Karl N. Renner

Narrative Darstellungsweisen im Journalismus

Die Kommunikationswissenschaftler Werner Früh und Felix Frey untersuchen die Wirkungen des journalistischen Storytellings

Werner Früh / Felix Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde. Mit einem Beitrag von Jette Blümler. Köln: Herbert von Halem Verlag 2014 (= Unterhaltungsforschung 10). 412 S. EUR 36,00. ISBN 978-3-86962-083-1

Die aktuelle Diskussion um das Erzählen im Journalismus

Der Journalismus hat ein ambivalentes Verhältnis zum Erzählen. Der Boulevardjournalismus bedient sich ungeniert aller erzählerischer Mittel, der Zeitschriften-Journalismus greift ebenfalls auf erzählerische Darstellungstechniken zurück. Für den klassischen Informationsjournalismus, der als Grundlage und Maßstab allen journalistischen Handelns gilt, spielt das Erzählen jedoch keine große Rolle. Hier dominieren sachlich nüchterne Textsorten wie die Nachrichtenmeldung oder der Bericht. Das Erzählen bleibt der Reportage, der Königsdisziplin des Journalismus, vorbehalten, die in diesem Metier jedoch die Ausnahme und nicht die Regel ist. Gerade zum Informationsjournalismus gab und gibt es immer wieder Gegenbewegungen, die auf das Erzählen setzen und einen New Journalism propagieren, der wegen seines Storytellings attraktiver und verständlicher sein soll und dem Leben viel näher stünde.1

Die aktuelle Diskussion um das journalistische Erzählen ist aber auch von der Hoffnung getragen, dass der Journalismus mithilfe des Storytellings die Krise besser meistern kann, in die er durch die Digitalisierung der Medien geraten ist. Mit dem Siegeszug des Internets haben die etablierten Informationsmedien ihre frühere Monopolstellung verloren und sind inzwischen einem extremen Konkurrenzdruck um Leser, Zuhörer und Zuschauer – und damit auch um die Werbeetats der Wirtschaft – ausgesetzt. Die Nachfrage nach Informationen ist längst einem Angebots- und Überangebotsmarkt gewichen, doch der Journalismus hat auf die Anforderungen dieser neuen Aufmerksamkeitsökonomie noch keine Antwort gefunden. Folgt man Marie Lampert und Rolf Wespe, den beiden Autoren des viel gelesenen Praktiker-Handbuchs Storytelling für Journalisten, dann verspricht Storytelling die richtige Antwort zu sein:

Der Journalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Die Entwicklung vom Hol-Prinzip zum Bring-Prinzip lässt sich nicht mehr aufhalten. Storytelling serviert die Botschaft nach dem Bring-Prinzip: appetitanregend und attraktiv. Anti-Storytelling funktioniert nach dem Hol-Prinzip: Die Botschaft ist schwer verständlich und mit viel Arbeit für den Rezipienten verbunden. Der Leser einer Zeitung unternimmt vielleicht einen zweiten Anlauf, wenn er etwas nicht gleich versteht. Die elektronischen Medien verlieren Zuschauer und Zuhörer, wenn ihr Interesse nicht geweckt wird oder wenn sie nicht auf Anhieb verstehen, worum es geht. Und online werden komplizierte Botschaften gar nicht erst angeklickt. Wer im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit erfolgreich sein will, muss vom Hol-Prinzip weg kommen und zum Bring-Prinzip finden. (Lampert / Wespe 2011, S. 187)

Wie fast bei allen journalistischen Innovationen stammen auch hier die entscheidenden Anregungen aus der journalistischen Praxis. Man stützt sich auf praktische Erfahrungswerte und versucht ausgehend davon – bedauerlicherweise oft sehr unreflektiert –, literaturwissenschaftliche und filmdramaturgische Konzepte für den Journalismus fruchtbar zu machen. Dabei ist die Annahme zentral, dass journalistische Informationen, wenn man sie erzählt und nicht berichtet, mehr Aufmerksamkeit finden, besser verstanden und deutlicher erinnert werden. Hiervon verspricht man sich wiederum positive Auswirkungen für Auflagehöhen und Einschaltquoten. Doch das sind letztlich nur Vermutungen, die sich auf intuitive Erfahrungen stützen. Die vorliegenden empirischen Untersuchungen zu den Wirkungen des Narrativen haben bis jetzt keine gesicherten Belege erbracht, ob diese positiven Effekte eintreten oder nicht.

Das ist der aktuelle Hintergrund der Publikation von Werner Früh und Felix Frey über das Storytelling im Journalismus. Sie streben allerdings nicht nur eine empirische Überprüfung der vermuteten Effekte an, sondern stellen auch ein theoretisches Konzept zur Differenzierung der unterschiedlichen Formen des journalistischen Erzählens vor. Dabei geht es ihnen nicht nur um wissenschaftliche Fragestellungen, sondern auch um eine eminent wichtige gesellschaftliche Frage: Inwieweit kann ein Journalismus, der auf das Erzählen setzt, die gesellschaftlichen Aufgaben des Journalismus erfüllen?

Vor allem die politischen Informationsmedien haben einen Informationsauftrag („öffentliche Aufgabe der Presse“; BVerfGE 20), durch dessen Erfüllung die Inanspruchnahme gewisser Vorrechte (Pressefreiheit) begründet wird. Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, dann hätten die Medien ihre besonderen Vorrechte verwirkt, wenn sie den in der öffentlichen Aufgabe formulierten Informationsauftrag nicht erfüllen. Also muss aus wissenschaftlicher Sicht sichergestellt werden, dass mit einer Narrativisierung der Informationsmedien nicht auch eine Veränderung der Informationsleistung zuungunsten des öffentlichen Auftrags einhergeht. (S. 11)

Selbst wenn man dieser legalistischen Argumentation nicht folgen möchte, der Schlussfolgerung von Früh und Frey ist beizupflichten: Das entscheidende Kriterium zur Beurteilung des journalistischen Erzählens ist die gesellschaftliche Bedeutung und die gesellschaftliche Verantwortung des Journalismus. Denn journalistische Erzählungen sind keine fiktionalen Erfindungen, sondern „Wirklichkeitserzählungen“ (Klein / Martínez 2009), die andere gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen haben als Fernsehserien, Spielfilme oder Belletristik. Auch wenn das in der aktuellen Diskussion um das Erzählen im Journalismus immer wieder übersehen wird.

