Filippo Smerilli

Figuren und Wissen

Neue Methoden und konventionelle Hermeneutik

Lilith Jappe / Olav Krämer / Fabian Lampart (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin: Walter de Gruyter 2012 (= linguae & litterae Bd. 8). EUR 99,95. ISBN 978-3-11-022913-4

I. Der Forschungskontext

Der 2012 erschienene Sammelband zum „Figurenwissen“ versammelt Beiträge zu einer 2008 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) veranstalteten Tagung. Der Haupttitel des Bandes gibt zunächst Anlass zu der Vermutung, dass die Verbindung von Figuren und Wissen von neueren deutschsprachigen Publikationen zur Figurenanalyse in der Literatur bzw. im Film beeinflusst sein könnte.1 Denn die gemeinsame Besonderheit dieser neueren Ansätze besteht ungeachtet ihrer sonstigen Unterschiede darin, dass sie für ihre methodischen Entwürfe zur Figurenanalyse auf Konzepte zur Informationsverarbeitung aus der Kognitionswissenschaft zurückgreifen.2 Sie stellen somit neuere Varianten der Rezeptionsforschung dar, für die das Wissen der Rezipienten eine herausragende Rolle spielt. Und tatsächlich werden in der Einleitung der drei Freiburger Herausgeber die Arbeiten von Jens Eder, Fotis Jannidis und Ralf Schneider vorgestellt (vgl. S. 5-10). Allerdings wird dem Band doch nicht ein enger kognitionswissenschaftlicher Wissensbegriff zugrundegelegt, sondern ein „Begriff des Wissens“ in einem „weiten Sinne“ (vgl. S. 2).

Das Kompositum „Figurenwissen“ ist zudem mehrdeutig, und die Herausgeber sind sich dessen bewusst. Sie differenzieren drei in den Aufsätzen behandelte Wissensformen: „Welches historische Wissen über den Menschen ist in die Figurendarstellungen der literarischen Texte ‚eingegangen‘, und wie ist es in diesen Texten ‚verarbeitet‘ worden?“ „Wie nutzen Autoren die Darstellung von Figuren, um Wissen zu vermitteln?“ „Welches vorgängige Wissen wird durch die literarischen Figurendarstellungen bei der Leserin oder beim Leser ‚aktiviert‘ oder ‚aufgerufen‘?“ Eine „vierte Art von Fragen zu Figuren und Wissen“ sei in ihrem „Band allerdings nicht vertreten“, nämlich die Frage: „Welches Wissen kann man als Leser aus den Figurendarstellungen eines literarischen Textes gewinnen?“ (vgl. S. 12-15)3 Wie sie selbst schreiben, beziehen sich die ersten beiden Fragen stärker auf den Produktions-, die dritte – und man kann ergänzen auch die vierte – Frage dagegen eher auf den Rezeptionsprozess (vgl. S. 15). Allerdings fällt auf, dass in systematischer Perspektive die genannten Wissensformen auf ganz unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind: In der ersten Frage bildet ein zeitlicher Aspekt das Hauptkriterium – und wird vermengt mit einem Moment der Gestaltung, das zudem in seiner formalen oder inhaltlichen Ausrichtung unbestimmt bleibt. In der zweiten und dritten Frage ist primär das Subjekt des Wissens ausschlaggebend für die Zuordnung. Die vierte Frage hingegen betrifft wie die zweite meines Erachtens sowohl die Rezeptions- als auch die Textebene, denn Wissen, das ein Leser aus einem Text gewinnen kann, ist abhängig von der Darstellung des Wissens im Text, so dass eigentlich das Zusammenspiel von Text und Rezeption im Fokus stehen sollte. Zum Zweck einer kurzen Vorstellung der einzelnen Beiträge werde ich mich im Folgenden jedenfalls hauptsächlich an diesen und anderen, von den Herausgebern selbst nicht genannten Formen des Wissens orientieren, denen sich die Texte jeweils schwerpunktmäßig widmen.

