Markus Kuhn

Das narrative Potenzial der Handkamera

Zur Funktionalisierung von Handkameraeffekten in Spielfilmen und fiktionalen Filmclips im Internet

This paper explores how hand-held cameras are used in fictional narrative films and Internet video clips, setting out to describe the range of functions the resulting stylistic hand camera effects may perform in audiovisual narration. To make the step from the actual use of hand-held consumer cameras (or similar devices) in production to a concept for textual analysis, it is first of all necessary to describe the ways in which this technical practice manifests itself within the aesthetic structure of the audiovisual text. This contribution will, therefore, first define the constitutive stylistic features of hand camera aesthetics. It will then proceed with some theoretical remarks on the role of the ‘camera’ in audiovisual narration. On this basis, a context-sensitive narratological analysis of prototypical examples will be conducted, leading to a typology of hand camera use that focuses on its functions as a device in audiovisual narration.

1. Einleitung

Wenn in Spielfilmen eine höchst bewegliche Kamera eingesetzt wird, die sich durch hektische manuelle Fahrten, viele Perspektivwechsel sowie durch Verwacklungen und Unschärfen auszeichnet, spricht man gewöhnlich von einer Handkamera. Bei derartigen Umschreibungsversuchen ist oft jedoch nicht ganz klar, was mit dem Begriff der Handkamera gemeint ist. Zuallererst – vom Wort her gedacht – ist Handkamera ein produktionstechnischer Begriff: Es geht um eine Kamera, die beim Filmen in der Hand gehalten wird. Aber selbst diese Bestimmung ist nicht eindeutig: Es besteht ein großer Unterschied etwa zwischen einer tragbaren analogen 16-mm-Arriflex aus den 1960er-Jahren und einem digitalen DV-Camcorder, beides Kameras, die beim Filmen in der Hand gehalten werden können. Wie ordnet man wiederum bewegliche Kameras ein, die auf der Schulter getragen und dabei mit der Hand geführt werden, und wie eine Steadicam, die vergleichbar flexibel in ihren Bewegungen ist, aber weniger verwackelte Bewegungseffekte erzeugt? Handkamera ist produktionstechnisch gesehen also ein unscharfer Sammelbegriff, der ein Spektrum an Kameras umfasst, das von tragbaren analogen 35-mm- über leichte 16-mm-, Super-8- und VHS-Kameras bis hin zu DV-Camcordern und digitalen Kleinstkameras reicht.

Geht man den Schritt von der Technik zum Phänomen, also zu den ‚Spuren‘, die eine Handkamera im filmischen Werk hinterlässt, die wahrgenommen und analysiert werden können, dann nähert man sich dem Feld der Handkameraästhetik. Der Einsatz einer Handkamera bewirkt eine spezifische, im Werk nachweisbare Bild- und Bewegungsästhetik, die man auch als spezifischen Handkamerastil bezeichnen kann. Die Bilder sind unruhig und inkonstant, die Bewegungen abrupt und spontan, die Bewegungsrichtungen frei und flexibel. Aber auch hier gibt es einen Deutungsspielraum: Wie unruhig und bewegt müssen die filmischen Bilder sein, um einer Handkamera zugeschrieben zu werden? Erstens sind die meisten Eigenschaften, die man einer Handkamera (vom Phänomen her gedacht) zuschreibt, graduell zu verstehen und zweitens lässt sich von der Ästhetik nicht zwangsläufig auf die Produktion schließen: Handkameraeffekte können auch durch andere technische Möglichkeiten erzielt werden, etwa durch eine virtuelle Kamera und Nachbearbeitungen in der Postproduktion, bewegliche Stativköpfe oder andere mechanische Konstruktionen, die die Bewegungsmöglichkeiten einer Kamera erhöhen – z.B. das Vor-die-Brust-Schnallen der Kamera durch Karl Freund, der als Kameramann für F. W. Murnaus Spielfilm Der letzte Mann (1924) eine Ästhetik realisierte, die als ‚entfesselte Kamera‘ bekannt wurde.

Wenn ich im Folgenden von einer Handkamera spreche, meine ich die im audiovisuellen Werk nachweisbaren Handkameraeffekte und lege mich auf spezifische Merkmale fest, um den Begriff analytisch verwendbar zu machen. Um das große Feld des Handkameraeinsatzes im Spielfilm und in narrativen Filmclips abzustecken, werde ich einige Filme und Filmclips betrachten, in denen Handkameraeffekte dominierend und auffällig eingesetzt werden, also nicht nur in einzelnen Sequenzen. Auf sämtliche funktional hochinteressanten Möglichkeiten, eine Handkamera zur Markierung einer weiteren innerfiktionalen Ebene, eines kommentierenden oder dokumentarischen Einschubs, einer Traumsequenz, eines Mindscreens oder eines Films-im-Film einzusetzen, sei an dieser Stelle nur verwiesen.1

2. Handkamera – Handkameraeffekte – Handkamerafilm: methodische und begriffliche Vorüberlegungen2

Die Begriffe Handkameraeffekte und Handkamerafilm dienen als Oberbegriffe, unter denen verschiedene Formen des tatsächlichen oder fingierten Einsatzes von besonders beweglichen Kameras gefasst werden sollen. Weil der tatsächliche Einsatz von leichten Handkameras analytisch nicht immer vom Fingieren einer beweglichen Handkamera zu unterscheiden ist, spreche ich von Handkameraeffekten. Dominieren Handkameraeffekte einen ganzen Film, lässt sich dieser als Handkamerafilm bezeichnen.

Ich fasse die analytisch im Werk nachweisbare freie Beweglichkeit des Bildausschnitts in jegliche Richtung und auf jeglicher Achse, die tatsächliche häufige Bewegtheit des Bildes und die Unruhe, also ein Zittern oder Wackeln des Bildes, als Hauptmerkmale auf, um von Handkameraeffekten, einer Handkameraästhetik und – dominieren diese einen ganzen Film – von einem Handkamerafilm zu sprechen. Dabei fällt das leichte Zittern des Bildrahmens eher dann auf, wenn das Bild zwischenzeitlich weniger bewegt ist. Hinzu kommen optionale Effekte wie Unschärfen durch schnelle Bewegungen, vom Licht abhängige Verwischeffekte, Grobkörnigkeit, Beschränkungen des Kaders sowie eine Flexibilität im Zoom, die ich als Nebenmerkmale auffasse. Alle Merkmale sind gradueller Natur; die Hauptmerkmale sind notwendig, die Nebenmerkmale fakultativ. Die Grenzbereiche spielen im Folgenden keine Rolle, denn es wird um analytisch eindeutige Handkameraeffekte gehen. Im Mittelpunkt steht der Aspekt der funktionalen Einbettung der Handkameraeffekte in die narrativen und thematischen Strukturen eines Kino-Spielfilms mit einem Ausblick auf entsprechende Phänomene bei seriellen Filmclips im Internet. Soll der Einsatz der Handkamera gleichzeitig einen pseudo-dokumentarischen oder authentifizierenden Effekt erzielen, können als weitere Nebenmerkmale u.a. hinzukommen: der Verzicht auf künstliches Licht, ein unausgewogener Bildton (z.B. durch störende Windgeräusche oder Gespräche, die vom Lärm übertönt werden), die Reduktion nachträglicher Montage (insbesondere der Verzicht auf effektvolle Schnitte), das selbstreflexive Ausstellen des Herstellungsprozesses, die Thematisierung des Aufnehmens durch die Figuren oder ein erkennbares Bewusstsein der Figuren, dass sie gerade gefilmt werden.

Die Bewegtheit und Hektik der Handkamera kann a) durch eine ebenso hektische und flexible Montage unterstützt werden oder b) durch Reduktion und / oder Unauffälligkeit der Montage im Vordergrund stehen. Im Fall einer hektisch wirkenden Montage (a) werden oft extreme Montageformen (z.B. jump cuts, Achsensprünge) eingesetzt. Häufig gehorcht die Montage eines Handkamerafilms jedoch (b) den Regeln der découpage classique, sodass die Montage kaum und die Kamerabewegungen umso mehr auffallen. Selten kommt eine längere Handkamerasequenz ganz ohne Schnitte aus.

