Adrian Froschauer

Computerspiele und ihr narrativer Gehalt

Hans-Joachim Backe bietet einen Überblick über Erzähl- und Spieltheorie sowie eine Typologie narrativer Computerspiele

Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008 [zugl. Dissertation Universität Saarbrücken]. 448 S. EUR 48,00. ISBN 978-3-8260-3986-7

Besonders im Internet, aber nicht nur dort, werden in den letzten Jahren immer wieder rege Diskussionen über das Wesen des noch sehr jungen Mediums der Computerspiele geführt. So hat zum Beispiel der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert mit seinem Essay Video Games can Never be Art (2010) eine bis heute andauernde Diskussion über den künstlerischen Gehalt von Computerspielen angestoßen. Auch im geisteswissenschaftlichen Diskurs wird Computerspielen als Kulturgut stetig mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Ob Kunst oder nicht, die game studies – ein breites Forschungsfeldfeld, mit dem sich Literaturwissenschaftler, Psychologen, Medienwissenschaftler, Pädagogen, Historiker, Soziologen und viele andere beschäftigen – streiten bis heute über eine Frage: Sind Computerspiele als Erzählmedium zu untersuchen, oder sollte bei ihrer Analyse dem gameplay, der Spielkomponente, eine größere Bedeutung zukommen? Bei diesem Streit bestehen die Fronten aus den sogenannten Ludologen und den Narratologen: Die Narratologen gehen erzähltheoretisch vor, während die Ludologen dieses Vorgehen kritisieren und argumentieren, dass Narration in Computerspielen nicht viel mehr als ein ‚Gimmick‘ sei.

Der Bochumer Komparatist Hans-Joachim Backe versucht in Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel eine Synthese zwischen diesen Positionen herzustellen. Er ordnet seine Arbeit selbst in eine zweite Generation der Computerspielforschung ein, die die Erkenntnisse der vorangegangen Generation „kritisch evaluiert, um zu einer systematischen Beschreibung des Erzählens im Computerspiel als eigenständigem Phänomen zu gelangen“ (S. 14). Zwar sind die von ihm vornehmlich genutzten Forschungsgrundlagen eindeutig literaturwissenschaftlich, Backe geht aber ebenfalls auf ludologische Ansätze ein.

Untersuchungsgegenstand und Zielsetzung

Im Fokus der Arbeit steht zunächst (Kapitel 2) der Untersuchungsgegenstand ‚Computerspiel‘ selbst beziehungsweise die Schwierigkeit, ihn genau und tragfähig begrifflich zu fassen, denn: „Die Natur des Computerspiels läuft Definitionsversuchen prinzipiell zuwider, da es erst seit relativ kurzer Zeit existiert und in diesen wenigen Jahrzehnten erhebliche Veränderungen durchlaufen hat“ (S. 31). Problematisch ist zudem die große Menge der teilweise nur vage voneinander abgegrenzten Genres: Anders als in anderen narrativen Medien wie Literatur oder Film bestimmen diese nicht nur Schauplatz, Thematik und Personal, sondern weisen gravierende Unterschiede in der grundlegenden Spielmechanik und damit in der Perspektivierung (ego- oder third-person-Perspektive), dem Verlauf von Zeit (Echtzeit oder rundenbasiert) und weiteren wichtigen narrativen Merkmalen auf. Die vom Verfasser gebotenen umfassenden Erläuterungen zum definitorischen Problem sowie die breite Vorstellung des Mediums Computerspiel in seinen Varianten sind ebenso funktional wie mit unkomplizierten Formulierungen und vielen Beispielen und Illustrationen auch für Unkundige verständlich.