II. Formen des Wissens in den einzelnen Beiträgen des Sammelbands

Das zeitliche Spektrum der in den insgesamt 15 Aufsätzen behandelten literarischen Texte reicht vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Es umfasst neben Beispielen aus der deutschsprachigen Literatur, die den Schwerpunkt bilden, auch solche aus der amerikanisch-, englisch-, französisch-, italienisch- und russischsprachigen Literatur. Hauptsächlich liegen literaturwissenschaftliche Analysen vor, aber enthalten sind auch zwei Texte aus einer geschichtswissenschaftlichen sowie jeweils einer aus einer linguistischen und einer philosophischen Perspektive. In den einzelnen Beiträgen werden unterschiedliche Schwerpunktsetzungen hinsichtlich der Wissensformen vorgenommen, die als Untersuchungsgegenstand dienen.

Manuele Gragnolati greift in seinem Aufsatz auf historisches Wissens über den geistesgeschichtlichen Kontext zurück, um im Verhältnis dazu die Bedeutung des menschlichen Körpers für Verstorbene, wie sie in der Divina Commedia Dantes gestaltet ist, herausarbeiten zu können. Sein Ergebnis ist, dass die genauere Ausgestaltung einer Rehabilitierung des Körpers bei Dante gegenüber dem historischen Kontext eine Innovation bedeute (vgl. S. 50).

Der Beitrag von Almut Suerbaum widmet sich dem „Wissen und Nicht-Wissen der Figuren“ (S. 55) um Motivationen im Sinne psychischer Beweggründe. Dieses Wissen bezieht sich entweder auf die „Innendimension“ (S. 54) des Bewusstseins anderer Figuren oder auf die „Innendimension“ des eigenen Bewusstseins einer Figur. Suerbaum analysiert die Melusine als ein exemplarisches Beispiel für spätmittelalterliche Prosaerzählungen. Diese seien „bei der „Handhabung dieses Figurenwissens […] in vielerlei Hinsicht mindestens so spätmittelalterlich wie frühmodern“ (S. 56). Suerbaum setzt also das im Text dargestellte ‚psychologische‘ Wissen der Figuren in ein Verhältnis zu literarhistorischen Entwicklungen, nämlich den sich wandelnden, jeweils vorherrschenden Darstellungsarten solchen Wissens.

Einer der umfangreichsten Texte des Bandes ist Daniel Fuldas Aufsatz. Er untersucht die Art der in historiographischen Texten Schillers gestalteten Figuren sowie die Gründe für ihre spezifische Art der Gestaltung. Schiller vermittle insbesondere „das ‚politische‘ Verhaltenswissen der Frühen Neuzeit“, das der „taktisch geschickte[n] Selbstbehauptung in Konkurrenzsituationen“ gelte (S. 83f.). Zugleich stelle Schillers „Historiographie“ eine „Schwelle“ dar, „in der beide Makroepochen, Frühe Neuzeit und Moderne, ineinander übergehen“ (S. 81). Die Besonderheit Schillers auf dieser Schwelle bestehe darin, dass er die noch stark der Frühen Neuzeit verhaftete Konzeption eines „personalistische[n] Interaktionsmodell[s] des politischen Wissens“ (S. 90) verbinde mit einem Sichtbarmachen der großen geschichtlichen Prozesse in den Interaktionen der historischen, als Figuren gezeichneten Personen. Er verleihe durch diese Art der Gestaltung politischen Figurenwissens „Geschichtsabschnitten Kohärenz“, „die zugleich als Entwicklungsstadien eines universalen Prozesses dargestellt werden“ (S. 103). Damit weise er auf die „moderne Historiographie“ voraus, denn in ihr verlagere sich „das historiographische Hauptinteresse […] auf überpersönliche Geschichtsmächte. […] Schiller steht am Übergang zu diesem neuen Paradigma […].“ (S. 109)