Wichtig ist, in einem ersten Schritt zu unterscheiden zwischen A) Formen, in denen eine manuelle Kamera eingesetzt wird oder die Illusion erzeugt wird, dass ein Film oder eine Sequenz mit einer manuellen Kamera produziert worden ist, und B) Formen, in denen eine Kameraeinstellung oder Einstellungsfolge nachweisbar einer diegetischen Figur zugeordnet ist und deren Wahrnehmung vermitteln soll. Im Fall A spreche ich von Handkameraeffekten, im Fall B von einer subjektiven Kamera.3 Sequenzen, in denen eine Handkamera einer subjektiven Kamera entsprechen soll, in denen also eine weitgehende Deckung von Fall A und B vorliegt, gibt es zwar häufig, aber nicht ausschließlich. Die Analyse von Filmen mit Handkameraeffekten und Filmen, die mit einer subjektiven Kamera operieren, erfordert unterschiedliche Zugangsweisen.4

3. Der filmische Erzählprozess und die ‚Narrativität der Kamera‘

Bevor ich herausarbeite, inwiefern Handkameraeffekte für verschiedene Aspekte der filmischen Erzählung funktionalisiert werden können, muss ich zunächst klären, welches Verständnis von Narrativität meinen Beobachtungen zugrunde liegt und wie der Akt des filmischen Erzählens und die Beteiligung der Kamera an demselben (unabhängig vom Kameratyp) mit erzähltheoretischen Vokabeln gefasst werden können. Für eine Narratologie, die den Film in den Mittelpunkt rückt, habe ich zur Bestimmung der Minimalbedingung des Erzählens vorgeschlagen, mit einer weiten Definition von Narrativität zu operieren (vgl. z.B. Kuhn 2011a, 47ff.; 2011b, 43). Als narrativ im weiteren Sinne lassen sich nach Wolf Schmid (2005, 13) Repräsentationen auffassen, welche die Veränderung eines Zustands oder einer Situation darstellen. Film hat als ‚sequenzielles Medium‘ (schematisch vereinfacht) zwei Bewegungsdimensionen mit Veränderungspotenzial: erstens die Möglichkeit der Bewegung innerhalb einer Einstellung, zweitens die Möglichkeit der Veränderung in einer Abfolge von Einstellungen, also durch die Relation der sequenziell aufeinanderfolgenden Einstellungen zueinander (Kuhn 2011b, 43). Letztere Dimension teilt der Film mit der Bilderserie, erstere nicht. Beide Dimensionen sind nicht per se narrativ, bergen aber das Potenzial, eine Zustandsveränderung zu repräsentieren. Eine Minimalbedingung der Narrativität, die beide Dimensionen des Erzählens mit bewegten Bildern erfasst, könnte also lauten: Es muss mindestens eine Zustandsveränderung in einem gegebenen zeitlichen Intervall dargestellt werden. Der Ausgangszustand vor und der Endzustand nach der Veränderung müssen dabei explizit repräsentiert sein, die Veränderung selbst und ihre Bedingungen nicht (Kuhn 2011a, 61; 2011b, 43).

Film lässt sich aber auch in einem engeren Sinne als narrativ bestimmen, und zwar bezüglich seiner narrativen Vermittlung. Als narrative Texte im engeren Sinne lassen sich Repräsentationen auffassen, in denen eine Geschichte (das ist mindestens eine Zustandsveränderung) von einer (oder mehreren) nicht anthropomorph zu verstehenden narrativen Instanz(en) durch ein beliebiges Zeichensystem vermittelt wird (Kuhn 2011a, 55; 2011b, 47).5 Diese die Mittelbarkeit betonende enge Definition unterscheidet sich von klassisch-narratologischen Ansätzen nur insofern, als auch eine nicht-sprachliche narrative Vermittlung für möglich gehalten wird, also sowohl sprachliche als auch filmische Texte erfasst werden. Film erzählt durch das Zusammenspiel verschiedener visueller, auditiver und sprachlicher Zeichensysteme. Grenzt man die fakultativen sprachlichen und auditiven Aspekte vorerst aus, so kann der Vorgang des filmischen Erzählens anhand der Kategorien beschrieben werden, die in der Filmwissenschaft mit den Begriffen der Kamera, der Montage und der Mise-en-scène gefasst werden (Kuhn 2011b, 43). Der Behauptung, dass narrative Vermittlung von Ereignissen nur durch einen sprachlichen Erzähler möglich sei, die bestimmten älteren Narrativitätsdefinitionen zugrunde liegt, muss die Frage entgegengestellt werden, warum die Vermittlung der Ereignisse vor der Kamera durch den filmischen Apparat ignoriert werden sollte. „Still, there may be other forms of mediacy: in film, the camera is a mediating device, albeit non-verbal“, behaupten Susana Onega und José Ángel García Landa (1996, 2). Manfred Pfister (1977, 48) führt dazu aus: „Die […] Kamera im Film […] erfüllt eine Erzählfunktion, die der Position […] des fiktiven Erzählers in narrativen Texten entspricht. Der Betrachter eines Films wie der Leser eines narrativen Textes wird nicht […] mit dem Dargestellten unmittelbar konfrontiert, sondern über eine perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz – die Kamera, bzw. den Erzähler.“

Onega / García Landa (1996, 2) und Pfister (1977, 48) vernachlässigen mit Blick auf die erzählerische Vermittlung im Film jedoch, dass es nicht nur die Kamera ist, die eine ‚perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz‘ bildet, sondern Kamera und Montage im Zusammenspiel (Kuhn 2011b, 44). Dasselbe Geschehen (z.B. ein einstürzendes Hochhaus) kann sowohl innerhalb einer Einstellung (also nur durch die Parameter der Kamera vermittelt) als auch durch zwei (oder mehrere) montierte Einstellungen repräsentiert werden (ebd.). Gleiches gilt für komplexere filmische Erzählungen: Der Normalfall ist ein verzahntes audiovisuelles Erzählen durch Kamera, Montage und gegebenenfalls Elemente der Mise-en-scène sowie weitere visuelle und auditive Parameter (vgl. Lohmeier 1996, 37; Kuhn 2011a, 72ff.). Dem Akt des filmischen Erzählens oder – wenn man mit einem Instanzenmodell operieren möchte – der filmischen Erzählinstanz muss folglich nicht nur das Aufzeichnen einer Einstellung, also die Auswahl, Perspektivierung, Akzentuierung und Gliederung durch die Kamera, sondern auch die filmische Montage zugeordnet werden. Die Prozesse der Kamera und Montage vermitteln das (inszenierte) Geschehen vor der Kamera bzw. die Mise-en-scène, also alles, was zum Zweck des Films vor der Kamera arrangiert wurde (Kuhn 2011b, 44).

Um das filmische Erzählen auf unterschiedlichen Kanälen (visuell, sprachlich, auditiv) analytisch erfassen zu können, habe ich verschiedentlich vorgeschlagen, die filmische Erzählinstanz – die man mit Seymour Chatman (1990, 124ff.) als cinematic narrator auffassen kann – in eine audiovisuelle Erzählinstanz und eine sprachliche Erzählinstanz auszudifferenzieren (Kuhn 2009b; 2011a, 81ff.). Je nach Fragestellung kann die audiovisuelle Erzählinstanz weiter ausdifferenziert werden in eine visuelle und eine auditive Erzählinstanz (Kuhn 2011b, 45), wobei die auditive Erzählinstanz dann alle nicht-sprachlichen auditiven Dimensionen des filmischen Erzählens umfasst (Geräusche, Klänge, Töne, Musik), sofern diese eine narrative oder eine narrationsindizierende Funktion haben. Die visuelle Erzählinstanz ist notwendig (und bringt den narrativen Film – in der Modellvorstellung – als solchen hervor), die sprachlichen und auditiven Instanzen sind fakultativ. Da ich mich im Folgenden auf die visuellen Aspekte konzentriere, werde ich mich hauptsächlich auf die visuelle Erzählinstanz beziehen.6

Immer eingedenk der Tatsache, dass es nicht ‚die Kamera‘ allein ist, die den filmisch-visuellen Erzählvorgang prägt (sondern die im oben formulierten Sinne zu verstehende visuelle Erzählinstanz), kann man den Bezugsfokus selbstverständlich verengen und der Frage nach der Narrativität der Kamera nachgehen bzw. der (Vermittlungs-)Funktion der Kamera im Prozess des filmischen Erzählens. In einem ersten Schritt lässt sich die narrative Vermittlung der Kamera in die vier von Pfister (1977, 48) genannten Aspekte der Selektion, Perspektivierung, Akzentuierung und Gliederung unterteilen: Selektion bezieht sich darauf, dass die Kamera das, was sie zeigt, auswählt, während andere Dinge nicht gezeigt werden. Perspektivierung bezieht sich darauf, dass die Kamera immer eine technisch-optische Perspektive zu den gezeigten Objekten einnimmt, die verschieden funktionalisiert werden kann (Begriffe wie Untersicht, Vogelperspektive etc. bezeichnen dabei nur die auffälligsten Kamera-Objekt-Relationen).7 Akzentuierung und Gliederung beziehen sich darauf, dass die Kamera durch die Wahl eines Ausschnitts immer auch die Elemente des sich durch den Ausschnitt ergebenden Bildes zueinander und zum Rahmen des gewählten Ausschnitts in Beziehung setzt. So kann es zu Hervorhebungen kommen (etwa durch die Wahl einer Zentralperspektive mit auffälligen Fluchtpunkten) und zur Gliederung (etwa in Vorder-, Mittel- und Hintergrund oder durch einen ‚goldenen Schnitt‘). Akzentuierung und Gliederung können auch durch weitere Parameter der Kamera zustande kommen, etwa durch eine Verlagerung der Bildschärfe oder durch spezifische Linsentypen.