Auf dieser soliden Grundlage folgt in einem zweiten Schritt die Engführung auf narrative Computerspiele. Backe möchte dabei nicht auf gängige Genreeinteilungen zurückgreifen, da diese seiner Meinung nach ein Computerspielgenre stets als inhärent narrativ identifizieren. Durchaus befremdlich allerdings ist, dass Backe lediglich in einer Fußnote definiert, wodurch sich narrative Computerspiele seiner Einschätzung nach auszeichnen – zumal die Eingrenzung des Forschungsgegenstandes ansonsten überaus detailliert ist. Letztendlich schlägt Backe eine Einteilung der Computerspiele im Hinblick auf ihr narratives Potential in drei Gruppen vor: (1) abstrakte Computerspiele, deren Spielgeschehen sich „nicht in eine Erzählung, sondern bestenfalls in ein Protokoll überführen ließe“ (S. 27); (2) implizit narrative Computerspiele, die konkrete Objekte und Vorgänge darstellen, aber keine narrativen Mittel einsetzen; (3) explizit narrative Computerspiele, bei denen die Objekte und Vorgänge der Spielwelt Teil einer Geschichte sind, in denen sich also Spiel- und Erzählelemente verbinden. Diese durchaus sinnvolle Unterteilung hätte, das sei angemerkt, einen wesentlich prominenteren Platz verdient in einer Arbeit, die sich nicht nur mit Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel beschäftigt, sondern den Anspruch auf eine typologische Ordnung sogar im Titel führt.

Die explizit narrativen Computerspiele, die Backe der Einfachheit wegen zumeist schlicht als narrative Computerspiele bezeichnet, stehen im Mittelpunkt der weiteren Untersuchungen. Backe sucht dabei „die Antwort auf die Frage, wie sich erzählende Computerspiele in ihrer Verbindung von Spiel und Erzählung beschreiben und klassifizieren lassen“ (S. 21). Dazu stellt er verschiedene Spielkonzepte und Forschungsansätze vor, aus deren Kombination er ein allgemein anwendbares Modell zur Untersuchung narrativer Computerspiele ableiten möchte.

Aufbau der Arbeit

Zwischen der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes und der Vorstellung des eigenen Untersuchungsmodells liegen weit über 200 Seiten. Die Kapitel sind zwar äußerst kleinteilig, aber auch recht unübersichtlich gegliedert und nicht immer logisch eingeteilt oder benannt. Das dritte Kapitel etwa trägt den Titel „Stand der Forschung“, enthält jedoch nicht die angekündigte Systematisierung der Erkenntnisse der etablierten game studies. Stattdessen spricht Backe von den narrative gaming studies. Er erläutert Forschungsergebnisse zu Konzepten wie Interaktivität, Ergodik, Textualität und Medialität des Computerspiels und geht teilweise sehr genau auf einzelne Ansätze und Beiträge der game studies ein, die sich mit der Narrativität von Computerspielen beschäftigen. Auch ein Abschnitt zu Medien- und Textblindheit findet sich, obwohl er hier etwas fehl am Platz scheint. Die folgenden Kapitel widmen sich der Forschung auf den Gebieten des „Erzählen[s] im Computerspiel“ (Kapitel 4), der „Spieltheorie“ im Allgemeinen (Kapitel 5) und, erneut, der „Computerspieltheorie“ im Speziellen (Kapitel 6).

Backe wägt verschiedene Theoriemodelle der Ludologie und der Narratologie in ihren Vor- und Nachteilen für die Analyse von Computerspielen ab, um diese schließlich zu kombinieren und so zu einer eigenen Klassifikation von Computerspielen hinsichtlich ihrer Verbindung von Spiel und Erzählung zu gelangen. Die erzähltheoretischen Grundlagen der Arbeit liefern Roland Barthes (1988) und David Herman (2002). Das Hauptaugenmerk im Bereich der Spieltheorie liegt auf der Spieletypologie von Roger Caillois (1982), denn: „Nicht nur findet sich hier die einzige durchgehende Systematisierung aller Spielaspekte in einem Modell, auch die Frage der Fiktionalität von Spielen, die Rolle von Glücksspiel und (für die Analyse von Computerspielen besonders bedeutsam) Solitärspiele werden berücksichtigt“ (S. 258f.). Backe wirft den meisten Publikationen eine auf Missverständnissen beruhende Übersimplifizierung von Caillois’ System vor (vgl. S. 259). Darum erläutert er Caillois’ vier Grundtypen von Spielen – agôn (Wettstreit), alea (Glücksspiel), mimicry (Maskerade), ilinx (Verunsicherung) – ebenso ausführlich wie klar anhand von Definitionen, Beispielen und Illustrationen.

