf das von vornherein feststehende Ende zu. Vom Gang der Ereignisse will der Dichter nicht abweichen, ihn will er vielmehr erneut erzählen. Er mag unaufmerksam gewesen sein, mochte aber auch einer noch lebendigen Erzählweise folgen, die es ihm erlaubte, vorbereitende Motivierungen getrost zu vernachlässigen. Dementsprechend wiederum könnten seinen primären Rezipienten kleine Motivationslücken auch nicht weiter aufgefallen sein. Erst der versierte Leser einer späteren Zeit bildet die Instanz, an der die ‚Motivation von hinten‘ gemessen werden kann.15

Ich möchte von einem level-switching des Modellrezipienten sprechen: Dieser zieht für einen Moment seine Aufmerksamkeit vom Erzählinhalt ab und richtet sie auf die Erzählweise, er wechselt von der Ebene des Erzählten auf die Ebene des Erzählens. Er ahnt vielleicht schon, wenn er auf den ‚von hinten motivierten‘ Erzählzug trifft, worauf dieser hinauslaufen wird, oder stellt spätestens, wenn das Ergebnis eintritt, den Rückbezug her.

Springt er in dieser Weise von der Ebene des Erzählten auf die Ebene des Erzählens, so lässt sich übrigens nicht nur ein einzelner Erzählzug, sondern geradezu eine vollständige Ereignisfolge analytisch derart umpolen, dass die ganze Folge ‚von hinten motiviert‘ erscheint. In der Folge könnten dabei durchaus einige bloß temporale oder auch konsekutive Elemente (schwache Kausalität) und einige eher konsequentiell (starke Kausalität) aufeinander folgende oder im Sinne psychologisch bedingter Reaktionen auseinander hervorgehende Elemente verknüpft sein. In der Geschichte von Pyramus und Thisbe sind b und d rein temporale Elemente, die sich in einer graphischen Darstellung deshalb durch einen einfachen Strich verbinden lassen; c, e und f sind dagegen schwächer oder stärker bedingt, was durch einen Pfeil dargestellt werden kann: a – b → c − d → e → f. Infolge der fatalen Verkettung könnte man nun auch den Eindruck eines umgekehrt verlaufenden Nexus gewinnen; damit b eintreten kann, muss a eingetreten sein, usw.: a < b < c < d < e < f. Einem solchen Leseeindruck entspricht der Begriff der Finalität; der Leser hat den Eindruck einer final gerichteten Erzählung. Einige ihrer Erzählzüge könnten dabei auch ‚von hinten motiviert‘ erscheinen.

Ein level-switching, bei dem die Ebene des Erzählens im Zuge des Lesens immer schon mit beobachtet und mitbedacht wird, wird Hörern in vormodernen mündlichen Erzählkulturen allenfalls in Ausnahmefällen möglich gewesen sein.16 ‚Motivation von hinten‘ ist hier eine solche Selbstverständlichkeit des Erzählens, dass sie von den Hörern wohl meist unbefragt hingenommen wurde. Eine charakteristische Form der ‚Motivation von hinten‘ – das für den Plot notwendige, passgerechte Zusammentreffen in Raum und Zeit – begegnet deshalb überaus häufig. Max Lüthi hat die unwahrscheinliche raumzeitliche Passung, nach der u.a. Figuren so aufeinandertreffen, wie die jeweilige Erzählung es für ihren Fortgang braucht, deshalb geradezu als Formkonstante des Märchens beschrieben.

Daß die Prinzessin, ohne es zu wissen, gerade nach dem Reiche ihres Vaters wandert und genau in dem Augenblick vor dessen Hauptstadt eintrifft, da er selber gestorben ist und die Minister beschlossen haben, dem ersten Neuankömmling den Thron anzutragen [...], ist nicht Zufall, sondern Präzision. Dieselbe Präzision läßt den echten Bräutigam immer gerade an dem Tage wiederkehren, wo die Braut nach einem oder nach vielen Jahren mit einem anderen Hochzeit halten soll. Die Gattin des ins Jenseitsreich entrückten Gemahls trifft nach langer Wanderung gerade dann dort ein, wenn er sich mit einer andern Frau vermählen will; sie hat unterwegs (von Sonne, Mond und Winden) genau das geschenkt bekommen, was sie nötig hat, um diese zweite Heirat im letzten Augenblick zu verhindern. (Lüthi 1947, 50)17

Die Beispiele ließen sich um ein Vielfaches vermehren; aber auch nicht nur Märchen, sondern unzählige einfache Erzählungen operieren mit solchem passgerechten Zusammentreffen – bezogen nicht nur auf das Zusammentreffen von Figuren, sondern z.B. auch auf das zufällige Zur-Hand-Sein von Gegenständen –, das vom angestrebten Ergebnis (einer Teilstrecke) der Erzählung her bedingt ist. Was nach Lüthi als Präzision des Erzählens erscheinen soll, ist in der erzählten Welt sehr wohl Zufall. Dass er eintreten kann, verdankt sich auch keinem willkürlich angewählten Märchenstil, sondern ist auf die Umstände zurückzuführen, die das mündliche Erzählen immer schon prägen.18 Jeder Erzähler erzählt hier, was er von anderen Erzählern gehört hat, und in der vielfachen Weitergabe der Plots werden diese wie Steine im Meer rund- und glattgeschliffen. Dabei bleiben auch kausale Motivierungen leicht auf der Strecke, wenn sie denn überhaupt angebracht werden.19 Ein besonderer, nicht-intendierter Effekt archaischen Erzählens besteht deshalb darin, dass Dinge so zustande kommen und zusammenpassen, wie es eigentlich nur in einer höchst unwirklichen Wirklichkeit geschehen könnte, die von der Alltagswirklichkeit weitab liegt. Der Umstand, dass im Märchen immer alles klappt, und die wunderhafte Koinzidenz der Dinge sind auch Folge eines Erzählens, das noch nicht auf kausale Motivierung getrimmt ist.

Ein Erzähler könnte es sehr wohl motivieren, dass eine Figur – vergleichbar jenem Löwen am Quell bei Thisbe, der ja durstig ist – gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort eintrifft: die Figur hatte vielleicht schon vorher versucht, hierher zu gelangen, und war immer gehindert worden, oder sie hatte sich aus bestimmten Gründen beeilt, hierher zu kommen usw. Der Erzähler kann die Reihe der Umstände auf diese Weise zurückverfolgen und sauber herleiten, dass die Figur gerade jetzt eintreffen musste (der Löwe hätte dann allerdings immer noch zufällig ein Rind in der Umgebung der Quelle gerissen: eine natürliche Hintergrundkontingenz der Welt lässt sich nicht reduzieren). Erzähler sind im Prinzip frei darin, zusätzliche Angaben zu machen und Geschichten auch partiell umzuerzählen.20 Aber wie es eine Tendenz geben mag, eine ursprüngliche oder auch nur stimmige Form einer Geschichte im Zuge des Weitererzählens wiederherzustellen – im Sinne eines Prägnanzgesetzes für Plots –,21 so werden zusätzliche Angaben leicht wieder vernachlässigt oder einfach vergessen.22 Der Plot einer mündlichen Erzählung funktioniert nämlich eher vom (Teil-)Ende her, als dass ein Erzähler alles sauber herleiten müsste oder auch nur könnte. Und deshalb dürften die unbekannten Schöpfer jener heute Märchen genannten Erzählungen einem Erzählhabitus gefolgt sein, der kausalen Motivierungen keinen privilegierten Platz einräumte.23

Wenn mündliches Erzählen grundsätzlich final orientiert ist und diese Orientierung ‚Motivationen von hinten‘ begünstigt, dann läuft ein entsprechender Erzählhabitus noch weit in die Geschichte des Romans hinein. Am antiken Liebes- und Abenteuerroman hat auch Michail Bachtin das passgerechte, doch unwahrscheinliche Zusammentreffen in Raum und Zeit beobachtet. Sicher war auch er ein gewiefterer Leser als die antiken Leser, die nicht so hohe Erwartungen und Ansprüche an das Erzählen herantrugen.

Damit Kleitophons Selbstmord verhindert werden kann [es geht hier um den Roman Leukippe und Kleitophon von Achilleus Tatios, und tatsächlich lassen sich aus sämtlichen antiken Romanen vielfach parallele Stellen zusammentragen], müssen seine Freunde gerade an der Stelle auftauchen, an der Kleitophon sich anschickt, sein Vorhaben auszuführen. Um rechtzeitig anzukommen, d.h. um im notwendigen Augenblick am erforderlichen Ort zu sein, laufen sie, d.h. sie überwinden eine räumliche Entfernung. Damit Kleitophon am Schluß des Romans gerettet werden kann, muß die vom Priester der Artemis angeführte Prozession rechtzeitig am Ort der Hinrichtung, bevor diese vollstreckt ist, erscheinen. (Bachtin 1989, 24f., Hervorhebungen im Original)24

Kleitophons Freunde wissen nicht, dass er sich umbringen will, dennoch kommen sie gerade noch zum rechten Zeitpunkt hinzu. Dass sie laufen, ist ein sehr zuträgliches, aber zufälliges Verhalten. Erstaunlicherweise kommt auch die Prozession gerade vorbei. Bachtin analysiert dies unter dem Gesichtspunkt charakteristischer Raum- und Zeitverhältnisse, wie sie im antiken Roman als sog. Abenteuerzeit vorkommen. Aber was er beschreibt, ist die Konstruktionsform der ‚Motivation von hinten‘: Damit ein Ergebnis b – hier die Verhinderung des Selbstmordes Kleitophons – erreicht werden kann, muss ein Ereignis a vorhergehen (oder eine Ereignisfolge), das indes seinerseits unmotiviert bleibt. Die Motivationslücke tritt besonders hervor, wenn die raumzeitliche Passung bzw. das passgerechte Eintreffen zu unwahrscheinlich ist, um ohne weiteres eintreten zu können.