Alle diese Parameter dürfen nicht als statisch verstanden werden, sondern sind dynamisch über die Dauer einer Einstellung zu betrachten (besonders markant ist dabei das Verhältnis von Kamerabewegungen zu Objektbewegungen). Wichtig ist bei einer derartigen Betrachtungsweise, dass sich das, was hier ‚der Kamera‘ zugeschrieben wird, immer auf die Relation der Kamera zum gefilmten Objekt, zur gefilmten Szenerie bezieht, was man auf die Formel bringen kann, dass es bei der Bestimmung der Vermittlungsfunktion der Kamera immer um die Relation der Kamera zur Mise-en-scène geht.8

Wie die Kamera im Allgemeinen kann auch eine Handkamera am filmischen Erzählprozess beteiligt und zentral für den Prozess der narrativen Vermittlung sein. Auch bei der Analyse von Handkameraeffekten muss auf das Zusammenspiel von Handkamera und Montage geachtet werden, denn selten ist es die Handkamera allein, die für die narrative Vermittlung zuständig ist. Anders formuliert: Die visuelle Erzählinstanz eines Spielfilms, die durch ein Zusammenspiel von Kamera, Montage und Mise-en-scène erzählt, kann neben den gewöhnlichen Parametern der Kamera zusätzlich die oben definierten Handkameraeffekte zur erzählerischen Vermittlung einsetzen und funktionalisieren.

4. Von personal bis auktorial: Die Handkamera in Filmen der Dogma  95-Bewegung9

Die Filme der von Lars von Trier und Thomas Vinterberg initiierten Dogma  95-Bewegung basieren auf einem Manifest, welches zehn Regeln umfasst. Der am 13.3.1995 unterzeichnete Regelkatalog, den die Initiatoren selbstironisch „Keuschheitsgelübde“ nannten, umfasste u.a. das Verbot von Fremdton, Spezialeffekten, Filtern, künstlicher Beleuchtung, Sets und Requisiten sowie Gebote wie das ausschließliche Drehen mit Handkamera an Originalschauplätzen, im Hier und Jetzt der Gegenwart, ausschließlich mit Bildton-Musik.10 Es war vor allem der exzessive Handkameraeinsatz, der seinerzeit von Filmkritik und Publikum als auffällig rezipiert wurde (vgl. Seeßlen 1999), bis hin zu Zuschauern, die von der anhaltend hektischen Bewegung der grobkörnigen Bilder überfordert das Kino verlassen haben. Weder die einzelnen Regeln des Dogma-Manifests noch der filmprägende Handkameraeinsatz waren neu – man denke z.B. an die Stilmittel des Direct Cinema –, nur das Zusammenführen der Regeln für fiktionale Filme in einer zertifizierten Form war innovativ (vgl. Ibertsberger 2007, 60) und hat immer auch als Marketingstrategie gewirkt. Die den Handkamera-Einsatz gebietende Regel lautet: „3. Es darf nur mit der Handkamera gedreht werden. Jede Bewegung und jede Stabilisierung, die von Hand erzeugt werden kann, ist erlaubt“ (zitiert nach Christen 2008, 490); mit dem Zusatz: „Der Film darf nicht da stattfinden, wo die Kamera steht, sondern es muss da gedreht werden, wo der Film stattfindet“ (ebd.).

Ein Spielfilm wie Idioterne von Lars von Trier zeigt, wie die Handkamera subjektivierend funktionalisiert wird. Idioterne thematisiert eine Gruppe junger Erwachsener, die mit gesellschaftskritischem Ansatz vorgeben, geistig behindert zu sein, um ‚Außenstehende‘ mit Ausgrenzungsmechanismen zu konfrontieren, wobei sich das Experiment zunehmend verselbständigt und die moralischen und ethischen Einstellungen der Beteiligten selbst infrage gestellt werden. Die Handkamera in Idioterne ist äußerst beweglich. Die Aufnahmen wirken streckenweise so, als hätte ein Mensch eine bewegliche Kamera in der Hand und würde filmen, was um ihn herum passiert. Ein Beispiel: Nach einer fragwürdigen Aktion in einem Restaurant steigen drei Mitglieder der ‚Idioten-Gruppe‘ und eine Begleiterin in ein Taxi (TC ca. 0:04:15 bis 0:05:41).11 Die wackelnde Kamera zeigt die vier Figuren (und den Taxifahrer) im Wechsel verschiedener Einstellungen, wie sie im Innenraum des kleinen Taxis über die zurückliegende Aktion sprechen (zu sehen sind je Einstellung ein bis maximal drei Figuren; zeitgleich im Bild maximal zwei). Theoretisch könnte es jeweils einer der Protagonisten sein, der die Kamera hält (einer von denjenigen, die gerade nicht zu sehen sind). Explizite Markierungen dafür gibt es jedoch nicht. Auch die relativ hohe Schnittfrequenz und die bruchlosen Übergänge sprechen dagegen, dass die Beteiligten die Kamera hin und her gereicht hätten.12

Eine Nähe der Kamera zu den Figuren dominiert den gesamten Film (wenn auch selten so unmittelbar wie in der Taxifahrt-Sequenz). Eher selten ist die Kamera (wie teilweise bei der Taxifahrt) auch dem konkreten Blick einer Figur zugeordnet; es dominieren nobody’s shots. Aber auch in den Sequenzen des Films, in denen die Kamera nicht figurengebunden agiert (und eine Tendenz zur Nullfokalisierung vorliegt), bleibt sie bei der Gruppe und beschränkt ihr ‚Mehrwissen‘ (das sie im Verhältnis zu den einzelnen Figuren hat) auf eine gruppenbezogene Übersicht. Die Handkamera bewirkt so den Effekt des Dabeiseins, auch dann, wenn es sich um nobody’s shots handelt. Der latente Eindruck einer Anthropomorphisierung der Kamera erzeugt eine Beobachter-Leerstelle, die nicht oder zumindest nur punktuell besetzt wird; so ergibt sich eine Subjektivierung ohne Beobachtersubjekt, eine Personalisierung der Erzählhaltung ohne konkrete figurale Zuordnung.

Hinsichtlich der Kameraästhetik vergleichbar, aber mit einer anderen Vermittlungs- und Erzählfunktion als in Idioterne, wird die Handkamera in Festen von Thomas Vinterberg eingesetzt. Den Handlungsrahmen des Films bildet die Geburtstagsfeier des Hoteliers Helge Klingenfeldt-Hansen in einem herrschaftlichen Landgasthaus. In drei Tischreden enthüllt der älteste Sohn Christian Klingenfeldt der Festgesellschaft, dass er und seine Schwester, die wenige Monate zuvor Selbstmord verübt hat, als Kinder vom Vater sexuell missbraucht worden sind. Alle unmittelbar Beteiligten, insbesondere Christians Eltern und zwei weitere Geschwister, versuchen, die Reden von Christian als unangenehmen Vorfall zu überspielen, seiner ausgeprägten Phantasie zuzuschreiben und die Feier fortzusetzen, während Christian bemüht ist, seine Vorwürfe aufrechtzuerhalten und dabei an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit stößt.

Beispielhaft ist eine Sequenz, die die Festgesellschaft unmittelbar nach Christians zweiter Rede zeigt (TC der zweiten Rede ca. 0:46:43 bis 0:47:33; Sequenz, die die unmittelbaren Reaktionen der Festgesellschaft zeigt bis ca. 0:48:16),13 in der Christian seinen Vater als Mörder seiner Schwester bezeichnet. Die Kamera ist hektisch; sie zoomt, schwenkt, fährt, bleibt kurz stehen, springt von einer Figur zur nächsten. Sie verweist in ihrer extremen Beweglichkeit und ihrem auffälligen Zeigeduktus trotz aller Unmittelbarkeit auf eine jenseits der Diegese stehende visuelle Erzählinstanz und deren auktoriale Nullfokalisierung. Die visuelle Erzählinstanz erzählt durch ein Zusammenspiel von Handkameraparametern und Montage und vermittelt hier und in vielen anderen Sequenzen des Films entscheidende Informationen, die über das Figurenwissen hinausweisen. Sie ist es, die alle Regungen der Figuren entlarvt, die in entscheidenden Momenten auf subtile Gesten verweist, die immer dort ist, wo gerade eine wichtige Begebenheit oder emotionale Entladung stattfindet. So wird dem Zuschauer eine wertende Perspektive präsentiert und damit hochgradig auktorial erzählt. Die Bewegungen der Kamera werden von einer flexiblen, relativ unauffälligen Montage unterstützt, die aber umso entscheidender für die durch die visuelle Erzählinstanz vermittelte, über das Wissen der einzelnen Figuren hinausweisende Perspektivierung ist. Zugespitzt könnte man interpretieren: Die visuelle Erzählinstanz entlarvt durch den flexiblen Einsatz der Handkamera und die ebenso flexible Montage die kriminelle Scheinheiligkeit, unter der Christian sein Leben lang zu leiden hatte, und macht zugleich Christians Angespanntheit beinahe physisch spürbar.