Journalistisches Erzählen aus dem Blickwinkel der Kommunikationswissenschaft

Werner Früh und Felix Frey stellen in ihrer umfangreichen Publikation Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde die Ergebnisse der mehrjährigen kommunikationswissenschaftlichen Forschungsarbeiten vor, die seit 2008 unter der Leitung von Werner Früh an der empirischen Abteilung des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig durchgeführt wurden. Werner Früh gehört durch das von ihm mitentwickelte Konzept des dynamisch-transaktionalen Ansatzes (Früh / Schönbach 1982) zu den profiliertesten Kommunikationswissenschaftlern in Deutschland. Die Untersuchungen zum journalistischen Erzählen stehen im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur Erforschung der medialen Unterhaltung; Narration und Storytelling ist in der von ihm mit herausgegebenen Reihe Unterhaltungsforschung erschienen.

Das Buch enthält neben einer kurzen Einleitung sieben Aufsätze. Sechs davon präsentieren die Ergebnisse empirischer Studien, ein Aufsatz ist theoretisch ausgerichtet und stellt das Konzept der journalistischen Narration vor. Inhaltlich hängen die sieben Beiträge so zusammen, dass sich die ersten beiden auf die theoretische Klärung des Narrativen konzentrieren, ein Aufsatz die Verbreitung des Narrativen im politischen Journalismus behandelt und die restlichen vier ausgewählte Rezeptionseffekte untersuchen.

Der erste Beitrag, „Die Vielfalt der Erzählung“ (S. 14-62), fragt nach der Definition zentraler erzähltheoretischer Begriffe wie Narration, Geschichte oder Narrativität in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit narratologischen Fragestellungen beschäftigen. Er untersucht dazu mit Hilfe einer quantitativen Inhaltsanalyse die Definitionspraxis in den jeweiligen Fachzeitschriften. Dem schließt sich die theoretische Abhandlung „Narration und Storytelling“ (S. 63-119) an, in der Werner Früh seine Konzeption des journalistischen Narrativen entwickelt. Er schlägt hier vor, die „realitätsadäquate Darstellung“ (S. 12) als ein definitorisches Merkmal journalistischer Narrativität zu betrachten, und er unterscheidet dabei zwischen „journalistischer Narration“ und „Storytelling“, je nachdem ob die jeweilige Darstellung realitätskonform oder realitätsverzerrend ist.

Der dritte Beitrag, „Wirkungen des Narrativen“ von Felix Frey (S.120-192), bietet einen systematischen und umfassenden Überblick über den aktuellen kommunikationswissenschaftlichen Forschungsstand zu den Effekten narrativer Kommunikation. Der vierte Beitrag, „Narration und Storytelling im politischen Journalismus“ (S. 193-261), enthält die Ergebnisse einer quantitativen Inhaltsanalyse, die die Verbreitung dieser beiden journalistischen Erzählweisen in der politischen Berichterstattung von Print- und TV-Medien untersucht. Alle weiteren Beiträge basieren auf experimentellen Studien zur Rezeption und Wirkung journalistischer Beiträge.

Der Aufsatz „Positive Effekte von Narration und Storytelling“ (S. 262-318) untersucht die Auswirkungen des Storytellings auf die Attraktivität und Verständlichkeit journalistischer Beiträge. Der sechste Beitrag, „Das Narrative und seine Attraktivitäts- und Wirkungspotenziale“ (S. 319-371), beschäftigt sich mit den Wirkungspotenzialen einzelner Komponenten des Narrativen und betrachtet dabei insbesondere die beiden Komponenten Handlung und Figur. Im siebten und letzten Beitrag, „Re-enactments“ (S. 372-412), stellt Jette Blümler die Ergebnisse ihrer Magisterarbeit vor, in der sie die Wahrnehmung und Bewertung nachgestellter Szenen in TV-Dokus und Dokumentarfilmen experimentell untersucht hat.

Der Aufbau des Buchs als Ganzen entspricht beispielhaft der wissenschaftlichen Vorgehensweise der Kommunikationswissenschaft; das gilt nicht minder für die Anlage der Beiträge im Einzelnen. Die Autoren verschaffen sich einen umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand (erster und dritter Beitrag). Sie definieren anschließend ihre zentralen theoretischen Konzepte (zweiter Beitrag) und formulieren in Anbindung an die vorgefundene Literatur ihre Forschungsfragen und Hypothesen. Danach umreißen sie ein Medienensemble als Untersuchungsgegenstand (vierter Beitrag) und überprüfen abschließend mithilfe statistischer Verfahren den empirischen Gehalt der aufgestellten Hypothesen (fünfter, sechster und siebter Beitrag).

Diese Herangehensweise erwächst aus der induktiven Methodik der Kommunikationswissenschaft und unterscheidet sich erheblich von den abduktiven und deduktiven Vorgehensweisen, die in herkömmlichen narratologischen Arbeiten üblich sind. So entwickelt etwa Lévi-Strauss sein Mythos-Konzept abduktiv auf Grundlage einer methodischen Analyse der Ödipus-Geschichte, und er verwendet dieses Konzept dann deduktiv zur Analyse der Indianermythen in Süd- und Nordamerika. Kommunikationswissenschaftliche Studien formulieren dagegen auf der Grundlage vorgefundener wissenschaftlicher Theorien und alltagspraktischer Erfahrungen, die alle mehr oder minder positivistisch gesetzt werden, detaillierte Hypothesen und überprüfen diese dann anhand quantitativer Erhebungen von Textmerkmalen oder Rezeptionseffekten.

