My Narratology

Ein Interview mit Wolf Schmid

DIEGESIS: Welche narratologische Untersuchung hat Sie am meisten beeindruckt?

Schmid: Unter den Werken, die Einfluss auf meine narratologische Konzeption hatten, möchte ich vier hervorheben, deren Autoren keineswegs einen Beitrag zur Erzähltheorie intendierten und die auch nicht narratologisch zu nennen sind. In chronologischer Reihenfolge sind das Viktor Šklovskijs Theorie der Prosa (russ., 1925), Michail Bachtins Probleme des Schaffens Dostoevskijs (russ., 1929), Roman Ingardens Literarisches Kunstwerk (1931) und Käte Hamburgers Logik der Dichtung (1957). An Šklovskijs Sammelband beeindruckte mich der funktionalistische Ansatz in der Behandlung von „Fabel“ und „Sujet“ unter dem Aspekt der „Verfremdung“. In Bachtins Monographie inspirierte das „metalinguistische“ Modell der Spuren, die die „Bedeutungspositionen“ der sprechenden, besprochenen und angesprochenen Instanzen in Aussagen hinterlassen. Ingardens Schichtenmodell der idealen Genesis der narrativen Welt vermittelte eine hilfreiche Grundvorstellung vom Aufbau des literarischen Werks, und sein Hinweis auf die „Unbestimmtheitsstellen“ des Textes und ihre Konkretisierung eröffnete eine rezeptionsorientierte Betrachtungsweise. Obwohl sich Käte Hamburgers „aussagenlogisch“ fundierte Gattungstheorie und ihre Thesen zur Detemporalisierung des epischen Präteritums und der Zeitlosigkeit der Dichtung nicht behaupten konnten, haben ihr aristotelischer Ansatz, ihre Analyse der erlebten Rede und ihr Hinweis auf die Darstellung der Innenwelt als entscheidendes Merkmal der Fiktion bis heute nichts von ihrer Anregungskraft verloren.

DIEGESIS: Welchen Erzähltext würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Schmid: Unter deutschen Texten wäre meine Auswahl klar: Thomas Manns Joseph-Tetralogie. Unter russischen Werken, die für den Insel-Aufenthalt umfangreich genug sind, gibt es zwei Anwärter, die in einer heftigen Konkurrenz miteinander stehen: Tolstojs Krieg und Frieden und Dostoevskijs Brüder Karamazov. Der erstgenannte Roman besticht einerseits durch seine Kunst der verfremdenden Beschreibung und anderseits durch seine in Handlung umgesetzte Philosophie der Geschichte. Die Brüder Karamazov, als katechetischer Tendenzroman konzipiert, gewinnen ihre Komplexität durch das nicht intendierte Schwanken des abstrakten Autors zwischen Pro und Contra. Wenn auch Kurzprosa in Betracht käme, wären Alexander Puschkins Belkin-Erzählungen die unbestritten erste Wahl.

DIEGESIS: Weshalb Narratologie?

Schmid: Weil in allen Lebensbereichen erzählt wird. Obwohl die Literaturwissenschaft die Mutterdisziplin der Erzähltheorie ist, beschränkt sich die Narratologie keineswegs auf die Analyse literarischer Texte. Die Narratologie hat die Aufgabe, Kategorien zu entwickeln, die Einsichten in das Funktionieren fiktionaler wie faktualer Narrationen in unterschiedlichen Medien vermitteln.

DIEGESIS: Welche aktuellen Entwicklungen in der Narratologie interessieren Sie besonders?

Schmid: Mich interessiert die Entwicklung der sogenannten kognitiven Narratologie, die freilich – wie etwa die Diskussion über Alan Palmers Target Essay „Social Minds in Fiction and Criticism“ (in Style 2011) gezeigt hat – noch unsicher über ihren Gegenstand ist (geht es um das Bewusstsein der Figuren oder der Rezipienten?) und methodisch zwischen literaturwissenschaftlichen Rezeptionshypothesen und empirischer Psychologie laviert. Insbesondere hätte eine kognitive Narratologie folgende Kinderkrankheiten zu überwinden: 1. die Gleichsetzung realen und fiktiven Bewusstseins, 2. die einseitige Konzentration auf das Figurenbewusstsein auf Kosten der Handlung, in der dieses Bewusstsein agiert, 3. die Ausblendung des Kunst- und Konstruktionscharakters literarischer Narrationen.

DIEGESIS: Wo sehen Sie die Zukunft narratologischer Forschung?

Schmid: Ich erwarte in der Zukunft eine Abkehr von den sogenannten Bindestrich-Narratologien, denn es erweist sich immer deutlicher, dass sie nicht eigentlich Narratologien sind, die spezifische Kategorien entwickeln, sondern Anwendungen der Narratologie ohne Bindestrich, meistens durchgeführt mit einem besonderen thematischen, oft auch ideologiekritischen Interesse. Statt dessen wird es wieder eine Hinwendung zu fundamentalen Problemen der Narratologie geben, insbesondere zur Frage der Wahrnehmung von Narrationen, also zu Problemstellungen, die die kognitive Narratologie für sich reklamiert. Hier erwarte ich eine stärkere Zusammenarbeit mit empirischen Wissenschaften.

DIEGESIS: Welche hier ungestellte Frage würden Sie noch gerne beantworten?

Schmid: Wo liegen die aktuellen Desiderate der Narratologie? Ich möchte zwei Themenbereiche nennen: Der erste betrifft das Verhältnis zwischen der „Ästhetik der Identität“ und der „Ästhetik der Gegenüberstellung“, um Jurij Lotmans Kategorien aufzugreifen. Hier wäre insbesondere die Frage zu stellen: Welchen Anteil haben an der Rezeption von Narrationen die Freude am Wiedererkennen und an der die Normen und die Scripts verletzenden oder sogar verfremdenden Ereignishaftigkeit? Der zweite Themenbereich ist die Universalität narratologischer Kategorien und die Frage nach ihrer historischen und kulturellen Geltung.

Wolf Schmid ist emeritierter Professor für slavische Literaturen an der Universität Hamburg. Er war Sprecher der Hamburger Forschergruppe Narratologie, Direktor des Interdisziplinären Centrums für Narratologie und Chairman des European Narratology Network. Zu seinen narratologischen Publikationen gehören das Buch Elemente der Narratologie (russisch 2003 und 2008, deutsch 2005, 2008, 2014, englisch 2010) und die Bände Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen (2009, Hg.) Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze (2009, Hg.). Er ist Mitherausgeber des Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology, des russischen Internetjournals Narratorium und geschäftsführender Herausgeber der Reihe Narratologia.



Prof. em. Dr. Dr. h.c. Wolf Schmid
E-Mail:
wschmid@uni-hamburg.de
URL:
http://www.slm.uni-hamburg.de/ISlav/personal/schmid.html

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