Als Zwischenfazit bleiben zwei Grundtypen der Funktionalisierung der Handkamera für eine visuelle Erzählhaltung festzuhalten: In Festen verweist die Handkamera tendenziell auf eine über den Figuren stehende Vermittlungsinstanz, in Idioterne auf eine diegetische Figurengruppe. In Festen schafft sie – bei aller temporären Nähe – eine für die wertende Perspektive notwendige Distanz, in Idioterne ist sie subjektivierend, schafft sie eine identifikatorische Nähe zur Figurengruppe. In Festen liegt eine dominierende Nullfokalisierung vor, in Idioterne über weite Strecken eine Tendenz zur internen Fokalisierung.14 In Festen konstituiert die Kamera (zusammen mit der Montage) – um in den Termini Franz Stanzels (u.a. 1979) zu sprechen – eine auktoriale, in Idioterne eine tendenziell personale Erzählfunktion.15 Beide Erzählhaltungen werden aufgebaut, ohne dass die visuelle Erzählinstanz dabei durch eine sprachliche Erzählinstanz in Form eines Voice-over-Erzählers unterstützt würde. Beide Filme markieren zwei Pole auf einer Skala an vermittelnden Erzählhaltungen, für die die Handkamera in verschiedenen Filmen oder Sequenzen jeweils unterschiedlich funktionalisiert werden kann. Die Handkamera ist mitnichten grundsätzlich an eine personale oder subjektive Position großer Figurennähe gebunden.16

Beide Dogma-Filme unterstreichen nochmals, dass eine Handkamera einen ganzen Film dominieren kann, ohne zwangsläufig als subjektive Kamera zu fungieren. Aber auch bei Filmen, in denen eine Handkameraperspektive einer konkreten Figur zugeordnet wird, gilt es weiter auszudifferenzieren: Wird die Kamera A) so eingesetzt, dass sie die physiologische Wahrnehmung einer Figur imitieren soll, oder ist sie B) einer Figur zugeordnet, die in der Handlung eine Handkamera verwendet. Fall A bezeichne ich als subjektive Handkamera, die andere Gruppe (B) als fiktionale Pseudo-Dokumentationen mit Handkameraeffekten.

5. Zu den Möglichkeiten anthropomorpher Perspektivierung im Film17

Filme, die insgesamt oder in längeren Abschnitten aus Einstellungen bestehen, die als subjektive Kamera bzw. point-of-view shots (Branigan 1984, 103ff.) eingeordnet werden können, kann man als Ich-Kamera-Filme oder Point-of-view-Kamera-Filme bezeichnen. Beide Begriffe sind als Hilfsbegriffe zu verstehen. Der weniger umständliche Begriff des Ich-Kamera-Films ist dabei nicht unproblematisch, weil das ‚Ich‘ metaphorisch zu verstehen ist: Die ‚Kamera‘ kann nicht ‚Ich‘ sagen, sondern nur eine figurenbezogene, scheinbar anthropomorphe Sichtweise einnehmen.18 Deshalb ist, wenn man am ‚Ich‘ festhalten will, der Zusatz ‚Kamera‘ sinnvoll und die Zusammensetzung ‚Ich-Kamera-Film‘ hier besser geeignet als Christine Brinckmanns Vorschlag des „Ichfilms“ (Brinckmann 1988).19 Durch den Begriff Ich-Kamera-Film wird außerdem vermieden, dass die seltene Form von Filmen mit dominierendem Einsatz einer subjektiven Kamera mit den weitaus häufigeren Filmen verwechselt wird, die durch ein homodiegetisches Voice-over und / oder durch eine Rahmenhandlung, aber ohne eine dominierende subjektive Kamera eine Art Ich-Erzählsituation konstituieren, die mit erzählliterarischen Ich-Erzählsituationen (bedingt) vergleichbar ist.20 In frühen Beispielen für Ich-Kamera-Filme wie Der Florentiner Hut von Wolfgang Liebeneiner (1939), dem Klassiker Lady in the Lake von Robert Montgomery (1947) oder Dark Passage von Delmer Daves (1947) lässt sich weder vom produktionstechnischen noch vom werkanalytischen Standpunkt von einer Handkamera oder von Handkameraeffekten sprechen. In vielen späteren Beispielen (La femme défendue, 1997; Le scaphandre et le papillon, 2007 u.a.) wird die Markierung einer subjektiven Kamera jedoch durch Handkameraeffekte geleistet. Ich-Kamera-Filme bestehen selten aus einer einzigen subjektiven Einstellung (eine extreme Ausnahme bildet der Film Russkij kovcheg (2002), der in Form einer einzigen langen Kamerafahrt realisiert wurde; vgl. Kuhn 2011a, 183f.). Meist werden verschiedene, oft zu subjektiven Fahrten ausgedehnte subjektive Einstellungen durch unauffällige Montage aneinandergereiht. Eine derartige Folge von subjektiven Einstellungen, die der gleichen wahrnehmenden Figur zuzuschreiben sind, kann auch als subjektive Einstellungsfolge bezeichnet werden; der Einfachheit halber benutze ich im Folgenden jedoch subjektive Kamera als Oberbegriff für einzelne subjektive Einstellungen und subjektive Einstellungsfolgen und Fahrten.

Ich-Kamera-Filme haben ein Zuordnungsproblem: Wie kann ohne eine rahmende Anfangs- und / oder Endmarkierung der subjektiven Kamera überhaupt erkennbar sein, wessen Wahrnehmung die subjektive Kamera repräsentieren soll? Es fehlt bei nicht anfangs- und endmarkierten Ich-Kamera-Filmen eine Einstellung auf die wahrnehmende Figur, der das mit der subjektiven Kamera Gezeigte, also das potenziell subjektiv Wahrgenommene, zuzuschreiben ist. Zwei Fragen, die sich daraus ergeben, sind: 1.) Wie leisten diese Filme trotzdem die Zuordnung zu einer Figur der Wahrnehmung? Und als Präsupposition: 2.) Woran ist überhaupt erkennbar, dass es sich um eine subjektive Kamera handeln soll? Die Markierung einer subjektiven Kamera als solche kann jenseits von Anfangs- und Endmarkierungen durch verschiedene Stilmittel erreicht werden, zum Beispiel durch:

a) die Verwendung von menschenmöglichen Kameraperspektiven, die nicht mit den räumlichen und figuralen Gegebenheiten brechen;

b) die Vermeidung auffälliger Montagen und markanter Einstellungsgrößenwechsel;

c) die Vermeidung extremer, in Bezug auf die menschliche Größe und Wahrnehmung unrealistischer Einstellungsgrößen bzw. die Verwendung von Einstellungsgrößen, die den Abstand zwischen Objekt und Betrachter abbilden und nur dann extrem sind, wenn auch der Betrachterabstand extrem ist;

d) die Verwendung von Kamerafahrten, die das Umherblicken der wahrnehmenden Figur anzeigen, und Kamerabewegungen, die unvermittelten Geräuschen und Ereignissen folgen;

e) auffällige Rahmungen des Kaders, die ein eingeschränktes Blickfeld anzeigen;

f) ggf. verschiedene Handkameraeffekte; sowie:

g) dass die anderen Figuren auf die wahrnehmende Figur reagieren, mit ihr interagieren, mit ihr sprechen, in ihre Richtung blicken und vor allem: dass die wahrnehmende Figur selbst nicht zu sehen ist (oder nur in einzelnen Momenten, wenn sie z.B. ihre Gliedmaßen in ihr Blickfeld bewegt).

Letztere für eine subjektive Kamera, die den Blick von innen repräsentiert, notwendige Abwesenheit der wahrnehmenden Figur im Bild lässt die Zuordnungsfrage überhaupt erst aufkommen. Häufig wird die Zuordnung der subjektiven Kamera zu einer bestimmten wahrnehmenden Figur durch ein Voice-off geleistet wie in La femme défendue. Während das zu sehen ist, was die subjektive Kamera zeigt, ist die Stimme der Figur zu hören, der sie zugeschrieben werden soll. Ein auffälliges Stilmittel, das die Zuordnung der subjektiven Kamera ermöglicht, ist der Spiegelblick: Zu sehen ist die wahrnehmende Reflektorfigur, wie sie sich selbst im Spiegel wahrnimmt. Ein überzeugendes Beispiel für einen Film, in dem die Handkamera über größere Strecken als subjektive Kamera eingesetzt wird, ist Le scaphandre et le papillon von Julian Schnabel. Die subjektive Handkamera, die das erste Drittel des Films dominiert, ist thematisch verankert, weil sie an die Wahrnehmung eines gelähmten Locked-in-Syndrom-Patienten gebunden wird. Seit einem Schlaganfall kann der Protagonist Jean-Dominique Bauby nur noch hören und mit einem Auge sehen sowie nur die Wimper seines linken Auges bewusst bewegen und damit bedingt kommunizieren. Diese so unglaubliche wie real mögliche visuelle Wahrnehmungs- und Kommunikationssituation durch das linke Auge wird in Le scaphandre et le papillon vor allem dank der subjektiven Handkamera begreiflich, die die gefangenen, hilfesuchenden Wahrnehmungsversuche der Hauptfigur visuell repräsentiert.21