Erzählen im Journalismus: Theoretische Aspekte

Der Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen zur Narrativität im Journalismus, die Früh und Frey in ihrer Publikation vorstellen, ist eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Erzähltheorie. Denn sie sehen sie, wie im Beitrag „Die Vielfalt der Erzählung“ (S. 14-62) zum Ausdruck kommt, als eine Wissenschaft im Umbruch. Einerseits würden zentrale erzähltheoretische Begriffe allzu oft gänzlich unreflektiert verwendet, weil man sie als Begriffe, die aus der der Alltagssprache entlehnt wurden, für selbstverständlich hält. Andererseits würden „dieselben Konzepte in den vergangenen Jahren in den Fachwissenschaften so stark terminologisch problematisiert und debattiert wie wohl nur wenige andere“ (S. 15). Auch habe das Konzept des Narrativen über die Literatur- und Sprachwissenschaft hinaus in vielen Human- und Sozialwissenschaften an Popularität gewonnen, und dieser ‚narrative turn‘ habe zusätzlich zu terminologischen Unschärfen und semantischen Verschiebungen geführt.

Für eine kommunikationswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Narrativen ist eine solche Situation besonders kritisch. Denn für kommunikationswissenschaftliche Studien stellt sich aufgrund ihrer akribischen Methodik immer die Frage nach der Validität ihrer Untersuchungsergebnisse. Messen sie tatsächlich das, was sie zu untersuchen beanspruchen, oder verfehlen sie aufgrund terminologischer Unklarheiten ihren Untersuchungsgegenstand?

Früh und Frey wollen daher zunächst „einen systematischen Überblick über den Grad der terminologischen Transparenz und Reflexion innerhalb der Narrationsforschung“ gewinnen (S. 17). Als methodischen Zugriff wählen sie jedoch nicht den traditionellen Vergleich einflussreicher Autoren mitsamt ihrer Begriffsdefinitionen, sondern „ein inhaltsanalytisches Vorgehen, das die Möglichkeit bietet, eine umfangreichere Materialgrundlage stark selektiv zu bearbeiten und die Ergebnisse statistisch aufbereiten zu können, und dabei zu einer weitestmöglichen Offenlegung der Selektions- und Klassifikationskriterien zwingt“ (S. 18). Dazu untersuchen sie 349 Fachartikel, die zwischen 1997 und 2006 in deutsch- und englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften unterschiedlichster Disziplinen (div. Philologien, Psychologie, Geschichte, Medizin u.v.a.) veröffentlicht wurden. Ihre Forschungsfragen zielen zum einem auf die Charakterisierung des wissenschaftlichen Diskurses ab: In welchen Disziplinen ist das Thema „Narration / Narrativität“ besonders stark präsent? Und zum anderen geht es ihnen um die Definitionspraxis bei der Verwendung zentraler erzähltheoretischer Begriffe.

Die Ergebnisse dieser Studie sind ernüchternd. „Nur in wenig mehr als der Hälfte der Beiträge, in denen erzähltheoretische Konzepte eine zentrale Rolle einnehmen, finden sich […] Definitionen dieser Begriffe“ (S. 52f.). Diese Definitionen stammen nur zum geringsten Teil aus allgemein verbindlichen Standardwerken, „vielmehr gehen selbst die am häufigsten zitierten Werke nie in mehr als ca. 3 Prozent der untersuchten Positionen ein“ (S. 53). Das alles deute darauf hin, dass es sich bei der Narrationsforschung „nicht vorrangig um eine trans- oder interdisziplinäre Forschergemeinde handelt, die aus verschiedenen Perspektiven auf gemeinsamer begrifflicher Basis am selben Gegenstand arbeitet, sondern vielmehr um sich weitgehend unabhängig voneinander, parallel entwickelnde […] Forschungsfelder, die sich nur an einigen Schnittstellen […] disziplinübergreifend austauschen und aufeinander beziehen“ (S. 53f.). Angesichts der inhaltlichen Disparitäten stelle sich weiterhin die Frage, „inwieweit nicht nur nebeneinander her, sondern auch aneinander vorbei geforscht wird: Wird innerhalb der Einzelwissenschaften und noch mehr zwischen den disziplinspezifischen ‚Erzählforschungen‘ überhaupt derselbe Gegenstand untersucht?“ (S. 54)

Im zentralen theoretischen Aufsatz der vorliegenden Publikation, dem Beitrag „Narration und Storytelling“ (S. 63-119), entwickelt dann Früh ein eigenständiges Konzept des Narrativen im Journalismus. Dazu verdichtet er zunächst das Narrative auf seine „Kernbestandteile“ und verknüpft sie mit den „Narrationswirkungen“ Verständlichkeit, Attraktivität und Unterhaltsamkeit. Auf diese Weise gewinnt er eine allgemeine Definition des Narrativen. Im zweiten Schritt führt er dann die „authentische erzählerische Rekonstruktion“ als spezifisches Merkmal der journalistischen Narration ein. Storytelling, das ist der dritte Schritt seiner Argumentation, erfüllt dieses Merkmal nur bedingt. Eine abschließende Theorieskizze zeigt dann auf, wie „sich angemessene und unangemessene Anwendungen des Narrativen im Informationsjournalismus unterscheiden lassen“ (S. 64).