Der zweite geschichtswissenschaftliche Aufsatz des Bandes stammt von Johannes Süßmann. Er widmet sich ebenfalls der Frage, „welches Wissen durch die Figuren in historiographischen Texten vermittelt wird“ (S. 114). Er rekonstruiert zunächst die Konsequenzen der seit Aristoteles bis ins Mittelalter vorherrschenden Tendenz, das Wissen der Geschichtswissenschaft anderen Wissensformen unterzuordnen (vgl. S. 115-118). Zwei historische Zäsuren, im Humanismus und in der Zeit um 1800, hätten den Status des historiographisch vermittelten Wissens verändert (vgl. S. 119-126). Der sich um 1800 herausbildende neue Status der Geschichtswissenschaft als methodisch reflektierter, autonomer Form der Erkenntnis habe auch die Funktion der ‚Figuren‘ in geschichtlichen Texten grundlegend verändert (vgl. S. 123f.). Die Geschichtsschreibung versuche fortan nicht mehr den kontingenten Einzelfall einer Person zu begreifen, sondern der Einzelfall und das „Besondere einer Figur oder Handlung“ werde nun zugleich als das charakteristische „Ergebnis von etwas Allgemeinem“ (vgl. S. 125f.) verstanden. Süßmann geht also von einem ähnlichen Wandel in der Historiographie aus wie Fulda. Eine in diesem Sinne ‚charakteristische Darstellung‘ einer ‚historischen Figur‘ analysiert er abschließend an der Darstellung von Ludwig XIV. in Leopold Rankes Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert (vgl. S. 126-130).

Frank Zipfel verbindet in seinem Aufsatz zu Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses zunächst eine Analyse der Form des Erzählens mit einer Aussage über die wahrscheinlichen Auswirkungen für den Rezeptionsprozess. Die Form des Briefromans fördere eine „voyeuristische“ und „detektivische Lektüre“ (vgl. S. 138-141). Weiter betrachtet Zipfel diesen Text aber vor allem als geprägt durch die „Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts“ (S. 141) und als Wissen über die Kultur und Gesellschaft dieser Zeit vermittelnd, und zwar insbesondere zum Problem des Verhältnisses von Schein und Sein. So kommt er zu dem Ergebnis, dass die „Figurendarstellung in den Liaisons dangereuses letztlich das Bild einer Gesellschaft mit einer hohen Diskrepanz zwischen Sein und Schein“ (S. 155) zeichne.

Mehrere Besonderheiten kennzeichnen Wolfgang Lukas’ Aufsatz: Erstens untersucht er mit dem „Unbewussten“ nach eigener Bestimmung eine Form des „Nichtwissens“ (vgl. S. 170). Zweitens untersucht er Texte aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die also noch vor der ‚Entdeckung‘ des Unbewussten durch die „Psychoanalyse um 1900“ entstanden sind, um zu klären, ob in ihnen nicht doch bereits Wissen über dieses Nichtwissen vorhanden sei (vgl. S. 170). Drittens trennt Lukas streng zwischen „textinternem, aus dem Text ableitbarem, und textexternem, nicht aus ihm ableitbarem Wissen“ (S. 172). Letztlich will er durch diese Unterscheidung anachronistische Schlüsse des heutigen Rezipienten vermeiden. Denn dass Textphänomene „nach unserem modernen Wissen“ mit der Voraussetzung eines Unbewussten erklärt werden können, sei noch nicht gleichzusetzen damit, dass die Texte „selbst […] ein […] Konzept bzw. Wissen von der Existenz und Wirkungsweise eines solchen psychischen Unbewussten“ (S. 175) besäßen. Lukas’ Analyseergebnisse verweisen auf einen literarhistorischen Wandel: Während in „fantastischen romantischen Initiationsgeschichten“ zwar schon „Textphänomene[]“ erkennbar seien, „zu deren Erklärung ein individuelles Unbewusstes nötig wäre“, besitze die „Literatur selbst noch kein solches Konzept“ (vgl. S. 172-178, Zitat S. 178). Das ändere sich in der „postromantischen Literatur“ (S. 178), insofern hier nun „fiktionsimmanent“ ein „psychologische[r] Erklärungsbedarf konstruiert“ (S. 187) werde durch die Gestaltung einer auf die Figuren und ihr Selbstwissen bezogenen „Motivationslücke“ (S. 195).