6. Die Handkamera in fiktionalen Pseudo-Dokumentationen

Die nächste Gruppe an fiktionalen Filmen mit werkprägendem Handkameraeinsatz, in denen die Figuren der Handlung mit 16-mm-, DV- oder anderen leichten Kameras in der Hand filmen, ist zwar bedingt mit den Ich-Kamera-Filmen vergleichbar, weil auch im Fall einer filmenden Figur die Handkamera ungefähr das zeigt, was die Figur wahrnimmt, unterscheidet sich aber doch fundamental, wenn man das Verhältnis der Kamera zur diegetischen Welt betrachtet. In fiktionalen Pseudo-Dokumentationen ist die von den Figuren gehaltene Kamera Element der diegetischen Welt, bei Ich-Kamera-Filmen gerade nicht. Das verleiht Pseudo-Dokumentationen ein selbstreflexives Moment, weil das Filmen thematisiert und beglaubigt werden muss. Ein populäres Beispiel für eine über den gesamten Film aufrecht erhaltene Pseudo-Dokumentation ist The Blair Witch Project. Die drei Hauptfiguren Heather, Josh und Mike wollen mit einer 16-mm- und einer Video-Kamera eine Dokumentation über den Mythos der Blair-Hexe produzieren und ziehen in den Black Hill Forest, in dem die Blair-Hexe einst ihre Opfer gequält haben soll. Beim Versuch, den Rückweg aus dem Wald zu finden, machen sie immer obskurere Beobachtungen. Sie verirren und zerstreiten sich, verlieren einen Mitstreiter, dessen gequälte Stimme sie bald darauf hören, und gehen mit letzten Kräften den mutmaßlichen Spuren nach, bis es zum dramatischen Ende kommt. The Blair Witch Project soll zugleich der Film über das Produzieren des Films und der fertig-produzierte Film sein, d. h. das Muster der Filmproduktion-im-Film wird nicht auf zwei innerdiegetischen Ebenen umgesetzt, sondern selbstreflexiv rückgekoppelt.22

In The Blair Witch Project wird allerdings, betrachtet man die Montage, ein Zuordnungsproblem deutlich. Einige nachträgliche Montagen brechen mit der Unmittelbarkeit des Materials, das vermeintlich von den zwei Kameras aufgezeichnet wurde. Da die Hauptfiguren, denen die Aufnahmen zugeschrieben werden, den Filmdreh angeblich nicht überlebt haben, bleibt zu fragen: Wer ist für die Montage des angeblich gefundenen Materials verantwortlich? Da das An- und Abschalten der Kameras durch die Figuren vor der Kamera jedoch meist thematisiert wird, fallen viele Montagen kaum ins Gewicht, weil es so wirkt, als sei das ursprüngliche Material, bei dem die Einstellungslänge durch das An- und Abschalten definiert wurde, nicht beschnitten und nur in eine chronologische Reihenfolge gebracht worden (Kuhn 2011a, 169). Das Fehlen einer Montageinstanz oder Herausgeberfiktion fällt deshalb nur geringfügig auf, sieht man von einigen auffälligen Montagen ab. Allgemein gilt bei pseudo-dokumentarischen Varianten des Handkameraeinsatzes, dass nachträgliche Montagen als Eingriffe in das Material beglaubigt werden müssen, um nicht mit der dokumentarischen Unmittelbarkeit zu brechen. Diese Überlegung führt zu fiktionalen Pseudo-Dokumentationen, in denen nicht nur das Filmen einer diegetischen Figur zugeschrieben wird, sondern auch – so suggerieren es Handlung und nachträgliches Voice-over – die spätere Montage.

In The Blair Witch Project ist die Dokumentarfilmproduktion zwar ein entscheidendes, die Authentizität steigerndes Ausgangsmoment, das jedoch zunehmend zugunsten der mysteriösen Ereignisse in den Hintergrund gerät. In einem Film wie David Holzman’s Diary von Jim McBride dominiert das Thema Dokumentarfilmproduktion dagegen den gesamten Film: Protagonist David Holzman versucht, ein filmisches Tagebuch über sein Leben zu produzieren, das mit dem Film David Holzman’s Diary zugleich fertig produziert vorliegt. Im Verlauf des Films sieht man David immer wieder vor der Kamera sitzen, um über seinen Film und dessen Ästhetik zu reflektieren, wobei ein Spiegel im Hintergrund die Aufnahmesituation des Gesprächs in die Kamera zugleich selbstreflexiv ausstellt und weiteres Equipment z.B. für die synchrone Tonaufnahme zu sehen ist. Die Filmproduktion bestimmt Davids Alltag, bis hin zur Beziehung mit seiner Freundin, die ihn verlässt, weil sie nicht mehr gefilmt werden möchte. Konsequenterweise endet der Film damit, dass Davids Kameraequipment gestohlen wird, was seine Stimme vor einem Blackscreen am Ende erklärt. David Holzman’s Diary ist zwar von vielen pseudo-dokumentarischen Merkmalen geprägt, aber nur streckenweise von einer verwackelten Handkamera, weil der Protagonist seine bewegliche Kamera zwar immer wieder mit auf die Straße nimmt, aber oft auch auf ein Stativ stellt, um sich selbst zu filmen.23 David Holzman’s Diary spielt wie The Blair Witch Project mit dem Verhältnis von faktualem und fiktionalem Erzählen. Es handelt sich um fiktionale Spielfilme, die von nicht werkintern auftretenden realen Regisseuren produziert worden sind, werkintern aber als faktuale Dokumentationen einer auftretenden fiktiven Regiefigur markiert werden. Bei beiden Filmen gab es Zuschauer, die überrascht waren, als sich herausstellte, dass es sich um Spielfilme handelte. Die Authentifizierungs-Funktion, die die Handkamera in beiden Filmen hat, lässt sich filmhistorisch bis zum Einsatz von Handkameras (meistens 16-mm-Kameras, z.B. von Arriflex oder Éclair) im dokumentarischen Direct Cinema zurückführen. Dessen Einfluss in den 1960er-Jahren hat die Konnotation von Handkameras mit Authentizität und Dokumentarismus katalysiert und lässt sich als direkter Einfluss auf David Holzman’s Diary nachzeichnen (vgl. Ellis / McLane 2005, 235).

7. Handkamera-Horrorfilme

Der Einsatz von Handkameras und dokumentarischen Formelementen in The Blair Witch Project war stilbildend für eine Gruppe von Handkamera-Horrorfilmen der 2000er- und 2010er-Jahre wie Diary of the Dead, [Rec], Quarantine, Cloverfield, The Last Exorcism, Trolljegeren und V/H/S.24 Die Handkamera wird in diesen Filmen nicht nur eingesetzt, um die Unmittelbarkeit zu steigern sowie Angst- und Schockeffekte zu verstärken, sondern auch, um eine spannungssteigernde Informationslimitation zu realisieren, die man narratologisch als Pendeln zwischen interner und externer Fokalisierung bezeichnen kann – extern nicht im Sinne eines Von-außen-Zeigens der Figuren, sondern im Sinne eines Weniger-Vermittelns, als die Figuren wissen und wahrnehmen (vgl. zur externen Fokalisierung im Film Kuhn 2011a, 158ff.). Nur noch selten dagegen dient die Handkamera in diesen Filmen dem ernstgemeinten Vortäuschen dokumentarischer Unmittelbarkeit; dass es sich um fiktionale Pseudo-Dokumentationen handelt, wird schon allein durch die mit jeglichen Realitätsvorstellungen der Zuschauer brechenden Handlungsentwicklungen signalisiert. Wenn in Cloverfield – einem Hybrid aus Horror- und Katastrophenfilm – Monster die Stadt New York zerstören und werkintern die Fiktion aufgebaut wird, es werde das gefundene Videomaterial beteiligter Menschen gezeigt, ist anzunehmen, dass der reale Zuschauer weiß, dass New York immer noch existiert.

Auch die Funktionalisierung der Handkamera zur Informationslimitation, wie sie in vielen dieser Handkamera-Horrorfilme streckenweise eingesetzt wird, ist in The Blair Witch Project besonders ausgeprägt. Maximal zeigt die Handkamera das, was die Figuren selbst wahrnehmen, was einer internen Fokalisierung entspricht. Allerdings hinkt die oft spontan angeschaltete Kamera der Wahrnehmung der Figuren etwas hinterher. Der Zuschauer hört, dass es etwas Unheimliches gibt, sieht es aber – im Gegensatz zu den Figuren – erst etwas später, wenn die Kamera in die richtige Richtung gewendet wird. Hinzu kommt der im Vergleich zur menschlichen Wahrnehmung eingeschränkte Blickwinkel der Kamera. Diese Informationsselektion, dass maximal das vermittelt wird, was die Figuren wahrnehmen, tendenziell aber etwas später und etwas weniger, wird am Ende von The Blair Witch Project zugespitzt. Wenn die Figuren in das heruntergekommene Haus im Wald gehen, zeigen die Kameras nicht mehr alles, was die Figuren wahrnehmen, insbesondere nicht mehr, nachdem die Kameras kurz vor Schluss zu Boden gefallen sind. Der Zuschauer weiß nur aufgrund der Ankündigung am Filmanfang und der Gerüchte im Internet, dass die Protagonisten den Wald niemals wieder verlassen haben, nicht aber warum. So wird seine Phantasie angeregt und das Spiel mit den archaischen Angststrukturen verstärkt, das den Reiz des Films ausmacht (Kuhn 2011a, 160f.).