Narration wird von Früh als ein „basaler alltagssprachlicher Sprachmodus“ betrachtet, vergleichbar der Deskription und der Argumentation (S. 66 bzw. S. 107). Den „Kern des Narrativen“ sieht er nach dem Vorbild des kognitiven narrationstheoretischen Ansatzes von Werner Wolf (Wolf 2002) in einem kognitiven Schema, das sich „sowohl auf mentale Vorstellungen als auch auf Inhalte und Strukturen des Kommunikats“ bezieht (S. 66). Die Attraktivität des Narrativen erklärt er wiederum mit dem anthropologischen Konzept des evolutionsbedingten psychologischen Mechanismus. Die sprachlichen Mitteilungen von Erlebnissen, Handlungen und Ereignissen sicherten demnach in der frühen Menschheitsgeschichte das Überleben des einzelnen und den Fortbestand der Spezies, wodurch das Erzählen aufgrund evolutionärer Mechanismen elementare Attraktivität gewonnen hat (vgl. S. 70f.). Beide Argumentationen führt Früh in seiner allgemeinen Definition von Narration zusammen:

Sowohl die reduktive Bestimmung der ‚Kernbedeutung‘ des Narrativen als auch eine anthropologische Ableitung aus den sprachlichen Funktionen kommen zu dem Ergebnis, dass Narration in ihrer ‚Kernbedeutung‘ durch folgende Merkmale definiert wird: Erzähler, Adressat, menschlicher bzw. anthropomorpher Handlungsträger (ggf. Protagonist), Kohärenz, und Intentionalität. (S. 73)

Die Anwendung dieser Definition auf einzelne Genres und Disziplinen bedürfe allerdings „bereichsspezifischer“ Modifikationen. Das gelte auch für ihre Anwendung auf den Journalismus. Allerdings könnten diese Modifikationen nicht „nach eigenem Gutdünken“ von den Narrationsprototypen anderer Genres abgeleitet werden, nur weil man diese für verständlicher und attraktiver hält, – ein Verfahren, das in den praktischen Handreichungen zum journalistischen Storytelling gang und gäbe ist. Vielmehr sei die prototypische Narrationsdefinition des Journalismus von seiner „charakteristischen Anwendung her“ zu begründen (S. 73f.). Diese charakteristische Anwendung ist die Vermittlung realer Ereignisse. Anders als bei einem Roman oder einem Spielfilm sind im Journalismus die realen Ereignisse kein formbarer Stoff für die möglichst attraktive Gestaltung einer Geschichte, sondern der primär zu vermittelnde Gegenstand. Beim Journalismus gehe es eben nicht um die „erzählerische Konstruktion“ von „guten Geschichten“, sondern um „eine möglichst authentische erzählerische Rekonstruktion“ vorgefundener Sachverhalte. „Eine Geschichte im oben beschriebenen narrativen Sinne kann nur dann daraus werden, wenn die ereignis- und themenspezifischen Inhalte dies zulassen, d.h. narrationsadäquat sind.“ (S. 76).

Ob das journalistische Storytelling dieses Kriterium erfüllt, diskutiert Früh anhand des Stimulusmaterials der Storytelling-Studie von Machill, Köhler und Waldhauser (Machill et al. 2006).2 Sein Ergebnis ist, „dass eine Storytellingdarstellung selbst für versierte, mit Storytelling vertraute Rezipienten keine verlässliche und authentische Rekonstruktion des Ereignishintergrundes zulässt“ (S. 83). Eine Verminderung der Informationsqualität könne aber nicht mit der besseren Verständlichkeit und der größeren Attraktivität der Darstellung aufgerechnet werden, „weil ein realitätsverfälschender journalistischer Beitrag auch dann sein Ziel verfehlt, wenn er höchst verständlich und attraktiv ist“ (S. 86).

Dieses journalistische Defizit des Storytellings kann nach Früh zwei Ursachen haben: Die Realitätskonstruktion könne defizitär sein, oder es würden bei einem Sachverhalt, der nicht narrationsadäquat ist, Narrationseffekte vorgetäuscht. Etwa, indem ein TV-Reporter als Erzähler durch eine Fernsehsendung hetzt. Erzähltheoretisch betrachtet können also die Defizite des Storytellings sowohl auf der Ebene der Geschichte wie auf der Ebene des Diskurses angesiedelt sein.

Zugleich stellt Früh aber auch fest, „dass es im Journalismus variierende und damit mehr oder weniger angemessene narrative Darstellungen gibt, die durch eine schlichte Ablehnung oder Befürwortung nicht hinreichend differenziert gewürdigt werden“ (S. 85). Daher schlägt er für eine differenzierte Betrachtung des journalistischen Erzählens ein Kategoriensystem vor, das mit zwei Grundformen operiert, der journalistischen Narration und dem Storytelling. Die journalistische Narration entspricht dabei „im Wesentlichen jenem Teil des klassischen Nachrichtenjournalismus, der Ereignisse darstellt, die wesentlich aus kohärentem und in Episoden abgrenzbarem Handeln von Personen und Personengruppen bestehen. Der charakteristische Aufbau in Form einer inverted pyramid stört dabei nicht“ (S. 87).3 Beide Kategorien besitzen ihrerseits weitere Binnendifferenzierungen, wie das Soft-Storytelling oder die journalistische Semi-Narration (S. 89f.).