Auf diesem theoretischen Unterbau versucht die Studie schließlich, zu einem eigenen „Strukturmodell“ (Kapitel 7) und zu einer „[t]ypologische[n] Kategorisierung“ des Computerspiels (Kapitel 8) zu gelangen. Die Erläuterungen dieser Modelle nehmen mit 56 Seiten zwar nur einen kleinen Teil der gesamten Arbeit ein, liefern aber dank klarer Struktur und überzeugender Unterteilung ein sehr produktives Untersuchungsmodell.

Strukturmodell und Typologie

Backe unterscheidet drei Ebenen spielerischer Ordnung (Sub-, Mikro- und Makrostruktur), denen er verschiedene Spiel- und Erzählelemente zuordnet: Die Substruktur ist die Ebene der paidia, also – vereinfacht ausgedrückt – des spontanen, improvisierten, ziellosen Spielens. Sie umfasst den Handlungsfreiraum des Spielers, die Menge an möglichen Aktionen und die grundlegenden Spielmechaniken, die nicht immer in sinnvoller Weise kombiniert werden (können): „Durch das Fehlen von Zielen besteht die Möglichkeit zur freien Entfaltung innerhalb der Weltregeln, die nur durch den Wunsch nach Fortführung des Spiels begrenzt wird“ (S. 357). Die Mikrostruktur bezeichnet die Ebene des ludus, also des geregelten und zielgerichteten Spielens. Sie besteht „aus einer Problemstellung und einem oder mehreren Wegen zur Lösung dieses Problems“ (S. 359). So kann zum Beispiel die Aufgabe, einen Gegner zu besiegen oder ein Rätsel zu lösen, die Elemente der Substruktur sinnvoll ordnen und verknüpfen.

Die Summe der Mikrostrukturen hingegen wird in der Makrostruktur geordnet: Sie „gibt den Geschehnissen des Spiels einen Kontext, und damit eine Motivation oder Erklärung“ (S. 364). So kann die Makrostruktur nicht-spielerische, erzählerische Prinzipien umfassen, die für einen Zusammenhalt einzelner Aufgaben und Tätigkeiten sorgen. Eine narrative Makrostruktur gestaltet sich wesentlich abwechslungsreicher als eine rein regelorientierte, wie sie etwa im Falle eines Turniers oder Wettbewerbs vorliegt. Backe führt als Beispiel eine Sequenz in Half-Life an, während der der Spieleravatar unabhängig von der Leistung des Spielers gefangen genommen wird: „Statt durch Erfolg gelangt der Spieler durch erzwungenen Mißerfolg zur nächsten Station des Spiels“ (S. 368) – bei einer rein regelorientierten Makrostruktur, die nur auf das Erfüllen von Spielzielen aus ist, wäre das unvorstellbar.

In seiner Typologie schließlich unterscheidet Backe Computerspiele nach drei Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Makrostruktur, die dem Spieler zur Verfügung stehen: Entscheidung, Leistung und Avatareigenschaften. Ersteres bezeichnet „die Veränderung der Makrostruktur durch die bewußte Wahl zwischen Alternativen“ (S. 380). Natürlich enthalten auch die anderen Einflussmöglichkeiten Spielerentscheidungen, doch gemeint sind Entscheidungen zwischen explizit formulierten und mit Konsequenzen behafteten Alternativen. Die Konsequenzen auf der Ebene der Makrostruktur können dabei durchaus Auswirkungen auf die Mikrostruktur haben. Beim Einflussmerkmal der Leistung hingegen hat das Verfehlen oder Erreichen von Zielen der Mikrostruktur Auswirkungen auf die Makrostruktur. Die gute oder schlechte Leistung des Spielers kann sich zum Beispiel darauf auswirken, welche Hindernisse ihm als nächstes in den Weg gestellt werden, beziehungsweise welches Ende die Geschichte des Spiels nimmt. Die Einflussmöglichkeit der Avatareigenschaften bezeichnet die Veränderung der Makrostruktur durch die vom Spieler gesteuerte Wahl oder Gestaltung des Avatars. Dazu gehören die in vielen Rollenspielen übliche Erschaffung eines eigenen Spielercharakters oder Reaktionen von Nicht-Spieler-Charakteren auf das Verhalten oder das Aussehen des Avatars.