Von The Blair Witch Project ist es scheinbar nur noch ein kleiner Schritt zu Mystery- und Horror-Webserien, also zu narrativen seriellen Filmclipformaten im Internet wie Dämmerung, Die Hütte oder Friendslost, die sich – mehr oder weniger – an der Handkameraästhetik orientieren. Um der Spur der Funktionalisierung der Handkamera in narrativen Internet-Filmclips nachzugehen, möchte ich jedoch ein besonders populäres Webserien-Beispiel in den Blick nehmen.

8. Die Authentifizierungsfunktion: Handkameras als Zeichen von Privatheit im Kontext des Internets

Auf der Internet-Filmplattform YouTube tauchten im Jahr 2006 die Filmclips des 16-jährigen Mädchens Bree auf. Mit Hilfe der seriell angelegten Clips berichtete Bree über ihr Teenager-Dasein, ihre Freunde, ihr streng-religiöses Elternhaus. In den Clips, die Bree unter dem Usernamen lonelygirl15 postete, erzählte sie frontal in die Kamera blickend von ihren Erlebnissen oder wurde von einem Freund bei Ausflügen in die Natur gefilmt.25 Die Funktion, mit der die Kamera hier eingesetzt wird, möchte ich Amateur- oder Privatisierungs-Funktion nennen. Zwei strukturelle Konstellationen dieser Funktion sind: A) Die digitale Videokamera wird von Figuren getragen, ist immer mit dabei und wird einfach ‚draufgehalten‘. Oder die Kamera wird B) meist in Innenräumen auf eine feste Unterlage gelegt und die Figur spricht frontal hinein, wodurch ein direkter Kontakt zum Rezipienten suggeriert wird. Im Fall B lässt sich nicht mehr von einer Handkamera sprechen, weil die Kamera nicht in der Hand gehalten wird (und es sich zumeist nicht einmal mehr um eine auf einen Gegenstand gelegte mobile Kamera handelt, sondern um eine festinstallierte Webcam), sodass die genannten Hauptmerkmale der Beweglichkeit, Bewegtheit und Unruhe des Bildes nicht nachzuweisen sind; allerdings verweisen Grobkörnigkeit (bzw. geringe Auflösung) und die spezifische Mise-en-scène auf die Privatheit der Aufnahme.

Dass die (Hand-)Kamera und weitere Parameter der Mise-en-scène bei lonelygirl15 eine Privatisierungsfunktion haben, zeigt sich darin, dass mit dieser Funktion ‚gespielt‘ und Faktualität vorgetäuscht werden konnte. Denn die Clips von lonelygirl15 waren weder privat noch authentisch. Die steigende Komplexität und die immer raffinierteren Nachbearbeitungen unterliefen allmählich die Privatisierungsfunktion. Journalisten fanden heraus, dass lonelygirl15 eine von drei semiprofessionellen Filmemachern inszenierte fiktionale Figur war, gespielt von einer Schauspielerin.26 Die Authentizitätstäuschung der lonelygirl15-Postings ist mit einigen Mechanismen in The Blair Witch Project vergleichbar: In beiden Fällen wurde u.a. mit Hilfe der Handkamera Authentizität vorgetäuscht und in beiden Fällen konnte die Montage nicht vollständig beglaubigt werden. Das führte in der Medienumgebung einer Filmplattform im Internet zur Infragestellung der Authentizität. Ein Unterschied von Webserien zu pseudo-dokumentarischen Formen im Spielfilm ist, dass es im Internetkontext keinen Ausnahmefall mehr darstellt, wenn Figuren der Handlung oder reale Menschen Kameras dabei haben. Es muss nicht mehr durch ein Dokumentarfilmprojekt beglaubigt werden wie in The Blair Witch Project, dass die Figuren Kameras besitzen, benutzen und ihr Material anschließend sofort veröffentlichen.

Weil insbesondere im Kontext von Filmclips im Internet nicht mehr nach der Plausibilität der Kamerapräsenz gefragt wird, löst sich der authentifizierende Einsatz von Handkameras in Webserien tendenziell wieder von der direkten Figurenbindung, die bei pseudo-authentischen und pseudo-privaten Formen im Internet die Ausgangskonstellation bildet. Plötzlich gibt es wahrnehmungstheoretisch unmögliche nobody’s shots, plötzlich wartet die Kamera horrorfilmüblich auf Figuren, die in leere Räume hineintreten. In Mystery- und Horror-Webserien wie Dämmerung und Die Hütte, Jugend- und College-Webserien wie Hooking Up, Prom Queen27 und They call us Candygirls kristallisiert sich eine changierende Mischform heraus: Einerseits wird mit der (teilweise verwendeten) Handkamera noch immer Figurennähe und Authentizität suggeriert, andererseits verweist die Kamera auf eine steuernde Erzählinstanz, die über den Figuren steht und die visuell repräsentierten Geschichten erzählökonomisch vorantreibt.

9. Zwischen User-Generated Content und Selbstreflexion: der Handkameraeinsatz in der Webserie Pietshow

Ein auffälliges Beispiel für die soeben skizzierte Entwicklung ist Pietshow, eine WG-Webserie, die das private Filmen einerseits ausführlich reflektiert, andererseits klar mit den formalen Beschränkungen pseudo-dokumentarischen Handkamerafilmens bricht. Zu Beginn der ersten Folge stürzt Protagonist Piet auf einer WG-Party durch die Wand zur Nachbarwohnung. Mit diesem Wanddurchbruch wird die Handlung in Gang gesetzt. Er verbindet die Wohnung, die der Filmstudent Piet mit seinem Freund Nick teilt, ungewollt mit der WG von Jessy und Melanie. Notgedrungen müssen sich die vier mit der neuen Wohnsituation arrangieren. In insgesamt 15 Folgen geht es um das gegenseitige Kennen- und Liebenlernen, um Ex-Freunde und WG-Streitereien (vgl. ausführlicher Kuhn 2010, 21ff.). Im Mittelpunkt steht Piet, der – wie er selbst behauptet – ein Filmprojekt für das soziale Netzwerk studiVZ produziert, wo die Serie Pietshow auch tatsächlich gepostet wurde.

In allen Folgen der Serie gibt es eine Vielzahl an Hinweisen auf das Filmen und Filmbearbeiten: Neben eindeutigen Handkameraeffekten sieht man z.B. das Piktogramm eines leeren Akkus am Bildrand und Piet mit einem Schnittprogramm am Computer arbeiten oder Videos ins Internet hochladen. Immer wieder wird Piet gebeten, doch endlich die Kamera wegzulegen. Neben diesen teilweise authentizitätssteigernden, teilweise selbstreflexiven Hinweisen gibt es zugleich deutliche Brüche mit der pseudo-dokumentarischen Filmlogik. Piet ist zunehmend häufig mit der Kamera von außen zu sehen, während er filmt. Diese Sequenzen weisen eine vergleichbare Handkameraästhetik auf, können aber nicht seiner Kamera entstammen. Selbst wenn man annimmt, dass es eine zweite Kamera gegeben hat, gibt es von der Handlungslogik her in bestimmten Momenten keine Figur, die eine zweite Kamera führen könnte, weil alle beteiligten Figuren ohne Kameras mit dem filmenden Piet im Bild zu sehen sind. Diese mit der Authentizität brechenden Stilmittel werden in ein Geflecht teilweise illusionsstörender selbstreflexiver und metaleptischer Verweise eingebettet, was zunehmend auf eine über der Handlung stehende Erzählinstanz verweist.28

10. Fazit: Handkameras in fiktionalen Filmen und Filmclips – Kategorien einer Funktionstypologie

Ich komme nach diesem exemplarischen Überblick über Formen der Handkamerafunktionalisierung zusammenfassend zu folgender Klassifizierung: Handkameraeffekte können wie folgt eingesetzt sein …

a) auktorial wie in Festen,

b) personal und subjektivierend wie in Idioterne,

c) anthropomorphisierend bzw. wahrnehmungsillusionierend (im Sinne einer subjektiven Kamera) wie in Le scaphandre et le papillon,

d) authentifizierend wie in The Blair Witch Project,

e) dokumentarisierend wie in David Holzman’s Diary, informationslimitierend und dadurch spannungssteigernd wie in Handkamera-Horrorfilmen,

f) privatisierend wie in einigen YouTube-Clips,

g) selbst- und medienreflexiv wie in der Pietshow und vor allem

h) multifunktional, weil viele Film- und Clipbeispiele in mehrere Kategorien fallen.

