Katharina John

Zwischen Geschichtswissenschaft und Narratologie

Jonas Grethlein und Christopher B. Krebs über die Bedeutung und Komplexität von Zeit und Erzählung in antiken historischen Texten

Jonas Grethlein / Christopher B. Krebs (Hg.): Time and Narrative in Ancient Historiography. The ‘Plupast’ from Herodotus to Appian. Cambridge: University Press 2012. EUR 60,00 (USD 99,00). ISBN 978-1-107-00740-6

Der vorliegende Sammelband ist an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft und Narratologie einzuordnen. Die Altertumswissenschaftler Jonas Grethlein und Christopher B. Krebs beleuchten die Bedeutung von Zeit und Erzählung in der antiken Historiographie aus einem neuen Blickwinkel, dem des „Plupast“.1 Das Anliegen des Sammelbandes ist dabei ein Grundsätzliches: Vor dem Hintergrund der zeitlichen Komplexität antiker historischer Erzählungen geht es ihm darum, neue Erkenntnisse über die antike Geschichtsschreibung zu gewinnen.

Zum Aufbau des Bandes: Nach einer allgemeinen Einführung der Herausgeber folgen beispielhafte Interpretationen antiker Autoren im Hinblick auf das Plupast. Das Spektrum der Analysen reicht dabei von Herodot über Thukydides, Xenophon, Sallust, Dionysios von Halikarnassos, Livius, Tacitus und Plutarch bis hin zu Appian.

Plupast

In einem einleitenden Kapitel (S. 1-16) entwickeln und erörtern die Herausgeber das Konzept des Plupast.2 Unter dem Plupast – auf Deutsch etwa Vorvergangenheit – verstehen die Herausgeber eine Vergangenheit, auf die in einer historischen Erzählung Bezug genommen wird und die vor den Ereignissen der Haupterzählung stattgefunden hat. Grethlein und Krebs beschreiben das Plupast im Anschluss an die Terminologie Gérard Genettes als Analepse. Es kann sich auf jeden Moment in der Vergangenheit, von der nahen bis hin zur entfernten mythologischen Vergangenheit, beziehen. Die zeitliche Dimension kann im Hinblick auf ihre Beziehung zur Gesamterzählung weiter ausdifferenziert werden. Es kann sowohl ein noch in der Erzählung enthaltenes (internes) Ereignis als auch eines, das davon ganz losgelöst (extern) ist, betreffen. Das Plupast kann auf unterschiedliche Arten thematisiert werden: auf das Plupast kann innerhalb einer Rede verwiesen werden, es kann durch einen anderen Text evoziert werden, aber auch durch materielle Gegenstände, auf die Bezug genommen wird oder durch abstrakte, aber allgemein bekannte topoi. Die Bezugnahme auf diese Vorvergangenheit kann sowohl vom Historiker selbst als auch von Personen in der Erzählung durchgeführt werden.

Herodot

Sowohl Deborah Boedeker (S. 17-34) als auch Emily Baragwanath (S. 35-56) beschäftigen sich mit dem Plupast bei Herodot. Charaktere bei Herodot zeigen ihre eigenen großen Taten auf, ziehen Lektionen aus der Geschichte, beleuchten moralische oder politische Ereignisse anhand von Beispielen aus früheren Zeiten. Boedeker untersucht dieses „speakers past“ (S. 17) u.a. anhand der Reden der Tegeaten und Athener, die sich auf die Taten ihrer Vorfahren berufen, um in der Schlacht von Plataiai den ruhmvollen linken Schlachtflügel einnehmen zu können (Hdt. IX, 26-28).3 Boedeker behandelt nicht nur Herodots eigene Erzählstrategien, sondern unternimmt auch den Versuch eines Vergleiches mit Elegie und Lyrik (bspw. Sappho, fr. 94, V 1-11; Solon, fr. 32, W2 1-5). Sie vertritt die These, dass die Analyse des Plupast dazu beiträgt, zu verstehen, wie Ereignisse sich in der Erinnerung verändern.