Anmerkungen zum vorgeschlagenen Konzept des journalistischen Erzählens

Kennt man den großen Einfluss, den Framing-Ansätze in der Kommunikationswissenschaft besitzen, und weiß man um den blinden Fleck, den dieses Fach bei sprach- und literaturwissenschaftlichen Theorien hat, dann überrascht es einen nicht, dass Früh das schemabasierte Erzählmodell von Wolf zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht und alle weiteren erzähltheoretischen Erkenntnisse außer Acht lässt, obwohl Wolf diese Erkenntnisse als Narreme usw. in seine Konzeption des Narrativen integriert hat. Besonders problematisch ist dabei, dass Früh auf die „fundamentale Unterscheidung“ von Geschichte und Diskurs verzichtet, die für die Analyse von Erzählungen „eine unverzichtbare Rolle spielt“ (Lahn / Meister 2008, 14). Er stützt sich bei seinem Klassifikationssystem auf heterogene Ausgangskategorien, da er bei seiner Definition des Storytellings anders als bei seiner Definition der journalistischen Narration auf Aspekte der Geschichte und des Diskurses zurückgreift. Aus diesem Grund kennt sein Klassifikationssystem aber auch die für den Journalismus zentrale Unterscheidung von berichten und erzählen nicht. So gilt die Reportage, weil sie anders als die Meldung und der Bericht Geschichten erzählt und nicht berichtet, als Musterbeispiel für das journalistischen Storytellings. Bei Lampert und Wespe etwa sind alle Belegbeispiele für ein gelungenes Storytelling Reportagen. Doch sind Reportagen in journalistischer Hinsicht deswegen tatsächlich defizitär?

Zu diskutieren ist auch das Kriterium der „authentischen Realitätsrekonstruktion“ (S. 76), das Früh als zentrale Anforderung an journalistisch korrektes Erzählen versteht. Verortet man dieses Kriterium auf der Ebene der Geschichte, wie es Frühs Ausführungen nahelegen, so kann man damit zwar gut erklären, warum journalistische Beiträge in der Lage sind, unabhängig davon, ob sie in der Zeitung oder im Fernsehen publiziert werden – also unabhängig von ihrer Diskursgestaltung –, über die gleichen Sachverhalte zu informieren. Doch man kann dieses Kriterium nicht als Mimesis realer Sachverhalte interpretieren, ohne in erzähltheoretische Widersprüche zu geraten (vgl. Renner 2012, S. 48). Ein weiteres Gegenargument ist das aus dem juristischen Bereich bekannte Phänomen, dass in Abhängigkeit vom Wertesystem der Erzählinstanz gleiche Sachverhalte den Gegenstand von Geschichte und von Gegengeschichte bilden können (vgl. Arnauld 2009; Renner 2013). Eine Lösung dieser Problematik scheint darin zu liegen, dass man den Begriff der „authentischen Realitätsrekonstruktion“ so versteht, dass er sich primär auf die kommunikative Leistung des Rezipienten und erst dann auf die des Journalisten bezieht. Die Anforderung an den journalistischen Autor wäre dann, seine Beiträge so zu gestalten, dass sie für ihre Rezipienten eine solche authentische Realitätsrekonstruktion ermöglichen. Dann ist man aber wieder bei der Differenz zwischen einem werteorientierten Erzählen und einem möglichst wertneutralen Berichten.

Aus journalistischer Sicht ist zu monieren, dass das vorgeschlagene Kategoriensystem nicht an die journalistische Praxis anschlussfähig ist. Nachrichtenmeldungen, die nach dem Prinzip der inverted pyramid aufgebaut sind, stehen im Mittelpunkt der Kritik, die die Anhänger des Storytellings am etablierten Journalismus üben. Diese Textgattung als eine Form der journalistischen Narration zu interpretieren, ist nicht vermittelbar. Aber auch aus erzähltheoretischer Perspektive ist fragwürdig, ob Nachrichtenmeldungen tatsächlich Geschichten erzählen oder ob sie diese nicht, wie das Wolf von den Monophasen-Einzelbildern schreibt, nur „andeuten“ (Wolf 2002, 73).

Alle diese Vorbehalte sprechen nicht dagegen, das von Früh vorgeschlagene Kategoriensystem unter Rückgriff auf erzähltheoretische und linguistische Konzepte zur rekonstruieren. Im Gegenteil, dieses Kategoriensystem ist zu elaboriert und zu detailliert ausgearbeitet, als dass man ohne Weiteres darauf verzichten sollte. Es ist aber nicht so valide, dass bei seiner Anwendung für kommunikationswissenschaftliche Zwecke Artefakte ausgeschlossen sind. Das gilt insbesondere für die inhaltsanalytische Untersuchung der erzählenden Darstellungsweisen im politischen Journalismus. Denn anders als die weiteren empirischen Studien des Bandes, stützt sich diese Untersuchung maßgeblich auf dieses Kategoriensystem.

Erzählen im Journalismus: Empirische Erkenntnisse

Die empirischen Studien in diesem Band decken dann recht unterschiedliche Fragestellungen zum journalistischen Erzählen ab. In der aktuellen Diskussion um das Storytelling im Journalismus kommen dabei der Metaanalyse der Wirkungsforschung durch Frey und der gemeinsamen experimentellen Untersuchung der Effekte des Storytellings durch Früh und Frey eine besondere Bedeutung zu. Denn beide Aufsätze setzten sich mit dem empirischen Gehalt der zentralen Argumente in dieser Diskussion auseinander. Dabei wird auch deutlich, dass wissenschaftlich solide Aussagen zur Attraktivität und zur Verständlichkeit des Storytellings wesentlich schwieriger zu treffen sind, als es die vielen, oftmals recht plakativ vorgetragenen Behauptungen vermuten lassen.

Felix Frey stellt in den „Wirkungen des Narrativen“ (S. 120-192) eine Metaanalyse der empirischen Forschung zur Wirkung narrativer Kommunikate vor. Als erstes hält er dabei fest, dass es zwar eine „nahezu unübersehbare“ Menge von Studien gibt, die Phänomene untersuchen, die auf irgendeine Weise mit dem Narrativen zusammenhängen, dass sich aber nur wenige Studien explizit mit den Effekten narrativer Kommunikation auseinandersetzen (S. 122). Bei diesen sei jedoch wegen einer konfundierten Stimulusgestaltung die Validität der Ergebnisse oft kritisch zu beurteilen. Daher nimmt Frey nur solche Studien in seine Auswertung auf, bei denen sichergestellt ist, dass sie „die narrative[n] Kommunikate erstens nur mit anderen Kommunikaten vergleichen und zweitens nur mit Kommunikaten zum selben Thema“ (S. 129).