Im antiken Liebes- und Abenteuerroman passiert im Übrigen, bedingt durch die Erfordernisse der Handlungskonstruktion, unablässig höchst Unwahrscheinliches. Wenn die Plots regelmäßig auf die Anagnorisis der beiden Liebenden nach vielen Jahren der Trennung zulaufen, dann wird alles angestrengt, um die Trennung geschehen zu lassen (die Geliebte ist scheintot und wird im Sarg auf dem Meer ausgesetzt oder begraben u.a.m.), und meist ist es ebenso abenteuerlich unwahrscheinlich, dass und wie die Liebenden sich dann wiedersehen und wiedererkennen. Damit die Anagnorisis noch mehr Rührung erzeugen kann, treten die denkbar unwahrscheinlichsten Umstände ein. Wer es durchschaut, dem erscheint geradewegs alles ‚von hinten motiviert‘. Im antiken Roman sind es allerdings andere Gründe als Ungeschicklichkeit oder die bloße Unbedachtheit der Gewohnheit, wenn ‚Motivation von hinten‘ vorkommt. Eine Verschiebung der Aufmerksamkeit beim Neuerzählen ist hier gleichfalls nicht relevant. Vielmehr muss der Roman eine bühnenreife Form erhalten, die eine Art Katharsis beim Lesen herbeiführen hilft.25 Um die darauf zielende Zuspitzung der Plots zu erreichen, wird ‚Motivation von hinten‘ gern in Kauf genommen.

Da die Plots des antiken Liebes- und Abenteuerromans immer deutlich final konstruiert sind, tragen hier einzelne Erzählzüge und  episoden, wenn sie nicht kausal motiviert sind, besonders leicht eine ‚Motivation von hinten‘. Dieses Konstruktionsprinzip von Romanhandlungen beobachtet Lugowski noch am Roman des 16. Jahrhunderts, und es wird nicht schwer fallen, es bis in die moderne Schemaliteratur und ihre Umsetzung im Film hinein zu verfolgen. Gerade der Film kann es sich erlauben, über der Fesselung des Zuschauers durch action die saubere Motivierung zu vernachlässigen. Der Zuschauer bemerkt das oft gar nicht.

Neben passgerechtem Zusammentreffen von Figuren, einem unmotivierten Zur-Hand-Sein von Gegenständen oder anderweitig geeigneten Umständen, wie sie der Alltag normalerweise nicht hergibt, gibt es einen besonderen Typ der ‚Motivation von hinten‘, der sogar eher in der modernen Erzählliteratur anzutreffen ist, nachdem diese irgendwann begonnen hat, Figuren individuell zu charakterisieren. Es können Beschreibungen sein, oft sind es auch Handlungszüge oder ganze Episoden, die den Helden mit seinen hervorstechenden Eigenschaften zeigen sollen. Oft sind solche charakterisierenden, indiziellen Handlungszüge besonders durchsichtig auf die Erzählabsicht hin. Gerade wo die Schemaliteratur Charakterisierungen anbringt, erscheinen sie häufig als aufgesetzt, jedenfalls als durch die Darstellungsabsicht deutlich veranlasst. In dem James-Bond-Film Skyfall etwa geschieht passgerecht ein Haufen ungereimter und kaum nachvollziehbarer Dinge, nur damit Bond eine Begegnung mit dem gattungsmäßig obligaten Bond-Girl absolvieren kann.26 Das Bond-Girl läuft gewissermaßen im Basso continuo ostinato mit. Es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, dass so etwas auch bei Balzac oder Zola vorkommen könnte, doch wird es mit der Hochkonjunktur illusionistischen Erzählens im 19. Jahrhundert nach Möglichkeit vermieden. Das in der Ausrichtung auf das Ende eingesetzte und von hinten her zu verstehende Ereignis ist dann eben zumindest auch vorbereitend oder kausal motiviert, sodass man den gegebenenfalls unangenehmen, die Illusion störenden Leseeindruck der ‚Motivation von hinten‘ nicht mehr erfährt. Beim Bond-Girl weiß aber der Zuschauer, dass es um der Coolness und des Sex-Appeals Bonds willen da ist; die Darstellungsabsicht zielt auf die Charakterisierung Bonds. In modernen der Schemaliteratur zuzurechnenden Erzählgattungen und ihren Adaptationen im Film sind solche schemabedingten Erzählzüge nicht selten in hohem Maße künstlich aufbereitet und werden vom Rezipienten, der leicht erfasst, was da bedient wird, mit Genuss konsumiert. Sie müssen nicht vorbereitend motiviert werden. ‚Motivation von hinten‘ wird hier vielmehr zu einer ästhetischen Technik, die mit dem Genuss des Wiedererkennens rechnet und immer neue Variationen zu vertrauten Schemaelementen anbietet.

2. Durchschaubarkeit der Erzählhandlung

Ich komme noch einmal auf die Erzählung von Pyramus und Thisbe zurück: Bei Ovid war der Verlust des Gewandes zureichend kausal motiviert; soll man aber deshalb darauf verzichten zu sagen, dass er auch ‚von hinten motiviert‘ sei? Er ist es doch genauso – es verläuft alles so wie in der Nacherzählung des mittelhochdeutschen Märe, nur dass der Verlust des Gewandes eben auch kausal motiviert ist! Tatsächlich lässt sich alles, was ‚von hinten motiviert‘ ist, auch (noch) kausal motivieren; und umgekehrt lassen sich kausale Motivierungen weglassen. Heißt das, dass etwas – falls es noch kausal motiviert wird – nicht mehr ‚von hinten motiviert‘ genannt werden kann? Die ‚Motivation von hinten‘ wäre doch nur geschickt kaschiert worden.27

Wenn man so schlussfolgerte, gäbe man dem Begriff der ‚Motivation von hinten‘ eine zu weite Bedeutung. Dies ist nicht ratsam, und hier ist eine andere Beschreibung vorzuziehen. Man spräche besser von durchschaubarem Erzählen. Auch ist der Begriff der Finalität am Platz. Erzählen verläuft dann final, wenn ein finaler Richtungssinn erkennbar ist. Das ist zwar der Fall, wenn ein Erzählzug ‚von hinten motiviert‘ ist, aber ebenso gut kann er auch vorbereitend motiviert sein. Auch kausal motiviertes Erzählen ist grundsätzlich durchschaubar und dann final. Kausale Motivierung ist mit Finalität verträglich. Den Begriff der ‚Motivation von hinten‘ dagegen sollte man für kausal motivierte Erzählzüge vermeiden: kausale Motivierung schließt ‚Motivation von hinten‘ aus, nicht aber Finalität. Ein vollständig von vorn motivierter Erzählverlauf kann sehr wohl forciert final erscheinen (und zugleich sind auch ‚von hinten motivierte‘ Erzählverläufe final).

Wenn ein Leser Finalität des Erzählens feststellt, durchschaut er den Erzählverlauf – oft erst einmal in Bezug auf einen überschaubaren Bereich der Erzählung –; das ist etwas anderes, als ‚Motivation von hinten‘ festzustellen. Angenommen, ein Dichter hätte seine Erzählung vom Ende her geplant und gleichwohl vollständig von vorn durchmotiviert – wie es Krimiautoren gern tun –, so liefe im Gegensinn zur vorbereitenden Motivierung eine womöglich deutlich merkbare finale Orientierung (keine ‚Motivation von hinten‘!) durch die Erzählung hindurch. Öffnete eine Figur (beim Durchsuchen eines Zimmers o.ä.) eine Schublade und sähe dort eine Pistole, so würde man erwarten, dass die Pistole noch eine Rolle spielen wird. Der Autor führt sie dann in durchsichtiger Absicht ein, freilich rechtzeitig genug, um einem unwahrscheinlichen zufälligen Zur-Hand-Sein bei späterer Gelegenheit aus dem Wege zu gehen.28 In dieser Weise wird ein Leser oft durch hochgradig konstruierte Plots hindurchgeführt, ohne dass in ihnen ein unaufgelöster, unmotivierter Rest verbliebe.29 Dabei kann er mit Recht mehr oder weniger konkrete Erwartungen hegen. Die Pistole aber würde, wenn sie schließlich gebraucht wird, nicht mehr einfach zufällig in der Schublade bereitliegen, und wahrscheinlich würde die Figur sie gebrauchen, die ihren Aufbewahrungsort jetzt kennt. Ein ‚von hinten motiviertes‘, unglaubhaft passgerechtes Zur-Hand-Sein der Waffe würde so vermieden.

In solchen Fällen sollte man von Durchschaubarkeit des Erzählens und / oder Vorhersehbarkeit des Handlungsverlaufs sprechen. Im modernen Roman sind Erzählhandlungen häufig so durchkomponiert und konstruiert, dass sie eine schlüssig durchmotivierte Handlung ergeben.30 Die Komposition kann aber wie jeder Plan von einem bestimmten Zeitpunkt an durchsichtig sein. Dafür muss man wieder einen Modellrezipienten ansetzen. Es ist eine allfällige Erfahrung, dass man über sein Weltwissen, seine Leseerfahrung und über sein Kombinationsvermögen oft weiß, wie eine Erzählung weitergehen wird. Erzählzüge sind grundsätzlich durchschaubar und Handlungsverläufe vorhersehbar – zumindest zu Teilen. Das rührt schon daher, dass zwei oder mehr nicht zusammenhängend eingeführte Sachverhalte im weiteren Erzählverlauf wahrscheinlich nicht beziehungslos bleiben werden. Als von dem Löwen die Rede ist, der in der Nähe des Treffpunktes von Pyramus und Thisbe herumstreunt, weiß der Hörer oder Leser, dass er eine unheilvolle Rolle spielen wird. Der Löwe spielt diese Rolle auf eine überraschende Weise, da er die Liebenden gar nicht anfällt und sogar selbst qualvoll zu Tode kommt. Immerhin aber lässt ein Löwe am Treffpunkt zweier Liebender nichts Gutes vermuten – nur bei Heiligen werden Löwen zahm, nicht bei Liebenden.

Noch jede Erzählung ist Erwartungen an den Handlungsverlauf ausgesetzt und kann natürlich auch mit ihnen spielen.31 Ja, es besteht eine besondere Kunst darin, Erwartungen zu enttäuschen und den Rezipienten zu überraschen – um ihn damit zu vergnügen.32 Wo Erwartungen erfüllt werden, liegt indes keine ‚Motivation von hinten‘ vor. Diese bildet nur einen Spezialfall aus dem weiten Spektrum durchschaubarer Erzählzüge und -handlungen; wobei dieser Spezialfall eher der frühen Geschichte des Erzählens angehört. Durchschaubar sind selbstverständlich auch viele kausal motivierte Erzählzüge. Der Grund dafür ist eine immanente Finalität der Erzählfolge. Beim Anschauen von High Noon sieht man schnell, dass es am Ende zum Showdown kommen dürfte. Auch typisch angelegte Figuren oder Faktoren wie die poetische Gerechtigkeit bedingen bestimmte Erzählverläufe. Durchschaubar sind natürlich auch schema- oder szenariobedingte Erzählfolgen. Hier kann das Vorhersehen des Handlungsverlaufs weit vorausgreifen, und die narrative Sukzession dürfte dann beim Rezipienten quasi simultan repräsentiert sein; er sieht, was bis zum Ende einer Handlungsfolge passieren wird, weil er mit vergleichbaren Folgen aus anderen Erzählungen oder aus dem Alltag vertraut ist. Die simultane Repräsentation bedient sich des Finalnexus, den sie aus allen bekannten Handlungsfolgen destilliert. Dieser erlaubt dann, eine Hypothese aufzustellen, die den Handlungsverlauf voraussagt. Deshalb mögen erfahrene Leser, selbst wenn Finalität jenseits von schematisierbaren Verläufen narrativ kunstvoll kaschiert wird, noch durchschauen, woraufhin erzählt wird.