Emily Baragwanath untersucht, auf welche Art sich mythisches und historisches Plupast bei Herodot voneinander unterscheiden. Unter dem mythischen Plupast versteht sie Analepsen, deren zeitliche Ausdehnung bis in die entfernte, legendäre Vergangenheit reicht. Baragwanath zeigt anhand verschiedener Beispiele (u.a.: Hdt. VII, 9-10; VIII, 108-109; IX, 26-27), dass Herodot seine Protagonisten mit einer mythischen Vergangenheit argumentieren lässt, um z.B. Kontroversen auszutragen oder Ansprüche zu begründen. Dementsprechend ist das mythologische Plupast ein zentraler Faktor, um die Gegenwart Herodots verstehen und erklären zu können.

Thukydides

Jonas Grethlein (S. 57-75) behandelt den Rückgriff auf die Vergangenheit in der Diskussion um Plataiai bei Thukydides (Thuk. III, 52-68). In dieser Diskussion untersuchen Thebaner und Plataier die gleichen historischen Ereignisse, kommen aber zu entgegengesetzten Schlüssen. Nach Grethlein benutzt Thukydides das Plupast, um seine eigene neue Annäherung an die Vergangenheit von schon bestehenden Arten der Erinnerung abzugrenzen. Der Nutzen von Thukydidesʼ Darstellung ist demnach ein doppelter: Durch den Gebrauch des Plupast wird der Kontrast zwischen den Perserkriegen und dem Peloponnesischen Krieg verdeutlicht, und es wird gezeigt, dass die Athener die ehemalige Vormachtstellung Persiens übernommen haben. Dabei unterscheidet Grethlein zwei Ebenen des Plupast: eine Handlungs- und eine Erzählebene. Das Plupast erweist sich nur auf letzterer als nützlich: Es fügt der Erzählung des Peloponnesischen Krieges eine gewisse Tiefe hinzu und überliefert historische Bedeutung.

Xenophon

In seinem Aufsatz (S. 76-94) behandelt Tim Rood das Plupast in Xenophons Helleniká. Im Mittelpunkt steht die Verwendung des Plupast im Kontext von Reden, die sich mit der Vergangenheit befassen.4 In Anbetracht der Tatsache, dass methodologische Hinweise bei Xenophon fehlen, untersucht Rood die Anspielungen einzelner Charaktere auf die Vergangenheit, da sie dazu beitragen, Xenophons Konzeption der Vergangenheit zu verstehen. Er behandelt v.a. Redner, die auf moralische Konsequenzen hinweisen, die sich aus historischen Beziehungen ergeben. Das Plupast beleuchtet dabei die wechselnden Beziehungen zwischen Spartanern, Athenern und Thebanern und entspricht nach Rood ganz dem Geist der Zeit.

Sallust

Andrew Feldherr (S. 95-112) untersucht die Reden, die Caesar und Cato in Sallusts Bellum Catilinae halten. Feldherr zeigt, dass Caesar eine Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart annimmt, während für Cato die Diskontinuität überwiegt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Sallust nicht deutlich macht, welchen Nutzen sein Werk für den Leser hat, behauptet Feldherr, dass der Leser gerade dazu angeregt werden soll, zu überdenken, welche Funktion die Erinnerung an die Vergangenheit hat. Feldherr versteht das Redenpaar Caesar-Cato dabei als eine mise-en-abyme, durch die Sallust die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Funktion der historischen Erinnerung lenkt. Er zeigt in seinem Beitrag eine mögliche Funktion der Geschichtsbeschreibung Sallusts auf: Sie dient dazu, allgemeine Beobachtungen über die Beschaffenheit menschlicher Handlungen anzustellen.