Dieses Kategorienraster – das auf einer kontextbewussten narratologischen Filmanalyse beruht – ist gewiss noch nicht vollständig, eröffnet aber ein breites Spektrum, das die wichtigsten Formen und Funktionen umfasst. Ich habe narratologische Aspekte mit kontextabhängigen Aspekten des Referenzbezugs sowie thematischen und selbstreflexiven Aspekten des Kameraeinsatzes zusammengebracht. Weitere filmästhetische Aspekte ergeben sich durch den Einsatz von Handkameras zur Unterstützung der Bewegungsdynamik vor der Kamera, zur Untermalung von Kampf- und Actionsequenzen, zur Rhythmisierung von Tanzsequenzen und grundsätzlich zur Erzeugung von Bewegungsfluss wie etwa in Musikvideos. Handkameras werden in vielen weiteren Genres eingesetzt wie in Zombie- und Kriegsfilmen, um das Chaos bei Angriffen und die Panik auf der Flucht anzuzeigen, in Liebesfilmen zur Intensivierung von Intimität. Aus einigen dieser Aspekte ließen sich weitere genrebezogene Gruppen bilden, die die Funktionalisierung der Handkamera zur Perspektivierung, Authentifizierung, Erzählvermittlung und Wahrnehmungsrepräsentation ergänzen könnten. In den meisten Beispielen für derartige Funktionalisierungen wird die Handkamera allerdings nicht filmprägend, sondern nur in einzelnen Abschnitten des Films eingesetzt. Für alle hier genannten sowie weitere denkbare genrebezogene Funktionalisierungen von Handkameraeffekten gilt, was für die meisten ästhetisch-stilistischen Merkmale des Audiovisuellen gilt: Es gibt keine exklusiven Funktionen, die ausschließlich durch Handkameraeffekte erfüllt werden könnten, so wie die gleichen Handkameraeffekte in unterschiedlichen Filmen und Kontexten unterschiedliche Funktionen erfüllen können.

Die Abhängigkeit der Funktionalisierung von Handkameraeffekten von technischen Entwicklungen und historisch wandelbaren medialen Kontexten habe ich angedeutet. Ein weiterer Blickwinkel würde sich aus produktionsökonomischer und -ästhetischer Sicht ergeben: Die Produktion eines Films oder einer Webserie mit digitalen Handkameras kann erheblich günstiger sein als etwa eine Produktion auf 35-mm-Filmmaterial oder eine aufwändige TV-Produktion. Das führt zu grobkörnigeren, weniger durchkomponierten, oft von Rezipienten als schlechter und billiger empfundenen audiovisuellen Sequenzen. In vielen der hier diskutierten Handkamerafilme und Webclips wird dies durch die konzeptuelle Struktur, vor allem aber durch die geschickte Funktionalisierung der Handkameraeffekte aufgefangen. Indem die günstigen Produktionsumstände Teil der narrativen, formalen oder thematischen Struktur des Werks selbst werden, fallen diese nicht als Produktionsmanko, sondern als zentrales Werkkonzept ins Auge.29

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Prof. Dr. Markus Kuhn
Institut für Medien und Kommunikation
Universität Hamburg
Von-Melle-Park 6
20146 Hamburg
E-Mail:
markus.kuhn@uni-hamburg.de
URL:
http://www.slm.uni-hamburg.de/imk/Personal/kuhn/MarkusKuhn.html

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1Obwohl es auch interessant wäre, das Phänomen der Handkamera produktionshistorisch aufzurollen und die Entwicklung der Handkameraästhetik in Abhängigkeit von der Technikgeschichte nachzuzeichnen, sollen hier der werkanalytische Blick und die Frage nach der Funktionalisierung der Handkameraeffekte im Mittelpunkt stehen. Durch Reduktion des Gewichts, Fortschritte in der Bild- und Tontechnik, Steigerung der Lichtempfindlichkeit, ausgefeilte Mechanik und digitale Bildspeicherung ging die historische Tendenz klar in die Richtung, immer leichtere und beweglichere tragbare Kameras einzusetzen. Ein Rückschritt in dieser Entwicklungslinie bildete der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, der zuerst deutlich schwerere Kameras mit sich brachte. Ein Fortschritt wurde wiederum mit der Entkopplung der synchronen Tonaufnahme von der Kamera erreicht, wie er mit dem Pilottonverfahren der sogenannten „Schweizer Nagra“ möglich wurde (vgl. Hattendorf 1994, 120).

2In diesem Kapitel knüpfe ich an die Ausführungen und Begriffsdefinitionen an, die ich in meiner Monographie Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell (Kuhn 2011a, 167ff.) getroffen habe und die im Laufe dieses Beitrags weiter ausdifferenziert werden.

3An anderer Stelle (Kuhn 2009a, 59f.) habe ich als dritte Variante (C) darüber hinaus noch die „Anthropomorphisierung der Kamera“ angeführt, die sich auf Formen bezieht, in denen eine Kamera den Eindruck anthropomorpher Wahrnehmung erweckt, ohne einer Figur zugeordnet zu sein. Da es sich dabei allerdings zumeist um eine formal als subjektiv markierte Kamera ohne Zuordnung zu einer konkreten Figur handelt (die darüber hinaus häufig auch noch (A) durch Handkameraeffekte markiert wird), fasse ich diese Variante hier ‚nur‘ als Untergruppe von A auf (bei der es häufig zu Überschneidungen mit B kommt).

4Vgl. Kuhn (2009a, 60). Meinem Beitrag „Gibt es einem Ich-Kamera-Film?“ (Kuhn 2009a) liegt eine vergleichbare Differenzierung zugrunde wie in Kuhn (2011a, 167ff.) und dem vorliegenden Beitrag. Während in Kuhn (2009a) der Schwerpunkt auf Ich-Kamera-Filme gelegt wird und Handkameraeffekte nur am Rande behandelt werden, stehen Handkameraeffekte und -filme hier im Mittelpunkt; entsprechend können Phänomene wie die subjektive Kamera hier nur am Rande behandelt werden. Schon der für seine ‚entfesselte Kamera‘ berühmte Spielfilm Der letzte Mann von F. W. Murnau aus dem Jahre 1924 zeigt, dass eine bewegliche Kamera verschiedene Funktionen erfüllen kann, unter denen die Illusion eines subjektiven Blicks nur eine von mehreren Grundkonstellationen ist (vgl. Kuhn 2009a, 59; 2011a, 170).

5Narrativität wird hier, wie z.B. bei Prince (2005; 2008), als graduell aufgefasst. Die weite Definiton der Narrativität bezieht sich tendenziell eher auf den ‚histoire-Aspekt‘ der Veränderung eines Zustands oder einer Situation (auf Handlungsebene), die enge Definition auf den ‚discours-Aspekt‘ der narrativen Vermittlung. Allerdings zeigt die Diskussion der an der weiten Definition orientierten Minimalbedingung der Narrativität im Film (Kuhn 2011a, 56ff.), dass eine vollständige Entkopplung der Minimalbedingung von der Frage, wie die Zustandsvermittlung repräsentiert sein kann und sollte, nicht sinnvoll ist, weshalb auch hier keine rein ,histoire-bezogene‘ Definition vorgelegt wird (vgl. dazu auch die Diskussion der Narrativität in Kuhn 2013a). Die enge Definition, die sich auf den ‚discours-Aspekt‘ der narrativen Vermittlung bezieht, geht wiederum davon aus, dass mindestens eine Zustandsveränderung auf histoire-Ebene vorhanden sein muss, die durch eine Instanz vermittelt werden kann. Insofern unterscheiden sich enge und weite Definition hier vor allem graduell. Eine Kamerabewegung allein (also die Änderung des Bildausschnitts ohne die Repräsentation einer Veränderungstatsache auf Handlungsebene) reicht weder nach der engen, noch nach der weiten Definition aus, um von einer narrativen Repräsentation zu sprechen. Vergleichbar mit den Überlegungen von Schmid (z.B. 2005), Chatman (z.B. 1990) und anderen operieren beide Definitionen text- bzw. phänomenbezogen und unterscheiden sich somit von kontextuellen, funktionalen und kognitven Definitionen (zum Vergleich verschiedener Positionen siehe u.a. den Sammelband von Pier / García Landa 2008). Nicht diskutiert werden kann hier, ab welchem Grad (und mit welchem Konzept) die Zustandsveränderung als (relevantes) Ereignis bezeichnet werden kann, wie es im Rahmen von Konzepten der Ereignishaftigkeit (vgl. Schmid 2005, 20ff.; Hühn 2008) oder tellability (vgl. u.a. Ryan 2005) diskutiert wird.

6Zum Kommunikationsmodell, das diesem Instanzenkonzept zugrunde liegt, vgl. (Kuhn 2007; 2009b; 2011a, 81ff.).

7Eine derartige technisch-optische Perspektivierung der Kamera, die häufig als Kameraperspektive bezeichnet wird, lässt sich nicht eins zu eins auf Konzepte der narrativen Perspektivierung wie Fokalisierung oder Okularisierung beziehen. Fokalisierung und Okularisierung ergeben sich in den meisten Fällen erst aus einem Zusammenspiel von Kamera und Montage (vgl. u.a. Kuhn 2011a, 122ff.).

8Hierbei darf nicht vergessen werden, dass es sich bei einer derartigen werkanalytischen Betrachtungsweise nicht um eine Analyse der realen Produktion handelt; wenn die Kamera etwa einen Ausschnitt aus einer Stadt zeigt, nimmt man werkintern argumentierend an, dass sie diesen Ausschnitt anstelle der restlichen Stadt ‚ausgewählt‘ hat und theoretisch nur hin und her schwenken müsste, um andere Ausschnitte zu zeigen und damit eine andere Auswahl zu treffen. Das wäre bei der realen Produktion der Sequenz aber vielleicht überhaupt nicht möglich gewesen, weil nur der gezeigte Teil der Stadt als Studiokulisse aufgebaut worden ist.

9In diesem Kapitel gehe ich von Beobachtungen aus, die ich bereits in Kuhn (2011a,170ff.) getroffen habe und hier weiter modifiziere.