3. Finalität

Der Begriff der Finalität stammt aus der Handlungstheorie, doch ist ein erzähltheoretischer Begriff von Finalität nicht vollständig aus ihr herzuleiten. Ich möchte im Folgenden Kerntheoreme der Handlungstheorie rekapitulieren, Erweiterungen des Handlungsbegriffs benennen sowie herausarbeiten, dass Finalität sich auf einen Erzähler als Handlungssubjekt, aber auch auf die Plotstruktur einer Erzählung wie schließlich auf die Beschaffenheit der erzählten Welt beziehen lässt.

Die Handlungstheorie klärt, inwieweit durch Handlungen Veränderungen in der Welt herbeigeführt (oder auch verhindert) werden.33 Bei intentionalen Handlungen geht einer Veränderung die Intention voraus, sie herbeizuführen. Seit der Antike weiß man, dass Handeln auf ein Ziel, einen Zweck oder einen Endpunkt (telos, finis) gerichtet ist, das / der diese Veränderung bestimmt. In der Philosophie der Neuzeit ist öfter darauf hingewiesen worden, dass das intendierte Ziel seiner Realisierung als Vorwegnahme im Bewusstsein zeitlich vorausgeht.34 Die Handlungsanalyse hat sich dann u.a. damit beschäftigt, ob und wie diese Vorwegnahme als Verursachung von anschließenden Handlungen zu verstehen ist.35

Schon in der Antike ist die Handlungstheorie auf die Natur und den Kosmos projiziert worden, die / der entsprechend aus Prozessen bestehen soll, die – dem Handeln vergleichbar – auf ein Ziel zulaufen.36 Die Philosophie der Neuzeit hat anthropomorphe Größen wie den unbewegten Beweger beseitigt und u.a. den Begriff eines gerichteten Naturprozesses neu zu bestimmen versucht, der gelegentlich wieder teleologisch verstanden wird.37 Dieser Prozessbegriff ist aber über Hegel und den Hegelianismus auch auf historische und soziale Prozesse übertragen worden und hat sich hier erfolgreich etablieren können.38 Demnach gäbe es also neben Handlungen, die auf ein telos zielen, auch Prozesse, denen ein telos einprogrammiert ist oder in denen ein telos am Werk ist – nach Hegel über die List der Vernunft –, in dem sie auslaufen.39 Finalität läge demnach 1. in (intendierten) zweckgerichteten Handlungen oder Konglomeraten solcher Handlungen vor wie 2. auch in sozialen Prozessen, die auf einen Ziel- oder Endzustand zulaufen.

Beide Varianten des Finalitätsbegriffs lassen sich in der Erzähltheorie zur Geltung bringen. Die erste Variante in dem Sinne, dass Erzählen als Handeln eines Dichters / Erzählers aufgefasst werden kann, das einen Zweck realisiert. Dabei würde man zunächst weniger an wirkungsästhetische Zwecke denken. Näher liegt es wohl, Finalität auf Erzählverläufe zu beziehen, die aus einer Folge von aneinander geketteten inhaltlichen Handlungsschritten bestehen, in denen ein Finalnexus vorwaltet. Der Finalnexus wird aber durch die Erzählabsicht eines Erzählers verliehen, der die Handlungsschritte über Erzählakte realisiert. Natürlich müssen nicht alle seine Erzählakte auf die Verkettung von Plotelementen in einem Finalnexus hinauslaufen. Soweit sie es aber tun, besteht für das Erzählen eine Parallele zu komplexen praktischen Handlungen wie etwa dem Schlagen eines Nagels in die Wand, die man in Teilhandlungsschritte zerlegen kann: Ich lege den Nagel zurecht (= a), hole den Hammer aus dem Werkzeugkasten (= b), nehme den Nagel in die linke (= c) und den Hammer in die rechte Hand (= d), setze den Nagel an der richtigen Stelle an die Wand (= e) und treibe ihn dort mit einem Schlag hinein (= f). Hierbei ist die Folge der nacheinander platzierten Teilhandlungen vollständig durch den Zweck oder das Ziel bedingt.40 Das Erzählen von Pyramus und Thisbe könnte demnach in Parallele zum In-die-Wand-Schlagen eines Nagels analysiert werden,41 und der Tod der Liebenden entspräche als Endzustand des Erzählens nur dem Hineintreiben des Nagels in die Wand.42

Allerdings gibt es eine Handlungsform, die der kunstvollen Anlage einer Dichtung oder Erzählung noch sehr viel weitergehend entspricht als eine praktische Handlung wie das In-die-Wand-Schlagen eines Nagels: die Herstellung eines Artefakts.43 Hierbei zählt nicht wie bei einer praktischen Handlung das Endergebnis einer ausgesuchten Folge von Teilhandlungen, vielmehr ist jeder einzelne Handlungsschritt einer komplexen Gesamthandlung in die Herstellung einer artifiziellen Gestalt integriert. Ein Erzählzug trüge ebenso wie etwa ein Pinselstrich – ut pictura poesis – zur Gesamtkomposition des Kunstwerks bei. Narrative Pinselstriche können das durch eine schlüssige Motivierung tun. Finalität steckt dann in der durchgängigen Anlage und Komposition einer Erzählhandlung auf ihren Ausgang hin. So hat schon Blanckenburg die Aufgabe des Romandichters beschrieben, der in „seinem großen Ganzen billig den Endzweck haben soll, den er mit seinem kleinen Ganzen einer Begebenheit hat“ (Blanckenburg 1774, 312).44

Wenn ich das Erzählen der Geschichte von Pyramus und Thisbe nicht in Parallele zum praktischen Handeln, sondern in Parallele zur Herstellung eines Artefakts auffasse,45 dann liegt die Finalität immer noch auf der Ebene des Erzählens, das als ein artifizielles Erzählhandeln konzipiert wird. Zu ihm ist die Komposition des Plots zu rechnen, aber auch eine im Zuge dieser Komposition vorgenommene Motivierung des Figurenhandelns. Diese trägt zur kunstvollen Anlage des Artefakts, der Erzählung nämlich, bei. Auch der Begriff der Motivation von hinten ist hier unterzubringen, denn der Dichter bringt einen Handlungsschritt ein – bzw. die Erzählung enthält einen Handlungsschritt –, der als Mittel zu einem Zweck dient bzw. eine Funktion in einem Erzählganzen erfüllt.46 Dass er nach heutigen Ansprüchen nicht zureichend narrativ integriert / motiviert ist, wird für einen modernen Leser schnell sichtbar. Würde derselbe Erzählzug vorbereitend motiviert und so geschickter narrativ integriert, so könnte er immer noch entsprechend durchschaut werden, sollte aber nicht – so der terminologische Vorschlag – ‚von hinten motiviert‘ genannt werden. Dass ein Finalnexus bzw. eine integrierte Erzählgestalt vorliegt, ficht diese terminologische Festlegung nicht an.

Finalität in einer Erzählung kann nun aber auch noch ganz anders – im Sinne der zweiten oben genannten Variante des Finalitätsbegriffs bzw. der Prozessidee – aufgefasst werden: als ein erzählter prozessualer Verlauf, der auf ein Ende zusteuert. Bekanntlich sieht die abendländische Geschichtsauffassung Geschichte als einen einmaligen Prozess „mit nichtumkehrbarer Ausrichtung auf ein künftiges Ziel“, ob dies nun im Weltende oder in der vollkommenen Herrschaft der Vernunft liegt.47 Wenn es auch zweifelhaft geworden ist, ob ein solcher Prozess existiert, so erscheinen doch in kleiner dimensionierten Bereichen von Sozialität soziale Prozesse als eine selbstverständliche analytische Größe. Was Hegel als List der Vernunft bezeichnet hat, ist von den Sozialwissenschaften seit Adam Smith längst auch als unsichtbare Hand (bzw. als Synergie o.a.) konzeptualisiert worden und soll in sozialen Handlungszusammenhängen zielgerichtet wirksam sein.

Doch ein solcher Versuch, den Begriff der Finalität vom Handeln auf Prozesse zu übertragen, um dann von final ausgerichteten Prozessen einen Brückenschlag zu Erzählhandlungen vorzunehmen und den Begriff herüber zu ziehen, greift auf den ersten Blick zu kurz. Was elementare Erzählhandlungen auszeichnet, ist erst einmal keine Art von Prozessualität. Eher entfalten sie sich über etwas, was man Basisskripts oder   szenarios nennen könnte. Zum Teil schlagen sich solche Basisskripts schon im Lexikon als komplementäre Begriffe oder Antonyme nieder: ‚Suchen‘-‚Finden‘; wer etwas sucht, rechnet damit, es zu finden. Wer eine Aufgabe gestellt bekommt, wird versuchen, sie zu lösen. Wer herausgefordert wird, wird die Herausforderung annehmen und parieren. Wer sich in eine Bewährungssituation gestellt sieht, wird sie zu bestehen suchen. Wer von jemandem getrennt wird, den er liebt, wird die Trennung rückgängig machen wollen, usw. Auch elementare Interaktionssituationen liefern Basisskripts: Wer Hilfe erhalten hat, wird sie dankbar auch dem Helfer gewähren. Das gleiche gilt für eine Gabe, die man gern zurückerstattet. Wer überlistet worden ist, wird dem Vorteilsnehmer seinen Gewinn mit einer Gegenlist möglichst wieder abjagen. Wer beleidigt oder geschädigt worden ist, wird sich rächen, usw.