Diese strengen Auswahlkriterien führen dazu, dass von den ursprünglich 38.500 Einträgen, die in wissenschaftlichen Datenbanken usw. recherchiert wurden, letztlich nur 70 Studien übrigblieben (tabellarische Überblicke S. 135-140 und S. 181-192). Und selbst bei diesen Studien ist durch unterschiedliche Anwendungskontexte, Stichprobenzusammensetzungen und experimentelle Bedingungen die Vergleichbarkeit nur bedingt gegeben. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass diese Studien eine große Anzahl kognitiver, emotionaler und evaluativer Wirkungen untersuchen, so dass es für die einzelnen Wirkungen oftmals nur wenige Studien gibt, die dazu Befunde enthalten (vgl. S. 148). Daher könne kaum eine der aufgestellten Hypothesen „nach üblichen wissenschaftlichen Standards als gut bewährt gelten“ (S. 165). Allgemeine Aussagen über die Wirkungen des Narrativen seien nur mit größter Zurückhaltung möglich.

Auf Basis der Befunde jeweils mehr als einer Studie sind […] im Sinne einer positiven Wirksamkeit narrativer Kommunikate […] erkennbar: Narrative Kommunikate scheinen im Vergleich zu nicht oder weniger narrativen mehr Aufmerksamkeit zu generieren, eher holistisch verarbeitet zu werden, die Vorstellungskraft bei der Rezeption stärker anzuregen und (auf der Basis von objektiven Maßen wie Lesezeiten) verständlicher zu sein […]. (S. 166)
Ebenfalls auf der Grundlage der Ergebnisse mehrerer Studien können negative Effekte narrativer Kommunikation dahingehend festgestellt werden, dass narrative Botschaften als weniger informativ wahrgenommen und mittelfristig schlechter bewertet werden als nicht narrative. Keine Über- oder Unterlegenheit narrativer Kommunikation kann zum einem für die subjektiv wahrgenommene Verständlichkeit, für botschaftskonforme Überzeugungsänderungen sowie den kurzfristig erhobenen Wissenserwerb festgestellt werden, weil sich hier signifikante Befunde in beide Richtungen die Waage halten […]. (S. 166f.)

Frey weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass es zu all diesen Aussagen immer auch Studien mit gegenteiligen und statistisch uneindeutigen Befunden gibt. Die Ursachen für diese Unklarheiten sieht er darin, dass in vielen Studien die Fallzahlen zu gering sind, dass moderierende Variablen (z.B. Persönlichkeitsmerkmale, Umfang und Art der Stimuli usw.) nicht hinreichend berücksichtigt wurden und dass aufgrund unzureichender theoretischer Abklärungen die Untersuchungsgegenstände nicht exakt genug bestimmt wurden.

Die von Werner Früh und Felix Frey gemeinsam erstellte Studie „Positive Effekte von Narration und Storytelling“ (S. 262-318) ist dem theoretischen Konzept des dynamisch transaktionalen Ansatzes verpflichtet. Sie folgen nicht der in der Praktiker- wie in der Forschungsliteratur weit verbreiteten Annahme, dass Medienbeiträge allein schon aufgrund ihrer narrativen Gestaltung attraktiver und verständlicher, unterhaltsamer und überzeugender als andere Beiträge sind. Vielmehr gehen sie entsprechend der „triadischen Konzeption“ des dynamisch-transaktionalen Ansatzes davon aus, dass auch die Wirkungen narrativer Beiträge immer von drei Faktoren abhängen: „der medialen Botschaft (Text, Film etc.), dem Rezipienten und seinen Eigenschaften (Interessen, Kenntnissen, Intentionen etc.) sowie dem situativen und gesellschaftlichen Kontext“ (S. 264). Um dem methodisch gerecht zu werden, stützen sie sich bei ihrer empirischen Studie auf ein 2x2-faktorielles experimentelles Untersuchungsdesign, dessen Ergebnisse sie dann in mehreren Stufen mithilfe von Mittelwertvergleichen, zweifaktoriellen Varianzanalysen und Regressionsrechnungen statistisch auswerten.

Als Ausgangspunkt ihrer Studie dienten vier Stimulusfilme, die sich zum einen in ihrer Gestaltung (dominierend narrativ vs. dominierend analytisch-argumentativ)4 und zum anderen in ihrer Thematik und Anmutung unterschieden (journalistische Reportage über ein politisches Thema vs. künstlerisch-kreativer Dokumentarfilm über ein Kunstthema). Hierzu wurden aus dem Dokumentarfilm Fresh Art Daily und einer Reportage von ZDF: Reporter über prekäre Arbeitsverhältnisse jeweils zwei gleich lange Varianten geschnitten und den Probanden vorgeführt. Am Experiment nahmen 240 Versuchspersonen teil, ihre Angaben zu den Wirkungen sowie ihre Personenmerkmale wurden per Fragebogen erhoben.

Die Bewertung der beiden narrativen Filmvarianten hinsichtlich ihrer Attraktivität, ihrer Verständlichkeit und ihrer Unterhaltungseffekte fiel im Vergleich mit den beiden analytisch-argumentativen Varianten in fast allen Punkten zu Ungunsten der narrativen Fassungen aus (vgl. S. 292). Die weit verbreitete Vorstellung, dass die narrative Gestaltung eines Themas immer attraktiver und verständlicher sei als andere Gestaltungsweisen, ist demnach nicht haltbar. Der Vergleich der beiden thematisch übereinstimmenden Filmversionen ergab wiederum, dass sich die unterschiedlichen Bewertungen eher durch die Thematik als durch die narrative bzw. nicht-narrative Gestaltung erklären lassen. Daraus folgt, „dass mit einer interessanten und die Zuschauer ansprechenden Themenauswahl die vergleichsweise stärkeren Effekte erzielt werden können“ (S. 295).