Der Honoré de Balzacs Roman La Peau de chagrin gewidmete Aufsatz von Michael Scheffel untersucht die Relation dieses literarischen Textes zu Wissen aus dem historischen Kontext. V.a. zeitgenössisches wissenschaftliches Wissen habe in die Konzeption des Romans Eingang gefunden, das reflektiere die poetologisch bedeutsame Vorrede Balzacs zur Comédie humaine. Hier betone dieser einerseits, dass sich die „menschliche Gesellschaft in einem steten Wandel“ (S. 207) befinde. Andererseits werde darin deutlich, dass es für Balzac in der „menschlichen Gesellschaft gewisse Konstanten […] auf der Ebene von Charakteren, von Situationen und Modellen des Handelns“ (S. 207f.) gäbe. Beide Pole prägten gleichermaßen die Figurengestaltung. Balzac gestalte zwar die „Allgegenwart eines dynamischen“ und den „sozialen Kontext“ prägenden“ „Wandels“, aber „hinter diesem Wandel“ stehe meist eine Konstante: die „das Denken und den Willen [der Figuren] umfassende ‚Leidenschaft‘“ als „die Grundenergie des Menschen“, „als das Grundprinzip allen menschlichen Lebens“ (S. 211f.). Gleichzeitig überschreite Balzac in La Peau de chagrin das zeitgenössische Wissen, indem er mit dem titelgebenden, Wünsche erfüllenden Chagrinleder ein Element des Wunderbaren in den Roman integriert, das innerhalb der naturwissenschaftlich geprägten „Wissensordnung des neunzehnten Jahrhunderts“ (S. 215) nicht erklärbar gewesen sei (vgl. S. 214-217).

Korpus von Dorothee Birkes Text ist Charles Dickens’ Roman David Copperfield. Anhand von zwei Figuren (Mr. Creakle, vgl. S. 226-230, und Uriah Heep, vgl. S. 230-239) will Birke die Besonderheiten von Dickens’ Figurendarstellung herausarbeiten. „Entscheidend für die Wirkung“ dieser Figuren sei eine „Kombination aus literarischer und sozialer Kategorisierung“ (S. 225), so Birke im Anschluss an Ralf Schneiders Terminologie. Einerseits aktivierten diese beiden Figuren im Rezipienten Wissen über einen von ihnen verkörperten sozialen Typus: über den „Lehrer als Kinderquäler“ (S. 226) im Fall von Mr. Creakle; über einen mit negativen Eigenschaften ausgezeichneten Angehörigen der „working class“ im Fall von Uriah Heep (vgl. S. 232 u. 235f.). Andererseits werde die soziale Kategorisierung in beiden Fällen ergänzt und im Falle der letzteren Figur zudem in Frage gestellt durch eine literarische (vgl. S. 231f. u. 233f.). Letztlich rekonstruiert Birke hauptsächlich zeitgenössisches Wissen über soziale Typen. Zu diesem Wissen gehören etwa auch die Physiognomie (vgl. S. 228f. u. 231) und der Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts (vgl. S. 235f.).

Friederike Carl untersucht die Figurenkonzeption im Dostoevskijs Roman Besy, der im deutschsprachigen Raum unter dem Titel Die Dämonen bekannt ist. Carl zieht ebenfalls zeitgenössisches Wissen und Wissen über den Autor für ihre auf einer Figurenanalyse beruhende Interpretation des Romans heran, wodurch sie zu folgenden Einschätzungen kommt: Dostoevskij habe „seine Figuren als Träger verschiedener zeitgenössischer Ideologien und Weltanschauungen konzipiert“ (S. 244 u. vgl. ff.) und „Figuren wie Stavrogin, Šatov und Kirillov kommunizieren in Besy deutlich und unmissverständlich Dostoevskijs Anschauungen über die Eigenschaften des russischen Volkes und den verderblichen westlichen Einfluss“ (S. 252).