In solchen Basisskripts kann man Gestalten oder Ganzheiten sehen, die mit ihrer Entfaltung zugleich zur Abschließung tendieren. Wie man eine der Wahrnehmung unvollständig gebotene Gestalt im Geist vervollständigt,48 so erwartet man auch von einer begonnenen Erzählung bzw. von ihrem Gegenstand, der Erzählhandlung, dass sie auf ein signifikantes Ende zuläuft. Hierbei geht es nicht mehr um die Herstellung eines Artefakts, sondern um dessen Eigenschaften selbst. Es ist als Ganzes nicht die Summe seiner Teile, sondern durch die hergestellten Verknüpfungen der Teile entsteht ein übersummativ geordnetes Ganzes.49 Dies ist nichts anderes, als was auch etwa Blanckenburg schon für eine Erzählhandlung gefordert hatte (s.o.), nur dass er eine spezifische Art der – kausalen – Verknüpfung forderte. Dagegen besäßen über einfachen und erweiterten Basisskripts gebildete Plots Finalität schon in ihrer elementaren Zweiteiligkeit, ohne dass hier ein kausal durchmotiviertes Ganzes angestrengt werden müsste: Wer sucht, der findet – ohne dass das Finden kausal folgen müsste oder auch nur könnte. Wie der Finalnexus leicht auf ganz verschiedene Gegenstandsbereiche projiziert wird,50 so würde er hier einem elementaren Ereignisverlauf, dem Plot mündlicher Volkserzählungen, narrativ imputiert werden. Finalität in diesem Sinne bedeutet nichts anderes als die narrative Aussonderung einer Gestalt in Form eines signifikanten Ereignisverlaufs.

Narrative Ereignisverläufe sind immer Konstrukte, über die wir charakteristische Ereignisfolgen der Lebenswelt be- und aufarbeiten und die deshalb eine soziale Signifikanz besitzen. Dazu werden wohl zuallererst Basisskripts aufgegriffen. Sucht man nach einer Gattung mündlichen Erzählens, die beispielhaft über Basisskripts lancierte Finalität realisiert, so bietet sich das u.a. von Vladimir Propp untersuchte Zaubermärchen an,51 das nach Propp in Anbetracht seiner Motive schon in eine vorhistorische Zeit zurückdatiert: es setzt die Motive in den Rahmen eines künstlich gebildeten Plots und profaniert sie dabei.52 Propp hat für Zaubermärchen initiale Handlungszüge festgestellt, die regelmäßig eine Spannung zur Folgehandlung hin aufbauen: So wird dem Protagonisten etwa ein Verbot erteilt, das er dann verletzt; oder ein Gegenspieler fügt ihm eine Schädigung zu, die pariert werden muss; oder es tritt eine Mangelsituation ein, die behoben werden muss usw.53 Es ist offensichtlich, dass der Handlungsfolge in solchen Fällen Finalität eingepflanzt ist. Sie schafft übrigens ein besonders günstiges Klima für das Ausspielen ‚von hinten motivierter‘ Erzählzüge, auch wenn diese zunächst einmal nicht in die Richtung lenken, auf die die Erzählung am Ende zusteuert. So versinkt der Protagonist z.B. „plötzlich in einen tiefen Schlaf, natürlich nur, um dem Gegenspieler die Arbeit zu erleichtern“( Propp 1928, 35).54 Dies kann in die oben gewählte, die ‚Motivation von hinten‘ kennzeichnende Formulierung gebracht werden: ‚Der Protagonist muss in einen tiefen Schlaf versinken, damit dem Gegenspieler die Arbeit erleichtert wird.‘ Danach freilich holt der Protagonist zum Gegenschlag aus; der Erfolg des Gegenspielers ist nur dazu da, dass der Protagonist am Ende umso eindrucksvoller abschneiden kann.

Finalisierte Erzählungen besitzen – über temporäre Hemmnisse und Hindernisse hinausgehend – immer auch ein basales Kontingenzmoment: Der Protagonist müsste das Verbot nicht verletzen, er könnte davor zurückschrecken, die Herausforderung anzunehmen oder die Schädigung zu rächen, und die Mangelsituation könnte sich perpetuieren. Oft wird das Kontingenzmoment im Erzählverlauf zu einem ausgeprägten Kontingenzstadium erweitert: der Kampf mit einem Kontrahenten kann so oder so ausgehen usw. Dieses Stadium mag sich hinziehen, wird aber am Ende immer im Sinne einer Stärkung oder Bestätigung der Position des Protagonisten entschieden; alle Spannung wird zu seinen Gunsten aufgelöst. Plotdeterminierte mündliche Erzählungen wie Zaubermärchen sind als narrative Konstrukte in diesem Sinne ursprünglich in hohem Maße finalisiert, auch wenn sie systematisch über Kontingenzmomente und -stadien laufen.55 In der Geschichte des Erzählens wird der Kontingenz zunehmend größere Bedeutung zugemessen, während Finalität umgebildet und zurückgenommen wird.

Wenn sich Finalität in Zaubermärchen gern über die erfolgreiche Abwendung von Hemmnissen und die Überwindung von Hindernissen durch einen Protagonisten entfaltet, der in eine Problemsituation geraten ist und sie löst, dann muss man den Begriff narrativer Finalität noch einmal eigens für Erzählplots prägen. Weder lässt sich deren immanente Finalität vom Handlungs-, noch vom Artefakt-, noch schließlich vom Prozessbegriff her ableiten. Nur weil man darauf vertrauen kann, dass ein Plot entsprechend – d.h. über Basisskripts vermittelt – erzählt wird, lässt sich dann von Finalität sprechen.56 Wird die Kontingenz aber anders zur Geltung gebracht und enden Erzählungen so oder so, dann lässt sich die Rede von Finalität nur stärker generalisierend aufrechterhalten; schließlich nur noch in dem abstrakten Sinn, dass man erwarten kann, dass eine Erzählung in irgendeiner Weise betont endet. In diesem Sinne freilich dürfte wohl noch jede Erzählung, wenn sie nicht aleatorisch angelegt ist, final enden. Das macht auch deutlich, dass der Begriff der Finalität sich kaum als analytischer Begriff eignet: Er bezeichnet eine universelle Eigenschaft von Erzählungen bzw. von Sinnstiftung in und durch Erzählungen, nur dass diese Eigenschaft sich in der Geschichte des Erzählens sehr unterschiedlich darstellt, indem Finalität immer wieder anders ausgespielt wird. Man kann sich schon denken, dass infolge experimenteller Enttäuschung aller Erwartungen eine écriture automatique und dergleichen Verfahren mehr geradezu erfunden werden mussten.

Wenn ein Märchen oder eine plotdeterminierte mündliche Volkserzählung57 eine Suche des Protagonisten erzählt,58 wenn dieser eine schwierige Aufgabe lösen muss,59 wenn er sich bewähren und seinen Mut beweisen muss60 oder geprüft wird,61 dann kann man indes sicher damit rechnen, dass er finden wird, was er sucht, dass er die Aufgabe lösen, sich bewähren, seinen Mut beweisen und die Prüfung schließlich bestehen wird, auch wenn ein Kontingenzstadium vorübergehend sein Scheitern befürchten lässt. In der weiteren Geschichte des Erzählens sind es u.a. affektiv besonders besetzte Zustände wie Liebe, Tod und wichtige Lebensstationen, die als narrative Episoden oder vollständige Plots besonders leicht mit der Unterstellung von Finalität – ggf. auch von Teilstrecken einer Erzählung – einhergehen.

Von einer vom Dichter zu verantwortenden und über seine Erzählakte lancierten Finalität ist damit eine Finalität unterschieden, die im Plot oder der Handlungsstruktur einer Erzählung gebunden ist. Hiergegen muss aber wohl noch einmal eine weitere Unterscheidung vorgenommen werden, für die auch die Prozessidee wieder zu beachten ist. Natürlich können soziale Prozesse erzählt werden: Streiks, Aufstände, Beziehungsverläufe u.a.m. – hierbei gerät Finalität allerdings auf die Seite der erzählten Welt. Bedeutsamer noch für die Geschichte des Erzählens sind Fälle, wo Finalität auf andere Weise der erzählten Welt angehört: Schon seit der Ilias insinuieren nämlich Großerzählungen den Eingriff der Götter, Gottes oder einer numinosen Instanz. Hat Cupido eine Liebe durch seinen Pfeil verursacht oder lenken höhere Wesen die erzählten Ereignisse, sei es auch im Streit miteinander, dann gehört Finalität der erzählten Welt an.62 Auch als Fortuna steuern Instanzen noch die erzählten Ereignisse, und sogar in feinsten Andeutungen des Erzählers über ein kaum zufälliges Geschehen können sich entsprechende Lenkungen abzeichnen.63

Von Finalität des Erzählens lässt sich nach diesen Überlegungen in dreifacher Weise sprechen: 1. Finalität in Analogie zu einer praktischen Handlung oder im Sinne der Herstellung eines Artefakts – ein Konstrukteur / Dichter zeichnet dafür verantwortlich. 2. Finalität als Entfaltung eines Basisskripts oder als Ausrichtung einer Erzählhandlung auf ein betontes Ende hin – Finalität erscheint hier im Plot gebunden. 3. Finalität in Form eines in der erzählten Welt ablaufenden Prozesses oder eines von einer höheren Instanz gelenkten Verlaufs – Finalität gehört hier der erzählten Welt an.

Da die aufgeführten Bedeutungen von Finalität sich nicht ausschließen und ein Dichter sich eine finale Verlaufsform – sei es eines Basisskripts oder eines von einer höheren Instanz gelenkten Verlaufs – zunutze machen kann, können ggf. mehrere oder gar alle drei Formen von Finalität gleichzeitig realisiert sein. Entsprechend wird es nicht immer möglich sein festzulegen, ob die Finalität dem Konstrukteur des Plots zuzuschreiben, ob sie neutral plotgebunden oder ob sie der erzählten Welt zuzuweisen ist.