Die Frage, wie bei diesen Beurteilungen Medieninhalte, Personenmerkmale und situativer Kontext interagieren, versuchen Früh und Frey anhand des Zusammenspiels („Passung“) von Personenmerkmalen, Themenimages und Darstellungsweisen zu ergründen. Dabei verstehen sie unter einem Themenimage ein komplexes Image, das sich aus Zuschreibungen, Vorwissen und allgemeinen Erwartungen der Rezipienten hinsichtlich der Gestaltung und des Inhalts eines Medienbeitrags ergibt (vgl. S. 304). Das Themenimage ermöglicht es ihnen also, auch unter den standardisierten Bedingungen eines sozialwissenschaftlichen Experiments den Einfluss des situativen Kontextes zu erfassen (vgl. S. 270).

Sie stellen dann unter anderem fest, dass die analytische Variante der Reportage zu einer zunehmenden Rezeptionsmotivation führt, je stärker das Personenmerkmal „Offenheit für Unkonventionelles“ ausgeprägt ist, während sich bei der narrativen Variante der gleiche Zusammenhang in umgekehrter Richtung zeigt: „Mehr Offenheit für Unkonventionelles hat hier eine zunehmend geringere Rezeptionsmotivation zur Folge“ (S. 308). In ähnlicher Weise sind auch bei denjenigen Rezipienten des Dokumentarfilms, die sich durch eine sachlich-nüchterne Einstellung auszeichnen, die Aufmerksamkeit und die Rezeptionsmotivation für die analytisch-argumentative Variante größer, während bei der narrativen Variante ein negativer Effekt zu beobachten ist (S. 308). Mit dieser vertiefenden Analyse können also Früh und Frey einmal mehr belegen, dass „eine narrative Darstellungsweise nicht generell zu mehr Attraktivität, Verständlichkeit und Unterhaltungserleben führt“. Darüber hinaus können sie aber auch zeigen, dass „die Einflüsse des Themas (Themenimage) in Verbindung mit diversen Personenmerkmalen selektiv nur eine der beide Filmversionen hinsichtlich ihrer positiven oder negativen Wirkung massiv verstärken, neutralisieren und sogar in ihr Gegenteil verkehren können“ (S. 312).

Genauso wie diese Rezeptionsstudie zur Attraktivität narrativ gestalteter Medienbeiträge sind auch die beiden anderen Rezeptionsstudien dem dynamisch-transaktionalen Ansatz verpflichtet. Der gemeinsame Beitrag von Früh und Frey „Das Narrative und seine Attraktivitäts- und Wirkungspotenziale“ (S. 319-371) behandelt die Fragestellung, ob die beiden narrativen Komponenten „anthropomorpher Handlungsträger“ und „Zielgerichtetheit von Handlungen“ die gleichen positiven Rezeptionseffekte hervorbringen oder nicht. Erzähltheoretisch gesehen geht es also um die Wirkungen von Handlung und Figur. Es zeigt sich, dass beide Faktoren offensichtlich eigenständige Wirkungspotenziale besitzen, die dem Einfluss der Personenmerkmale der Rezipienten weitgehend entzogen sind (S. 358) und deren positive Effekte sich gegenseitig verstärken. Dabei steigert die Präsenz menschlicher Handlungsträger die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beitrag zur Rezeption ausgewählt wird, während die Zielgerichtetheit der Handlung wiederum die Aufmerksamkeit, das Unterhaltungserleben und das emotionale Involvement bei der Rezeption der Medienbeiträge steigert (vgl. S. 364).

Die Studie „Re-enactments“ von Jette Blümler setzt sich mit der Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung nachgestellter Szenen in zeitgeschichtlichen Fernsehdokumentation auseinander (S. 372-412). Die Ergebnisse zeigen, dass fiktionale Szenen von den Zuschauern fast immer als solche erkannt werden. Jedoch konnten die von den Produzenten unterstellten positiven Wirkungen für den Unterhaltungswert von Dokumentationen nicht nachgewiesen werden. „Der Unterhaltungsgrad wurde eher von thematischen und gestalterischen Aspekten der Dokumentation bestimmt“ (S. 406). Re-enactments scheinen keinen Mehrwert für die Rezeption zu erbringen, scheinen jedoch die zentrale Funktion von TV-Dokumentationen zu schwächen, „Aussagen über die Realität zu treffen“ (S. 408).

Kein unproblematisches, aber dennoch ein wichtiges Buch

Es sind gerade diese empirischen Studien zur Rezeption erzählerisch gestalteter Medienbeiträge, die den Band von Werner Früh und Felix Frey nicht nur für die Kommunikationswissenschaft und die Journalistik, sondern auch für die Erzähltheorie interessant machen. Denn sie behandeln zentrale Themen der Erzähltheorie aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive, nämlich die Fragen nach der ästhetischen Qualität und der Attraktivität von Erzählungen und die nach dem Verhältnis von Figur und Handlung. Bemerkenswert sind auch die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen dem dynamisch transaktionalen Ansatz und den literatur- und medienwissenschaftlichen Vertragsmodellen in der Gattungs- und in der Dokumentarfilmtheorie, die im Aufsatz zum Re-enactment mehrmals anklingen (vgl. S. 375ff.). Ebenso wertvoll ist diese Außenperspektive auch für eine kritische Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Praxis innerhalb der narratologischen Forschergemeinde. Will die Erzähltheorie ihren wissenschaftlichen Anspruch behaupten, muss sie auf die Ergebnisse der Studie zur Definitionspraxis in narratologischen Publikationen reagieren.