Laut Backe kann ein Computerspiel in Bezug auf die Einflussmerkmale Entscheidung, Leistung und Avatar statisch oder dynamisch sein, dem Spieler also bestimmte Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Makrostruktur einräumen oder verweigern. Aus der Kombination dieser Faktoren ergeben sich acht verschiedene Typen von Computerspielen, abhängig davon, ob und welche Einflussmöglichkeiten vorhanden sind. Dem ersten Typ (Entscheidung statisch, Leistung statisch, Avatar statisch) gehören zum Beispiel so gut wie alle klassischen adventure-Spiele an, während der achte Typ (Entscheidung dynamisch, Leistung dynamisch, Avatar dynamisch) alle komplexen Rollenspiele umfasst.

Fazit

Backe gibt selbst zu bedenken, dass die Unterscheidung zwischen dynamischer und statischer Einflussnahme des Spielers relativ basal sei, legitimiert dies jedoch mit der Absicht, die Zahl der Typen überschaubar halten zu wollen. Weiter merkt er an, dass es nur von untergeordneter Bedeutung sei, ob „der Spieler tatsächlich Einfluß auf die Makrostruktur hat, oder ob ihm nur dieser Eindruck vermittelt wird“ (S. 384). Damit blendet der Verfasser allerdings einige wichtige Fragen der game studies aus beziehungsweise rechnet ihnen nur eine geringe Bedeutung zu. Eine feinere Unterteilung hätte zweifellos zu einer komplexeren, aber eben auch zu einer breiter anwendbaren Typologie geführt. Dennoch liefert der Autor ein produktives und grundlegendes Untersuchungsmodell, das das Medium Computerspiel weder auf den Spiel- noch den Erzählaspekt reduziert, sondern diese in Abhängigkeit voneinander betrachtet – es „stellt sie in ihrer Verzahnung dar“ (S. 353).

Die Arbeit ist nicht immer übersichtlich und logisch untergliedert. Mehrmals muss Backe, um Missverständnisse zu vermeiden, Begriffe und Theorien erwähnen, die erst in späteren Kapiteln erläutert werden. In vielen Fällen wäre eine andere Reihenfolge die bessere Lösung gewesen. So stünde die Zusammenführung von Erzähl- und Spieltheorie im vierten Kapitel „Erzählen im Computerspiel“ (S. 167) sinnvoller nach den allgemeinen Erläuterungen zu Spieltheorie (Kapitel 5) und Computerspieltheorie (Kapitel 6) anstatt davor. Eine klare Diktion und zahlreiche Illustrationen machen diesen Makel jedoch größtenteils wieder wett. Komplexe erzähl- oder spieltheoretische Überlegungen werden ebenso präzise und deutlich erläutert wie computerspielspezifische Fachbegriffe und Abkürzungen. Diagramme, Illustrationen und screenshots verdeutlichen abstraktere Aussagen und zeigen Beispiele für erläuterte Charakteristika von Computerspielen.

Backes typologische Einführung ist in erster Linie genau das: eine Einführung. Dem Anspruch einer theoretisch differenzierten und empirisch fundierten Typologie wird das Buch dabei nicht gerecht. Hier wäre eine breitere Darstellung wünschenswert. Die Arbeit bietet jedoch eine gut lesbare Annäherung an den Gegenstand sowie einen ausführlichen Überblick über die Computerspieltheorie mit Schwerpunkt auf dem narratologischen Aspekt.

Literaturverzeichnis

Barthes, Roland (1988): „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“. In: Ders. (Hg.), Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M., S. 102-143.

Caillois, Roger (1957): Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt a.M. 1982.

Ebert, Roger (2010): „Video Games can Never be Art“. In: Roger Ebert’s Journal. URL: http://www.rogerebert.com/rogers-journal/video-games-can-never-be-art (16.04.2010).

Herman, David (2002): Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative. London.



Adrian Froschauer, B.A.
Universität des Saarlandes
Philosophische Fakultät II
Fachrichtung 4.1 – Germanistik
E-Mail: s9adfros@stud.uni-saarland.de

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