Märchen lassen sich keinem bekannten Schöpfer / Konstrukteur mehr zurechnen, auch wenn es ihn gegeben haben muss. Bei ihnen wird Finalität dem Plot selbst zugeschrieben, vermittelt über einen Schöpfer und Tradenten einenden überindividuellen Erzählhabitus. Der Plot setzt um, was man das Mysterium einer nicht intentional gesteuerten Finalität nennen könnte. Solche Finalität vermittelt den Eindruck, an sich ungesteuerte und nicht steuerbare Verläufe liefen gleichwohl finalisiert ab, indem sie nämlich am Ende Sinn ergeben und auf ein der oft naiven Moral des Märchens entsprechendes sinnvolles Ende zulaufen. Immer wenn erzählte Ereignisse sich zu einem guten Ende fügen, liegt eine solche Finalisierung vor. Sie bedeutet nichts anderes, als dass die Deutungskompetenz des Menschen bei bestimmten Stationen einer Ereignisfolge haltmacht und dem Haltepunkt Sinn in Rückbezug auf die vorhergehenden Ereignisse verleiht. Finalität kann man freilich auch höheren Instanzen, die in der erzählten Welt walten, in die Hand geben. Heute stellt sie ein Autor her, wenn er einen Roman schreibt – wobei er auch soziale Prozesse vorwalten lassen kann. In der Geschichte des Erzählens war Finalität ursprünglich im Plot gebunden, und der Plot mochte durch die Prägnanz seiner eigenen Gestalt im Forterzählen mehr oder weniger erhalten bleiben, ohne dass er auf einen Autor bezogen werden musste oder konnte.64 Man sah dem Plot ‚von hinten motivierte‘ zufällige Koinzidenzen beim Zulauf auf das Ende nach, wenn man sie denn bemerkte; dem späteren Autor dagegen verzeiht man sie nicht mehr so leicht.65

4. Historische Gesichtspunkte narrativer Finalität

Lugowski hat nach einer letzten Bezugsgröße für ein vom modernen unterschiedenes vormodernes Erzählen gesucht und sie im Mythos zu finden geglaubt.66 Deshalb bestimmt er nachlebende Erzählformen als dem Mythos analog, er spricht vom mythischen Analogon, das sich freilich in der Frühen Neuzeit aufzulösen beginne. Eine solche Orientierung am Mythosbegriff erscheint für die Zeit der Entstehung seiner Arbeit in den 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar, sie ist aber im Interesse der Sache irreführend. Der Mythos ist in hohem Maße in eine bestimmte Kultur eingebunden, er dient verschiedenen Formen des kulturellen Gedächtnisses sowie der Ausbildung kultureller Identität, und er ist als sakrale Erzählung schon von den Umständen seines Vortrags her auf charakteristische Erzählsituationen beschränkt. Sein Personal – oft Götter oder höhere Wesen, eher keine einfachen Menschen – ist bekannt, er lässt es in einer besonders ausgewiesenen Vorzeit (in illo tempore) auftreten usw. Erzählen in oralen Kulturen ist allerdings bei weitem nicht auf den Mythos beschränkt – auf den Mythos fixierte Verallgemeinerungen erklären sich aus dem besonderen Interesse der Forschung am antiken Mythos über das ganze 19. hinweg bis ins 20. Jahrhundert hinein. Bezugsgröße der Erzähltheorie sollte stattdessen zuallererst die plotdeterminierte Volkserzählung (folktale, Märchen) sein. Solche Erzählungen sind künstlich im Sinne Lugowskis, sie sind gemacht. Die Figuren werden hier neu eingeführt – im Gegensatz zum Mythos oft nicht mit Namen –, und der / die ansonsten unbekannte Protagonist(in) wird in einer meist nicht näher bestimmten Zeit und Gegend67 in eine Problemsituation geführt, die er / sie am Ende löst. Leicht sorgen außeralltägliche Umstände in der erzählten Welt oder Besonderheiten der Plots dafür, dass die Erzählungen nicht für real gehalten werden. Erzählt wird um der Unterhaltung willen.

Mythen wandern nicht ohne Umbau und Umbesetzung über die Grenzen von Kulturen und Sprachen hinweg, plotdeterminierte mündliche Erzählungen und Erzählstoffe aber schon, wenn sie von mobilen Erzähler-Migranten mitgenommen und weiter gegeben werden. Viele Kulturen kennen zudem eine Unterscheidung zwischen Mythen und profanen Erzählungen wie Märchen, und diese lassen sich dabei nicht auf jene reduzieren oder zurückführen.68 Das Märchen aber dürfte angesichts seiner Eigenschaften im Vergleich zum Mythos den adäquateren Gegenpart für das Erzählen im modernen Roman bilden.69

Lugowskis Versuch, für die Geschichte des Erzählens ein mythisches Analogon anzusetzen, in dem sich die Form des Mythos forterbt,70 war fehlorientiert. Gewiss kann man fragen, inwiefern sich etwa im modernen Roman auch Eigenschaften des Mythos erhalten oder wiederherstellen.71 Zunächst einmal erhalten sich in ihm aber in vergleichsweise direkter Nachfolge (Form-)Eigenschaften des Erzählens, wie sie immer schon – jenseits vom Mythos! – existieren, und zwar ohne bloße Analogie.

Lugowski hat solche Formeigenschaften auf treffende Weise beschrieben, allerdings den Begriff der Finalität bzw. der Teleologie dabei für ungeeignet gehalten,72 auch wenn er immer wieder die Resultathaftigkeit und die Bedeutung des Ergebnismoments im vormodernen Erzählen herausarbeitet.73 Tatsächlich ist das, was er ‚Darstellung einer Welt des reinen, unbewegten und zeitlosen Seins‘ nennt,74 noch ein andersartiges Merkmal vormodernen Erzählens, das mit dem Begriff der Finalität nicht schon miterfasst ist. Märchenplots etablieren eine gleichsam zeitlose Zeit, die man ihre immanente Plotdauer nennen könnte. Diese Plotdauer ist die an den Plotverlauf gebundene Zeit, und sie erscheint nicht angeschlossen an eine darüber hinausreichende historische Zeit oder Weltzeit,75 noch bildet sie eine mythische Zeit. Es ist genau die Dauer, die der Plot braucht, um sich zu entfalten und zum Ende zu kommen.76 Sie wird auch nur höchst notdürftig als Zeit gemessen. Die Figuren sind in dieser Dauer keiner fühlbaren Veränderung unterworfen; sie bleiben statisch und altern nicht eigentlich. Dies ist auch auf die Einschränkung kausaler Motivierung zurückzuführen, die über die mit dem Plot je schon gegebene oder in ihm gebundene Kausalität nicht hinausgeht. Selbstständige Kausalität würde einen impliziten Zeitverlauf etablieren, der weiter gedacht werden könnte; der Plot etabliert dagegen ein Nacheinander, das der Kausalität nur eine rudimentäre Rolle zuweist – das Nacheinander endet mit dem Ende des Plots. Erzählzüge werden vorwiegend linear gereiht, sie bleiben oft unverbunden, und raumzeitliche Passungen lenken das Geschehen. In die Figuren werden keine Spuren der Zeit hineingetragen. Sie sind wie auch die Erzählzüge nur Funktionen des Plots.77 Dieser kennt keine parallelen Handlungsstränge, die den Eindruck gleichzeitigen Geschehens befördern würden: über Parallelhandlungen könnte sich ja ein relativer Zeitbegriff entfalten lassen. Die ohne jede weitere zeitliche Relationierung bleibende Plotdauer ist deshalb keine Dauer mit einer substantiellen Veränderung, die erzählte Welt bleibt sich gleich. Diese Eigenschaften der Plotdauer erschienen Lugowski als reines, unbewegtes Sein und als zeitlos.

Diese summarische Beschreibung der Plotdauer kann allerdings nur aus der Perspektive eines modernen Lesers gebildet werden. Nur er weiß, wie es sich beim Lesen anfühlt und wie es angestellt wird, wenn der erzählten Zeit eine eigene Bedeutung zugemessen wird: sie erscheint dann eingebettet in eine über den Plot hinausreichende Zeitachse und etwa ins Verhältnis zu parallelen Erzählsträngen gesetzt, die keine bloße Extension der Plotdauer bilden. Die Figuren erleben selbst Zeit und sind substantiellen Änderungen unterworfen, da die erzählte Raumzeit keine Passungen, sondern Erfahrungskontingenzen für sie vorsieht. Die Figurenzeichnung erhält ein eigenes Gewicht, ohne ausschließlich funktional bestimmt zu sein. Figuren werden folglich zunehmend individualisiert, sie dürfen altern. Anstelle ‚von hinten motivierter‘ Erzählzüge setzt sich kausale Motivierung durch. Lugowski hat weitere Kontrastkategorien gebildet und auf die Zukunftsoffenheit sowie die auf ein nicht absehbares Ende gerichtete Spannung – die Ob-Überhaupt-Spannung – im modernen Erzählen hingewiesen.78 Erst in der aufgebrochenen und neu geprägten Plotstruktur späteren Erzählens verselbstständigt sich Finalität gegenüber der Plotdauer, mit der sie zuvor zusammenfällt.79

Wenn in der Geschichte des Erzählens und des Romans – die sich zumindest partiell analog zur Geschichte der bildlichen Darstellung als eine je weitergehende Angleichung an die Wirklichkeit rekonstruieren ließe80 – die ‚Motivation von hinten‘ mit der zunehmenden Ausbreitung kausal motivierter Erzählzüge zurückgedrängt wird,81 dann läuft dabei eine voranschreitende Abstimmung zwischen den Dichtern und ihren Lesern mit. Romane legen nicht gleich sämtliche Gewohnheiten mündlicher Erzählkulturen ab. Spät erst fällt die ‚Motivation von hinten‘ auf. Sie kann als störend empfunden werden, wenn das Anspruchsniveau der Leser an eine Wirklichkeitsähnlichkeit des Erzählten steigt. Dichter lernen, indem sie selbst lesen, störende Leseeindrücke zu vermeiden. Auch schauen sie voneinander ab, wie sich eine geschickte Wirklichkeitsillusion bewerkstelligen lässt, da sie sich nicht wie Maler in die Lehre von Meistern begeben können. Sie lernen ‚Motivation von hinten‘ wahrzunehmen und zu vermeiden. So werden z.B. unwahrscheinliche raumzeitliche Passungen nicht mehr akzeptiert.

Trotz eines sukzessive steigenden Anspruchsniveaus an wirklichkeitsähnliche Darstellung weiß man freilich heute nicht, ob es nicht durchaus zum Rezeptionsmodus archaischer Hörer gehörte, die Plotdauer so aufzufassen, wie der moderne Leser im Zuge seiner Lektüre Zukunftsoffenheit und Ob-Überhaupt-Spannung in einer Erzählung wahrnimmt. Was nicht gestaltet wurde, könnte Gegenstand einer selbstständigen Ergänzung durch die Hörer gewesen sein. Richtig bleibt aber, dass die Gestaltung sich fortentwickelt hat, und zweifellos hat auch die Erfahrung von Zukunftsoffenheit in der Lebenswelt eine andere Qualität gewonnen. Es gibt deshalb eine Geschichte des Erzählens, in der sich einschneidende Änderungen der Form des Erzählens eingestellt haben. Die Erzählform interagierte in historischer Zeit mit Hörern, die eine andere Wirklichkeitserfahrung mitbrachten und deren Wirklichkeitserfahrung sich kontinuierlich änderte: auf einschneidende Weise allemal, als sie zu Lesern wurden. Narrative Finalität, die einmal mit der Plotdauer gegeben war, wurde dabei ausgesondert und verselbstständigt, auch indem der Beachtung von narrativer Kausalität ein immer größeres Gewicht zugemessen wurde.