Dionysios von Halikarnassos

Clemence Schultze (S. 113-138) beschäftigt sich mit den mythologischen Gründungsgeschichten der Stadt Rom, auf die bei Dionysios von Halikarnassos Bezug genommen wird. Das Plupast nimmt dabei eine wichtige Bedeutung für das Zusammenwachsen der Stadt als kulturelle Gemeinschaft

ein. Mit seiner Hilfe werden Menschen unterschiedlicher Herkunft durch mythologische Erzählungen miteinander verbunden. Schultze beschäftigt sich einerseits mit einem narrativen Plupast, welches von Dionysius, dem Erzähler, benutzt wird. Andererseits wendet sie sich dem Plupast zu, mit dem einzelne Charaktere innerhalb der Erzählung argumentieren. Beide Ebenen des Plupast versteht sie als Bestandteile eines Prozesses der Identitätsfindung der Römer.

Livius

Christopher B. Krebs (S. 139-155) befasst sich mit dem Charakter des M. Manlius Capitolinus, sein Aufstieg und Fall werden bei Livius beschrieben werden. Er arbeitet heraus, wie durch das Plupast verschiedene Betrachtungsperspektiven des Manlius aufgezeigt werden. In Livius’ Beschreibung wird das Plupast in Form von Metaphern, exempla und materiellen Objekten thematisiert. So werden Plupast und Livius’ historische Erzählung eng miteinander verbunden. Krebs sieht in Livius einen Historiker, dem es darum geht, kritische und aktive Leser zu haben. Durch das Plupast kommentiere Livius seine eigene historische Tätigkeit metahistorisch und mache seinem Leser deutlich, dass die Vergangenheit eben kein feststehendes Gebilde ist.

Tacitus

Timothy A. Joseph (S. 156-174) thematisiert das Plupast in den Historien des Tacitus. Joseph deckt Grenzen und mögliche Missverständnisse der Erinnerung an Bürgerkriege und Bürgerkriegsliteratur am Beispiel des Bürgerkriegs des Jahres 69 n. Chr. auf. Tacitus’ Bericht zeigt, dass die Römer sich an ähnliche Ereignisse früherer Bürgerkriege, die z.B. bei Sallust, Cicero und Lukianos beschrieben werden, erinnern und diese Erinnerungen mit der Gegenwart verbinden. Gleichzeitig grenzt Tacitus sich nach Joseph durch die Verwendung des Plupast von anderen Autoren ab und schreibt seinem Werk einen besonderen Stellenwert in der Bürgerkriegsliteratur zu.

Plutarch

Alexei V. Zadorojnyi (S. 175-198) untersucht Beispielhaftigkeit und Imitation als Spiegel metahistorischer Überlegungen und somit als eine besondere Ausprägung des Plupast in den Parallelbiographien Plutarchs. Indem in den Biographien Plutarchs an mehreren Stellen Personen aus der Vergangenheit als Beispiele ethischen Verhaltens verstanden und imitiert werden (Alexander, Herakles, Xenophons 10.000), erschafft der Historiker den Anlass für einen regen Plupast-Gebrauch. Plutarch scheint dabei beim Leser eine kritische Grundhaltung gegenüber Beispielen aus der Vergangenheit hervorrufen zu wollen. In seinem sehr lebhaft und anschaulich geschriebenen Beitrag hebt Zadorojnyi abschließend den belehrenden Charakter, den Plutarchs Erzählung durch das Plupast erhält, hervor.

Appian

Luke Pitcher (S. 199-210) setzt sich mit dem Plupast in Appians Historia Romana auseinander. Er untersucht, welche Bedeutung Vergangenheitserzählungen im Gesamtwerk haben, um so Erkenntnisse über die Natur und Intention von Appians eigener Geschichtsschreibung zu erlangen. Pitcher wendet sich von einer anerkannten Interpretation Appians ab – er versteht die Episode, in der der Prozess des Scipio in den Syriaca (App. Syr. 207) beschrieben wird, nicht als einfachen Spiegel von Appians historiographischer Praxis. Stattdessen spricht er von einem „zerbrochenen Spiegel“ (S. 199) und betont, dass in dieser Episode gezeigt wird, wie Charaktere innerhalb des Textes Vergangenheitserzählungen beeinflussen, um sie zu eigenen (politischen) Zwecken zu nutzen. Er zeigt dies anhand von Caesars Triumphzug im 2. Buch der Bürgerkriege auf.

