Carolin Gebauer

Von narratologies zu narratology – der Beginn einer neuen Phase in der postklassischen Erzählforschung?

Jan Alber und Monika Fludernik kartographieren die postklassische Narratologie

Jan Alber / Monika Fludernik (Hg.): Postclassical Narratology: Approaches and Analyses. Columbus, OH: Ohio State UP 2010. (Theory and Interpretation of Narrative). 323 Seiten. USD 32,95. ISBN 978-0-8142-5175-1

„Consolidation despite continuing diversity“: Untersuchungsgegenstand und Zielsetzung des Sammelbandes

Seit der Veröffentlichung von David Hermans wegweisendem Sammelband Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis im Jahre 1999 werden die neuesten Entwicklungen im Bereich der Erzählforschung unter dem Terminus postclassical narratologies subsumiert. Elf Jahre später legen nun Jan Alber und Monika Fludernik einen Sammelband vor, dessen Titel – Postclassical Narratology: New Perspectives on Narrative Analysis – auf großes Interesse stößt und hohe Erwartungen weckt. Schließlich verspricht er Orientierung in der zunehmend unübersichtlichen Vielfalt der Ansätze, die als postklassisch etikettiert werden.

Alber und Fludernik schließen sich Hermans Differenzierung von klassischer Narratologie strukturalistischer Prägung und ihren postklassischen Nachfolgern, beginnend mit den Arbeiten von Meir Sternberg, Thomas Pavel und Susan S. Lanser, weitgehend an und modifizieren seine Unterteilung postklassischer Ansätze nur leicht: Unterschieden werden revisionistische Auseinandersetzungen mit der klassischen Narratologie sowie Ansätze, die sich methodologisch an benachbarten Disziplinen orientieren (etwa sprechakttheoretisch fundierte Erzähltheorien), thematische Ansätze (etwa feministische und postkoloniale Narratologien) sowie transmediale Narratologien, die als „[c]ontextual versions of postclassical narratology“ (S. 3) bezeichnet werden.

Ausgehend von der Metapher des Bildungsromans mit seiner Abfolge differenzierbarer Entwicklungsstufen vertreten Alber und Fludernik die These, die Narratologie befinde sich gerade in einer neuen Phase: nach der ‚Kindheit‘ der Erzählforschung (russischer Formalismus), der ‚Adoleszenz‘ (Strukturalismus) und der ersten Phase des Erwachsenwerdens (Beginn der postklassischen Narratologie) sei die postklassische Narratologie momentan dabei, ‚seßhaft‘ zu werden.

Die beiden postklassischen Phasen (diversification bzw. continued diversification and consolidation) unterschieden sich nun dadurch, dass während der ersten Phase die Zahl der verschiedenen Ansätze zur Analyse von Erzähltexten immer mehr zugenommen habe, wohingegen diese Ansätze – trotz ihrer weiteren Pluralisierung – heute auch aufeinander zugingen. Dementsprechend, so Alber und Fludernik, könne man mittlerweile auch von einer zwar stark ausdifferenzierten, aber dennoch auf eine Konsolidierung hinauslaufenden postklassischen Narratologie im Singular (statt von einem Plural unterschiedlicher postklassischer Narratologien) sprechen: „[A]lthough there is no unified new methodology in sight for postclassical narratology […], there is sufficient justification for referring to current narratological work in the singular as postclassical narratology“ (S. 22f.). Die elf Beiträge des Bandes versuchen in diesem Sinne, auf jeweils individuelle Art und Weise eine Synthese zwischen mindestens zwei verschiedenen narratologischen Ansätzen herzustellen.

Die Beiträge des Sammelbandes

Obwohl der Untertitel Approaches and Analyses den Leser zunächst zu der Annahme verleiten mag, der Sammelband repräsentiere einen systematischen Überblick über den aktuellen Forschungsstand bzw. formuliere einen Kanon renommierter Ansätze innerhalb des genannten wissenschaftlichen Teilgebietes, wird schnell deutlich, dass dies – wie bereits dargestellt – nicht das Hauptanliegen der Herausgeber ist. Vielmehr geht es ihnen darum, postklassische und klassische Ansätze zueinander in Beziehung zu setzen, um zu einer Konsolidierung des Feldes beizutragen. In Anlehnung an die Differenzierung zwischen Diversifizierung und Konsolidierung werden somit im ersten Teil („Extensions and Reconfigurations of Classical Narratology“) Einzelstudien präsentiert, die primär das traditionelle Paradigma der klassischen Narratologie kritisieren bzw. ausbauen, während sich die Beiträge des zweiten Teils („Transdisciplinarities“) hauptsächlich mit neuen methodologischen, thematischen, kontextuellen und transdisziplinären Ansätzen beschäftigen, die das klassische Modell ergänzen bzw. bereichern.