Vor dem Hintergrund seiner Ablehnung des (französischen) Naturalismus (vgl. S. 258-260) analysiert Katharina Grätz die Figurengestaltung Fontanes. Dabei rekonstruiert sie in einem ersten Schritt Wissen über den Autor, d.h. über die Poetologie Fontanes (S. 261-265). In einem zweiten Schritt zeigt sie mit Rekurs auf dieses Wissen, dass die „Komplexität der Figuren Fontanes […] sich einem spannungsvollen Zugleich von außerliterarischen und innerliterarischen Bezügen, von Typisierung und Individualisierung“ verdanke (vgl. S. 265-268, Zitat S. 266). Im Anschluss an ihre Analyse der narrativen „Techniken der Figurendarstellung“ (S. 268-272) betont sie schließlich die Wichtigkeit des Dialogs bei der Vermittlung von „Figurenwissen“ (S. 272-275). Durch die Dialoggestaltung vermittle Fontane „Wissen über die Praxis der gesellschaftlichen Konversation sowie über das sprachliche und soziale Regelsystem, auf dem diese Praxis beruht“ (S. 273). Anders gesagt vertritt Grätz den Standpunkt, dass Fontanes literarische Figuren zeitgenössisches kulturelles Wissen vermitteln.

Thorsten Fitzon deutet die Figur Friedrich Feyerabend, die in Wilhelm Raabes Romanfragment Altershausen Erzähler und Hauptfigur zugleich ist. Seine These ist, dass die „zeitlich differenzierten Aspekte der Hauptfigur [nämlich differenziert in ein erzählendes und ein erlebendes Ich – F.S.] das Wissen um die perspektivische Struktur der sterblichen Zeit“ repräsentierten und dadurch in der „Figur Feyerabends […] das Wissen um eine Zeitperspektive des Alters literarisch gestaltet und simulativ erprobt“ (S. 281f.) werde. Gemeint ist offenbar, dass in Altershausen vermittelt über die Erzählerfigur Wissen über eine anthropologisch universale Erfahrung des Alterns mitgeteilt werde (vgl. S. 301).

Leitgedanke von Michael Butters Text ist, dass sich Leser vermittelt über Figuren und durch „imaginäre Teilnahme“ (S. 309) an deren Handlungen Erfahrungswissen aneignen könnten (vgl. S. 308). Um diese These zu belegen, untersucht Butter jeweils eine Kurzgeschichte von Henry James und Stephen Crane (vgl. S. 308-316 bzw. 317-322). Dabei verwendet er selbst insbesondere literarhistorisches Wissen sowie im Falle Cranes zusätzlich Wissen über die Textgenese und verschiedene Fassungen der Erzählung.

Maximilian Bergengruen stellt die Hintergründe eines historischen Verbrechens dar, das Robert Musils Konzeption der Figur des Prostituiertenmörders Christian Moosbrugger in Der Mann ohne Eigenschaften beeinflusst habe. Er rekonstruiert sowohl die zeitgenössische juristische Diskussion über die Frage der Zurechnungs- bzw. Unzurechnungsfähigkeit (S. 325-329) als auch diejenige über das damit verbundene Problem der Diagnose einer psychischen Erkrankung bei (Gewalt-)Tätern (S. 329-339), die sie für unzurechnungsfähig erklären könnte. Vor diesem Hintergrund interpretiert er Musils romaninterne Abweichung von der tatsächlichen Diagnose im historischen Fall. Durch die zweifache „Krankheitszuschreibung“ von „Schizophrenie“ und „Epilepsie“ in Der Mann ohne Eigenschaften sprenge Musil das „Ordnungsmuster“ der „Dichotomie von Zu- und Unzurechnungsfähigkeit“ (S. 337), während im Gegensatz dazu im historischen Fall der Täter für zurechnungsfähig erklärt worden war (vgl. S. 337). Im letzten Teil seines Aufsatzes arbeitet Bergengruen schließlich Parallelen und Verbindungen zwischen der Figur Ulrich und Moosbrugger heraus (S. 339-342). Bergengruen verwendet also zeitgenössisches Fachwissen zu juristischen und zu sich mit diesen überschneidenden medizinischen Diskursen sowie historisches Quellenmaterial zu einem realen Kriminalfall (vgl. S. 332-339).