Das Begriffsarsenal Lugowskis lässt sich, ohne dass er sich darüber im Klaren war, weithin auf das mittelalterliche Erzählen anwenden. Allerdings wählt man dabei als nachgeborener Leser mit einem modern geschulten Blick und einem gestiegenen Anspruchsniveau eine Perspektive und Beschreibung, die das Primärpublikum nicht hätte teilen und übernehmen können. Für den modernen Leser altert Kriemhild nicht, auch wenn Zahlenangaben im Nibelungenlied die verstreichende Zeit immerhin nennen; und Brünhild verschwindet einfach, als die einsträngige Erzählung sie nicht mehr braucht. Dass Artushelden altern, wird man auch kaum zugeben, selbst wenn Wolfram aufwändig erzählt, wie Parzival seine kindliche ‚tumbheit‘ nach und nach ablegt. Im mittelalterlichen Erzählen wirkt erzählte Zeit in der Regel nicht kontinuierlich über Kausalwirkungen auf eine erlebende Figur ein, sondern rückt mit den Erzählepisoden in Blöcken vor,82 und Kausalität bleibt in die in sich zentrierten Verlaufsformen der Episoden eingeschlossen. Das Handeln der Figuren spielt sich immer noch nicht in einer unabhängigen, autonomen Zeit ab, sondern Zeit ist vielmehr von ihrem Handeln abhängig.83 So bleiben etwa im Artusroman viele Merkmale der Plotdauer erhalten. Eine durchgehend kausale Motivierung individueller Lebenslinien vermag erst der moderne Roman zu bewerkstelligen.

Im Roman des 20. Jahrhunderts wird der Kausalität überspannende Finalnexus radikal problematisiert; zuerst in offenen Formen des Erzählens,84 dann etwa in der Darstellung eines Romanautors, dem kein Ende zu einer geplanten Erzählung mehr einfallen will und der deshalb nicht anfangen kann zu erzählen (André Gide: Die Falschmünzer),85 und wiederum in Erzählungen, die mehrere alternative Enden anbieten (John Fowles: Die Geliebte des französischen Leutnants) oder ein Ende verweigern86 sowie in vielen anderen Erzählexperimenten mehr.

Literaturverzeichnis

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Andersen, Walter (1923): Kaiser und Abt. Die Geschichte eines Schwankes. Helsinki.

Anon. (1744): „Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen“. In: Critische Versuche ausgefertiget durch Einige Mitglieder der Deutschen Gesellschaft in Greifswald. Zweyter Band, S. 21-51. (Vgl. einen Teilabdruck des Textes bei Hartmut Steinecke / Fritz Wahrenburg (1999) (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart, S. 113-121).

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Prof. Dr. Harald Haferland
Universität Osnabrück
Fachbereich 7
Neuer Graben 40
D-49069 Osnabrück
E-Mail:
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1Für Hilfestellung danke ich Uta Störmer-Caysa und Elke Koch.

2Eine entsprechende Erzählung könnte also etwa lauten: ‚[...] Eines Tages starb nun seine Geliebte. Sein Schmerz darüber erreichte eine Intensität, wie man sie auch an seinen anderen Gefühlen beobachten konnte.‘

3Vgl. zur Diskussion von Lugowskis Beispiel auch Ajouri 2007, 26f. Barthes 1988, 112f., hat entsprechende Erzählzüge indiziell genannt.

4Der Begriff ‚Motivation‘ ist deshalb irreführend. Es wird nichts motiviert, sondern die im folgenden Erzählverlauf sichtbar werdende Erzählabsicht des Dichters oder Erzähllogik liefert die Erklärung für den Erzählzug. Entsprechend setze ich den missverständlichen Begriff im Folgenden in einfache Anführungsstriche.

5Vgl. Lugowski 1932, 67. Er bezieht sich auf eine Stelle aus Wielands Abderiten (1964, 623).

6Schon einmal vor Blanckenburg hat ein kluger Anonymus ähnlich argumentiert, aber präziser den philosophischen Satz des zureichenden Grundes für das Erzählen herangezogen, wonach „der vorhergehende Zustand den Grund von dem folgenden in sich [hat]. [...] Dies verbindet einen Dichter [gemeint ist ein Romandichter, H.H.], sein Gedicht also einzurichten, damit die folgenden Begebenheiten aus den vorherigen können gerechtfertiget werden“. Die Einheit des Romans entstehe deshalb aus der notwendigen Bezogenheit von nachfolgenden auf die vorhergehenden Begebenheiten. Anon.: Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen (1744, 37, vgl. insbesondere die §§ 6-8).

7Hermes: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (1941, 47, im neunten Brief des ersten Teils).

8Vgl. den Text bei Grubmüller 1996, 336-362.

9Vgl. das Material bei Bolte / Polívka 1963, Bd. 4 sowie Bd. 5, 239-264. Ich verwende im Folgenden den in Deutschland eingebürgerten Begriff des Märchens anstelle des neutraleren folktale. Meine Annahme stützt sich nicht auf die Persistenz von Motiven, sondern von Plots wie etwa dem der aus der narrativen Folklore abgezweigten Polyphemerzählung in der Odyssee (= ATU 953, 1135, 1137; vgl. dazu Hackmann 1904), der Tobiaserzählung im alttestamentlichen Buch Tobit (= ATU 505-507; vgl. dazu Liljeblad 1927) oder dem Märchen von Amor und Psyche, das in des Apuleius Metamorphosen umgeformt erscheint (= ATU 425 und 425 A-P; vgl. dazu im Anschluss an seine eigene frühere Untersuchung des Märchens Swahn 1984). Die aufgeführten Untersuchungen sind sämtlich nach der geographisch-historischen Methode erstellt worden und belegen die Volksläufigkeit der ermittelten Erzählvarianten und deren Unabhängigkeit von literarischen Niederschlägen. Solche Beispiele, sowie weitere, die indische oder ägyptische Parallelversionen zu europäischen Versionen nachweisen lassen, machen deutlich, dass eine Reihe von Märchenplots bis weit in die Antike und letztlich in vorhistorische Zeit zurückdatieren. So etwa beim Zweibrüdermärchen – mit dem Plotskelett zweier Brüder, die sich trennen, mittels eines Lebenszeichens wiederfinden und wegen der Frau des einen in Zwist geraten, um sich schließlich wieder zu versöhnen –, von dem sich eine literarische Umbildung mit Voranstellung des Zwists schon im 13. Jahrhundert vor Chr. auf einem ägyptischen Papyrus findet.

10Lüthi zitiert mit der Prägung ‚Offenheit der Motivation‘ Roloff 1973, 119.

11Vgl. entsprechende Beispiele bei Lüthi 1975, 81f.

12Unter einem Plot von mündlichen Erzählungen (Märchen) verstehe ich im Folgenden, was bei Uther 2011 als Typ gezählt, klassifiziert und beschrieben wird. Ich verstehe ‚Plot‘ also wie bei meiner Wiedergabe von Pyramus und Thisbe als Handlungsschema und ausdrücklich nicht im Sinne von Forster 1974, Kap. 5, als durchmotivierte Erzählung (s. auch die nächste Endnote). Ein Plot ist kognitiv repräsentiert und führt, da er nicht scharf umrissen ist, zu einer offenen Menge von Realisationen.

13Vgl. Lüthi 1975, 202, mit dem Verweis auf Jakobson 1974, 55f., wo eine elementare goal-directedness im Erzählen herausgestellt wird. Forster 1974, 93f., hat betont, dass die Ausrichtung auf das Was der Erzählung nur für Höhlenmenschen, für einen tyrannischen Sultan und vielleicht noch für beider modernen Ableger, den gewöhnlichen Kinobesucher, Geltung beanspruchen kann; Rezipienten mit höheren Ansprüchen würden dagegen nach einem Plot, und das heißt nach Forsters berühmter Plotdefinition: nach dem Warum einer Erzählung fragen. Erzählanthropologisch wäre Forsters zugespitzte und eher idiosynkratische Plotdefinition – wie er angesichts seiner Rezipientenklassifikation selbst sieht – wieder zurückzudrehen. Ein Plot enthält das Warum nur, soweit es im Was impliziert ist.

14Ich verwende ‚kausal‘ im Folgenden in übergreifender Bedeutung und verstehe unter kausaler Motivierung jede Motivierung, die ein Element der Folgehandlung herbeiführt, wie es etwa auch psychologische Motivierungen tun. Der Gegenbegriff wäre der einer Kopräsenz oder einer bloß temporalen Folge. Man kann hier weiter differenzieren: Eine konsekutive Folge im Sinne schwacher Kausalität würde Elemente reihen, die einander schwach bedingen: dass Thisbe die Kleider fallen lässt (vgl. c), ist nur eine schwache Bedingung des Umstandes, dass der Löwe sie dann zerfetzt (vgl. d). Eine konsequentielle Folge im Sinne starker Kausalität würde Elemente reihen, die einander stark bedingen: Pyramus stößt auf die vom Löwen zerfetzten Kleider (vgl. d), deutet sie falsch und bringt sich deshalb um (vgl. e) usw. Plausibel erscheint eine dreifache Differenzierung von allgemeinen Voraussetzungen, schwach bedingten, konsekutiven Folgen und stark bedingten, konsequentiellen Folgen. Vgl. Haferland 2015.

15Lugowski 1932, 27, weist darauf hin, dass es erst Sache der Nachfahren ist, die eigentümliche Anschauungsform von Zeitgenossen einer früheren Zeit zu erkennen, und verweist auf Dilthey 1922 mit einem Kapitel über das mythische Vorstellen (ebd., 134-142).

16Der Modellrezipient ist deshalb zu historisieren: gemäß seiner Erfahrung im Umgang mit komplexer werdenden Erzählungen steigt sein Auflösungsvermögen. Vgl. auch Haferland 2014, Kap. 1.