Die vier Artikel des ersten Teils leisten einen Beitrag zur Erweiterung bzw. Rekonfiguration der traditionellen Erzählforschung, indem sie entweder einen theoretischen oder einen anwendungsbezogenen Fokus setzen. Richard Walsh regt dazu an, den Aspekt der Stimme in narrativen Texten von einem rhetorischen Standpunkt aus zu überdenken. Im Zuge seiner konzeptuellen Neuüberlegungen schlägt er mit den Begriffen instance, voice und interpellation eine Ausdifferenzierung der Genette’schen Kategorie vor. Werner Wolf macht es sich im zweiten Kapitel des Bandes zur Aufgabe, das klassische Paradigma der strukturalistischen Narratologie zu vervollständigen, indem er die mise en cadre als komplementäres Gegenstück zur mise en abyme konzipiert (s.u.). Adam Palmer demonstriert in seiner Fallstudie zu George Eliots Roman Middlemarch (1977) das Anwendungspotential der von ihm eingeführten Kategorie intermental thought. In ihrer Gegenüberstellung etablierter narratologischer Konzepte (mediacy, mediation und focalization) hinterfragt Monika Fludernik Grundannahmen der klassischen Erzähltheorie wie das Verhältnis von Tiefen- und Oberflächenstrukturen (story vs. discourse) und diskutiert in diesem Zusammenhang unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die Erzählinstanz. Anhand ihrer Ausführungen wird deutlich, dass die verschiedenen Ansätze innerhalb der Narratologie, die sich mit dem Aspekt der narrativen Vermittlung auseinandersetzen, zum Teil unvereinbare Positionen vertreten (Stanzel und Genette vs. Banfield und Walsh).

Im zweiten Teil des Sammelbandes, der transdisziplinär ausgerichtet ist, plädiert David Herman zunächst für das empirische Prinzip der Methodentriangulierung als Grundlage postklassischer Erzählforschung. Am Beispiel von William Blakes Gedicht „A Poison Tree“ zeigt er, wie sich Konzepte von Kognition, mind und Medien aus einer kognitiv-transmedialen Sicht zusammenführen lassen. Während Jan Alber die transmediale Narratologie durch kognitive und rezeptionsästhetische Kenntnisse um ein neuartiges Konzept im Bereich der filmischen Erzählung erweitert (s.u.), setzt Susan S. Lanser ihr Projekt einer queer narratology fort, und zwar durch eine diachrone Untersuchung verschiedener Erzählpraktiken zur Darstellung des kulturellen Topos weiblichen Begehrens, wobei sie der Form des lesbischen Erzählens (sapphic narration) besondere Beachtung schenkt. In seinem Beitrag zur Mimesis des Begehrens führt Amit Marcus die beiden Disziplinen der Erzähltheorie und der Psychoanalyse zusammen, indem er René Girards Konzept des mimetic desire in einen Zusammenhang mit dem Dichotomie-Paar story und discourse stellt. Hermans Vorschlag zur Entwicklung einer socionarratology folgend, verbindet Jamila Mildorf die Narratologie mit dem Bereich der Sozialwissenschaften und untersucht an einer Auswahl mündlicher Erzählungen exemplarisch, inwieweit sich die herkömmlichen narratologischen Kategorien zur Analyse des Geschichtenerzählens außerhalb der Geisteswissenschaften eignen. Martin Löschnigg beschäftigt sich in dem vorletzten Kapitel des Bandes mit der Relevanz von Kategorien und Modellen aus dem Bereich der kognitiven Erzählforschung für die Theorie der Autobiographie. Henrik Skov Nielsens Beitrag schließlich untersucht die Beziehung zwischen Autor und Text innerhalb hybrider Texte, die sich nicht eindeutig als fiktional oder faktual klassifizieren lassen. Nielsen hinterfragt die Plausibilität klassischer Differenzierungen zwischen Autor und Erzähler und weist, ausgehend von einer Unterscheidung zwischen natürlichem und unnatürlichem Erzählen (natural und unnatural narration), prinzipiell die Gleichsetzung von Erzählen und Kommunikation in Ansätzen der rhetorischen Narratologie zurück. Dies wirft allerdings die Frage auf, warum die Herausgeber seinen Text nicht eindeutig zu denjenigen Beiträgen zählen, die sich mit der Revision und dem Ausbau des klassischen Paradigmas der Narratologie auseinandersetzen.