In mehrerlei Hinsicht fällt Anja Stukenbrocks Text aus dem Rahmen der anderen Beiträge. Ihr Gegenstand ist nicht eine literarische und schriftliche Figurendarstellung, sondern eine mündliche und alltägliche: Sie untersucht eine kurze „Alltagserzählung“ in Form einer Gesprächssequenz aus einer im Jahr 2000 ausgestrahlten Big Brother-Folge (vgl. S. 358-382). Dabei analysiert sie insbesondere den „Einsatz körperlich-visueller Verfahren“ (S. 348), also nonverbaler Elemente der Figurendarstellung (vgl. v.a. S. 368-379) mit den Mitteln der „Interaktionalen Linguistik“ (vgl. S. 354f.). Methodisch greift sie zudem auf weitere Analysekategorien verschiedener Disziplinen zurück, darunter „speech genres“ (S. 349-351), „footing“ (vgl. S. 351-354), „Multimodalität“ (vgl. S. 354-355) und Kategorien der „Positionierungstheorie“ (vgl. S. 355-358). Das führt zu einer äußerst detaillierten Untersuchung eines sehr kurzen Dialogs zwischen drei Big Brother-Protagonisten (vgl. S. 359f.), in deren Verlauf von einem der Gesprächsteilnehmer eine abwesende ‚Figur‘ mit auch non-verbalen Mitteln dargestellt wird. Hinsichtlich des Wissens verfolgt Stukenbrock das Ziel, zu „rekonstruieren, wie in der face-to-face-Interaktion im Rekurs auf soziale Kategorien bzw. Stereotype ein Wissen über Figuren narrativ gestaltet wird“ (S. 346). Im Ergebnis bedeutet das: Die Erzählung des Protagonisten Jürgen über eine zurückliegende Begegnung mit einem Paar in einem Krankenhaus laufe auf eine soziale Abgrenzung gegenüber diesem Paar sowie eine kollektive Identifizierung gemeinsamer Wertgrundlagen mit den anderen aktuellen Gesprächspartnern hinaus. Das Ganze, inklusive der „Figurendarstellung“, vollziehe sich als „Teil eines komplexen Zusammenspiels von narrativer Fremd- und Selbstpositionierung“ (vgl. S. 379-382, Zitat S. 380).

Im einzigen philosophischen und letzten Beitrag des Bandes behandelt Christian Budnik Wissen allein insofern, als er die Frage nach der menschlichen Identität mit der Frage nach dem „Wissen“ der Menschen von ihrer individuellen „Geschichte“, im Sinne ihrer Lebensgeschichte, und mit der Frage ihrer „Fähigkeit zur Erinnerung“ an diese Geschichte verbindet (vgl. S. 386). Daran anschließend skizziert er zunächst einige Eckpunkte der Diskussion zu einer solchen „diachrone[n] Identität“ (vgl. S. 387-390, Zitat S. 388). Er stellt ausführlicher zwei Positionen innerhalb dieser Diskussion vor, und zwar von Derek Parfit (vgl. S. 391-395) und Marya Schechtmann (vgl. S. 395-399). Letzterer gelinge es durch die Annahme einer „narrative[n] Struktur“ der „personale[n] Identität“ nicht nur die eine „Person“ definierenden „Inhalte“ „mentale[r] Zustände“ (S. 398) in den Blick zu bekommen, sondern auch „wichtige Einsichten der biologischen und der psychologischen Ansätze [zu einer diachron aufgefassten Identität – F.S.] […] miteinander in einen systematisch überzeugenden Zusammenhang zu bringen“ (vgl. S. 395-399, Zitate S. 399).

III. Fazit

Betrachtet man die einzelnen Beiträge genauer, fällt auf, dass sie meist mehrere der in der Einleitung genannten Wissensformen gleichzeitig behandeln – worauf bereits die Herausgeber hinweisen (vgl. S. 12). Bemerkenswert scheint mir zudem, dass mit einer einzigen Ausnahme – Dorothee Birke – keine(r) der Autor(inn)en dieses Sammelbands ernsthaft versucht, die neueren deutschsprachigen Theorien zur Figurenanalyse anzuwenden.