17Lüthi bezieht sich auf die Nr. 67 der Sammlung von Leskien 1919, auf Märchen mit dem zur rechten Zeit zurückkehrenden Bräutigam (wie z.B. KHM 60) sowie auf KHM 88 (Das singende springende Löweneckerchen). Er führt daneben viele weitere Beispiele an. – Lüthi hat für seine Phänomenologie des Märchenstils Begriffe verwendet, die auch Lugowski verwendet (z.B. die Begriffe der Isolation und der Abstraktheit) und die in ein deskriptives Arsenal überführt zu werden verdienten, das die Genese des Erzählens entschlossener mit einbezieht.

18So auch Lüthi 1962, 35: „Die Eigenart des Märchenstils entspricht gleichzeitig menschlichen und künstlerischen Bedürfnissen und eignet sich für die mündliche Übertragung.“ Lugowski 1932, 107, übersieht die Herkunft von raumzeitlichen Passungen aus den Umständen mündlichen Erzählens und beschreibt sie phänomenologisch als Beschränktheit der erzählten Welt in Raum und Zeit.

19Nach Lüthi 1975, 81f., würden zu viele kausale Motivationen das Märchen seiner eigenen Gattung entfremden.

20Zum Spielraum von Erzählern vgl. die konzise Zusammenfassung von Dégh 1962, 171.

21Zum Prägnanzgesetz vgl. im Anschluss an die Erkenntnisse der Gestaltpsychologie Pöppel 1997, 79f. Anderson 1923, Kap. 11, hat von der Selbstberichtigung einer Erzählung im Zuge ihrer Tradierung gesprochen, indem Erzähler aufgrund wiederholten Hörens der Erzählung von anderen Erzählern eine eigene konjizierte Version bilden. S. dazu Goldberg 2007, die auf einen für Erzähler von der Plotstruktur selbst ausgehenden Selbstberichtigungseffekt hinweist. Zum Begriff einer auf diese Weise entstehenden gattungstypischen Gestalt, die nicht bewusst geformt wird, sondern gewissermaßen zwangsläufig und unwillkürlich zustande kommt, vgl. Bausinger 1968, 56f., mit Bezug auf Jolles 1930.

22Vgl. zur Rolle des Vergessens Krohn 1926, 59f. u.ö.

23Vgl. zur Annahme, dass das Märchen eine feste Erzählung ist, „die nur einmal an bestimmter Stelle und zu bestimmter Zeit entstanden“ bzw. in historischer Zeit durch einen Schöpfer in die Welt gekommen ist, Aarne 1913, 12. Vgl. eine sich an die Brüder Grimm haltende dezidierte Gegenposition bei Jolles 1930, 219-246.

24Sedelmeier 1984, 353, spricht von der „üblichen Tychemotivierung: zufälliges Eintreffen im richtigen Augenblick“, wenn eine Entscheidung nicht aus einem inneren Zustand einer Figur resultiert, sondern zufällig von außen an sie herangetragen wird.

25Zum strukturellen Einfluss der Neuen Komödie (Menander) auf den antiken Liebesroman vgl. Perry 1967, 140f.

26Nach dem Wikipedia-Artikel Figuren aus James Bond-Filmen (01.05.2014) gibt es in den bisher 23 Bond-Filmen 53 Bond-Girls. Es ist nicht immer gleich gut gelungen, sie in die Erzählhandlung einzubinden. Die vorbereitend motivierte Einbindung kann mit der Verselbstständigung des Motivschemas auch verzichtbar erscheinen.

27Tatsächlich dürfte solch ein Kaschieren häufig in genau diesem Sinn erfolgen. Lugowski 1932, 110 und 113, spricht davon, dass die ‚Motivation von hinten‘ dann durch eine kausale Motivierung gedeckt sei. Allerdings bekäme man es dann mit einer großen Zahl unentscheidbarer Fälle zu tun, da auch hochgradig kausal motivierende Romane wie etwa die Jane Austens oft soweit durchschaubar sind, dass viele ihrer vorbildlich kausal motivierten Erzählzüge als von hinten motiviert erscheinen könnten. Deshalb sollte man nur solche Fälle, in denen eine kausale Motivierung offenkundig an den Haaren herbeigezogen ist, noch zu vertretbaren Fällen einer ‚Motivation von hinten‘ rechnen.

28Tomashevskij 1985, 227-229, diskutiert entsprechende Beispiele unter dem Begriff der kompositorischen Motivierung. Den Begriff übernehmen Martínez / Scheffel 1999, 114f. Als kompositorisch ließe sich mit Martínez und Scheffel auch die ‚Motivation von hinten‘ verstehen. Dann wäre weiter zu differenzieren, ob sie einem Erzählhabitus oder einem individuellen Erzählplan folgt.

29So die Norm schon der präskriptiven Romantheorie. Vgl. von Blanckenburg 1774, 317: Alle Erzählzüge müssen „als Mittel zu dem vorgesetzten Entzweck sich passen: je größer wird ihr Werth für das Werk seyn“.

30Auch bei schlüssig durchmotivierten Handlungen bleibt die natürliche Hintergrundkontingenz der Welt erhalten, wie sie den menschlichen Alltag begleitet: Dass eine Pistole, die in einem Roman gebraucht wird, vorher kompositorisch eingeführt wird und der Mörder sie bei seinem Mord nicht zufällig in der Schublade findet, schließt nicht aus, dass sie hier zufällig liegt bzw. dass er sie hier vorher schon zufällig gesehen hat. Entscheidend ist nur, dass die Erzählung eine unwahrscheinliche raumzeitliche Passung umgeht.

31Tomashevskij 1985, 229, hat in diesem Zusammenhang von irreführenden Motivierungen gesprochen, die den Leser auf eine falsche Fährte führen.

32Vgl. Kermode 1971, 17-24.

33Vgl. etwa von Wright 1977, 106 u.ö.

34Vgl. etwa in Zusammenfassung eigener älterer Arbeiten Hartmann 1944, bes. 64-79.

35Vgl. etwa Beckermann 1977a. Zu weiteren Themen vgl. Beckermann 1977b Die verschiedenen Problemfelder neuerer Handlungstheorie(n) müssen hier nicht vorgestellt werden.

36So hat zuerst Aristoteles den Begriff des telos als Finalursache auf Naturprozesse angewendet. Allerdings ist im aristotelischen Begriff des Werdens (genesis) als charakteristischer Prozessform der Natur die Handlungsanalogie wieder preisgegeben.

37Die prominenteste Prozessphilosophie stammt von Whitehead 1979, wo der Begriff des Vektors neben dem des Ziels oder Zwecks eine zentrale Rolle zugewiesen bekommt. In seiner Beschreibung mikroskopischer Prozesse sieht Whitehead (ebd. 396f.) Teleologie am Werk.

38Vgl. Röttgers 1983. Hegel greift insbesondere in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften den Prozessbegriff dezidiert auf. Vgl. die Stellen bei Glockner 1957, 1927. Danach sind (sich wiederholende) Naturprozesse noch nicht durch Finalität gekennzeichnet. In Hegels Behandlung der Teleologie (Enzyklopädie, Erster Teil, Dritte Abteilung, B. c., vgl. bes. § 209) wird aber deutlich, dass es Prozesse gibt, in denen die unbeteiligte List der Vernunft sich gegen die vorwaltenden Kräfte durchsetzt, indem sie sich außerhalb hält und doch in ihnen erhält. Dadurch objektiviert sich ein absolut gedachter Zweck.

39Ich differenziere hier nicht weiter zwischen reiner Prozessualität und zielgerichteten Prozessen.

40Finalität überlagert oder inkorporiert Kausalität. Hartmann 1949, bes. Abschnitt IV, hat herausgearbeitet, dass ein Finalnexus immer einen Kausalnexus überlagert: „in ihm funktioniert die Reihe jener vom vorgesetzten Zweck aus seligierten Mittel nur noch als Reihe der Ursachen: jedes Mittel bringt das nachfolgende als seine Kausalwirkung hervor, und als letztes Bewirktes steht der real gewordenen Zweck da“ (ebd. 567). Eine ausführliche Entfaltung dieses Gedankens s. bei Hartmann 1944, Kap. 7 und 8.

41Insofern die finalen Erzählakte eine Kausalfolge inkorporieren, liegt diese auf einer höheren Ebene als Kausalfolgen in der erzählten Welt.

42Die Ratgeberliteratur zum Schreiben etwa von Drehbüchern kommt dieser Auffassung oft nahe. So z.B. McKee 2000, 227: „Eine Story darf sich nicht auf Handlungen von geringer Qualität und Größe beschränken, sondern muß sich fortschreitend auf eine letzte Handlung hinbewegen, über die hinaus sich das Publikum keine weitere vorstellen kann.“

43Ajouri 2007, 14, 17 u.ö., arbeitet im Anschluss an Woodfield 1976 ein entsprechendes Konzept von Finalität bzw. Teleologie als Artefakt-Teleologie überzeugend heraus. Vgl. bei Ajouri auch weitere Literatur zur Diskussion der Teleologie in der philosophischen Tradition.

44Beachtet man, was Blanckenburg dann als Endzweck des Romans bestimmt – nämlich die Darstellung der inneren Geschichte eines Charakters (vgl. dazu auch Ajouri 2007, 44-63) –, so wird klar, dass die Bestimmungen der Finalität ihrerseits zu historisieren sind. S. auch unten Endnote 83f.

45Es müsste sich um das erste Erzählen handeln, das intentional und in freier Wahl der Mittel / Erzählschritte erfolgt wäre.

46So Lugowski 1932, 59-61 u.ö.; vgl. auch Ajouri 2007, 29-32. S. zum Begriff der Funktion auch unten Endnote 77. – Es ist darauf zu achten, dass vorbereitende und kausale Motivierung, die in der erzählten Welt wirken, nicht mit der Kausalwirkung eines Mittels / Erzählschrittes des Dichters, das nächste Erzählelement für den Leser plausibel zu verursachen, verwechselt wird. Kausalität liegt auf der Ebene des Erzählten und Komposition und Rezipientenbezug auf der Ebene des Erzählens.

47Vgl. Löwith 1953. Das Zitat auf S. 57.

48Metzger 1953. Eine solche Gestalt kann auch die Bewegung eines Objekts sein.

49Vgl. hierzu mit einem Blick auch auf die philosophische Tradition der Gestaltanalyse Weinhandl 1927. Für ein solches Ganzes bekommt der Begriff der Funktion eine besondere Bedeutung als Relation der Teile untereinander und zum Ganzen.