Unverständlich ist allerdings, dass die gesicherten Erkenntnisse der Erzähltheorie in diesem Band so wenig Widerhall gefunden haben. Das entwertet die theoretischen Überlegungen zum journalistischen Erzählen. Nicht weniger kritisch ist die fehlende Anschlussfähigkeit der vorgeschlagenen Begriffsexplikationen von journalistischer Narration und Storytelling an die journalistische Praxis einzuschätzen. Dennoch sind diese Ausführungen aufgrund der Probleme, die sie ansprechen, lesenswert.

So sind es auch in journalistischer Hinsicht letztlich die Rezeptionsstudien, die die eigentliche Bedeutung dieser Publikation ausmachen. Denn sie geben auf die zentralen Fragen nach den Wirkungen des journalistischen Storytellings keine dogmatisch-normativen, sondern empirische Antworten. Dass die vorgelegten Ergebnisse nicht zu den allgemein verkündeten Gewissheiten passen, macht sie nur umso bedeutsamer. Auch ist dem normativen Ansatz beizupflichten, dass die primäre Funktion journalistischer Berichterstattung eine möglichst korrekte Darstellung der Wirklichkeit ist und nicht die Attraktivität der Botschaft oder ihr Unterhaltungswert. Ebenso rufen diese empirischen Studien in Erinnerung, dass das journalistische Publikum viel zu differenziert ist, als dass eine einzige, standardisierte Darstellungstechnik alle Leser, Hörer und Zuseher erreichen könnte. Nicht von ungefähr hat sich im Journalismus eine Vielzahl von Darstellungsformen und Textsorten entwickelt, ein Sachverhalt, der in der Diskussion um die Digitalsierung des Journalismus und angesichts der aktuellen Formatierungstendenzen in allen Medien gerne übersehen wird. Fasst man das alles zusammen, so ist dieses Buch keineswegs unproblematisch, aber eben doch ein wichtiges Buch.

Literaturverzeichnis

Arnauld, Andreas von (2009): „Was war, was ist – und was sein soll. Erzählen im juristischen Diskurs“. In: Christian Klein / Matías Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart, S. 14-50.

Bleicher, Joan Kristin / Pörksen, Bernhard (Hg.) (2004): Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden.

Eberwein, Tobias (2013): Literarischer Journalismus. Theorie – Traditionen - Gegenwart. Köln.

Früh, Werner / Schönbach, Klaus (1982): „Der dynamisch-transaktionale Ansatz. Ein neues Paradigma der Medienwirkungen“. In: Publizistik 27 (H. 1/2), S. 74-88.

Klein, Christian / Martínez, Matías (Hg.) (2009): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen des nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart.

Köhler, Sebastian (2009): Die Nachrichtenerzähler. Zur Theorie und Praxis nachhaltiger Narrativität im TV  Journalismus. Baden-Baden.

Lahn, Silke / Meister, Jan Christoph (2008): Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart.

Lampert, Marie / Wespe, Rolf (2011): Storytelling für Journalisten. Konstanz.

Machill, Marcel et al. (2006): „Narrative Fernsehnachrichten: Ein Experiment zur Innovation journalistischer Darstellungsformen“. In: Publizistik 51 (H. 4) S. 479-497.

Meier, Klaus (2007): Journalistik. Konstanz.

Renner, Karl N. (2012): „Rudimentäres Erzählen nicht-fiktionaler Ereignisse in fernsehjournalistischen Nachrichtenfilmen“. In: Matthias Aumüller (Hg.), Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin, S. 47-108.

Renner, Karl N. (2013): „Die öffentliche Konstruktion einer nicht-fiktionalen Geschichte. Eine Fallstudie am Beispiel der Plagiatsaffäre Guttenberg“. In: Karl N. Renner et al. (Hg.), Medien-Erzählen-Gesellschaft. Berlin, S. 265-300.

Wolf, Werner (2002): „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“. In: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, S. 23-104.



Prof. Dr. Karl N. Renner
Journalistisches Seminar der JGU
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Alte Universitätsstraße 17
55116 Mainz
E-Mail: Karl.N.Renner@uni-mainz.de

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URN: urn:nbn:de:hbz:468-20141118-143515-0

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1Einen aktuellen Überblick über die verschiedenen Schulen des New Journalism in Amerika und Deutschland bieten der Sammelband Grenzgänger von Bleicher / Pörksen 2004 sowie Eberwein 2013.

2Machill, Köhler und Waldhauser untersuchen die Verständlichkeit von narrativen und nicht narrativen Fernsehnachrichten. Ihr Storytelling-Beispiel konstruieren sie dabei unter Rückgriff auf Aristoteles, Labov / Waletzky und das Aktantenmodell von Greimas (Machill et al. 2006, 486).

3Der Begriff inverted pyramid bezeichnet die Textorganisation einer klassischen Nachrichtenmeldung (hard news), wonach das Wichtigste am Anfang steht und die weniger wichtigen Informationen in den späteren Sätzen folgen (vgl. Meier 2007, 181f.). Bei der redaktionellen Bearbeitung können hard news durch Wegstreichen der letzten Sätze problemlos so gekürzt werden, dass man sie ohne wesentlichen Informationsverlust der zur Verfügung stehende Zeilenzahl anpassen kann. Dieses „Streichen vom Ende her“ ist ein signifikantes Differenzkriterium gegenüber der soft news, der erzählerisch aufbereiteten Nachrichtenmeldung. Hier ist das nicht möglich, ohne die Schlusspointe zu gefährden (vgl. Köhler 2009, 101).

4Da die Stimuli dieser Rezeptionstests so konzipiert sind, dass sie mit graduellen und nicht mit kategorialen Differenzen operieren, wirken sich die Probleme des zugrundeliegenden theoretischen Klassifikationssystems nicht weiter aus.