Fazit – das Plupast – Leistungen und Grenzen

Der Titel des Sammelbandes lässt eine Arbeit erwarten, die sowohl historisch als auch narratologisch vorgeht und die das Konzept des Plupast von Herodot bis zu Appian erläutert. Dem Band liegt kein einheitliches Text-Korpus zu Grunde. Es werden sowohl griechische als auch lateinische Autoren behandelt. Dabei ist nicht klar, nach welchen Prinzipien die einzelnen Autoren und Texte ausgewählt wurden. Es ergibt sich vielmehr ein beispielhafter Überblick über verwandte und ähnliche Probleme in unterschiedlichen Texten und Erzählkontexten. In der Einleitung sprechen die Herausgeber vom Plupast als einem „potent tool in the hand of ancient historians for creating extra layers of meaning and for inviting the reader’s critical reflection on the nature of history.“ (S. 4) Hier wecken Grethlein und Krebs die Erwartung, dass ihr Sammelband einen neuen theoretischen Ansatz zum Verständnis der antiken Geschichtsschreibung entwickelt und praktisch anwendet. Es gelingt den Beiträgen des Bandes zu zeigen, dass die Untersuchung der Bezüge auf die „Vorvergangenheit“ in der antiken Historiographie einen interessanten Ansatz für ihre Analyse und Interpretation darstellt. Dabei sticht besonders die Bedeutung einer übereinstimmenden Vergangenheit für die Konstruktion einer gemeinsamen kulturellen Identität ins Auge. Allerdings wird an einigen Stellen nicht klar, warum für derartige Untersuchung ein neues Konzept geschaffen werden muss. Es werden viele interessante und wichtige Probleme angesprochen, der Plupast-Begriff verhilft aber nicht immer zu neuen Ergebnissen. Zusammengefasst: Mag es auch fraglich sein, ob die Schaffung eines neuen methodologischen Konzeptes, dem des Plupast, in letzter Konsequenz wirklich notwendig ist, so stellen die einzelnen Beiträge doch interessante und aufschlussreiche Untersuchungen dar. Schade ist, dass der Band nicht durch ein Fazit abgeschlossen wird, das die einzelnen Beiträge allgemein miteinander verbindet und ihre gemeinsame Bedeutung herausstreicht. Zudem wäre eine literaturwissenschaftliche Einschätzung eine sinnvolle Ergänzung für das Vorhaben dieses Sammelbandes gewesen.

Der Band verfügt über biographische Referenzen, einen Index locorum und einen allgemeinen Index.



Katharina John
Seminar für Alte Geschichte
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.
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Tel.: 0049 (0)761 203 9374
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1 Im Folgenden wird der Einfachheit halber der Begriff Plupast auch im Deutschen benutzt.

2 Ausgehend von der Frage, warum Referenzen auf die Vorvergangenheit in historischen Erzählungen bisher keine systematische Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, entstand das Konzept des Plupast auf einer Tagung in Freiburg im Jahr 2005. Der Band von Grethlein und Krebs greift die Thematik der Tagung wieder auf, es handelt sich nicht um einen Tagungsband.

3 Ein weiteres Beispiel sieht Boedeker in der Benutzung des Plupast bei Herodot durch die Perser. Sie sehen Ereignisse der Vorvergangenheit einerseits als negative Beispiele (Hdt. VII, 10 und 18) andererseits aber auch als positive, identitätsstiftende Beispiele (Hdt. VII, 8; VII, 11).

4 Er behandelt dafür die Niederlage Athens im Jahr 404 v. Chr., nach der die Athener eine emotionale Rede halten (Thuk. II, 2). Darüber hinaus thematisiert er die Rede der Thebaner in Athen im Jahr 395 v. Chr. (Thuk. III, 5), die Rede der Athener in Sparta im Jahr 371 v. Chr. (Thuk. VI, 3) und die Rede der Spartaner in Sparta 369 v. Chr. (Thuk. VI, 5).