50Nach Hartmann 1944, 78f., „tritt die Finalität im Bewußtsein auch als Inhaltskategorie der Anschauung, des Erlebens, der Vorstellung und der Erkenntnis auf. Sie ist darin durchaus vergleichbar den bekannten Anschauungsformen des Raumes und der Zeit [...]: das Bewußtsein hat die Tendenz, sie unbesehen von Gegenständen, auf die sie paßt, und nach deren Analogie auf solche Gegenstände und ganze Gegenstandsgebiete zu übertragen, auf die sie nicht paßt. Ihre Anwendung ist legitim überall, wo es sich um Erfassung von Gegenständen handelt, die selbst echte Finalprozesse sind (fremdes Tun, Verhalten, Gesinnung, Streben), oder von Gegenständen, welche Gebilde sind, die selbst Träger und Urheber finaler Initiative sind. Das ganze weite Reich der menschlichen Verhältnisse, einschließlich derjenigen großen Stils (z.B. mancher Zusammenhänge im geschichtlichen Geschehen) gehört hierher. Man wird also die Erkenntnisbedeutung der Finalität als Auffassungskategorie gewiß nicht unterschätzen dürfen.“

51Propp 1928.

52So Propp 1946.

53Propp 1928, 31-46.

54Lugowski 1932, 27 u.ö., hat hierfür von Hindernissen gesprochen, die nur dazu da sind, überwunden zu werden. Sie sind also ‚von hinten motiviert‘.

55Natürlich gibt es auch andere Plotstrukturen: der Protagonist erhält Hilfe, oder er wird Opfer einer List; unter solchen Umständen kann man damit rechnen, dass er die Hilfe zurückerstatten und die List mit einer Gegenlist parieren wird. Entsprechend kommt es dann zu einer Äquilibration der Handlungsgewichte in einem zweiten Handlungsteil. – Unter plotdeterminierten Erzählungen verstehe ich Erzählungen, die um ihres Plots willen und aus keinem äußeren Anlass erzählt werden.

56Röhrich 1956, 46-56, hat Gegenbeispiele von Märchen mit schlechtem Ausgang gesammelt, sie dann aber verschiedenen Spezialgattungen des Märchens zugewiesen, aus der Gattung überhaupt ausgegliedert oder auch als Anti-Märchen bezeichnet.

57Ich unterscheide zwischen Erzählungen (Mythen, Sagen, Legenden), die extern – d.h. etwa durch einen Anlass, eine Lokalität, eine Einrichtung in der Welt, eine heilige Person u.a.m. – determiniert sind, und Erzählungen (Märchen, aber z.B. auch Schwänke), die einzig durch ihren Plot determiniert sind.

58Horn 2010.

59Klíma 1977.

60Röhrich 1979.

61Vgl. Horn 2004.

62Da höhere Wesen oder Instanzen lenkend in die erzählte Handlungswelt einwirken, sprechen Martínez / Scheffel 1999, 111f., von finaler Motivierung. Finale Motivierung in diesem Sinne begegnet eher, wenn auch nicht nur, in der vormodernen Literatur. Gerade das Mittelalter kennt so frappierende Beispiele wie den Prosa-Lancelot oder den Amadis. Mir erscheint Finalität allerdings nicht so sehr als Angelegenheit der Motivierung, sondern der Verlaufsstruktur oder der Komposition von Erzählungen (wie denn auch ‚Motivation von hinten‘ kein Fall narrativer Motivierung ist, s.o. Endnote 2). – Viele Gesichtspunkte des Verhältnisses von Finalität und Kausalität im Erzählen werden in kritischer Abgrenzung von und dann doch im Anschluss an Martínez und Scheffel bei Meincke 2007 diskutiert, ohne letztlich geklärt zu werden.

63Ein entsprechender Fall liegt in Thomas Manns Erzählung Tod in Venedig vor, wie Martínez 1996a, 33f., herausarbeitet.

64„Eine Auffassung, der die Welt in eminentem Sinne Ganzheit ist, lebt in überindividuellen Formbezirken ein anonymes Dasein. In der selbstverständlichen Hinnahme der Formgebärden, die jenem Weltbild entsprechen, finden sich Dichter, Dichtungen und der Kreis der Rezipierenden, schafft sich eine Gemeinsamkeit“ (Lugowski 1932, 83). Dem entspricht die Annahme, dass die Selbstberichtigung von Erzählungen (s.o. Endnote 21) über ein alle Beteiligten einendes Formgefühl läuft.

65Vgl. z.B. McKee 2000, 383: „Verwenden Sie niemals Zufall, um den Ausgang einer Story zu wenden. Das wäre ein Deus ex machina, die größte Sünde des Autors.“

66Lugowski 1932, 3-21. Erhalten bleibt vom Mythos seine Form, bis auch sie sich auflöst. Ausschlaggebend für Lugowskis Orientierung war seine Dilthey- und Cassirer-Lektüre.

67Entsprechende Informanten (vgl. zum Begriff Barthes 1988, 114f.) fehlen in der Regel; vgl. z.B. Berendsohn 1921, 36.

68Bascom 1984 verfolgt die schon von Jacob Grimm (1981, Band 1, XIIf.) Trias von Mythen, Sagen und Märchen durch eine größere Zahl von Kulturen hindurch. Die alte Frage, ob Märchen und Sagen entsakralisierte, profanierte Mythen sind (so die Forschungsmeinung von Grimm bis Wundt und auch Propp und darüber hinaus), kann man im Zuge einer Verlagerung der Bezugsgröße modernen Erzählens vom Mythos auf das Märchen ruhenlassen. Ungeachtet von offenkundigen Interferenzen der Gattungen dürfte sie ein Forschungskonstrukt darstellen.

69So schon einmal – und zwar nach der Lektüre Cassirers und auch Lugowskis – Petsch 1934, 23-32, „Das Märchen als Urform der erzählenden Dichtung“. Folgt man Holbek 1987, 338-389, so rückt allein schon die charakteristische Rolle des Protagonisten im Märchen, die man für den Mythos so nicht herstellen kann, dieses in eine Nähe zur Geschichte des (profanen) Erzählens. Zum Disput zwischen Lévi-Strauss und Propp und den darauf erfolgten Reaktionen sowie zur Differenzierung zwischen Mythos und Märchen (fairy tale) s. ebd.

70Vgl. entsprechend den Titel des Sammelbandes von Martínez 1996b. Vgl. hier die Einführung von Martinez, bes. 17-19, sowie die Beiträge von Dieter Lamping und Heinrich Detering zum (nicht durchweg klaren) Begriff des mythischen Analogons.

71Vgl. z.B. Schlaffer 2005, 102-114.

72Vgl. Lugowski 1932, 79f.

73Ebd., 26-30 und passim.

74Ebd., 28f. u.ö. Ich fasse im Folgenden das, worauf Lugowski abzielt, selbstständig zusammen. Die Zusammenfassung berührt einige Punkte, die vor Lugowski schon präziser von Axel Olrik (1909) beobachtet wurden. Vgl. dazu Holbek 1984, bes. 63f., mit dem Hinweis auf die Schematisierung in mündlichen Erzählungen, auf die Handlungsgebundenheit und Einheit der Handlung, die Einsträngigkeit u.a.m.

75Zur Unempfindlichkeit des Märchens gegen alles, was die Zeit betrifft, s. z.B. Ranke 1978, 17f. Diese Unempfindlichkeit schließt nicht aus, dass Märchenerzähler durchaus immer wieder eine historische und lokale Verortung der Erzählhandlung vornehmen.

76Illud tempus des Mythos wäre eine begründende, bestimmte Zeit, in der etwas zum ersten Mal praktiziert wird. Die Plotdauer von Volkserzählungen hinterlässt dagegen allenfalls öfter Relikte ihrer einstigen Existenz, etwas, was man ‚noch heute‘ sehen oder antreffen kann (vgl. Holbek 1987, 64, mit Bezug auf sein Korpus). Derartige Erzählzüge scheinen auf Interferenzen von Märchen und Mythos zu deuten.

77In diesem Punkt kommt Lugowski 1932, 59-61 u.ö., dem Proppschen Begriff der Funktion nahe. Einfach und anschaulich beschreibt Propp 1928, 220-227, diesen Begriff in seiner Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss. Während bei Propp die Austausch- oder Ersetzbarkeit eines Erzählzugs im Vordergrund der Bestimmung des Funktionsbegriffs steht, ist es bei Lugowski die ‚Motivation‘ des Erzählzugs ‚von hinten‘.

78Lugowski 1932, 39-46 u.ö.

79Dass Finalität Plots dann geradezu definiert, lässt sich angelegentlich aus dem Vergleich des Dichters mit dem Historiker entnehmen, den Murray Krieger (1974, 342) vorgenommen hat „Teleology is precisely what poetic form boasts as its essential characteristic. It is just the poet’s freedom to put teleology where his object of imitation had none that distinguishes him from even the most arrogant historian who would fashion the past in the shapes of his private fancy.“

80So wie etwa Gombrich 1977 es für die Geschichte der Malerei gezeigt hat. Die normativ-präskriptive Romantheorie des 18. Jahrhunderts hat eine solche Angleichung geradezu vorgeschrieben. – Natürlich werden aus einer entsprechend schematisierten Perspektive bei weitem nicht alle Erzählweisen und Gattungen des Romans erfasst. Insbesondere nicht poetisch autoreflexive Erzählweisen seit dem 18. (Tristram Shandy) und zumal des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl gibt es eine Geschichte immer weitergehend adaptierter Illusionstechniken.

81Vgl. Lugowski 1932, 107-118.

82Deren Bindung und Verbindung folgt einer eigenen Logik, vgl. dazu Schulz 2012, Kap. 6.

83Das zeigt in Interpretationen ausgewählter Stellen Störmer-Caysa 2007, indem sie an Bachtins Begriff der Abenteuerzeit anknüpft. S. auch Schulz 2012, Kap. 5, und Kartschoke 2000.

84Das geschieht im Kontext vergleichbarer Tendenzen der modernen Kunst, wie sie im ‚offenen Kunstwerk‘ zur Geltung kommen. Vgl. Eco 1977. Vgl. zu literarischen Beispielen Richardson 2005 und, Honold 2012, bes. 335-337 (zu Musil).

85Signifikante weitere Beispiele aus dem nouveau roman diskutiert Mortimer 1980 / 81.

86Vgl. Szegedy-Maszák 1997.