Deuten lässt sich dieses im Sammelband manifestierte Verhalten als den Hinweis auf ein Problem dieser methodischen Ansätze. Denn streng genommen lassen sie alle nur ein Verfahren zu: die Konzentration auf Rezeptionsprozesse. Doch einmal abgesehen davon, dass durch eine solche Fokussierung der herkömmliche Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, der literarische Text, leicht aus dem Blick gerät, sind solche Prozesse Literatur- und Geschichtswissenschaftler(inne)n oder Philosoph(inn)en aufgrund der ihnen meist zur Verfügung stehenden methodischen Verfahren gar nicht ohne weiteres zugänglich.4 Das wären zumindest zwei mögliche Begründungen dafür, dass sich fast alle Beiträge letztlich konventioneller hermeneutischer Verfahren bedienen, zu denen die Verwendung literar- und kulturhistorischen, ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Wissens, der Rückgriff auf Wissen über den Autor, die Textgenese und die Publikationsgeschichte sowie die Verwendung anderer literaturwissenschaftlicher Wissensformen in Gestalt einer Terminologie, z.B. aus der Rhetorik, der Narratologie oder anderen Bereichen der Literaturwissenschaft, gehören.

Im gesamten Band findet sich zudem nur ein etwas ausführlicherer Versuch der systematischen Reflexion von Verwendungsweisen unterschiedlicher Wissensformen – im Beitrag von Daniel Fulda –, aber kein Aufsatz, der sich ausschließlich diesem methodologischen Thema widmete, das es wert gewesen wäre.

Leser(innen) dieses Sammelbands erwarten also in den meisten Fällen eher konventionelle und zum Großteil literaturwissenschaftliche Interpretationen, deren Ergebnisse vor allem dann von Interesse sein werden, wenn die behandelten Autoren und Werke für die eigene aktuelle Arbeit oder Forschung relevant sind.

Literaturverzeichnis

Eder, Jens (2008): Die Figur im Film. Marburg.

Eder, Jens / Jannidis, Fotis / Schneider, Ralf (2010): „Characters in Fictional Worlds. An Introduction“. In: Jens Eder et al. (Hg.), Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media. Berlin / New York (= Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie Bd. 3), S. 3-64.

Jannidis, Fotis (2004): Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie Bd. 3).

Schneider, Ralf (2000): Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen (= ZAA studies. Language, Literature, Culture Bd. 9).

Zymner, Rüdiger: „Körper, Geist und Literatur. Perspektiven der kognitiven Literaturwissenschaft – eine kritische Bestandsaufnahme“. In: Martin Huber / Simone Winko (Hg.), Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Paderborn 2009 (= Poetogenesis Bd. 6), S. 135-154.



Dr. Filippo Smerilli
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A
Geistes- und Kulturwissenschaften
Germanistik / Allgemeine Literaturwissenschaft
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
E-Mail:
smerilli@uni-wuppertal.de
URL:
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1 Vgl. Eder 2008, Jannidis 2004 und Schneider 2000.

2 Diese Gemeinsamkeit geht etwa hervor aus der von diesen dreien verfassten Einleitung in einen von ihnen zusammen herausgegebenen Sammelband, vgl. Eder / Jannidis / Schneider 2010.

3 Das allerdings trifft m.E. nicht zu: Der Beitrag von Michael Butter zu Henry James etwa untersucht genau diesen Aspekt, schon im Titel heißt es: „Was Leser mit Figuren lernen“ (vgl. S. 324ff.). Und auch der Beitrag von Daniel Fulda behandelt ausführlich Wissen, das der Leser aus Texten gewinnen kann, nämlich „‚politische[s]‘ Verhaltenswissen“ (vgl. S. 75ff. und v.a. 84f., Zitat S. 83).

4 Etwas anders verhält es sich in der (kognitiven) Linguistik. Zu den Chancen und Problemen einer kognitiven Literaturwissenschaft vgl. Zymner 2009.