10Zur Entwicklung der Dogma  95-Bewegung, zu den Filmen und zur spezifischen Ästhetik vgl. u.a. Christen (2008) sowie den Sammelband von Hjort / MacKenzie (2003).

11Alle Angaben zum Timecode (TC) stehen im Format [h:min:sec] und können je nach Version geringfügig variieren. Die Angaben zu Idioterne beziehen sich auf die in Deutschland veröffentlichte DVD-Version „Idioten. Ein Film von Lars von Trier“ von Kinowelt Home Entertainment (Arthaus Collection), 2007. Das Einsteigen ins Taxi beginnt bei TC 0:04:15, die eigentliche Taxifahrt bei TC 0:04:36. Zum Handlungszeitpunkt der Taxi-Sequenz ist die ‚Begleiterin‘ (die Figur Karen) noch kein Mitglied der ‚Idioten-Gruppe‘.

12Während der Taxifahrt ist keine Kamera zu sehen; allerdings kann man in einer Einstellung während des Einsteigens in das Taxi (TC ca. 0:04:19ff.) kurz erkennen, wie sich eine von einem Kameramann getragene Kamera im Autofenster spiegelt. Es spricht vieles dafür, dass es sich dabei lediglich um eine versehentliche Spur der realen Produktionsumstände handelt. So gibt es z.B. keine Szene, in der der Kameramann als Figur auftreten würde, in der eine Kamera länger gezeigt oder eine Filmaufnahme thematisiert würde. Der Film wird in den Handlungssequenzen nicht als pseudo-dokumentarisch markiert. Allerdings gibt es immer wieder Szenen, die die Handlungssequenzen unterbrechen und wie eine Art nachträgliches Interview zwischengeschaltet werden (vgl. Kuhn 2011a, 264f.). Diese verleihen dem Film insgesamt zumindest eine pseudo-dokumentarische Tendenz. Alle im Rahmen dieses Beitrags getroffenen Beobachtungen beziehen sich auf die den Film dominierenden Handlungssequenzen.

13Die Angaben zu Festen beziehen sich auf die in Deutschland veröffentlichte DVD-Version „Thomas Vinterberg: Das Fest“ aus der Süddeutsche Zeitung-Cinemathek, 2005.

14Zum Fokalisierungskonzept im Film, das auf einer modifizierten und transformierten Version von Gérard Genettes (1994) Vorschlägen basiert, siehe Kuhn (2011a, 119ff.). Weitgehend vergleichbar mit François Jost (1987) und Sabine Schlickers (1997) beziehe ich die Fokalisierung auf die Relation des Wissens zwischen Erzählinstanz und Figur und kopple sie, wo notwendig, von Fragen der Wahrnehmung im engeren Sinne ab. Für die visuellen Aspekte der Wahrnehmung (das „Sehen“) verwende ich den Begriff Okularisierung, für die auditiven Aspekte (das „Hören“) Aurikularisierung (vgl. auch Kuhn 2007; 2009b).

15Wie man Stanzels Kategorien bezüglich der Fokalisierungsansätze Genettes ausdifferenzieren kann, haben u.a. Cohn (1981), Genette (1994, 269ff.) und Martínez / Scheffel (1999, 63-67) gezeigt.

16Beide hier erörterten Erzählfunktionen werden in anderen Filmen auch ohne Handkameraeffekte realisiert. Es geht hier – wie im gesamten Beitrag – also nicht um distinkte Funktionen, die ausschließlich durch Handkameraeffekte realisiert werden können, sondern einerseits darum, zu zeigen, dass das Spektrum an Funktionen, die mit Handkameraeffekten realisiert werden können, groß ist und nicht nur subjektivierende und authentifizierende Funktionen umfasst, andererseits vorzuführen, wie und welche Handkamereffetkte jeweils zu welchem Zweck funktionalisiert werden können.

17Die Ausführungen in diesem Kapitel basieren auf dem Beitrag „Gibt es einen Ich-Kamera-Film?“ (Kuhn 2009a). Entsprechend der oben erörterten Schwerpunktsetzungen können die Überlegungen, die in Kuhn (2009a) ausführlich entwickelt werden, hier nur angerissen werden. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung in Kuhn (2011a, 177ff.).

18Unabhängig von der Begriffsdiskussion lassen sich die Filme bzw. die Sequenzen, in denen die subjektive Kamera nachweisbar ist, sowohl nach dem Gérard Genette’schen (u.a. 1994) als auch dem Mieke Bal’schen (u.a. 1997) Fokalisierungsmodell als primär intern fokalisiert einordnen. Darüber hinaus handelt es sich bei Ich-Kamera-Filmen um Filme mit interner Okularisierung.

19Brinckmann (1988, 83), die „Ichfilm“ als Neuprägung bezeichnet, leitet den Begriff vom Konzept des „Ichromans“ ab, den sie – in Anlehnung an Käte Hamburgers (1957) „Icherzählung“ – als Roman definiert, „der vorgibt, von einer der Personen generiert zu sein, die in ihm vorkommen“ (Brinckmann 1988,  85). Somit ist der „Ichfilm“ bei ihr weitaus spezifischer definiert als das Phänomen eines dominierenden Einsatzes der subjektiven Kamera über mehrere Sequenzen, das hier durch den Begriff ‚Ich-Kamera-Film‘ abgedeckt werden soll. Der Zusatz ‚Kamera‘ hebt hervor, dass es in erster Linie um Phänomene geht, bei denen die Kameraperspektive durch werkinterne Markierung auf eine visuelle Figurenperspektive bezogen ist, und erst sekundär um Fragen der erzählerischen Rahmung, des Voice-overs oder anderer Markierungen auf der Tonspur.

20Vgl. Hurst (1996, 106ff.). Im Gegensatz zu Hurst (1996, 110), für den die Ich-Erzählsituation im Film „erst durch eine sprachliche Ergänzung des kinematographischen Codes möglich“ wird, verwendet Lohmeier (1996, 196-198) den Begriff der Ich-Erzählsituation im Film bezüglich der visuellen Perspektive, der dann in etwa das bezeichnet, was gemeinhin subjektive Kamera genannt wird.

21Vgl. die ausführliche Analyse in Kuhn (2009a).

22Zu The Blair Witch Project als fiktionale (Selbst-)Dokumentation mit der Handkamera vgl. ausführlicher Kuhn (2011a, 173ff.).

23Vgl. zu David Holzmans Diary auch Brinckmann (1988, 90ff.) und Kuhn (2011a, 174ff.).

24Auch wenn The Blair Witch Project (1999) nicht der erste Horrorfilm und die erste fiktionale Pseudo-Dokumentation war, in dem / der die Handkamera werkprägend eingesetzt wurde, war der Film doch erfolgreich und populär genug (nicht zuletzt durch die begleitenden Internetgerüchte, das dazugehörige Medienecho in den klassischen Medien und weitere Paramedien), um die Produktion anderer Handkamera-Horrorfilme zu befördern und zu beeinflussen. Auf die Nähe (und Differenz) zum frühen Beispiel einer Pseudo-Dokumentation David Holzman’s Diary habe ich bereits verwiesen. Um den Einfluss des Handkameraeinsatzes im Horrorfilm systematisch nachzuzeichnen, müssten Vorläufer wie Cannibal Holocaust (1980) und C’est arrivé près de chez vous [Mann beißt Hund] (1992) und deren Einfluss auf Ästhetik und Funktionalisierung des Handkameraeinsatzes in The Blair Witch Project untersucht werden. Die hier erwähnten Produktionen werden auch häufig als ‚Found-footage-Horrorfilme‘ bezeichnet (vgl. Hamm 2011). Dieser Begriff ist allerdings nicht deckungsgleich mit der Bezeichnung ‚Handkamera-Horrorfilm‘, da ersterer betont, dass es sich um fingierte – vermeintlich in der Realität vorgefundene – dokumentarische Aufnahmen handelt, welche nicht zwangsläufig mit Handkameraeffekten umgesetzt sein müssen.

25Eine ausführliche Analyse der Webserie lonelygirl15 findet sich – mit unterschiedlichen theoretischen Ansatzpunkten – in Kuhn (2012a, 51ff., 60ff., 71ff.) sowie in Kuhn (2011c).

26Vgl. zur Vortäuschung von Faktualität bei lonelygirl15 und zur darauffolgenden Enttarnung u.a. Kuhn (2011c, 119ff.; 2012a, 52f.).

27Für eine Analyse der Webserie Prom Queen vgl. Kuhn (2013b / in Vorbereitung).

28Für eine ausführliche Analyse der Webserie Pietshow, deren – für eine Webserie auffällig komplexe – Struktur hier nur angedeutet werden kann, vgl. Kuhn (2010).

29Das spielt bei der Flut aufkommender Webserien-Produktionen sicherlich eine große Rolle: Selbstreflexivität, Zielgruppennähe und die Einbettung in Portale des Social Webs dienen hierbei u.a. als Vehikel für die Vermarktung günstiger Produktionsqualität (für einen Überblick zu deutschsprachigen Webserien siehe Kuhn 2012b).

Ein herzliches Dankeschön für wertvolle Hinweise geht an Andreas Veits und Johannes Noldt.