Insgesamt wird deutlich, dass sich die Mehrzahl der Beiträge nicht darauf beschränkt, einen bestimmten Ansatz der postklassischen Narratologie zu illustrieren. Vielmehr handelt es sich fast durchwegs um innovative Beiträge zur Theorie und Methodologie der aktuellen Erzählforschung, wie im Folgenden anhand von zwei Beispielen, den Beiträgen von Wolf und Alber, gezeigt werden soll. Wolf plädiert in seinem Beitrag „Mise en Cadre – A Neglected Counterpart to Mise en Abyme: A Frame-Theoretical and Intermedial Complement to Classical Narratology“ für eine Fortsetzung der narratologischen Theorie- und Begriffsbildung, die sich auch in ihrer postklassischen bzw. neoklassischen Phase (vgl. S. 79) ihrer bewährten Stärken bewusst sein sollte. Dazu zählt er in erster Linie die terminologische Differenzierung. Aus intermedialer und rahmentheoretischer Perspektive schlägt er vor, Genettes Konzept der mise en abyme um den aus dem Filmbereich stammenden Begriff mise en cadre zu erweitern, den er wie folgt definiert: „[M]ise en cadre consists of some discrete phenomenon on an upper, framing level that illustrates […] some analogous phenomenon of the embedded level so that a discernible relationship of similarity is established between the two levels“ (S. 65). Anhand zahlreicher Beispiele illustriert Wolf sowohl die Anschlussfähigkeit des Begriffs an die etablierte narratologische Terminologie als auch sein transmediales Anwendungspotential in der Erzähltext- und Bildanalyse.

Alber setzt sich in seinem Artikel „Hypothetical Intentionalism: Cinematic Narration Reconsidered“ auf innovative Art und Weise mit Konzepten des filmischen Erzählens (cinematic narration) auseinander. Hierbei verbindet er Ansätze aus dem Bereich der Rezeptionstheorie, der transmedialen sowie der unnatürlichen Narratologie. Unter Rückgriff auf den kognitiven Ansatz des „hypothetical intentionalism“ (S. 166) vertritt Alber die Annahme, dass jeder Zuschauer einem Film mögliche Intentionen und Motivationen zuschreibe, um sich somit dessen Bedeutung besser erschließen zu können. In Anbetracht dessen schlägt er ein neues Modell vor, in dem die Vorhaben und Motive, die während der Produktion eines Filmes eine Rolle spielen, auf die ‚Macher‘ (inventors), die Rezipienten und das narrative Design des jeweiligen Filmes aufgeteilt werden. Innerhalb dieses Modells werden die Hypothesen des Zuschauers über die möglichen Intentionen eines Filmes einem „hypothetical filmmaker“ (S. 167) zugeschrieben, der die etablierten Begriffe des cinematic narrator und des implied filmmaker vereint. Der Vorteil dieses integrativen Konzeptes liegt, wie Alber in der an seine theoretischen Überlegungen anschließenden Analyse von David Lynchs Lost Highway (1997) überzeugend demonstriert, darin, dass der hypothetical filmmaker einen Rezeptionsrahmen (frame of reading) auch für experimentelle Filme bereitstellt.

Fazit

Der vorliegende Sammelband leistet einen wertvollen Forschungsbeitrag im Bereich der Erzählforschung, der auf eindrucksvolle Art und Weise zahlreiche Überschneidungspunkte verschiedener postklassischer Narratologien aufzeigt. Ob sich die Synthese der unterschiedlichen Ansätze tatsächlich so weit vorantreiben lässt, dass künftig von einer zwar ausdifferenzierten, aber dennoch homogenen postklassischen Narratologie gesprochen werden kann, bleibt zwar noch abzuwarten, da die Entwicklung des Feldes noch nicht abgeschlossen ist; jedoch liefert der Sammelband neue und produktive Denkanstöße dazu, wie eine solche Synthese möglicherweise aussehen könnte. Besonders hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang nicht nur die programmatische Einleitung der Herausgeber, sondern ebenfalls die sorgfältige Auswahl der qualitativ durchweg hochwertigen Beiträge, die in ihrer gemeinsamen Grundannahme, das klassische Paradigma der Narratologie müsse transgenerisch, transdisziplinär und transmedial ausgebaut werden, zu der Kohärenz des Bandes beitragen. Positiv zu werten ist außerdem der Autoren- und Themenindex, da die detaillierte Untergliederung der einzelnen Einträge die Suche nach konkreten Stichwörtern erleichtert. Auf diese Weise erfüllt der Band die durch den Titel implizierte Orientierungsfunktion und eignet sich trotz der Tatsache, dass gelegentlich relativ viel (fortgeschrittenes) Fachwissen vorausgesetzt wird, durchaus auch aus studentischer Perspektive als Einstieg in die postklassische Erzählforschung.



Carolin Gebauer, B.A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Anglistik/Amerikanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail:
c.gebauer@uni-wuppertal.de

Bitte zitieren Sie nicht die HTML-Version, sondern ausschließlich die PDF-Datei / Please do not cite the HTML version but only the PDF file:

URN: urn:nbn:de:hbz:468-20130527-150347-6

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Unported License.